Книга: Narziss und Goldmund / Нарцисс и Гольдмунд. Книга для чтения на немецком языке
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Vierzehntes Kapitel

Noch eh der Sommer ganz verblüht war, fand das Hüttenleben sein Ende, anders als sie gedacht hatten. Es kam ein Tag, da trieb sich Goldmund lange mit einer Vogelschleuder in der Gegend herum in der Hoffnung, etwa ein Rebhuhn oder sonst ein Wild zu erwischen, die Nahrung war ziemlich karg geworden. Lene war in der Nähe und sammelte Beeren, manchmal strich er an ihrem Revier vorüber und sah überm Gesträuch ihren Kopf auf dem braunen Hals aus dem Leinenhemd ragen oder hörte sie singen, einmal naschte er ein paar Beeren bei ihr, dann streifte er weiter und sah sie eine Weile nicht mehr. Er dachte an sie, halb zärtlich, halb ärgerlich, sie hatte wieder einmal vom Herbst und von der Zukunft gesprochen, und dass sie schwanger zu sein glaube, und dass sie ihn nicht fortlasse. Nun geht es bald zu Ende, dachte er, bald wird es genug sein, dann wandere ich allein und lasse auch Robert zurück, ich will sehen, dass ich bis gegen den Winter wieder in die große Stadt zu Meister Niklaus komme, dann bleibe ich den Winter dort, und im nächsten Frühling kauf ich mir neue gute Schuhe und ziehe los und schlage mich durch, bis ich in unser Kloster nach Mariabronn komme und Narziss begrüßen kann, es werden wohl zehn Jahre sein, dass ich ihn nicht gesehen habe. Ich muss ihn wiedersehen, sei es auch nur für einen Tag oder zwei.

Ein unvertrauter Laut weckte ihn aus seinen Gedanken, und plötzlich ward ihm bewusst, wie er mit allen Gedanken und Wünschen schon weit fort und nicht mehr hier gewesen war. Er horchte scharf, jener bange Laut wiederholte sich, er glaubte Lenes Stimme zu erkennen und folgte ihr, obwohl es ihm nicht gefiel, dass sie ihm rufe. Bald war er nah genug – ja, das war Lenes Stimme, und sie schrie wie in großer Not seinen Namen. Er lief rascher, noch immer etwas geärgert, bei ihren wiederholten Schreien aber nahmen Mitleid und Besorgnis in ihm überhand. Als er sie endlich sehen konnte, saß oder kniete sie in der Heide, mit ganz zerrissenem Hemde, und rang schreiend mit einem Mann, der sie vergewaltigen wollte. In langen Sprüngen kam Goldmund heran, und was an Ärger, Unruhe und Trauer in ihm gewesen, entlud sich in einer rasenden Wut gegen den fremden Attentäter. Er überraschte ihn, wie er Lene vollends zu Boden drücken wollte, ihre nackte Brust blutete, gierig hielt der Fremde sie umklammert. Goldmund warf sich auf ihn und presste ihm mit wütenden Händen die Kehle zusammen, die sich hager und sehnig anfühlte und mit wolligem Bart bewachsen war. Mit Wonne drückte Goldmund zu, bis der andere das Mädchen losließ und ihm erschlaft in den Händen hing, weiter würgend schleifte er den Kraftlosen und halb Entseelten ein Stück am Boden fort bis zu einigen grauen Felsrippen, die da nackt aus der Erde standen. Hier hob er den Besiegten, so schwer er war, zweimal, dreimal hoch und ließ seinen Kopf auf die kantigen Felsen schlagen. Mit gebrochenem Genick warf er den Körper weg, sein Zorn war noch nicht gesättigt, er hätte ihn noch weiter misshandeln mögen.

Strahlend sah Lene zu. Ihre Brust blutete, und sie zitterte noch am ganzen Leibe und schnappte nach Luft, aber sie hatte sich alsbald aufgeraft und sah mit einem entrückten Blick voll Wollust und Bewunderung zu, wie ihr starker Geliebter den Eindringling dahinschleppte, wie er ihn würgte, wie er ihm das Genick brach und seinen Leichnam von sich schmiss. Wie eine totgeschlagene Schlange lag der Tote da, schlaff und verrenkt, sein graues Gesicht mit wüstem Bart und dünnen ärmlichen Haaren hing ihm jämmerlich hintenüber. Jubelnd richtete Lene sich auf und fiel Goldmund ans Herz, doch erbleichte sie plötzlich, der Schrecken lag ihr noch in den Gliedern, es wurde ihr übel, und sie sank erschöpft ins Blaubeerenkraut. Bald aber konnte sie mit Goldmund zur Hütte gehen. Goldmund wusch ihr die Brust, sie war zerkratzt, und die eine Brust hatte eine Bisswunde von den Zähnen des Unholds.

Robert regte sich sehr über das Abenteuer auf, hitzig fragte er nach den Einzelheiten des Kampfes.

»Das Genick gebrochen, sagst du? Großartig! Goldmund, man muss dich fürchten.«

Aber Goldmund mochte nicht weiter davon reden, er war jetzt kühl geworden, und im Weggehen von dem Toten hatte er an den armen Schnapphahn Viktor denken müssen, und dass es nun der zweite Mensch sei, der von seiner Hand gestorben war. Um Robert loszuwerden, sagte er: »Nun konntest aber auch du etwas tun. Geh hinüber und schau, dass du die Leiche wegbringst. Wenn es zu schwer geht, ein Loch für sie zu machen, dann muss er in den Schilfsee hinübergetragen oder gut mit Steinen und Erde bedeckt werden.« Aber dies Ansinnen wurde abgelehnt, mit Leichen wollte Robert nichts zu tun haben, man wisse ja bei keiner, ob nicht das Pestgift in ihr stecke.

Lene hatte sich in der Hütte niedergelegt. Der Biss in der Brust schmerzte, doch fühlte sie sich bald besser, stand wieder auf, fachte Feuer an und kochte die Abendmilch, sie war sehr gut gelaunt, wurde aber früh zu Bett geschickt. Sie gehorchte wie ein Lamm, so sehr bewunderte sie Goldmund. Dieser war schweigsam und finster, Robert kannte das und ließ ihn in Ruhe. Als Goldmund spät seine Streu aufsuchte, bückte er sich horchend zu Lene hinab. Sie schlief. Er fühlte sich unruhig, dachte an Viktor, fühlte Bangigkeit und Wandertrieb, er spürte, dass es zu Ende sei mit dem Heimatspielen. Eines aber machte ihn besonders nachdenklich. Er hatte den Blick aufgefangen, mit dem Lene ihn ansah, als er den toten Kerl geschüttelt und weggeworfen hatte. Ein merkwürdiger Blick war das gewesen, er wusste, dass er ihn nie vergessen würde: aus aufgerissenen, entsetzten und entzückten Augen hatte da ein Stolz, ein Triumph gestrahlt, eine tiefe leidenschaftliche Mitlust am Rächen und Töten, wie er sie in einem Frauengesicht nie gesehen und nie geahnt hatte. Wäre dieser Blick nicht gewesen, dachte er, so würde er vielleicht Lenes Gesicht spater einmal, mit den Jahren, vergessen haben. Dieser Blick hatte ihr Bauernmädchengesicht groß, schön und schrecklich gemacht. Seit Monaten hatten seine Augen nichts erlebt, das ihn mit dem Wunsch durchzuckte »Das musste man zeichnen!« Bei jenem Blick hatte er, mit einer Art von Schrecken, diesen Wunsch wieder zucken gefühlt.

Da er nicht schlafen konnte, stand er schließlich auf und ging aus der Hütte. Es war kühl, ein wenig Wind spielte in den Birken. Im Dunkeln ging er auf und ab, setzte sich dann auf einen Stein, saß und versank in Gedanken und in tiefe Traurigkeit. Es tat ihm leid um Viktor, es tat ihm leid um den, den er heut erschlagen hatte, es tat ihm leid um die verlorene Unschuld und Kindheit seiner Seele. War er darum aus dem Kloster fortgegangen, hatte Narziss verlassen, hatte den Meister Niklaus beleidigt und auf die schöne Lisbeth verzichtet – um nun da in einer Heide zu lagern, verlaufenem Vieh aufzulauern, und um dort in den Steinen diesen armen Kerl totzuschlagen? Hatte das alles Sinn, war es wert, gelebt zu werden? Eng wurde ihm das Herz vor Unsinn und Selbstverachtung. Er ließ sich zurücksinken, lag auf den Rucken gestreckt und starrte in das bleiche Nachtgewölk, im langen Starren vergingen ihm die Gedanken, er wusste nicht, blickte er ins Gewölk des Himmels oder in die trübe Welt seines eigenen Innern. Plötzlich, im Augenblick, da er auf dem Stein entschlief, erschien hinzuckend wie ein Wetterleuchten im treibenden Gewölk bleich ein großes Gesicht, das Eva-Gesicht, es blickte schwer und verhangen, plötzlich aber riss es die Augen weit auf, große Augen voll Wollust und voll Mordlust. Goldmund schlief, bis der Tau ihn nässte.

Andern Tags war Lene krank. Man ließ sie liegen, es gab viel zu tun. Robert hatte am Morgen zwei Schafe im Wäldchen angetroffen, die alsbald vor ihm davonflohen. Er holte Goldmund, sie jagten mehr als den halben Tag und fingen eins der Schafe ein, sie waren sehr müde, als sie gegen Abend mit dem Tier zurückkamen. Lene fühlte sich sehr schlecht. Goldmund beschaute und befühlte sie und fand Pestbeulen. Er verheimlichte es, aber Robert schöpfte Verdacht, als er horte, Lene sei noch krank, und blieb nicht in der Hütte. Er werde sich draußen eine Schlafstelle suchen, sagte er, und die Ziege nehme er auch mit, auch sie könnte angesteckt werden »So schere dich zum Teufel«, schrie Goldmund ihn wütend an, »ich begehre dich nicht wiederzusehen.« Die Ziege packte er und nahm sie zu sich hinter die Ginsterwand. Lautlos verlor sich Robert, ohne Ziege, ihm war übel vor Angst, Angst vor der Pest, Angst vor Goldmund, Angst vor der Einsamkeit und Nacht. Er legte sich nahe der Hütte nieder.

Goldmund sagte zu Lene »Ich bleibe bei dir, mach dir keine Sorgen. Du wirst schon wieder gesund werden.«

Sie schüttelte den Kopf.

»Nimm dich in acht, Lieber, dass du nicht auch die Krankheit kriegst, du darfst nicht mehr so nahe zu mir herkommen. Gib dir keine Mühe, mich zu trösten. Ich muss sterben, und es ist mir lieber zu sterben, als dass ich eines Tages sehen muss, dass dein Lager leer ist und du mich verlassen hast. Jeden Morgen habe ich daran gedacht und mich gefürchtet. Nein, ich sterbe lieber.«

Am Morgen stand es schon schlecht mit ihr. Goldmund hatte ihr von Zeit zu Zeit einen Schluck Wasser gegeben, hatte zwischenein eine Stunde geschlafen. Jetzt beim Hellwerden erkannte er in ihrem Gesicht deutlich den nahen Tod, es war schon so welk und mürbe. Er trat für einen Augenblick aus der Hütte, um Luft zu schöpfen und nach dem Himmel zu sehen. Ein paar krumme rote Kiefernstämme am Waldrand leuchteten schon sonnig, frisch und süß schmeckte die Luft, die fernen Hügel waren noch unsichtbar im Morgengewölk. Er ging eine kleine Strecke weit, reckte die müden Glieder und holte tief Atem. Schön war die Welt an diesem traurigen Morgen. Nun würde bald die Wanderschaft wieder beginnen. Es galt Abschied zu nehmen.

Vom Walde her rief Robert ihn an. Ob es besser gehe? Wenn es nicht die Pest sei, bleibe er da, Goldmund möge ihm doch nicht böse sein, er habe inzwischen das Schaf gehütet.

»Geh zur Hölle samt deinem Schaf« rief Goldmund ihm zu, »Lene liegt im Sterben, und auch ich bin angesteckt.«

Das letzte war gelogen, er sagte es, um den andern loszuwerden. Mochte dieser Robert ein gutherziger Kerl sein, Goldmund hatte genug von ihm, er war ihm zu feig und zu klein, er passte ihm allzu schlecht in diese Zeit voll Schicksal und Erschütterung. Robert verlor sich und kam nicht wieder. Hell kam die Sonne herauf.

Als er wieder zu Lene kam, lag sie schlafend. Auch er schlief nochmals ein, im Traum sah er sein einstiges Pferd Bless und den schönen Klosterkastanienbaum, ihm war zumute, als blicke er aus unendlicher Ferne und Öde auf eine verlorene holde Heimat zurück, und als er erwachte, liefen ihm Tränen über die blondbärtigen Wangen. Mit schwacher Stimme hörte er Lene sprechen; er glaubte, sie rufe ihn, und stemmte sich auf seinem Lager hoch, aber sie sprach zu niemand, sie lallte nur Worte vor sich hin, Koseworte, Schimpfworte, lachte ein wenig, begann alsdann schwer zu seufzen und zu schlucken und wurde allmählich wieder still. Goldmund stand auf, beugte sich über ihr schon entstelltes Gesicht, mit bitterer Neugierde folgte sein Auge den Linien, die sich unterm sengenden Hauch des Todes so elend verbogen und verwirrten. Liebe Lene, rief sein Herz, liebes gutes Kind, willst auch du mich schon verlassen? Hast du schon genug von mir?

Gern wäre er davongelaufen. Wandern, wandern, marschieren, Luft atmen, müde werden, neue Bilder sehen, das hätte ihm wohlgetan, das würde vielleicht seine tiefe Bedrücktheit lindern. Aber er konnte nicht, es war ihm unmöglich, das Kind hier allein liegen und sterben zu lassen. Kaum traute er sich, alle paar Stunden für eine Weile hinauszugehen, um frische Luft zu atmen. Da Lene keine Milch mehr annahm, trank er sich selbst daran satt, sonst war nichts zu essen da. Auch die Ziege führte er einige Male hinaus, dass sie fresse, Wasser trinke und sich bewege. Dann stand er wieder an Lenes Lager, murmelte ihr zärtlich zu, blickte unentwegt in ihr Gesicht und sah trostlos, aber aufmerksam ihrem Sterben zu. Sie war bei Bewusstsein, zuweilen schlief sie, und wenn sie erwachte, öffnete sie die Augen nur noch halb, die Lider waren müd und erschlaft. Hier um die Augen und die Nase herum sah das junge Mädchen von Stunde zu Stunde älter aus, auf dem frischen jungen Hals saß ein schnell welkendes Großmuttergesicht. Sie sprach nur selten ein Wort, sagte »Goldmund« oder »Liebster« und suchte die geschwollenen bläulichen Lippen mit der Zunge zu befeuchten. Dann gab er ihr ein paar Tropfen Wasser.

In der folgenden Nacht starb sie. Sie starb, ohne zu klagen, es war nur ein kurzes Zucken, dann stand der Atem still, und es lief ein Hauch über die Haut, bei dem Anblick wogte ihm das Herz, und es fielen ihm die sterbenden Fische ein, die er oft auf dem Fischmarkt gesehen und bedauert hatte: gerade so waren sie erloschen, mit einem Zuck und mit einem leisen wehen Schauder, der über ihre Haut lief und den Glanz und das Leben mitnahm. Er kniete noch eine Weile neben Lene, dann ging er ins Freie und setzte sich in die Heidekrautbüsche. Die Ziege fiel ihm ein, er ging nochmals hinein und holte das Tier heraus, das sich nach kurzem Herumsuchen zu Boden legte. Er legte sich neben sie, den Kopf auf ihrer Flanke, und schlief, bis es hell wurde Nun ging er zum letztenmal in die Hütte und hinter die geflochtene Wand, sah zum letztenmal das arme Totengesicht. Es widerstrebte ihm, die Tote da liegenzulassen. Er ging und suchte Arme voll Dürrholz und welkes Gestrüpp zusammen, das warf er in die Hütte, schlug Feuer und zündete an. Aus der Hütte nahm er nichts mit sich als das Feuerzeug. Hellauf brannte im Augenblick die dürre Ginsterwand. Draußen blieb er stehen und schaute zu, das Gesicht vom Feuer gerötet, bis auch das ganze Dach in Flammen stand und die ersten Dachbalken stürzten. Ängstlich und klagend sprang die Ziege. Es wäre richtig gewesen, das Tier zu töten und ein Stück von ihm zu rösten und zu essen, um Kraft für die Wanderschaft zu haben. Aber es war ihm nicht möglich, er trieb die Geiß in die Heide und ging davon. Bis in den Wald hinein folgte ihm der Rauch von der Brandstelle. Nie hatte er eine Wanderung so trostlos angetreten.

Und dennoch war das, was ihn nun erwartete, noch schlimmer, als er gedacht hatte. Bei den ersten Höfen und Dörfern begann es und dauerte an und wurde ärger, je weiter er kam. Die ganze Gegend, das ganze weite Land stand unter einer Wolke von Tod, unter einem Schleier von Grauen, Angst und Seelenverfinsterung, und das Schlimmste waren nicht die ausgestorbenen Häuser, die an der Kette verhungerten und verwesenden Hofhunde, die unbegraben liegenden Toten, die bettelnden Kinder, die Massengräber vor den Städten. Das Schlimmste waren die Lebenden, die unter der Last von Schrecken und Todesangst ihre Augen und ihre Seelen verloren zu haben schienen. Wunderliche und grausige Dinge bekam der Wanderer überall zu hören und zu sehen. Eltern hatten die Kinder und Gatten ihre Frauen verlassen, wenn sie krank geworden waren. Die Pestknechte und Spitalbüttel herrschten wie Henker, sie raubten in den leergestorbenen Häusern, ließen nach ihrer Willkür bald die Leichen unbeerdigt, bald rissen sie die Sterbenden, noch eh sie ausgeatmet hatten, aus den Betten und auf die Leichenkarren. Geängstete Flüchtlinge irrten einsam umher, verwildert, jede Berührung mit Menschen meidend, von Todesfurcht gejagt Andere taten sich in aufgepeitschter, erschreckter Lebenslust zusammen, hielten Zechgelage und feierten Tanz- und Liebesfeste, bei denen der Tod die Fiedel strich. Verwahrlost, trauernd oder lästernd, mit irren Augen hockten andere vor den Friedhöfen oder vor ihren entvölkerten Häusern. Und, schlimmer als alles: jeder suchte für das unerträgliche Elend einen Sündenbock, jeder behauptete die Verruchten zu kennen, die an der Seuche schuld und ihre böswilligen Urheber seien. Teuflische Menschen, hieß es, sorgten schadenfroh für die Verbreitung des Sterbens, indem sie aus den Pestleichen das Seuchengift holten und an die Mauern und Türklinken strichen, Brunnen und Vieh damit vergifteten. Wer in den Verdacht dieser Greuel kam, war verloren, wenn er nicht gewarnt wurde und fliehen konnte; er wurde entweder von der Justiz oder vom Pöbel mit dem Tod bestraft. Außerdem gaben die Reichen den Armen die Schuld und umgekehrt, oder es sollten die Juden sein, oder die Welschen, oder die Ärzte. In einer Stadt sah Goldmund mit grimmigem Herzen zu, wie die ganze Judengasse brannte, Haus an Haus, rundum stand das johlende Volk, und die schreienden Flüchtlinge wurden mit Waffengewalt ins Feuer zurückgejagt. Im Irrsinn der Angst und Erbitterung wurden überall Unschuldige totgeschlagen, verbrannt, gefoltert. Mit Wut und Ekel sah Goldmund zu, die Welt schien zerstört und vergiftet, es schien keine Freude, keine Unschuld, keine Liebe mehr auf Erden zu geben. Oft floh er zu den heftigen Festen der Lebenslustigen, überall klang die Fiedel des Todes, er lernte ihren Klang bald kennen, oft nahm er teil an den verzweifelten Gelagen, oft spielte er dabei die Laute oder tanzte beim Pechfackelschein durch fiebernde Nächte mit.

Furcht fühlte er nicht. Einst hatte er die Todesangst gekostet, in jener Winternacht unter den Tannen, als Viktors Finger um seine Kehle gedrückt lagen, und auch im Schnee und Hunger manches harten Wandertages. Das war ein Tod gewesen, mit dem man kämpfen, gegen den man sich zur Wehr setzen konnte, und er hatte sich gewehrt, mit zitternden Händen und Füßen, mit klaffendem Magen, mit erschöpften Gliedern, hatte sich gewehrt, hatte gesiegt und war entkommen. Mit diesem Pesttod aber war nicht zu kämpfen, man musste ihn toben lassen und sich ergeben, und Goldmund hatte sich längst ergeben. Er hatte keine Furcht, es schien, als sei ihm nichts mehr am Leben gelegen, seit er Lene in der brennenden Hütte zurückgelassen hatte, seit er Tag um Tag durch das vom Tod verheerte Land zog. Aber eine ungeheure Neugierde trieb ihn und hielt ihn wach, er war unermüdlich, dem Schnitter zuzusehen, das Lied der Vergänglichkeit zu hören, nirgends wich er aus, überall ergriff ihn dieselbe stille Leidenschaft, dabei zu sein und mit wachen Augen den Gang durch die Hölle zu tun. Er aß verschimmeltes Brot in ausgestorbenen Häusern, er sang und zechte. Wein bei den wahnsinnigen Gelagen, pflückte die schnell welkende Blume der Lust, sah in die starren trunkenen Augen der Weiber, sah in die starren blöden Augen der Betrunkenen, sah in die erloschenden Augen der Sterbenden, liebte die verzweifelten fiebernden Frauen, half Tote hinaus tragen für einen Teller Suppe, half für zwei Groschen Erde über nackte Leichen schütten. Es war dunkel und wild in der Welt geworden, heulend sang der Tod sein Lied, Goldmund hörte es mit offenen Ohren, mit brennender Leidenschaft.

Sein Ziel war die Stadt des Meisters Niklaus, dorthin zog ihn die Stimme in seinem Herzen. Lang war der Weg, und er war voll Tod, voll Welke und Sterben. Traurig zog er hin, berauscht vom Todeslied, hingegeben an das laut schreiende Leid der Welt, traurig und dennoch glühend, mit weit offenen Sinnen.

In einem Kloster sah er ein neugemaltes Wandbild, das musste er lange betrachten. Es war da der Totentanz an eine Mauer gemalt, da tanzte der bleiche knöcherne Tod die Menschen aus dem Leben, den König, den Bischof, den Abt, den Grafen, den Ritter, den Arzt, den Bauer, den Landsknecht, alle nahm er mit, und beinerne Musikanten spielten auf hohlen Knochen dazu auf. Tief sogen Goldmunds neugierige Augen das Bild in sich ein. Da hatte ein unbekannter Kollege die Lehre aus dem gezogen, was er vom Schwarzen Tod gesehen hatte, und schrie die bittere Predigt vom Sterbenmüssen den Menschen grell in die Ohren. Es war gut, das Bild, es war eine gute Predigt, nicht schlecht hatte dieser fremde Kollege die Sache gesehen und hingestrichen, es klang beinern und schaurig aus seinem wilden Bilde. Aber doch war es nicht das, was er selbst, Goldmund, gesehen und erlebt hatte. Es war das Sterbenmüssen, das hier gemalt war, das strenge und unerbittliche. Goldmund aber hatte sich ein anderes Bild gewünscht, ganz anders klang in ihm das wilde Lied des Todes, nicht beinern und streng, sondern eher süß und verführend, heimwärtslockend, mütterlich. Da, wo der Tod seine Hand ins Leben streckte, klang es nicht nur so grell und kriegerisch, es klang auch tief und liebevoll, herbstlich und satt, und in der Todesnähe glühte das Lebenslämpchen heller und inniger. Mochte der Tod für andere ein Krieger, ein Richter oder Henker, ein strenger Vater sein – für ihn war der Tod auch eine Mutter und Geliebte, sein Ruf ein Liebeslocken, seine Berührung ein Liebesschauer. Als Goldmund den gemalten Totentanz betrachtet hatte und weiterging, zog es ihn mit erneuter Macht zum Meister und zum Schaffen. Aber überall gab es Aufenthalte, neue Bilder und Erlebnisse, mit bebenden Nüstern atmete er die Todesluft, überall verlangte Mitleid oder Neugierde eine Stunde, einen Tag von ihm. Drei Tage lang hatte er einen kleinen greinenden Bauernknaben bei sich, trug ihn stundenlang auf seinem Rücken, einen halbverhungerten Wicht von fünf oder sechs Jahren, der ihm viel Mühe machte und den er nur schwer wieder loswerden konnte. Endlich nahm ihm eine Köhlerfrau den Buben ab, ihr Mann war gestorben, sie wollte wieder etwas Lebendiges um sich haben. Tagelang begleitete ihn ein herrenloser Hund, fraß ihm aus der Hand, wärmte ihn beim Schlafen, eines Morgens aber hatte er sich wieder verloren. Es tat ihm leid, er hatte sich daran gewöhnt, mit dem Hunde zu sprechen, halbe Stunden lang richtete er grüblerische Reden an das Tier, über die Schlechtigkeit der Menschen, über die Existenz Gottes, über die Kunst, über die Brüste und Hüften einer jungen Ritterstochter namens Julie, die er einst in seiner Jugend gekannt hatte. Denn natürlich war Goldmund auf seiner Todeswanderung ein klein wenig verrückt geworden, alle Menschen im Pestgebiet waren ein wenig verrückt, und viele waren es ganz und gar. Ein klein wenig verrückt war vielleicht auch die junge Jüdin Rebekka, das schöne schwarze Mädchen mit den brennenden Augen, mit dem er sich zwei Tage versäumte.

Er fand sie vor einer kleinen Stadt im Felde, bei einem schwarz verkohlten Trümmerhaufen hockte sie und heulte, schlug sich ins Gesicht und riss an ihren schwarzen Haaren. Die Haare erbarmten ihn, sie waren so schön, und er fing ihre wütenden Hände und hielt sie fest und redete dem Mädchen zu und nahm dabei wahr, dass auch ihr Gesicht und Wuchs von großer Schönheit war. Sie klagte um ihren Vater, der war samt vierzehn anderen Juden auf Befehl der Obrigkeit zu Asche verbrannt worden, sie aber hatte fliehen können, war nun aber verzweifelt zurückgekehrt und klagte sich an, dass sie sich nicht habe mitverbrennen lassen. Geduldig hielt er ihre zuckenden Hände fest und sprach sanft auf sie ein, brummte mitleidig und beschützend, bot ihr Hilfe an. Sie verlangte, dass er ihr helfe, ihren Vater zu begraben, und sie sammelten aus der noch heißen Asche alle Knochen heraus, trugen sie feldeinwärts ins Verborgene und bedeckten sie mit Erde. Es war darüber Abend geworden, und Goldmund suchte einen Schlafplatz, in einem Eichenwäldchen richtete er dem Mädchen ein Lager, versprach ihr, zu wachen, und hörte zu, wie sie im Liegen weiterweinte und schluckte und endlich einschlief. Dann schlief auch er ein wenig, und am Morgen begann er seine Werbung. Er sagte ihr, dass sie so allein nicht bleiben könne, man würde sie als Judin erkennen und totschlagen, oder wüste Landfahrer würden sie missbrauchen, und im Wald seien Wölfe und Zigeuner. Er aber, er nehme sie mit sich und schütze sie gegen Wolf und Mensch, denn sie tue ihm leid, und er sei ihr sehr gut, denn er habe Augen im Kopf und wisse, was Schönheit sei, und nie werde er dulden, dass diese süßen klugen Augenlider und diese holden Schultern von Tieren gefressen würden oder auf den Scheiterhaufen kamen. Finster hörte sie ihn an, sprang auf und lief davon. Er musste sie jagen und fangen, eh er fortfahren konnte.

»Rebekka«, sagte er, »du siehst doch, dass ich es nicht schlimm mit dir meine. Du bist betrübt, du denkst an deinen Vater, du willst jetzt nichts von Liebe wissen. Aber morgen oder übermorgen oder später werde ich dich wieder fragen, und bis dahin beschütze ich dich und bringe dir zu essen und rühre dich nicht an. Sei du traurig, solange es nötig ist. Du sollst bei mir traurig sein können oder fröhlich, du sollst immer nur das tun, was dir Freude macht.«

Aber alles war in den Wind geredet. Sie wolle nichts tun, sagte sie verbissen und wütend, was Freude mache, sie wolle tun, was Schmerzen bringe, nie mehr werde sie an etwas wie Freude denken, und je eher der Wolf sie fräße, desto besser sei es für sie. Er solle nun gehen, es helfe nichts, es sei schon zuviel geredet.

»Du«, sagte er, »siehst du denn nicht, dass überall der Tod ist, dass in allen Hausern und Städten gestorben wird und alles voll von Jammer ist. Auch die Wut der dummen Menschen, die deinen Vater verbrannt haben, ist nichts als Not und Jammer, sie kommt nur aus allzu großem Leiden. Schau, bald holt auch uns der Tod, und wir verfaulen im Feld, und mit unseren Knochen würfelt der Maulwurf. Lass uns vorher noch leben und lieb miteinander sein. Ach du, es wäre so schade um deinen weißen Hals und um deinen kleinen Fuß! Liebes schönes Mädchen, komm mit mir, ich rühre dich nicht an, ich will dich nur sehen und für dich sorgen.«

Er flehte noch lange und fühlte plötzlich selbst, wie nutzlos es sei, mit Worten und Gründen zu werben. Er schwieg und sah sie traurig an. Ihr stolzes königliches Gesicht war starr vor Abweisung.

»So seid ihr«, sagte sie endlich mit einer Stimme voll Hass und Verachtung, »so seid ihr Christen! Erst hilfst du einer Tochter ihren Vater begraben, den deine Leute gemordet haben und dessen letzter Fingernagel mehr wert ist als du, und kaum ist es getan, so soll das Mädchen dir gehören und mit dir buhlen gehen. So seid ihr! Zuerst dachte ich, vielleicht seiest du ein guter Mensch. Aber wie solltest du gut sein! Ach, ihr seid Säue.«

Während sie sprach, sah Goldmund in ihren Augen, hinter dem Hass, etwas glühen, was ihn rührte und beschämte und ihm tief zu Herzen ging. Er sah in ihren Augen den Tod, aber nicht das Sterbenmüssen, sondern das Sterbenwollen, das Sterbendürfen, die stille Gefolgschaft und Hingabe an den Ruf der Erdenmutter.

»Rebekka«, sagte er leise, »du hast vielleicht recht. Ich bin kein guter Mensch, obwohl ich es mit dir gut gemeint habe Verzeih mir. Ich habe dich erst jetzt verstanden.«

Mit gezogener Mütze grüßte er sie tief wie eine Fürstin und ging davon, schweren Herzens, er musste sie untergehen lassen. Lange blieb er betrübt und mochte mit niemand sprechen. So wenig sie einander glichen, so erinnerte dies stolze arme Judenkind ihn doch auf irgendeine Art an Lydia, die Tochter des Ritters. Es brachte Leiden, solche Frauen zu lieben. Aber eine Weile schien es ihm so, als habe er niemals eine andere geliebt als diese beiden, die arme ängstliche Lydia und die scheue bittere Jüdin.

Noch manchen Tag dachte er an das schwarze glühende Mädchen und träumte manche Nacht von der schlanken brennenden Schönheit ihres Leibes, die zu Glück und Blüte bestimmt schien und doch schon dem Sterben ergeben war. O dass diese Lippen und Brüste den »Säuen« zur Beute werden und im Feld verwesen sollten! Gab es denn keine Macht, keinen Zauber, diese kostbaren Bluten zu retten? Ja, es gab einen solchen Zauber dass sie in seiner Seele weiterlebten und von ihm gestaltet und aufbewahrt wurden Mit Schrecken und mit Entzucken fühlte er, wie voll von Bildern seine Seele war, wie dies lange Wandern durch das Todesland ihn mit Figuren vollgeschrieben hatte. O wie spannte diese Fülle in seinem Innern, wie sehnlich verlangte ihn danach, sich still auf sie zu besinnen, sie abströmen zu lassen und in bleibende Bilder zu verwandeln! Glühender und begieriger strebte er weiter, noch immer mit offenen Augen und neugierigen Sinnen, aber voll heftiger Sehnsucht nach Papier und Stift, nach Ton und Holz, nach Werkstatt und Arbeit.

Der Sommer war vorüber. Viele versicherten, dass mit dem Herbst oder doch mit dem Winteranfang die Seuche aufhören werde Es war ein Herbst ohne Fröhlichkeit. Goldmund kam durch Gegenden, in denen niemand mehr da war, das Obst zu ernten, es fiel von den Bäumen und faulte im Gras, an anderen Orten wurde es von verwilderten Horden, die aus den Städten kamen, in rohen Raubzügen geplündert und vergeudet.

Langsam näherte sich Goldmund seinem Ziel, und in dieser letzten Zeit befiel ihn mehrmals die Furcht, er möchte vorher noch die Pest erwischen und in irgendeinem Stalle sterben müssen. Er wollte jetzt nicht mehr sterben, nicht, ehe er das Glück genossen hatte, noch einmal in einer Werkstatt zu stehen und sich dem Schaffen hinzugeben. Zum erstenmal in seinem Leben war ihm jetzt die Welt zu weit und das deutsche Reich zu groß. Kein hübsches Städtchen konnte ihn zur Rast verlocken, keine hübsche Bauernmagd hielt ihn länger fest als eine Nacht.

Einmal kam er an einer Kirche vorüber, an deren Portal standen in tiefen, von Schmucksäulchen getragenen Nischen viele Steinfiguren aus sehr alter Zeit, Figuren von Engeln, Aposteln und Märtyrern, wie er ähnliche schon oft gesehen hatte, auch in seinem Kloster, in Mariabronn, hatte es manche Figuren dieser Art gegeben. Früher, als Jüngling, hatte er sie gerne, aber ohne Leidenschaft betrachtet, sie schienen ihm schön und würdevoll, aber ein wenig zu feierlich und etwas steif und altväterisch. Später dann, nachdem er am Ende seiner ersten großen Wanderschaft von jener süßen traurigen Mutter Gottes des Meisters Niklaus so sehr ergriffen und entzückt worden war, hatte er diese altfränkisch feierlichen Steinfiguren allzu schwer und starr und fremd gefunden, er hatte sie mit einem gewissen Hochmut betrachtet und hatte in der neuen Art seines Meisters eine viel lebendigere, innigere, beseeltere Kunst gesehen. Heute nun, da er voll von Bildern, die Seele gezeichnet von den Narben und Spuren heftiger Abenteuer und Erlebnisse, voll schmerzlicher Sehnsucht nach Besinnung und nach neuem Schaffen aus der Welt zurückkam, rührten diese uralten strengen Figuren sein Herz: plötzlich mit übermächtiger Gewalt. Andächtig stand er vor den ehrwürdigen Bildern, in welchen das Herz einer lang vergangenen Zeit fortlebte und die Ängste und Entzückungen längst verschwundener Geschlechter nach Jahrhunderten noch zu Stein erstarrt der Vergänglichkeit Trotz boten. In seinem verwilderten Herzen erhob sich schauernd und demütig das Gefühl der Ehrfurcht und ein Grauen vor seinem vergeudeten und verbrannten Leben. Er tat, was er unendlich lange nicht mehr getan hatte, er suchte einen Beichtstuhl auf, um zu bekennen und sich strafen zu lassen.

Aber wohl gab es Beichtstühle in der Kirche, doch in keinem einen Priester, sie waren gestorben, lagen im Hospital, waren geflohen, fürchteten Ansteckung. Die Kirche war leer, hohl klangen Goldmunds Schritte im Steingewölbe wider. Er kniete vor einem der leeren Beichtstühle nieder, schloss die Augen und flüsterte ins Sprechgitter hinein: »Lieber Gott, sieh, was aus mir geworden ist. Ich komme aus der Welt zurück und bin ein schlechter unnützer Mensch geworden, ich habe meine jungen Jahre vertan wie ein Verschwender, wenig ist übriggeblieben. Ich habe getötet, ich habe gestohlen, ich habe gehurt, ich bin müßig gegangen und habe andern das Brot weggegessen. Lieber Gott, warum hast du uns so geschaffen, warum führst du uns solche Wege? Sind wir nicht deine Kinder? Ist nicht dein Sohn für uns gestorben?Gibt es nicht Heilige und Engel, uns zu leiten? Oder sind das alles hübsche erfundene Geschichten, die man den Kindern erzählt und über die die Pfaffen selber lachen? Ich bin irr an dir geworden, Gottvater, du hast die Welt übel geschaffen, schlecht hältst du sie in Ordnung. Ich habe Häuser und Gassen voll von Toten liegen sehen, ich habe gesehen, wie die Reichen sich in ihren Häusern verschanzt haben oder geflohen sind und wie die Armen ihre Brüder unbegraben haben liegen lassen, wie sie einer den andern verdächtigt und die Juden wie Vieh totgeschlagen haben. Ich habe so viele Unschuldige leiden und untergehen sehen und so viele Böse im Wohlleben schwimmen. Hast du uns denn ganz vergessen und verlassen, ist dir deine Schöpfung ganz entleidet, willst du uns alle zugrunde gehen lassen?«

Seufzend trat er durchs hohe Portal heraus und sah die schweigenden Steinbilder, Engel und Heilige, hager und hoch in ihren starr gefalteten Gewandern stehen, unbewegt, unerreichbar, übermenschlich und doch von Menschenhand und aus Menschengeist geschaffen. Streng und taub standen sie da oben auf ihrem knappen Raume, keiner Bitte und Frage zugänglich, und waren doch ein unendlicher Trost, waren ein triumphierender Sieg über Tod und Verzweiflung, wie sie in ihrer Würde und Schönheit standen und ein hinsterbendes Menschengeschlecht ums andere überdauerten. Ach, dass hier auch die arme schöne Jüdin Rebekka stünde und die arme, mit der Hütte verbrannte Lene und die holde Lydia und Meister Niklaus! Aber sie würden einmal stehen und dauern, er würde sie hinstellen, und ihre Gestalten, die ihm heute Liebe und Qual, Angst und Leidenschaft bedeuteten, würden vor den später Lebenden stehen, ohne Namen und Geschichte, stille, schweigende Sinnbilder des Menschenlebens.

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