Книга: Narziss und Goldmund / Нарцисс и Гольдмунд. Книга для чтения на немецком языке
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Dreizehntes Kapitel

In den ersten Zeiten seiner neuen Wanderschaft, im ersten gierigen Taumel der wiedergewonnenen Freiheit, musste Goldmund erst wieder lernen, das heimatlose und zeitlose Leben der Fahrenden zu leben. Keinem Menschen gehorsam, abhängig nur von Wetter und Jahreszeit, kein Ziel vor sich, kein Dach über sich, nichts besitzend und allen Zufällen offen, fuhren die Heimatlosen ihr kindliches und tapferes, ihr ärmliches und starkes Leben. Sie sind die Söhne Adams, des aus dem Paradies Vertriebenen, und sind die Brüder der Tiere, der unschuldigen. Aus der Hand des Himmels nehmen sie Stunde um Stunde, was ihnen gegeben wird: Sonne, Regen, Nebel, Schnee, Wärme und Kälte, Wohlsein und Not, es gibt für sie keine Zeit, keine Geschichte, kein Streben und nicht jenen seltsamen Götzen der Entwicklung und des Fortschritts, an den die Hausbesitzer so verzweifelt glauben. Ein Vagabund kann zart oder roh sein, kunstfertig oder tölpisch, tapfer oder ängstlich, immer aber ist er im Herzen ein Kind, immer lebt er am ersten Tage, vor Anfang aller Weltgeschichte, immer wird sein Leben von wenigen einfachen Trieben und Nöten geleitet. Er kann klug sein oder dumm, er kann tief in sich wissend sein, wie gebrechlich und vergänglich alles Leben ist und wie arm und angstvoll alles Lebendige sein bisschen warmes Blut durch das Eis der Welträume trägt, oder er kann bloß kindisch und gierig den Befehlen seines armen Magens folgen – immer ist er der Gegenspieler und Todfeind des Besitzenden und Sesshaften, der ihn hasst, verachtet und fürchtet, denn er will nicht an all das erinnert werden: nicht an die Flüchtigkeit alles Seins, an das beständige Hinwelken alles Lebens, an den unerbittlichen eisigen Tod, der rund um uns das Weltall erfüllt.

Die Kindlichkeit des Vagantenlebens, seine mütterliche Herkunft, seine Abkehr von Gesetz und Geist, seine Preisgegebenheit und heimliche immerwährende Todesnähe hatten längst Goldmunds Seele tief ergriffen und geprägt. Dass dennoch Geist und Wille in ihm wohnte, dass er dennoch ein Künstler war, machte sein Leben reich und schwierig. Jedes Leben wird ja erst durch Spaltung und Widerspruch reich und blühend. Was wäre Vernunft und Nüchternheit ohne das Wissen vom Rausch, was wäre Sinnenlust, wenn nicht der Tod hinter ihr stünde, und was wäre Liebe ohne die ewige Todfeindschaft der Geschlechter?

Sommer und Herbst sanken hinab, mühsam brachte sich Goldmund durch die kargen Monate, berauscht durchwanderte er den süßen duftenden Frühling, die Jahreszeiten liefen so eilig hinweg, so schnell sank immer wieder die hohe Sommersonne hinab. Es ging Jahr um Jahr, und es schien, als habe Goldmund vergessen, dass es anderes auf Erden gebe als Hunger und Liebe und diese stille unheimliche Eile der Jahreszeiten, es schien, als sei er ganz in der mütterlichen, triebhaften Urwelt versunken. In jedem Traum aber und bei jeder sinnenden Rast mit dem Blick über die blühenden und welkenden Taler war er voll Schauen, war Künstler, litt an quälender Sehnsucht, den holden dahintreibenden Unsinn des Lebens durch Geist zu beschwören und in Sinn zu verwandeln.

Einst traf er, der seit dem blutigen Abenteuer mit Viktor nie mehr anders als allein gewandert war, auf einen Kameraden, der sich unmerklich ihm anschloss und den er eine ganze Weile nicht loswurde. Doch war er nicht von der Art Viktors, sondern es war ein Rompilger, ein noch junger Mann in Kutte und Pilgerhut, der Robert hieß und am Bodensee zu Hause war. Dieser Mensch, ein Handwerkersohn und eine Weile bei den Mönchen des heiligen Gallus zur Schule gegangen, hatte sich schon als Knabe eine Wallfahrt nach Rom in den Kopf gesetzt und sich immer diesem Lieblingsgedanken hingegeben und die erste Gelegenheit, ihn auszuführen, ergriffen. Diese war der Tod seines Vaters, in dessen Werkstatt er als Schreiner gearbeitet hatte. Kaum war der Alte begraben, da erklärte Robert seiner Mutter und Schwester, dass nichts ihn zurückhalten könne, sofort zur Stillung seines Dranges, und um für seine und seines Vaters Sünden zu büßen, die Pilgerfahrt nach Rom anzutreten. Vergebens klagten die Frauen, vergebens schalten sie ihn aus, er blieb eigensinnig und trat, statt für die beiden Weiber zu sorgen, ohne den Segen der Mutter und unter den zornigen Schimpfreden seiner Schwester die Reise an. Was ihn trieb, war vor allem Wanderlust, mit ihr verband sich eine Art von oberflächlicher Frömmigkeit, das heißt eine Neigung zum Verweilen in der Nähe kirchlicher Stätten und geistlicher Verrichtungen, eine Freude an Gottesdienst, Taufe, Begräbnis, Messe, Weihrauch und Kerzenflammen. Er konnte ein wenig Latein, aber nicht Gelehrsamkeit war es, wonach seine kindliche Seele strebte, sondern Beschaulichkeit und stille Schwärmerei im Schatten der Kirchengewölbe. Er war als Knabe mit Leidenschaft dem Dienst als Messbub hingegeben gewesen. Goldmund nahm ihn nicht sehr ernst und mochte ihn doch gern, ein wenig fühlte er sich ihm verwandt in dem triebhaften Hingegebensein an Wanderung und Fremde. Robert war also damals zufrieden losgewandert und auch bis nach Rom gekommen, hatte die Gastfreundschaft unzähliger Klöster und Pfarreien in Anspruch genommen, sich Gebirg und Süden betrachtet und sich in Rom zwischen allen den Kirchen und frommen Veranstaltungen sehr wohlgefühlt, Hunderte von Messen gehört und an den berühmtesten und heiligsten Örtern Andacht verrichtet und die Sakramente genossen und mehr Weihrauch eingeatmet, als für seine kleinen Jugendsünden und für die seines Vaters vonnöten war. Ein Jahr und länger war er ausgeblieben, und als er schließlich wiederkam und wieder ins väterliche Häuschen trat, empfing man ihn nicht wie den verlorenen Sohn, sondern die Schwester hatte sich inzwischen der häuslichen Pflichten und Rechte bemächtigt, hatte einen fleißigen Schreinergesellen eingestellt und geheiratet und regierte Haus und Werkstatt so vollkommen, dass der Heimgekehrte sich nach kurzem Aufenthalt dort als entbehrlich erkannte und von niemand zum Bleiben ermahnt wurde, als er bald wieder von Fortgehen und Reisen sprach. Er nahm es nicht schwer, ließ sich von der Mutter einige Spargroschen geben, schmückte sich wieder mit der Pilgertracht und trat eine neue Wallfahrt an, ohne Ziel, quer durchs Reich, ein halbgeistlicher Landfahrer. Kupferne Erinnerungsmünzen an bekannte Wallfahrtsorte und geweihte Rosenkranze klirrten an ihm herab.

So traf er auf Goldmund, wanderte einen Tag mit ihm, tauschte Landfahrererinnerungen mit ihm, verlor sich im nächsten Städtchen, traf da und dort wieder auf ihn und blieb schließlich ganz bei ihm, ein verträglicher und dienstwilliger Reisegefährte. Goldmund gefiel ihm sehr, er warb mit kleinen Dienstleistungen um ihn, bewunderte sein Wissen, seine Kühnheit, seinen Geist und liebte seine Gesundheit, Kraft und Aufrichtigkeit. Sie gewöhnten sich aneinander, denn auch Goldmund war verträglich. Nur eines vertrug er nicht: wenn er von seiner Traurigkeit oder Grübelei befallen war, dann schwieg er hartnäckig und sah am andern vorbei, als wäre er nicht vorhanden, und dann durfte man weder schwatzen noch fragen noch trösten und musste ihn gewähren und schweigen lassen. Dies hatte Robert bald gelernt. Seit er gemerkt hatte, dass Goldmund eine Menge lateinischer Verse und Lieder auswendig wusste, seit er ihn vor dem Portal eines Domes die steinernen Gestalten hatte erklären hören, seit er ihn an eine leere Mauer, an der sie rasteten, mit Rötel in schnellen großen Strichen lebensgroße Figuren hatte hinzeichnen sehen, hielt er seinen Kameraden für einen Liebling Gottes und beinahe für einen Zauberer. Dass er auch ein Liebling der Frauen war und manche mit einem Blick und Lächeln sich zu eigen machte, sah Robert ebenfalls, es gefiel ihm weniger, aber bewundern musste er es doch.

Ihre Fahrt wurde einst auf unerwartete Weise unterbrochen. Eines Tages kamen sie in die Nähe eines Dorfes, da empfing sie ein Häufchen Bauern, mit Knütteln, Stangen und Dreschflegeln bewaffnet, und der Anführer schrie ihnen von weitem zu, sie sollten alsbald umkehren und sich auf Nimmerwiedersehen davonmachen, dem Teufel zu, sonst würden sie totgeschlagen. Während Goldmund stehenblieb und zu wissen begehrte, was denn los sei, traf ihn schon ein Steinwurf an die Brust. Robert, nach dem er sich umblickte, war davongerannt wie besessen. Drohend rückten die Bauern vor, und es blieb Goldmund nichts übrig, als dem Fliehenden langsamer zu folgen. Zitternd erwartete ihn Robert unter einem Kreuz mit einem Heiland daran, das mitten im Felde stand.

»Heidenmäßig bist du gelaufen«, lachte Goldmund »Aber was haben denn diese Mistfinken in ihren Dickköpfen? Ist denn Krieg? Stellen bewaffnete Wachen vor ihr Nest und wollen niemand hereinlassen! Nimmt mich wunder, was dahintersteckt.«

Sie wussten es beide nicht. Erst am folgenden Morgen machten sie in einem alleinstehenden Bauernhof gewisse Erfahrungen und begannen das Geheimnis zu erraten. Dieser Hof, aus Hütte, Stall und Scheune bestehend und von einer grünen Hofstatt mit hohem Gras und vielen Obstbäumen umgeben, lag merkwürdig still und verschlafen: keine Menschenstimme, kein Tritt, kein Kindergeschrei, kein Sensendengeln, nichts war zu hören, in der Hofstatt stand eine Kuh im Gras und brüllte, und man sah ihr an, dass es Zeit war, sie zu melken. Sie traten vors Haus, klopften an die Tür, bekamen keine Antwort, gingen zum Stall, der stand offen und leer, gingen zur Scheune, auf deren Strohdach das lichtgrüne Moos in der Sonne gleißte, fanden auch da keine Seele. Sie kehrten zum Hause zurück, verwundert und betreten über die Verödung dieser Heimstatt, sie schlugen nochmals mit Fäusten gegen die Tür, wieder kam keine Antwort. Goldmund versuchte zu öffnen und fand zu seinem Erstaunen die Türe unverschlossen, er drückte sie nach innen und trat in die finstere Stube. »Grüß Gott«, rief er laut, und »Niemand daheim?«, aber es blieb alles still. Robert war vor der Tür geblieben. Neugierig drang Goldmund vor. Es roch schlecht in der Hütte, es roch sonderbar und widerlich. Die Feuerstelle war voll Asche, er blies hinein, auf dem Grunde glommen noch Funken in verkohlten Scheiten. Da sah er in der Dämmerung im Hintergrund des Herdplatzes jemand sitzen, jemand saß da in einem Sessel und schlief, es schien eine alte Frau zu sein. Rufen half nichts, das Haus schien verzaubert. Freundlich tippte er der sitzenden Frau auf die Schulter, sie bewegte sich nicht, und jetzt sah er, dass sie mitten in einem Spinnennetze saß, dessen Faden zum Teil an ihrem Haar und ihren Knien befestigt waren. »Die ist tot«, dachte er mit einem leichten Grausen, und um sich zu überzeugen, machte er sich am Feuer zu schaffen, schürte und blies, bis er Flamme hatte und einen langen Span entzünden konnte. Mit dem leuchtete er der Sitzenden ins Gesicht. Er sah unter grauem Haar ein blauschwarzes Leichengesicht, das eine Auge stand offen und blinkte leer und bleiern. Das Weib war hier gestorben, im Stuhl sitzend. Nun ja, man konnte ihr nicht helfen Mit dem brennenden Span in der Hand stöberte Goldmund weiter und fand im selben Raum, auf der Schwelle zu einer hinteren Stube, noch eine Leiche liegen, einen Knaben von vielleicht acht oder neun Jahren, mit verschwollenem, entstelltem Gesicht, im bloßen Hemde. Er lag mit dem Bauch auf der Balkenschwelle, mit beiden Händen machte er feste grimmige Fäustchen. Das ist der zweite, dachte Goldmund, wie in einem hässlichen Traum ging er weiter, in die Hinterstube, dort standen die Läden offen, und der Tag schien hell herein. Vorsichtig löschte er seine Leuchte aus und zertrat die Funken auf dem Boden.

In der Hinterstube standen drei Bettladen. Eine war leer, unterm derben grauen Leilach sah das Stroh heraus. Im zweiten lag wieder einer, ein bärtiger Mann, starr auf dem Rucken mit zurückgelegtem Kopf und emporstehendem Kinn und Bart, es musste der Bauer sein. Sein eingesunkenes Gesicht schimmerte fahl in unvertrauten Todesfarben, ein Arm hing bis zum Boden herab, dort lag umgeworfen und ausgelaufen ein irdener Wasserkrug, das zerronnene Wasser war vom Boden noch nicht ganz verschluckt, es war gegen eine Mulde gelaufen, in der stand noch eine kleine Lache. Im zweiten Bett aber lag, in Leintuch und Kotzen ganz eingegraben und verwickelt, eine starke große Frau, ihr Gesicht war ins Bett eingedrückt, derbes strohblondes Haar schimmerte im hellen Licht. Bei ihr und mit ihr verschlungen lag, wie im zerwühlten Leintuch gefangen und erdrosselt, ein halbwüchsiges Mädchen, strohblond auch sie, graublaue Flecken im Totengesicht.

Von einem Toten zum andern ging Goldmunds Blick In dem Mädchengesicht, obwohl es schon sehr entstellt war, stand noch etwas von hilflosem Todesgrauen. Im Nacken und Haar der Mutter, die sich so tief und wild ins Lager eingewühlt hatte, war Wut, Angst und leidenschaftliches Fliehenwollen zu lesen. Namentlich das unbändige Haar konnte sich gar nicht ins Sterben ergeben. Im Antlitz des Bauern war Trotz und verbissener Schmerz, er war, so schien es, schwer, aber mannhaft gestorben, sein bärtiges Gesicht ragte steil und starr in die Luft wie das eines auf der Wallstatt hingestreckten Kriegers. Diese still und trotzig gereckte, ein wenig verbissene Haltung war schön, es war wohl kein geringer und feiger Mensch gewesen, der den Tod so empfing. Rührend aber war der kleine Leichnam des Knaben, der bäuchlings über der Schwelle lag, sein Gesicht sagte nichts, aber seine Lage über der Schwelle samt den festgeballten Kinderfäusten verkündete viel ratloses Leid, hilfloses Sichwehren gegen unerhörte Schmerzen. Dicht neben seinem Kopf war in die Tür ein Katzenloch gesägt. Aufmerksam betrachtete Goldmund alles. Es sah ohne Zweifel in dieser Hütte ziemlich scheußlich aus, und der Leichengeruch war wüst, dennoch hatte für Goldmund das alles eine tiefe Anziehungskraft, es war alles voll Größe und Schicksal, so wahr, so unverlogen, irgend etwas daran gewann seine Liebe und drang ihm in die Seele.

Mittlerweile fing draußen Robert an zu rufen, ungeduldig und ängstlich. Goldmund hatte Robert gern, dennoch dachte er in diesem Augenblick, wie sehr doch eigentlich ein lebender Mensch in seiner Angst, seiner Neugierde, seiner ganzen Kinderei kleinlich und gering sei im Vergleich mit den Toten. Er gab Robert keine Antwort, er gab sich ganz dem Anblick der Toten hin, mit jener sonderbaren Mischung von herzlichem Mitfühlen und kalter Beobachtung, wie die Künstler sie haben. Er sah sich die liegenden Gestalten und auch die sitzende genau an, die Köpfe, die Hände, die Bewegung, in der sie erstarrt waren. Wie still war es in dieser verzauberten Hütte! Wie roch es sonderbar und schrecklich! Wie war diese kleine Menschenheimat, in der noch ein Rest von Herdfeuer glomm, gespenstisch und traurig, von Leichen bewohnt, ganz von Tod erfüllt und durchzogen! Bald würde diesen stillen Gestalten das Fleisch von den Wangen fallen, und die Ratten würden ihre Finger fressen. Was andere Menschen im Sarge und im Grab, in gutem Versteck und unsichtbar vollzogen, das Letzte und Armseligste, das Zerfallen und Verwesen, das vollzogen diese fünf hier zu Hause in ihren Stuben, bei Tageslicht, bei unverschlossener Türe, unbekümmert, schamlos, schutzlos. Goldmund hatte schon manchen Toten gesehen, aber solch einem Bilde von der unerbittlichen Arbeit des Todes war er noch nie begegnet. Tief nahm er es in sich auf.

Endlich störte ihn Roberts Schreien vor der Haustür, er ging hinaus. Ängstlich sah der Kamerad ihn an »Was ist?« fragte er leise, die Stimme voll Furcht. »Ist denn niemand im Haus? Oh, und was machst du für Augen Sprich doch?«

Goldmund maß ihn mit kühlem Blick.

»Geh hinein und sieh dir’s an, es ist ein komisches Bauernhaus. Nachher melken wir die schöne Kuh drüben. Vorwärts!«

Unentschlossen betrat Robert die Hütte, steuerte auf die Herdstatt los, entdeckte die sitzende Alte und stieß, als er merkte, sie sei tot, einen lauten Schrei aus. Eilig kam er zurück, mit aufgerissenen Augen.

»Um Gottes willen! Da sitzt ein totes Weib am Herd. Was ist das? Warum ist niemand bei ihr? Warum begräbt man sie nicht? O Gott, es riecht ja schon.«

Goldmund lächelte.

»Du bist ein großer Held, Robert, aber du bist gar zu rasch wieder umgekehrt. Eine tote alte Frau ist ja, wenn sie so im Stuhl sitzt, ein merkwürdiger Anblick, aber du kannst, wenn du ein paar Schritte weitergehst, noch viel Merkwürdigeres sehen. Es sind fünf, Robert In den Betten liegen drei, und ein toter Bub liegt mitten auf der Schwelle.

Alle sind tot. Die ganze Familie liegt und ist tot, das Haus ist ausgestorben. Darum hat auch niemand die Kuh gemolken.«

Entsetzt starrte der andere ihn an, dann rief er plötzlich mit erstickter Stimme: »Oh jetzt versteh ich auch die Bauern, die uns gestern nicht in ihr Dorf haben einlassen wollen. O Gott, jetzt wird mir alles klar. Es ist die Pest! Es ist bei meiner armen Seele die Pest, Goldmund! Und du bist so lange da drinnen gewesen, und womöglich hast du die Toten angerührt! Weg, du, komm mir nicht näher, du bist sicher vergiftet. Es tut mir leid, Goldmund, aber ich muss fort, ich kann nicht bei dir bleiben.«

Er wollte schon laufen, wurde aber am Pilgerrock festgehalten. Goldmund sah ihn streng mit stummem Tadel an und hielt ihn, der sich sträubte und stemmte, unerbittlich fest »Mein kleiner Junge«, sagte er mit freundlich-spöttischem Ton, »du bist klüger, als man meinen sollte, du wirst wahrscheinlich recht haben. Nun, das werden wir im nächsten Hof oder Dorf erfahren. Wahrscheinlich ist die Pest in dieser Gegend. Wir werden sehen, ob wir wohlbehalten wieder davonkommen. Aber laufen lassen, kleiner Robert, kann ich dich nicht. Schau, ich bin ein barmherziger Mensch, mein Herz ist viel zu weich, und wenn ich denke, du könntest dich nun da drinnen angesteckt haben, und ich ließe dich fortlaufen, und du legtest dich da irgendwo im Feld zum Sterben hin, so ganz allein, und kein Mensch würde dir die Augen zutun und keiner dir ein Grab machen und etwas Erde auf dich werfen – nein, lieber Freund, da würgt mich der Jammer. Also pass auf und merke dir sehr gut, was ich sage, ich sage es nicht zweimal: wir zwei sind in der gleichen Gefahr, es kann dich oder mich treffen. Wir bleiben also beisammen, und wir werden beide miteinander entweder umkommen oder dieser verfluchten Pest entrinnen. Wenn du krank wirst und stirbst, so wirst du von mir begraben, das soll gelten. Und wenn ich es bin, der sterben muss, dann tu wie du magst, begrabe mich oder drücke dich davon, mir ist es einerlei. Vorher aber, Teurer, wird nicht ausgekniffen, merke dir das! Wir werden einer den andern notig haben. Und jetzt halte das Maul, ich will nichts hören, und suche irgendwo im Stall einen Eimer, dass wir endlich die Kuh melken können.«

So geschah es, und vom Augenblick an war es Goldmund, der befahl, und Robert, der gehorchte, und es ging beiden gut dabei. Robert machte keinen Versuch mehr zu entfliehen. Er sagte nur begütigend: »Ich hatte einen Augenblick Angst vor dir. Dein Gesicht gefiel mir nicht, als du aus dem Totenhaus zurückkamst. Ich glaubte, du hättest dir die Pest geholt. Aber wenn es auch nicht die Pest ist, dein Gesicht ist anders geworden. War es so schlimm, was du dort drinnen gesehen hast?«

»Es war nicht schlimm«, sagte Goldmund zögernd »Ich habe dort drinnen nichts gesehen als das, was mir und dir und allen bevorsteht, auch wenn wir nicht die Pest bekommen.«

Im Weiterwandern stießen sie bald überall auf den Schwarzen Tod, der im Land regierte. Manche Dörfer ließen keinen Fremden ein, in anderen konnten sie ungehindert durch alle Gassen gehen. Viele Höfe standen verlassen, viele unbeerdigte Tote verwesten auf dem Felde oder in den Stuben. In den Ställen brüllten ungemolken oder hungernd die Kühe, oder das Vieh lief wild im Felde. Sie molken und fütterten manche Kuh und Ziege, sie schlachteten und brieten am Waldrand manches Zicklein und Ferkel und tranken Wein und Most aus manchem herrenlos gewordenenKeller. Sie hatten ein gutes Leben, es herrschte Überfluss. Aber er schmeckte ihnen nur halb. Robert lebte in immerwährender Angst vor der Seuche, und beim Anblick der Leichen wurde ihm übel, oft war er ganz verstört von Furcht, immer wieder glaubte er sich angesteckt, hielt Kopf und Hände lang in den Rauch ihrer Lagerfeuer (das galt für heilsam), tastete sogar im Schlaf an sich herum, ob nicht an den Beinen, an den Armen, unter den Achseln die Beulen kamen.

Goldmund schalt ihn oft, oft spottete er ihn aus. Er teilte seine Furcht nicht, und auch nicht seinen Ekel, er ging gespannt und düster durch das Todesland, furchtbar angezogen vom Anblick des großen Sterbens, die Seele voll vom großen Herbst, das Herz schwer vom Lied der mähenden Sense. Manchmal erschien ihm das Bild der ewigen Mutter wieder, ein bleiches Riesengesicht mit Medusenaugen, mit einem schweren Lächeln voll Leid und Tod.

Sie kamen einst zu einer kleinen Stadt, sie war schwer befestigt, vom Tor lief ein Wehrgang in Haushöhe um die ganze Stadtmauer, aber kein Wächter stand oben und keiner im offenstehenden Tor. Robert weigerte sich, die Stadt zu betreten, und beschwor auch seinen Kameraden, es nicht zu tun. Indem hörten sie eine Glocke läuten, es kam zum Tor ein Priester heraus, ein Kreuz in den Händen, und hinter ihm kamen drei Lastwagen gefahren, zwei mit Pferden bespannt und einer mit einem Paar Ochsen, und die Wagen waren bis oben angefüllt mit Leichen. Ein paar Knechte in sonderbaren Mänteln, die Gesichter tief in Kapuzen verborgen, liefen nebenher und trieben die Tiere an.

Robert verlor sich mit bleichem Gesicht, Goldmund folgte den Totenwagen in kleiner Entfernung, es ging ein paar hundert Schritt weit, und da war kein Friedhof, sondern mitten in der leeren Heide war ein Loch gegraben, nur drei Spatenstiche tief, aber groß wie ein Saal. Goldmund stand und sah zu, wie die Knechte mit Stangen und Bootshaken die Toten von den Wagen rissen und sie zu Haufen in das große Loch stießen, wie der Priester murmelnd sein Kreuz darüber schwang und davonging, wie die Knechte auf allen Seiten des flachen Grabes große Feuer anzündeten und schweigend in die Stadt zurückliefen, ohne dass jemand darangegangen wäre, die Grube zuzuwerfen. Er schaute hinab, es mochten fünfzig oder mehr da drinnen liegen, übereinandergeschmissen, viele nackt. Starr und klagend ragte hier und dort ein Arm oder ein Bein in die Luft, ein Hemde flatterte schwach im Wind Als er zurückkam, flehte Robert ihn beinah auf Knien an, sie möchten doch eiligst weiterziehen. Er hatte wohl Grund zu seinem Flehen, er sah in Goldmunds abwesendem Blick diese ihm nun schon allzu bekannte Versunkenheit und Starre, dies Hingewendetsein zum Schrecklichen, diese furchtbare Neugierde. Es gelang ihm nicht, seinen Freund zurückzuhalten. Allein ging Goldmund in die Stadt.

Er ging durchs unbewachte Tor, und indem er seinen Schritt vom Pflaster widerhallen hörte, standen in seinem Gedächtnis viele Städtchen und viele Tore auf, durch welche er so gewandert war, und er erinnerte sich, wie da Kindergeschrei, Knabenspiel, Weibergezank, Schmiedegehämmer auf schönklingendem Amboss, Wagengerassel und viele andere Klänge ihn empfangen hatten, feine und derbe Geräusche, deren Durcheinander wie zu einem Netz geflochten das Vielerlei menschlicher Arbeit, Freude, Verrichtung und Geselligkeit verkündet hatte. Hier nun, in diesem hohlen Tor und dieser leeren Gasse, klang nichts, lachte nichts, schrie nichts, alles lag erstarrt in Todesschweigen, worin die plaudernde Melodie eines laufenden Brunnens allzu laut und beinah lärmend klang. Hinter einem offenen Fenster war ein Bäcker inmitten seiner Laibe und Wecken zu sehen, Goldmund deutete auf einen Wecken, und der Bäcker reichte ihn vorsichtig auf langer Backschaufel heraus, wartete darauf, dass Goldmund ihm Geld auf die Schaufel lege, und schloss sein Fensterchen böse, aber ohne Gezeter, als der Fremde in den Wecken biss und weiterging, ohne zu zahlen. Vor den Fenstern eines hübschen Hauses stand eine Reihe von tönernen Töpfen, in denen hatten sonst Blumen geblüht, jetzt hingen verdorrte Blätter über die leeren Scherben herab. Aus einem anderen Hause drang Schluchzen und Jammergeschrei von Kinderstimmen. Aber in der nächsten Gasse sah Goldmund oben hinter einem Fenster ein hübsches Madchen stehen und die Haare kämmen, er schaute ihr zu, bis sie seinen Blick fühlte und herabblickte, errötend sah sie ihn an, und als er ihr freundlich zulächelte, lief langsam und schwach auch über ihr errötetes Gesicht ein Lächeln.

»Bald fertiggekämmt?« rief er hinauf. Lächelnd beugte sie das lichte Gesicht aus der Fensterhöhle.

»Noch nicht krank?« fragte er, und sie schüttelte den Kopf. »Dann komm mit mir aus dieser Totenstadt hinaus, wir wollen in den Wald gehen und ein gutes Leben haben.«

Sie machte fragende Augen.

»Besinn dich nicht lange, es ist mir Ernst«, rief Goldmund »Bist du bei Vater und Mutter, oder bei fremden Leuten im Dienst? – Bei Fremden also. Dann komm, liebes Kind, lass die alten Leute sterben, wir sind jung und gesund und wollen es noch eine Weile gut haben.

Komm, Braunhärchen, es ist mein Ernst.«

Prüfend sah sie ihn an, zögernd, erstaunt. Er ging langsam weiter, schlenderte durch eine Gasse ohne Menschen und durch eine zweite, und kehrte langsam zurück. Da stand das Mädchen noch immer am Fenster, vorgebeugt, und freute sich, dass er wiederkam. Sie winkte ihm zu, langsam ging er weiter, bald kam sie nach, noch vor dem Tore holte sie ihn ein, ein kleines Bündel in der Hand, ein rotes Tuch um den Kopf.

»Wie heißt du denn?« fragte er sie.

»Lene. Ich komme mit dir. Oh, es ist so schlimm hier in der Stadt, alle sterben. Nur fort, nur fort!«

In der Nähe des Tores kauerte Robert missgelaunt am Boden. Er sprang auf, als Goldmund kam, und riss die Augen auf, als er das Mädchen sah. Diesmal ergab er sich nicht sogleich, er lamentierte und machte Szenen. Dass einer da aus dem verfluchten Pestloch eine Person mit herausbringe und dass man ihm zumuten wolle, ihre Gesellschaft zu dulden, das sei mehr als verrückt, es sei Gott versucht, und er weigere sich, er gehe nicht mehr mit, seine Geduld sei jetzt zu Ende.

Goldmund ließ ihn fluchen und klagen, bis er stiller wurde.

»So«, sagte er, »du hast uns nun lang genug angesungen. Du wirst jetzt mit uns gehen und wirst dich freuen, dass wir eine so hübsche Gesellschaft haben. Sie heißt Lene, und sie bleibt bei mir. Aber nun will ich dir auch eine Freude machen, Robert, höre wir wollen jetzt eine Weile in Ruhe und Gesundheit leben und der Pestilenz aus dem Wege gehen. Wir suchen uns einen hübschen Ort mit einer leeren Hütte, oder bauen selber eine, da will ich mit Lene Hausherr und Hausfrau sein, und du bist unser Freund und lebst mit uns. Wir wollen es jetzt ein bisschen hübsch und freundlich haben Einverstanden?«

O ja, Robert war sehr einverstanden Wenn man nicht von ihm verlange, dass er der Lene die Hand gebe oder ihre Kleider berühre.

»Nein«, sagte Goldmund, »das wird nicht verlangt. Es wird dir sogar aufs strengste verboten, die Lene mit einem Finger anzurühren Lass dir das nicht einfallen?«

Sie marschierten zu dreien weiter, schweigend zuerst, dann allmählich fing das Madchen zu sprechen an, wie froh sie sei, wieder Himmel und Bäume und Wiesen zu sehen, es sei so grausig gewesen da drinnen in der Peststadt, nicht zu sagen. Und sie fing an zu erzählen und ihr Gemüt von den traurigen und scheußlichen Bildern zu entladen, die sie hatte sehen müssen. Manche Geschichten erzählte sie, üble Geschichten, die kleine Stadt musste eine Hölle sein. Von den beiden Ärzten sei einer gestorben, der andere gehe bloß zu den Reichen, und in vielen Häusern lagen die Toten und verfaulten, weil niemand sie holte, in anderen Häusern aber hatten die Totenknechte gestohlen, geludert und gehurt, und oft hatten sie mit den Leichen auch die noch lebenden Kranken aus den Betten gezerrt und auf ihre Schinderkarren geworfen und sie mit den Toten zusammen in die Gruben geschmissen. Vielerlei Schlimmes hatte sie zu erzählen, niemand unterbrach sie, Robert hörte entsetzt und lüstern zu, und Goldmund blieb still und gleichmütig, er ließ das Grausige sich entleeren und sagte nichts dazu. Was sollte man da auch sagen? Schließlich wurde Lene müde, und der Strom versiegte, die Worte gingen ihr aus. Da begann Goldmund langsamer zu gehen und fing ganz leise zu singen an, ein Lied mit vielen Strophen, und mit jeder Strophe wurde seine Stimme voller, Lene fing zu lächeln an, und Robert hörte beglückt und tief verwundert zu – nie hatte er Goldmund bisher singen hören. Alles konnte er, dieser Goldmund. Da ging er nun und sang, der wunderliche Mensch! Er sang kunstvoll und rein, aber mit gedämpfter Stimme. Und Lene summte schon beim zweiten Lied leise mit und fiel bald mit voller Stimme ein. Es ging gegen Abend, fern hinter der Heide standen schwarze Wälder und hinter ihnen blaue niedere Berge, die wie von innen her immer blauer wurden. Bald fröhlich, bald feierlich klang im Takt der Schritte ihr Gesang.

»Du bist heut so vergnügt«, sagte Robert.

»Ja, ich bin vergnügt, natürlich bin ich heute vergnügt, ich habe ja eine so hübsche Liebste gefunden. Ach Lene, es ist schon gut, dass dich die Totenknechte für mich übriggelassen haben. Morgen werden wir ein kleines Heimatchen finden, da wollen wir es gut haben und froh sein, dass wir Fleisch und Knochen noch hübsch beisammen haben. Lene, hast du schon einmal im Herbst in einem Walde den dicken Pilz gesehen, den die Schnecken so gern mögen und den man essen kann?«

»O ja«, lachte sie, »viele Male hab ich ihn gesehen.«

»Gerade so braun wie er ist dein Haar, Lene. Es riecht auch so gut. Wollen wir noch eins singen? Oder hast du etwa Hunger? In meinem Ranzen ist noch etwas Gutes.«

Am andern Tag fanden sie, was sie gesucht hatten. In einem kleinen Birkengehölz stand eine Hütte aus rohen Stämmen, vielleicht von Holzfällern oder von Jägern einmal gebaut. Sie stand leer, die Tür ließ sich aufbrechen, und auch Robert fand, dass es eine gute Hütte und eine gesunde Gegend sei. Unterwegs waren sie Ziegen begegnet, die ohne Hirt sich herumtrieben, und hatten eine schöne Geiß mit sich genommen.

»Nun, Robert«, sagte Goldmund, »wenn du auch kein Zimmermann bist, so warst du doch einmal ein Schreiner. Wir wollen hier wohnen, du musst eine Zwischenwand in unser Schloss bauen, dass wir zwei Stuben haben, eine für Lene und mich, eine für dich und die Geiß. Zu essen haben wir nicht mehr viel, wir müssen heut mit der Geißmilch zufrieden sein, ob es viel oder wenig sei. Du musst also die Wand bauen, und wir beide rüsten das Nachtlager für uns alle. Morgen geh ich dann nach Futter aus.«

Alle gingen sogleich an die Arbeit. Goldmund und Lene gingen nach Streu, nach Farnkraut, nach Moos für Schlaflager, und Robert zog sein Messer auf einem Feldkiesel ab, um Stämmchen für die Wand zu schneiden. Doch konnte er damit nicht an einem Tage fertig werden und ging am Abend im Freien schlafen. Goldmund fand an Lene eine süße Gespielin, scheu und unerfahren, aber voll Liebe. Sanft nahm er sie an seine Brust und wachte lange und hörte ihr Herz schlagen, als sie langst ermüdet und gesättigt eingeschlafen war. Er roch an ihrem braunen Haar und schmiegte sich an sie und dachte zugleich an jene große flache Grube, in welche die vermummten Teufel all die Wagen voll Leichen geworfen hatten. Schön war das Leben, schön und flüchtig war das Glück, schön und rasch verwelkt die Jugend.

Sehr hübsch wurde die Zwischenwand der Hütte, schließlich arbeiteten sie alle drei daran. Robert wollte zeigen, was er könne, und sprach eifrig darüber, was er alles bauen wollte, wenn er nur eine Hobelbank und Werkzeug und Winkeleisen und Nagel hätte. Da er nichts hatte als sein Messer und seine Hände, begnügte er sich damit, ein Dutzend Birkenstämmchen zu schneiden und aus ihnen einen festen derben Zaun in den Hüttenboden zu bauen. Die Zwischenräume aber, so verfügte er, mussten mit Flechtwerk aus Ginster zugebaut werden. Das brauchte Zeit, aber es wurde fröhlich und schön, alle halfen mit. Zwischenein musste Lene auf die Beerensuche gehen und nach der Ziege sehen, und Goldmund suchte in kleinen Streifzügen die Gegend ab, fahndete nach Nahrung, erkundete die Nachbarschaft und brachte dies und jenes mit. Weit und breit waren keine Menschen in der Nähe, damit war namentlich Robert sehr einverstanden, man war sicher vor Ansteckung sowohl wie vor Feindseligkeiten, aber es hatte den Nachteil, dass sich sehr wenig zu essen fand. Es gab eine verlassene Bauernhütte in der Nähe, diesmal ohne Tote darin, so dass Goldmund vorschlug, sie zum Quartier zu wählen statt ihrer Blockhütte, aber Robert weigerte sich schaudernd und sah es ungern, dass Goldmund das leere Haus betrat, und jedes Stück, das jener von dort herüberbrachte, musste erst geräuchert und gewaschen werden, eh Robert es anfasste. Viel war es nicht, was Goldmund drüben fand, doch aber zwei Stabellen, einen Milcheimer, einige Stück irdenes Geschirr, ein Beil, und eines Tages fing er zwei verflogene Hühner im Felde. Lene war verliebt und glücklich, und allen dreien machte es Spaß, an ihrer kleinen Heimat zu bauen und sie jeden Tag ein bisschen hübscher zu machen. An Brot fehlte es, dafür stellten sie noch eine Ziege ein, und ein Äckerchen mit Rüben wurde auch gefunden. Tag um Tag verging, die geflochtene Wand war fertig, die Lagerstätten wurden verbessert und ein Herd gebaut. Der Bach war nicht weit, das Wasser war hell und süß Oft wurde zur Arbeit gesungen. Eines Tages, als sie gemeinsam ihre Milch tranken und ihr häusliches Leben rühmten, sagte Lene plötzlich, mit träumerischem Ton: »Wie wird es aber, wenn dann der Winter kommt?«

Niemand gab Antwort. Robert lachte, Goldmund blickte sonderbar vor sich hin. Allmählich merkte Lene, dass niemand an den Winter dachte, dass niemand daran dachte, allen Ernstes so lange Zeit am selben Ort zu bleiben, dass die Heimat keine Heimat, dass sie unter Landfahrern war. Sie ließ den Kopf hängen.

Da sagte Goldmund, spielerisch und ermunternd wie zu einem Kind: »Du bist eine Bauerntochter, Lene, die sorgen weit voraus. Hab keine Angst, du wirst schon wieder nach Hause finden, wenn diese Pestzeit vorüber ist, sie wird ja nicht ewig dauern. Dann gehst du zu deinen Eltern oder wen du sonst hast, oder gehst wieder in die Stadt in einen Dienst und hast dein Brot. Jetzt aber ist noch Sommer, und überall in der Gegend ist das Sterben, hier aber ist es hübsch, und es geht uns gut. Darum bleiben wir hier, so lang oder so kurz als es uns gefällt.«

»Und nachher?« rief Lene heftig: »Nachher ist alles aus? Und du gehst fort? Und ich?«

Goldmund haschte ihren Zopf und zog sachte daran.

»Kleines dummes Kind«, sagte er, »hast du die Totenknechte schon vergessen, und die ausgestorbenen Häuser, und das große Loch vor dem Tor, wo die Feuer brennen?

Du sollst froh sein, dass du nicht dort in dem Loch liegst und der Regen auf dein Hemdchen regnet. Daran sollst du denken, dass du entronnen bist, dass du noch das liebe Leben in deinen Gliedern hast und noch lachen und singen kannst.«

Sie war noch nicht zufrieden.

»Ich will aber nicht wieder fort«, klagte sie, »und will dich nicht fortlassen, nein. Man kann doch nicht froh sein, wenn man weiß, dass schon bald alles wieder aus und vorbei sein soll!«

Nochmals gab Goldmund Antwort, freundlich, aber mit einem verborgenen Klang von Drohung in der Stimme:

»Darüber, kleine Lene, haben sich schon alle Weisen und Heiligen den Kopf zerbrochen. Es gibt kein Glück, das lange dauert. Wenn dir aber das, was wir jetzt haben, nicht gut genug ist und nicht mehr Freude macht, dann zünde ich noch in dieser Stunde die Hütte an, und jeder von uns geht seinerWege. Lass es gut sein, Lene, es ist genug gesprochen.«

Dabei blieb es, und sie ergab sich, aber ein Schatten war auf ihre Freude gefallen.

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