Der Tag, der nun immer mehr heraufzog, war klar und mächtig, die Sonne, ein makelloser Ball, warf harte und lange Schatten, sie, höher rollend, nur wenig verkürzend. Die Stadt lag da, eine weiße Muschel, das Licht aufsaugend, in ihren Gassen verschluckend, um es nachts mit tausend Lichtern wieder auszuspeien, ein Ungeheur, das immer neue Menschen gebar, zersetzte, begrub. Immer strahlender wurde der Morgen, ein leuchtender Schild über dem Verhallen der Glocken. Tschanz wartete, bleich im Licht, das von den Mauern prallte, eine Stunde lang. Er ging unruhig in den Lauben vor der Kathedrale auf und ab, sah auch zu den Wasserspeiern hinauf, wilde Fratzen, die auf das Pflaster starrten, das im Sonnenlicht lag. Endlich öffneten sich die Portale. Der Strom der Menschen war gewaltig, Lüthi hatte gepredigt, doch sah er sofort den weißen Regenmantel. Anna kam auf ihn zu. Sie sagte, dass sie sich freue, ihn zu sehen, und gab ihm die Hand. Sie gingen die Keßlergasse hinauf, mitten im Schwärm der Kirchgänger, umgeben von alten und jungen Leuten, hier ein Professor, da eine sonntäglich herausgeputzte Bäckersfrau, dort zwei Studenten mit einem Mädchen, einige Dutzend Beamte, Lehrer, alle sauber, alle gewaschen, alle hungrig, alle sich auf ein besseres Essen freuend. Sie erreichten den Kasinoplatz, überquerten ihn und gingen ins Marzili hinunter. Auf der Brücke blieben sie stehen.
„Fräulein Anna“, sagte Tschanz, „heute werde ich Ulrichs Mörder stellen.“
„Wissen Sie denn, wer es ist?“ fragte sie überrascht.
Er schaute sie an.
Sie stand vor ihm, bleich und schmal.
„Ich glaube zu wissen“, sagte er. „Werden Sie mir, wenn ich ihn gestellt habe“, er zögerte etwas in seiner Frage, „das gleiche wie Ihrem verstorbenen Bräutigam sein?“
Anna antwortete nicht sofort. Sie zog ihren Mantel enger zusammen, als fröre sie. Ein leichter Wind stieg auf, brachte ihre blonden Haare durcheinander, aber dann sagte sie:
„So wollen wir es halten.“
Sie gaben sich die Hand, und Anna ging ans andere Ufer. Er sah ihr nach. Ihr weißer Mantel leuchtete zwischen den Birkenstämmen, tauchte zwischen Spaziergängern unter, kam wieder hervor, verschwand endlich. Dann ging er zum Bahnhof, wo er den Wagen gelassen hatte. Er fuhr nach Ligerz. Es war gegen Mittag, als er ankam; denn er fuhr langsam, hielt manchmal auch an, ging rauchend in die Felder hinein, kehrte wieder zum Wagen zurück, fuhr weiter. Er hielt in Ligerz vor der Station, stieg dann die Treppe zur Kirche empor. Er war ruhig geworden. Der See war tiefblau, die Reben entlaubt, und die Erde zwischen ihnen braun und locker. Doch Tschanz sah nichts und kümmerte sich um nichts. Er stieg unaufhaltsam und gleichmäßig hinauf, ohne sich umzukehren und ohne innezuhalten. Der Weg führte steil bergan, von weißen Mauern eingefaßt, ließ Rebberg um Rebberg zurück. Tschanz stieg immer höher, ruhig, langsam, unbeirrbar, die rechte Hand in der Manteltasche. Manchmal kreuzte eine Eidechse seinen Weg, Bussarde stiegen auf, das Land zitterte im Feuer der Sonne, als wäre es Sommer; er stieg unaufhaltsam. Später tauchte er in den Wald ein, die Reben verlassend. Es wurde kühler. Zwischen den Stämmen leuchteten die weißen Jurafelsen. Er stieg immer höher hinan, immer im gleichen Schritt gehend, immer im gleichen stetigen Gang vorrückend, und betrat die Felder. Es war Acker- und Weideland; der Weg stieg sanfter. Er schritt an einem Friedhof vorbei, ein Rechteck, von einer grauen Mauer eingefaßt, mit weit offenem Tor. Schwarzgekleidete Frauen schritten auf den Wegen, ein alter gebückter Mann stand da, schaute dem Vorbeiziehenden nach, der immer weiterschritt, die rechte Hand in der Manteltasche.
Er erreichte Freies, schritt am Hotel Bären vorbei und wandte sich gegen Lamboing. Die Luft über der Hochebene stand unbewegt und ohne Dunst. Die Gegenstände, auch die entferntesten, traten überdeutlich hervor. Nur der Grat des Chasserals war mit Schnee bedeckt, sonst leuchtete alles in einem hellen Braun, durchbrochen vom Weiß der Mauern und dem Rot der Dächer, von den schwarzen Bändern der äcker. Gleichmäßig schritt Tschanz weiter; die Sonne schien ihm in den Rücken und warf seinen Schatten vor ihm her. Die Straße senkte sich, er schritt gegen die Sägerei, nun schien die Sonne seitlich. Er schritt weiter, ohne zu denken, ohne zu sehen, nur von einem Willen getrieben, von einer Leidenschaft beherrscht. Ein Hund bellte irgendwo, dann kam er heran, beschnupperte den stetig Vordringenden, lief wieder weg. Tschanz ging weiter, immer auf der rechten Straßenseite, einen Schritt um den andern, nicht langsamer, nicht schneller, dem Haus entgegen, das nun im Braun der Felder auftauchte, von kahlen Pappeln umrahmt. Tschanz verließ den Weg und schritt über die Felder. Seine Schuhe versanken in der warmen Erde eines ungepflügten Ackers, er schritt weiter. Dann erreichte er das Tor. Es war offen, Tschanz schritt hindurch. Im Hof stand ein amerikanischer Wagen. Tschanz achtete nicht auf ihn. Er ging zur Haustüre. Auch sie war offen. Tschanz betrat einen Vorraum, öffnete eine zweite Türe und schritt dann in eine Halle hinein, die das Parterre einnahm. Tschanz blieb stehen. Durch die Fenster ihm gegenüber fiel grelles Licht. Vor ihm, nicht fünf Schritte entfernt, stand Gastmann und neben ihm riesenhaft die Diener, unbeweglich und drohend, zwei Schlächter. Alle drei waren in Mänteln, Koffer neben sich getürmt, alle drei waren reisefertig.
Tschanz blieb stehen.
„Sie sind es also“, sagte Gastmann, und sah leicht verwundert das ruhige, bleiche Gesicht des Polizisten und hinter diesem die noch offene Türe.
Dann fing er an zu lachen: „So meinte es der Alte! Nicht ungeschickt, ganz und gar nicht ungeschickt!“
Gastmanns Augen waren weitaufgerissen, und eine gespenstische Heiterkeit leuchtete in ihnen auf.
Ruhig, ohne ein Wort zu sprechen, und fast langsam nahm einer der zwei Schlächter einen Revolver aus der Tasche und schoß. Tschanz fühlte an der linken Achsel einen Schlag, riss die Rechte aus der Tasche und warf sich auf die Seite. Dann schoss er dreimal in das nun wie in einem leeren, unendlichen Räume verhallende Lachen Gastmanns hinein.
Von Tschanz durchs Telephon verständigt, eilte Charnel von Lamboing herbei, von Twann Clenin, und von Biel kam das überfallkommando. Man fand Tschanz blutend bei den drei Leichen, ein weiterer Schuss hatte ihn am linken Unterarm getroffen. Das Gefecht musste kurz gewesen sein, doch hatte jeder der drei nun Getöteten noch geschossen. Bei jedem fand man einen Revolver, der eine der Diener hielt den seinen mit der Hand umklammert. Was sich nach dem Eintreffen Charnels weiter ereignete, konnte Tschanz nicht mehr erkennen. Als ihn der Arzt von Neuveville verband, fiel er zweimal in Ohnmacht; doch erwiesen sich die Wunden nicht als gefährlich. Später kamen Dorfbewohner, Bauern, Arbeiter, Frauen. Der Hof war überfüllt, und die Polizei sperrte ab; einem Mädchen aber gelang es, bis in die Halle zu dringen, wo es sich, laut schreiend, über Gastmann warf. Es war die Kellnerin, Charnels Braut. Er stand dabei, rot vor Wut. Dann brachte man Tschanz mitten durch die zurückweichenden Bauern in den Wagen.
„Da liegen sie alle drei“, sagte Lutz am andern Morgen und wies auf die Toten, aber seine Stimme klang nicht triumphierend, sie klang traurig und müde.
Von Schwendi nickte konsterniert. Der Oberst war mit Lutz im Auftrag seines Klienten nach Biel gefahren. Sie hatten den Raum betreten, in dem die Leichen lagen. Durch ein kleines, vergittertes Fenster fiel ein schräger Lichtstrahl. Die beiden standen da in ihren Mänteln und froren. Lutz hatte rote Augen. Die ganze Nacht hatte er sich mit Gastmanns Tagebüchern beschäftigt, mit schwer leserlichen, stenographierten Dokumenten.
Lutz vergrub seine Hände tiefer in die Taschen. „Da stellen wir Menschen aus Angst voreinander Staaten auf, von Schwendi“, hob er fast leise wieder an, „umgeben uns mit Wächtern jeder Art, mit Polizisten, mit Soldaten, mit einer öffentlichen Meinung; aber was nützt es uns?“ Lutzens Gesicht verzerrte sich, seine Augen traten hervor, und er lachte ein hohles, meckerndes Gelächter in den Raum hinein, der sie kalt und arm umgab. „Ein Hohlkopf an der Spitze einer Großmacht, Nationalrat, und schon werden wir weggeschwemmt, ein Gastmann, und schon sind unsere Ketten durchbrochen, die Vorposten umgangen.“
Von Schwendi sah ein, dass es am besten war, den Untersuchungsrichter auf realen Boden zu bringen, wusste aber nicht recht wie. „Unsere Kreise werden eben von allen möglichen Leuten geradezu schamlos ausgenützt“, sagte er endlich.
„Es ist peinlich, überaus peinlich.“
„Niemand hatte eine Ahnung“, beruhigte ihn Lutz.
„Und Schmied?“ fragte der Nationalrat, froh, auf ein Stichwort gekommen zu sein.
„Wir haben bei Gastmann eine Mappe gefunden, die Schmied gehörte. Sie enthielt Angaben über Gastmanns Leben und Vermutungen über dessen Verbrechen. Schmied versuchte, Gastmann zu stellen. Er tat dies als Privatperson. Ein Fehler, den er büßen mußte; denn es ist bewiesen, dass Gastmann auch Schmied ermorden ließ: Schmied mus mit der Waffe getötet worden sein, die einer der Diener in der Hand hielt, als ihn Tschanz erschoss. Die Untersuchung der Waffe hat dies sofort bestätigt. Auch der Grund seiner Ermordung ist klar: Gastmann fürchtete, durch Schmied entlarvt zu werden. Schmied hätte sich uns anvertrauen sollen. Aber er war jung und ehrgeizig.“
Bärlach betrat die Totenkammer. Als Lutz den Alten sah, wurde er melancholisch und verbarg die Hände wieder in seinen Taschen. „Nun, Kommissär“, sagte er und trat von einem Bein auf das andere, „es ist schön, dass wir uns hier treffen. Sie sind rechtzeitig von Ihrem Urlaub zurück, und ich kam auch nicht zu spät mit meinem Nationalrat hergebraust. Die Toten sind serviert. Wir haben uns viel gestritten, Bärlach, ich war für eine ausgeklügelte Polizei mit allen Schikanen, am liebsten hätte ich sie noch mit der Atombombe versehen, und Sie, Kommissär, mehr für etwas Menschliches, für eine Art Landjägertruppe aus biederen Großvätern. Begraben wir den Streit. Wir hatten beide unrecht, Tschanz hat uns ganz unwissenschaftlich mit seinem bloßen Revolver widerlegt. Ich will nicht wissen, wie. Nun gut, es war Notwehr, wir müssen ihm glauben, und wir dürfen ihm glauben. Die Beute hat sich gelohnt, die Erschossenen verdienen tausendmal den Tod, wie die schöne Redensart heißt, und wenn es nach der Wissenschaft gegangen wäre, schnüffelten wir jetzt bei fremden Diplomaten herum. Ich werde Tschanz befördern müssen; aber wie Esel stehen wir da, wir beide. Der Fall Schmied ist abgeschlossen.“
Lutz senkte den Kopf, verwirrt durch das rätselhafte Schweigen des Alten, sank in sich zusammen, wurde plötzlich wieder der korrekte, sorgfältige Beamte, räusperte sich und wurde, wie er den noch immer verlegenen von Schwendi bemerkte, rot; dann ging er, vom Oberst begleitet, langsam hinaus, in das Dunkel irgendeines Korridors und ließ Bärlach allein zurück. Die Leichen lagen auf Tragbahren und waren mit schwarzen Tüchern zugedeckt. Von den kahlen, grauen Wänden blätterte der Gips. Bärlach trat zu der mittleren Bahre und deckte den Toten auf. Es war Gastmann. Bärlach stand leicht über ihn gebeugt, das schwarze Tuch noch in der linken Hand. Schweigend schaute er auf das wächserne Antlitz des Toten nieder, auf den immer noch heiteren Zug der Lippen, doch waren die Augenhöhlen jetzt noch tiefer, und es lauerte nichts Schreckliches mehr in diesen Abgründen. So trafen sie sich zum letzten Male, der Jäger und das Wild, das nun erledigt zu seinen Füßen lag. Bärlach ahnte, dass sich nun das Leben beider zu Ende gespielt hatte, und noch einmal glitt sein Blick durch die Jahre hindurch, legte sein Geist den Weg durch die geheimnisvollen Gänge des Labyrinths zurück, das beider Leben war. Nun blieb zwischen ihnen nichts mehr als die Unermesslichkeit des Todes, ein Richter, dessen Urteil das Schweigen ist. Bärlach stand immer noch gebückt, und das fahle Licht der Zelle lag auf seinem Gesicht und auf seinen Händen, umspielte auch die Leiche, für beide geltend, für beide erschaffen, beide versöhnend. Das Schweigen des Todes sank auf ihn, kroch in ihn hinein, aber es gab ihm keine Ruhe wie dem andern. Die Toten haben immer recht. Langsam deckte Bärlach das Gesicht Gastmanns wieder zu. Das letzte Mal, dass er ihn sah; von nun an gehörte sein Feind dem Grab. Nur ein Gedanke hatte ihn jahrelang beherrscht; den zu vernichten, der nun im kahlen, grauen Räume zu seinen Füßen lag, vom niederfallenden Gips wie mit leichtem, spärlichem Schnee bedeckt; und nun war dem Alten nichts mehr geblieben als ein müdes Zudecken, als eine demütige Bitte um Vergessen, die einzige Gnade, die ein Herz besänftigen kann, das ein wütendes Feuer verzehrt.