Книга: Der Richter und sein Henker. Grieche sucht Griechin / Судья и его палач. Грек ищет гречанку. Книга для чтения на немецком языке
Назад: Vierzehntes Kapitel
Дальше: Achtzehntes Kapitel

Sechzehntes Kapitel

Gegen zwei Uhr nachts wachte Bärlach plötzlich auf. Er war früh zu Bett gegangen, hatte auch auf den Rat Hungertobels hin ein Mittel genommen, das erste Mal, so dass er zuerst sein heftiges Erwachen diesen ihm ungewohnten Vorkehrungen zuschrieb. Doch glaubte er wieder, durch irgendein Geräusch geweckt worden zu sein. Er war – wie oft, wenn wir mit einem Schlag wach werden – übernatürlich hellsichtig und klar; dennoch musste er sich zuerst orientieren, und erst nach einigen Augenblicken – die uns dann Ewigkeiten scheinen – fand er sich zurecht. Er lag nicht im Schlafzimmer, wie es sonst seine Gewohnheit war, sondern in der Bibliothek; denn, auf eine schlechte Nacht vorbereitet, wollte er, wie er sich erinnerte, noch lesen; doch musste ihn mit einem Male ein tiefer Schlaf übermannt haben. Seine Hände fuhren über den Leib, er war noch in den Kleidern; nur eine Wolldecke hatte er über sich gebreitet. Er horchte. Etwas fiel auf den Boden, es war das Buch, in dem er gelesen hatte. Die Finsternis des fensterlosen Raums war tief, aber nicht vollkommen; durch die offene Türe des Schlafzimmers drang schwaches Licht, von dort schimmerte der Schein der stürmischen Nacht.

Er hörte von ferne den Wind aufheulen. Mit der Zeit erkannte er im Dunkel ein Büchergestell und einen Stuhl, auch die Kante des Tisches, auf dem, wie er mühsam erkannte, noch immer der Revolver lag. Da spürte er plötzlich einen Luftzug, im Schlafzimmer schlug ein Fenster, dann schloss sich die Türe mit einem heftigen Schlag. Unmittelbar nachher hörte der Alte vom Korridor her ein leises Schnappen. Er begriff. Jemand hatte die Haustüre geöffnet und war in den Korridor gedrungen, jedoch ohne mit der Möglichkeit eines Luftzuges zu rechnen. Bärlach stand auf und machte an der Stehlampe Licht.

Er ergriff den Revolver und entsicherte ihn. Da machte auch der Andere im Korridor Licht. Bärlach, der durch die halboffene Türe die brennende Lampe erblickte, war überrascht; denn er sah in dieser Handlung des Unbekannten keinen Sinn. Er begriff erst, als es zu spät war. Er sah die Silhouette eines Arms und einer Hand, die in die Lampe griff, dann leuchtete eine blaue Flamme auf, es wurde finster: der Unbekannte hatte die Lampe herausgerissen und einen Kurzschluss herbeigeführt. Bärlach stand in vollkommener Dunkelheit, der Andere hatte den Kampf aufgenommen und die Bedingungen gestellt: Bärlach musste im Finstern kämpfen. Der Alte umklammerte die Waffe und öffnete vorsichtig die Türe zum Schlafzimmer. Er betrat den Raum. Durch die Fenster fiel ungewisses Licht, zuerst kaum wahrnehmbar, das sich jedoch, wie sich das Auge daran gewöhnt hatte, verstärkte. Bärlach lehnte sich zwischen dem Bett und Fenster, das gegen den Fluss ging, an die Wand; das andere Fenster war rechts von ihm, es ging gegen das Nebenhaus. So stand er in undurchdringlichem Schatten, zwar benachteiligt, da er nicht ausweichen konnte, doch hoffte er, dass seine Unsichtbarkeit dies aufwöge. Die Türe zur Bibliothek lag im schwachen Licht der Fenster. Er musste den Umriss des Unbekannten erblicken, wenn er sie durchschritt. Da flammte in der Bibliothek der feine Strahl einer Taschenlampe auf, glitt suchend über die Einbände, dann über den Fußboden, über den Sessel, schließlich über den Schreibtisch. Im Strahl lag das Schlangenmesser. Wieder sah Bärlach die Hand durch die offene Türe ihm gegenüber. Sie steckte in einem braunen Lederhandschuh, tastete über den Tisch, schloss sich um den Griff des Schlangenmessers. Bärlach hob die Waffe, zielte. Da erlosch die Taschenlampe. Unverrichteter Dinge ließ der Alte den Revolver wieder sinken, wartete. Er sah von seinem Platz aus durch das Fenster, ahnte die schwarze Masse des unaufhörlich fließenden Flusses, die aufgetürmte Stadt jenseits, die Kathedrale, wie ein Pfeil in den Himmel stechend, und darüber die treibenden Wolken. Er stand unbeweglich und erwartete den Feind, der gekommen war, ihn zu töten. Sein Auge bohrte sich in den ungewissen Ausschnitt der Türe. Er wartete. Alles war still, leblos. Dann schlug die Uhr im Korridor: drei. Er horchte. Leise hörte er von ferne das Ticken der Uhr. Irgendwo hupte ein Automobil, dann fuhr es vorüber. Leute von einer Bar. Einmal glaubte er, atmen zu hören, doch musste er sich getäuscht haben. So stand er da, und irgendwo in seiner Wohnung stand der Andere, und die Nacht war zwischen ihnen, diese geduldige, grausame Nacht, die unter ihrem schwarzen Mantel die tödliche Schlange barg, das Messer, das sein Herz suchte. Der Alte atmete kaum. Er stand da und umklammerte die Waffe, kaum dass er fühlte, wie kalter Schweiß über seinen Nacken floss. Er dachte an nichts mehr, nicht mehr an Gastmann, nicht mehr an Lutz, auch nicht mehr an die Krankheit, die an seinem Leibe frass, Stunde um Stunde, im Begriff, das Leben zu zerstören, das er nun verteidigte, voll Gier zu leben und nur zu leben. Er war nur noch ein Auge, das die Nacht durchforschte, nur noch ein Ohr, das den kleinsten Laut überprüfte, nur noch eine Hand, die sich um das kühle Metall der Waffe schloss. Doch nahm er endlich die Gegenwart des Mörders anders wahr, als er geglaubt hatte; er spürte an seiner Wange eine ungewisse Kälte, eine geringe Veränderung der Luft. Lange konnte er sich das nicht erklären, bis er erriet, dass sich die Türe, die vom Schlafzimmer ins Esszimmer führte, geöffnet hatte. Der Fremde hatte seine überlegung zum zweiten Male durchkreuzt, er war auf einem Umweg ins Schlafzimmer gedrungen, unsichtbar, unhörbar, unaufhaltsam, in der Hand das Schlangenmesser. Bärlach wusste nun, dass er den Kampf beginnen, dass er zuerst handeln musste, er, der alte, todkranke Mann, den Kampf um ein Leben, das noch ein Jahr dauern konnte, wenn alles gut ging, wenn Hungertobel gut und richtig schnitt. Bärlach richtete den Revolver gegen das Fenster, das nach der Aare sah. Dann schoss er, dann noch einmal, dreimal im ganzen, schnell und sicher durch die zersplitternde Scheibe hinaus in den Fluss, dann ließ er sich nieder. über ihm zischte es, es war das Messer, das nun federnd in der Wand steckte. Aber schon hatte der Alte erreicht, was er wollte: im andern Fenster wurde es Licht, es waren die Leute des Nebenhauses, die sich nun aus ihren geöffneten Fenstern bückten; zu Tode erschrocken und verwirrt starrten sie in die Nacht. Bärlach richtete sich auf. Das Licht des Nebenhauses erleuchtete das Schlafzimmer, undeutlich sah er noch in der Esszimmertüre den Schatten einer Gestalt, dann schlug die Haustüre zu, hernach durch den Luftzug die Türe zur Bibliothek, dann die zum Esszimmer, ein Schlag nach dem andern, das Fenster klappte, darauf war es still. Die Leute vom Nebenhaus starrten immer noch in die Nacht. Der Alte rührte sich nicht an seiner Wand, in der Hand immer noch die Waffe. Er stand da, unbeweglich, als spüre er die Zeit nicht mehr. Die Leute zogen sich zurück, das Licht erlosch. Bärlach stand an der Wand, wieder in der Dunkelheit, eins mit ihr, allein im Haus.

Siebzehntes Kapitel

Nach einer halben Stunde ging er in den Korridor und suchte seine Taschenlampe. Er telephonierte Tschanz, er solle kommen. Dann vertauschte er die zerstörte Sicherung mit einer neuen, das Licht brannte wieder. Bärlach setzte sich in seinen Lehnstuhl, horchte in die Nacht. Ein Wagen fuhr draußen vor, bremste jäh. Wieder ging die Haustüre, wieder hörte er einen Schritt. Tschanz betrat den Raum.

„Man versuchte, mich zu töten“, sagte der Kommissär. Tschanz war bleich. Er trug keinen Hut, die Haare hingen ihm wirr in die Stirne, und unter dem Wintermantel kam das Pyjama hervor. Sie gingen zusammen ins Schlafzimmer. Tschanz zog das Messer aus der Wand, mühselig, denn es hatte sich tief in das Holz eingegraben.

„Mit dem?“ fragte er. „Mit dem, Tschanz.“

Der junge Polizist besah sich die zersplitterte Scheibe. „Sie haben ins Fenster hineingeschossen, Kommissär?“ fragte er verwundert.

Bärlach erzählte ihm alles. „Das beste, was Sie tun konnten“, brummte der andere.

Sie gingen in den Korridor, und Tschanz hob die Glühbirne vom Boden.

„Schlau“, meinte er, nicht ohne Bewunderung, und legte sie wieder weg. Dann gingen sie in die Bibliothek zurück. Der Alte streckte sich auf den Diwan, zog die Decke über sich, lag da, hilflos, plötzlich uralt und wie zerfallen. Tschanz hielt immer noch das Schlangenmesser in der Hand. Er fragte:

„Konnten Sie denn den Einbrecher nicht erkennen?“

„Nein. Er war vorsichtig und zog sich schnell zurück. Ich konnte nur einmal sehen, dass er braune Lederhandschuhe trug.“

„Das ist wenig.“

„Das ist nichts. Aber wenn ich ihn auch nicht sah, kaum seinen Atem hörte, ich weiß, wer es gewesen ist. Ich weiß es; ich weiß es.“

Das alles sagte der Alte fast unhörbar. Tschanz wog in seiner Hand das Messer, blickte auf die graue, liegende Gestalt, auf diesen alten, müden Mann, auf diese Hände, die neben dem zerbrechlichen Leib wie verwelkte Blumen neben einem Toten lagen. Dann sah er des Liegenden Blick. Ruhig, undurchdringlich und klar waren Bärlachs Augen auf ihn gerichtet.

Tschanz legte das Messer auf den Schreibtisch.

„Heute morgen müssen Sie nach Grindelwald, Sie sind krank. Oder wollen Sie lieber doch nicht gehen? Es ist vielleicht nicht das Richtige, die Höhe. Es ist nun dort Winter.“

„Doch, ich gehe.“

„Dann müssen Sie noch etwas schlafen. Soll ich bei Ihnen wachen?“

„Nein, geh nur, Tschanz“, sagte der Kommissär.

„Gute Nacht“, sagte Tschanz und ging langsam hinaus. Der Alte antwortete nicht mehr, er schien schon zu schlafen. Tschanz öffnete die Haustüre, trat hinaus, schloss sie wieder. Langsam ging er die wenigen Schritte bis zur Straße, schloss auch die Gartentüre, die offen war. Dann kehrte er sich gegen das Haus zurück. Es war immer noch finstere Nacht. Alle Dinge waren verloren in dieser Dunkelheit, auch die Häuser nebenan. Nur weit oben brannte eine Straßenlampe, ein verlorener Stern in einer düsteren Finsternis, voll von Traurigkeit, voll vom Rauschen des Flusses. Tschanz stand da, und plötzlich stieß er einen leisen Fluch aus. Sein Fuß stieß die Gartentüre wieder auf, entschlossen schritt er über den Gartenweg bis zur Haustüre, den Weg, den er gegangen, noch einmal zurückgehend.

Er ergriff die Falle und drückte sie nieder. Aber die Haustüre war jetzt verschlossen.

* * *

Bärlach erhob sich um sechs, ohne geschlafen zu haben. Es war Sonntag. Der Alte wusch sich, legte auch andere Kleider an. Dann telephonierte er einem Taxi, essen wollte er im Speisewagen. Er nahm den warmen Wintermantel und verließ die Wohnung, trat in den grauen Morgen hinaus, doch trug er keinen Koffer bei sich. Der Himmel war klar. Ein verbummelter Student wankte vorbei, nach Bier stinkend, grüßte. Der Blaser, dachte Bärlach, schon zum zweiten Male durchs Physikum gefallen, der arme Kerl. Da fängt man an zu saufen. Das Taxi fuhr heran, hielt. Es war ein großer amerikanischer Wagen. Der Chauffeur hatte den Kragen hochgeschlagen, Bärlach sah kaum die Augen. Der Chauffeur öffnete.

„Bahnhof“, sagte Bärlach und stieg ein. Der Wagen setzte sich in Bewegung.

„Nun“, sagte eine Stimme neben ihm, „wie geht es dir? Hast du gut geschlafen?“

Bärlach wandte den Kopf. In der andern Ecke saß Gastmann. Er war in einem hellen Regenmantel und hielt die Arme verschränkt. Die Hände steckten in braunen Lederhandschuhen. So saß er da wie ein alter, spöttischer Bauer. Vorne wandte der Chauffeur sein Gesicht nach hinten, grinste. Der Kragen war jetzt nicht mehr hochgeschlagen, es war einer der Diener. Bärlach begriff, dass er in eine Falle gegangen war.

„Was willst du wieder von mir?“ fragte der Alte.

„Du spürst mir immer noch nach. Du warst beim Schriftsteller“, sagte der in der Ecke, und seine Stimme klang drohend.

„Das ist mein Beruf.“

Der Andere ließ kein Auge von ihm: „Es ist noch jeder umgekommen, der sich mit mir beschäftigt hat, Bärlach.“

Der vorne fuhr wie der Teufel den Aargauerstalden hinauf. „Ich lebe noch. Und ich habe mich immer mit dir beschäftigt“, antwortete der Kommissär gelassen.

Die beiden schwiegen.

Der Chauffeur fuhr in rasender Geschwindigkeit gegen den Viktoriaplatz. Ein alter Mann humpelte über die Straße und konnte sich nur mit Mühe retten.

„Gebt doch Acht“, sagte Bärlach ärgerlich.

„Fahr schneller“, rief Gastmann schneidend und musterte den Alten spöttisch. „Ich liebe die Schnelligkeit der Maschinen.“

Der Kommissar fröstelte. Er liebte die luftleeren Räume nicht. Sie rasten über die Brücke, an einem Tram vorbei und näherten sich über das silberne Band des Flusses tief unter ihnen pfeilschnell der Stadt, die sich ihnen willig öffnete. Die Gassen waren noch öde und verlassen, der Himmel über der Stadt gläsern.

„Ich rate dir, das Spiel aufzugeben. Es wäre Zeit, deine Niederlage einzusehen“, sagte Gastmann und stopfte seine Pfeife.

Der Alte sah nach den dunklen Wölbungen der Lauben, an denen sie vorüberglitten nach den schattenhaften Gestalten zweier Polizisten, die vor der Buchhandlung Lang standen.

Geißbühler und Zumsteg, dachte er und dann: Den Fontäne sollte ich doch endlich einmal zahlen.

„Unser Spiel“, antwortete er endlich, „können wir nicht aufgeben. Du bist in jener Nacht in der Türkei schuldig geworden, weil du die Wette geboten hast, Gastmann, und ich, weil ich sie angenommen habe.“

Sie fuhren am Bundeshaus vorbei.

„Du glaubst immer noch, ich hätte den Schmied getötet?“ fragte der Andere.

„Ich habe keinen Augenblick daran geglaubt“, antwortete der Alte und fuhr dann fort, gleichgültig zusehend, wie der Andere seine Pfeife in Brand steckte: „Es ist mir nicht gelungen, dich der Verbrechen zu überführen, die du begangen hast, nun werde ich dich eben dessen überführen, das du nicht begangen hast.“

Gastmann schaute den Kommissär prüfend an.

„Auf diese Möglichkeit bin ich noch gar nicht gekommen“, sagte er. „Ich werde mich vorsehen müssen.“

Der Kommissär schwieg.

„Vielleicht bist du ein gefährlicherer Bursche, als ich dachte, alter Mann“, meinte Gastmann in seiner Ecke nachdenklich.

Der Wagen hielt. Sie waren am Bahnhof.

„Es ist das letzte Mal, dass ich mit dir rede, Bärlach“, sagte Gastmann. „Das nächste Mal werde ich dich töten, gesetzt, dass du deine Operation überstehst.“

„Du irrst dich“, sagte Bärlach, der auf dem morgendlichen Platz stand, alt und leicht frierend. „Du wirst mich nicht töten. Ich bin der einzige, der dich kennt, und so bin ich auch der einzige, der dich richten kann. Ich habe dich gerichtet, Gastmann, ich habe dich zum Tode verurteilt. Du wirst den heutigen Tag nicht mehr überleben. Der Henker, den ich ausersehen habe, wird heute zu dir kommen. Er wird dich töten, denn das muss nun eben einmal in Gottes Namen getan werden.“

Gastmann zuckte zusammen und starrte den Alten verwundert an, doch dieser ging in den Bahnhof hinein, die Hände im Mantel vergraben, ohne sich umzukehren, hinein in das dunkle Gebäude, das sich langsam mit Menschen füllte.

„Du Narr!“ schrie Gastmann nun plötzlich dem Kommissär nach, so laut, dass sich einige Passanten umdrehten. „Du Narr!“ Doch Bärlach war nicht mehr zu sehen.

Назад: Vierzehntes Kapitel
Дальше: Achtzehntes Kapitel