Dann, noch am gleichen Tag, Punkt acht, betrat Tschanz das Haus des Alten im Altenberg, von ihm dringend für diese Stunde hergebeten. Ein junges Dienstmädchen mit weißer Schürze hatte ihm zu seiner Verwunderung geöffnet, und wie er in den Korridor kam, hörte er aus der Küche das Kochen und Brodeln von Wasser und Speisen, das Klirren von Geschirr. Das Dienstmädchen nahm ihm den Mantel von den Schultern. Er trug den linken Arm in der Schlinge; trotzdem war er im eigenen Wagen gekommen. Das Mädchen öffnete ihm die Türe zum Esszimmer, und erstarrt blieb Tschanz stehen: der Tisch war feierlich für zwei Personen gedeckt. In einem Leuchter brannten Kerzen, und an einem Ende des Tisches saß Bärlach in einem Lehnstuhl, von den stillen Flammen rot beschienen, ein unerschütterliches Bild der Ruhe.
„Nimm Platz, Tschanz“, rief der Alte seinem Gast entgegen und wies auf einen zweiten Lehnstuhl, der an den Tisch gerückt war. Tschanz setzte sich betäubt.
„Ich wusste nicht, dass ich zu einem Essen komme“, sagte er endlich.
„Wir müssen deinen Sieg feiern“, antwortete der Alte ruhig und schob den Leuchter etwas auf die Seite, so dass sie sich voll ins Gesicht sahen. Dann klatschte er in die Hände. Die Türe öffnete sich, und eine stattliche, rundliche Frau brachte eine Platte, die bis zum Rande überhäuft war mit Sardinen, Krebsen, Salaten von Gurken, Tomaten, Erbsen, besetzt mit Bergen von Mayonnaise und Eiern, dazwischen kalter Aufschnitt, Hühnerfleisch und Lachs. Der Alte nahm von allem. Tschanz, der sah, was für eine Riesenportion der Magenkranke aufschichtete, ließ sich in seiner Verwunderung nur etwas Kartoffelsalat geben.
„Was wollen wir trinken?“ sagte Bärlach. „Ligerzer?“
„Gut, Ligerzer“, antwortete Tschanz wie träumend. Das Dienstmädchen kam und schenkte ein. Bärlach fing an zu essen, nahm dazu Brot, verschlang den Lachs, die Sardinen, das Fleisch der roten Krebse, den Aufschnitt, die Salate, die Mayonnaise und den kalten Braten, klatschte in die Hände, verlangte noch einmal. Tschanz, wie starr, war noch nicht mit seinem Kartoffelsalat fertig. Bärlach ließ sich das Glas zum dritten Male füllen.
„Nun die Pasteten und den roten Neuenburger“, rief er. Die Teller wurden gewechselt. Bärlach ließ sich drei Pasteten auf den Teller legen, gefüllt mit Gänseleber, Schweinefleisch und Trüffeln.
„Sie sind doch krank, Kommissär“, sagte Tschanz endlich zögernd.
„Heute nicht, Tschanz, heute nicht. Ich feiere, dass ich Schmieds Mörder endlich gestellt habe!“
Er trank das zweite Glas Roten aus und fing die dritte Pastete an, pausenlos essend, gierig die Speisen dieser Welt in sich hineinschlingend, zwischen den Kiefern zermalmend, ein Dämon, der einen unendlichen Hunger stillte. An der Wand zeichnete sich, zweimal vergrößert, in wilden Schatten seine Gestalt ab, die kräftigen Bewegungen der Arme, das Senken des Kopfes, gleich dem Tanz eines triumphierenden Negerhäuptlings. Tschanz sah voll Entsetzen nach diesem unheimlichen Schauspiel, das der Todkranke bot. Unbeweglich saß er da, ohne zu essen, ohne den geringsten Bissen zu sich zu nehmen, nicht einmal am Glas nippte er. Bärlach ließ sich Kalbskoteletts, Reis, Pommes frites und grünen Salat bringen, dazu Champagner. Tschanz zitterte.
„Sie verstellen sich“, keuchte er, „Sie sind nicht krank!“
Der andere antwortete nicht sofort. Zuerst lachte er, und dann beschäftigte er sich mit dem Salat, jedes Blatt einzeln genießend. Tschanz wagte nicht, den grauenvollen Alten ein zweites Mal zu fragen.
„Ja, Tschanz“, sagte Bärlach endlich, und seine Augen funkelten wild, „ich habe mich verstellt. Ich war nie krank“, und er schob sich ein Stück Kalbfleisch in den Mund, aß weiter, unaufhörlich, unersättlich.
Da begriff Tschanz, dass er in eine heimtückische Falle geraten war, deren Türe nun hinter ihm ins Schloss schnappte. Kalter Schweiß brach aus seinen Poren. Das Entsetzen umklammerte ihn mit immer stärkeren Armen. Die Erkenntnis seiner Lage kam zu spät, es gab keine Rettung mehr.
„Sie wissen es, Kommissär“, sagte er leise.
„Ja, Tschanz, ich weiß es“, sagte Bärlach fest und ruhig, aber ohne dabei die Stimme zu heben, als spräche er von etwas Gleichgültigem. „Du bist Schmieds Mörder.“ Dann griff er nach dem Glas Champagner und leerte es in einem Zug.
„Ich habe es immer geahnt, dass Sie es wissen“, stöhnte der andere fast unhörbar.
Der Alte verzog keine Miene. Es war, als ob ihn nichts mehr interessierte als dieses Essen; unbarmherzig häufte er sich den Teller zum zweitenmal voll mit Reis, goss Sauce darüber, türmte ein Kalbskotelett obenauf. Noch einmal versuchte sich Tschanz zu retten, sich gegen den teuflischen Esser zur Wehr zu setzen.
„Die Kugel stammt aus dem Revolver, den man beim Diener gefunden hat“, stellte er trotzig fest. Aber seine Stimme klang verzagt.
In Bärlachs zusammengekniffenen Augen wetterleuchtete es verächtlich. „Unsinn, Tschanz. Du weißt genau, dass es dein Revolver ist, den der Diener in der Hand hielt, als man ihn fand. Du selbst hast ihn dem Toten in die Hand gedrückt. Nur die Entdeckung, dass Gastmann ein Verbrecher war, verhinderte, dein Spiel zu durchschauen.“
„Das werden Sie mir nie beweisen können“, lehnte sich Tschanz verzweifelt auf.
Der Alte reckte sich in seinem Stuhl, nun nicht mehr krank und zerfallen, sondern mächtig und gelassen, das Bild einer übermenschlichen überlegenheit, ein Tiger, der mit seinem Opfer spielt, und trank den Rest des Champagners aus. Dann ließ er sich von der unaufhörlich kommenden und gehenden Bedienerin Käse servieren; dazu ass er Radieschen, Salzgurken und Perlzwiebeln. Immer neue Speisen nahm er zu sich, als koste er nur noch einmal, zum letzten Male das, was die Erde dem Menschen bietet.
„Hast du es immer noch nicht begriffen, Tschanz“, sagte er endlich, „dass du mir deine Tat schon lange bewiesen hast? Der Revolver stammt von dir; denn Gastmanns Hund, den du erschossen hast, mich zu retten, wies eine Kugel vor, die von der Waffe stammen musste, die Schmied den Tod brachte: von deiner Waffe. Du selbst brachtest die Indizien herbei, die ich brauchte. Du hast dich verraten, als du mir das Leben rettetest.“
„Als ich Ihnen das Leben rettete! Darum fand ich die Bestie nicht mehr“, antwortete Tschanz mechanisch. „Wussten Sie, dass Gastmann einen Bluthund besaß?“
„Ja. Ich hatte meinen linken Arm mit einer Decke umwickelt.“
„Dann haben Sie mir auch hier eine Falle gestellt“, sagte der Mörder fast tonlos.
„Auch damit. Aber den ersten Beweis hast du mir gegeben, als du mit mir am Freitag über Ins nach Ligerz fuhrst, um mir die Komödie mit dem blauen Charon vorzuspielen. Schmied fuhr am Mittwoch über Zollikofen, das wusste ich, denn er hielt in jener Nacht bei der Garage in Lyß.“
„Wie konnten Sie das wissen?“ fragte Tschanz.
„Ich habe ganz einfach telephoniert. Wer in jener Nacht über Ins und Erlach fuhr, war der Mörder: du, Tschanz. Du kamst von Grindelwald. Die Pension Eiger besitzt ebenfalls einen blauen Mercedes. Seit Wochen hattest du Schmied beobachtet, jeden seiner Schritte überwacht, eifersüchtig auf seine Fähigkeiten, auf seinen Erfolg, auf seine Bildung, auf sein Mädchen. Du wusstest, dass er sich mit Gastmann beschäftigte, du wusstest sogar, wann er ihn besuchte, aber du wusstest nicht, warum. Da fiel dir durch Zufall auf seinem Pult die Mappe mit den Dokumenten in die Hände. Du beschlössest, den Fall zu übernehmen und Schmied zu töten, um einmal selber Erfolg zu haben. Du dachtest richtig, es würde dir leicht fallen, Gastmann mit einem Mord zu belasten. Als ich nun in Grindelwald einen blauen Mercedes sah, wusste ich, wie du vorgegangen bist: Du hast den Wagen am Mittwochabend gemietet. Ich habe mich erkundigt. Das weitere ist einfach: du fuhrst über Ligerz nach Schernelz und ließest den Wagen im Twannbachwald stehen, du durchquertest den Wald auf einer Abkürzung durch die Schlucht, wodurch du auf die Straße Twann-Lamboing gelangtest. Bei den Felsen wartetest du Schmied ab, er erkannte dich und stoppte verwundert. Er öffnete die Türe, und dann hast du ihn getötet. Du hast es mir ja selbst erzählt. Und nun hast du, was du wolltest: seinen Erfolg, seinen Posten, seinen Wagen und seine Freundin.“
Tschanz hörte dem unerbittlichen Schachspieler zu, der ihn matt gesetzt hatte und nun sein grauenhaftes Mahl beendete. Die Kerzen brannten unruhiger, das Licht flackerte auf den Gesichtern der zwei Männer, die Schatten verdichteten sich. Totenstille herrschte in dieser nächtlichen Hölle, die Dienerinnen kamen nicht mehr. Der Alte saß jetzt unbeweglich, er schien nicht einmal mehr zu atmen, das flackernde Licht umfloss ihn mit immer neuen Wellen, rotes Feuer, das sich am Eis seiner Stirne und seiner Seele brach.
„Sie haben mit mir gespielt“, sagte Tschanz langsam.
„Ich habe mit dir gespielt“, antwortete Bärlach mit furchtbarem Ernst. „Ich konnte nicht anders. Du hast mir Schmied getötet, und nun musste ich dich nehmen.“
„Um Gastmann zu töten“, ergänzte Tschanz, der mit einem Male die ganze Wahrheit begriff.
„Du sagst es. Mein halbes Leben habe ich hingegeben, Gastmann zu stellen, und Schmied war meine letzte Hoffnung. Ich hatte ihn auf den Teufel in Menschengestalt gehetzt, ein edles Tier auf eine wilde Bestie. Aber dann bist du gekommen, Tschanz, mit deinem lächerlichen, verbrecherischen Ehrgeiz, und hast mir meine einzige Chance vernichtet. Da habe ich dich genommen, dich, den Mörder, und habe dich in meine furchtbarste Waffe verwandelt, denn dich trieb die Verzweiflung, der Mörder musste einen anderen Mörder finden. Ich machte mein Ziel zu deinem Ziel.“
„Es war für mich die Hölle“, sagte Tschanz.
„Es war für uns beide die Hölle“, fuhr der Alte mit fürchterlicher Ruhe fort. „Von Schwendis Dazwischenkommen trieb dich zum äußersten, du musstest auf irgendeine Weise Gastmann als Mörder entlarven, jedes Abweichen von der Spur, die auf Gastmann deutete, konnte auf deine führen. Nur noch Schmieds Mappe konnte dir helfen. Du wusstest, dass sie in meinem Besitze war, aber du wusstest nicht, dass sie Gastmann bei mir geholt hatte. Darum hast du mich in der Nacht vom Samstag auf den Sonntag überfallen. Auch beunruhigte dich, dass ich nach Grindelwald ging.“
„Sie wussten, dass ich es war, der Sie überfiel?“ sagte Tschanz tonlos.
„Ich wusste das vom ersten Moment an. Alles, was ich tat, geschah mit der Absicht, dich in die äußerste Verzweiflung zu treiben. Und wie die Verzweiflung am größten war, gingst du hin nach Lamboing, um irgendwie die Entscheidung zu suchen.“ „Einer von Gastmanns Dienern fing an zu schießen“, sagte Tschanz.
„Ich habe Gastmann am Sonntagmorgen gesagt, dass ich einen schicken würde, ihn zu töten.“
Tschanz taumelte. Es überlief ihn eiskalt.
„Da haben Sie mich und Gastmann aufeinander gehetzt wie Tiere!“
„Bestie gegen Bestie“, kam es unerbittlich vom andern Lehnstuhl her.
„Dann waren Sie der Richter, und ich der Henker“, keuchte der Andere.
„Es ist so“, antwortete der Alte.
„Und ich, der ich nur Ihren Willen ausführte, ob ich wollte oder nicht, bin nun ein Verbrecher, ein Mensch, den man jagen wird!“
Tschanz stand auf, stützte sich mit der rechten, unbehinderten Hand auf die Tischplatte. Nur noch eine Kerze brannte. Tschanz suchte mit brennenden Augen in der Finsternis des Alten Umrisse zu erkennen, sah aber nur einen unwirklichen, schwarzen Schatten. Unsicher und tastend machte er eine Bewegung gegen die Rocktasche.
„Lass das“, hörte er den Alten sagen. „Es hat keinen Sinn. Lutz weiß, dass du bei mir bist, und die Frauen sind noch im Haus.“
„Ja, es hat keinen Sinn“, antwortete Tschanz leise.
„Der Fall Schmied ist erledigt“, sagte der Alte durch die Dunkelheit des Raumes hindurch. „Ich werde dich nicht verraten. Aber geh! Irgendwohin! Ich will dich nie mehr sehen. Es ist genug, dass ich einen richtete. Geh! Geh!“
Tschanz ließ den Kopf sinken und ging langsam hinaus, verwachsend mit der Nacht, und wie die Türe ins Schloss fiel und wenig später draußen ein Wagen davonfuhr, erlosch die Kerze, den Alten, der die Augen geschlossen hatte, noch einmal in das Licht einer grellen Flamme tauchend.