Книга: Narziss und Goldmund / Нарцисс и Гольдмунд. Книга для чтения на немецком языке
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Zwölftes Kapitel

Andern Tags konnte Goldmund sich nicht entschließen, in die Werkstatt zu gehen. Wie schon manchen unlustigen Tag trieb er sich in der Stadt herum. Er sah die Frauen und Mägde zu Markte gehen, hielt sich besonders beim Fischmarktbrunnen auf und sah den Fischhändlern und ihren derben Weibern zu, wie sie ihre Ware feilboten und anpriesen, wie sie die kühlen silbernen Fische aus ihren Bottichen rissen und darboten, wie die Fische mit schmerzlich geöffneten Mäulern und angstvoll starren Goldaugen sich still dem Tode ergaben oder sich wütend und verzweifelt gegen ihn wehrten. Wie schon manches Mal ergriff ihn ein Mitleid mit diesen Tieren und ein trauriger Unmut gegen die Menschen, warum waren sie so stumpf und roh und unausdenklich dumm und blöde, warum sahen sie alle nichts, weder die Fischer und Fischweiber noch die feilschenden Kaufer, warum sahen sie diese Mäuler, diese zum Tod erschreckten Augen und wild um sich schlagenden Schwänze nicht, nicht diesen grausigen nutzlosen Verzweiflungskampf, nicht diese unerträgliche Verwandlung der geheimnisvollen, wunderbar schönen Tiere, wie ihnen das leise letzte Zittern über die sterbende Haut schauderte und sie dann tot und erloschen lagen, hingestreckt, klägliche Fleischstücke für den Tisch der vergnügten Fresser? Nichts sahen sie, diese Menschen, nichts wussten und merkten sie, nichts sprach zu ihnen! Einerlei, ob da ein armes holdes Tier vor ihren Augen verreckte oder ob ein Meister in einem Heiligengesicht alle Hoffnung, allen Adel, alles Leid und alle dunkle schnürende Angst des Menschenlebens zum Erschauern sichtbar machte – nichts sahen sie, nichts ergriff sie! Alle waren sie vergnügt oder beschäftigt, hatten es wichtig, hatten es eilig, schrien, lachten und rülpsten einander an, machten Lärm, machten Witze, zeterten wegen zwei Pfennigen, und allen war es wohl, sie waren alle in Ordnung und höchlich mit sich und der Welt zufrieden. Schweine waren sie, ach viel schlimmer und wüster als Schweine! Nun ja, er selber war oft genug mitten unter ihnen gewesen, hatte sich froh unter ihresgleichen gefühlt, war den Mädchen nachgetrieben, hatte vom Teller lachend und ohne Grausen gebackene Fische gegessen. Aber immer wieder hatte ihn, oft ganz plötzlich wie durch Zauber, die Freude und Ruhe verlassen, immer wieder war dieser fette feiste Wahn von ihm abgefallen, diese Selbstzufriedenheit, Wichtigkeit und faule Seelenruhe, und es hatte ihn hinweggerissen, in die Einsamkeit und ins Grübeln, auf die Wanderschaft, zur Betrachtung des Leides, des Todes, der Zweifelhaftigkeit alles Treibens, zum Starren in den Abgrund. Manchmal war ihm dann aus der hoffnungslosen Hingabe an den Anblick des Sinnlosen und Furchtbaren plötzlich eine Freude aufgeblüht, eine heftige Verliebtheit, die Lust, ein schönes Lied zu singen oder zu zeichnen, oder im Riechen an einer Blume, im Spielen mit einer Katze war ihm das kindliche Einverstandensein mit dem Leben wieder zurückgekehrt. Auch jetzt würde es wiederkehren, morgen oder übermorgen, und die Welt würde wieder gut und vortreflich sein. Bis eben das andere wiederkam, die Traurigkeit, das Grübeln, die hoffnungslose beklemmende Liebe zu den sterbenden Fischen, den welkenden Blumen, der Schrecken über das stumpfe sauische Hinleben und Gaffen und Nichtsehen der Menschen Immer in solchen Zeiten musste er mit quälender Neugierde, mit tiefer Beklemmung des fahrenden Schülers Viktor denken, dem er damals sein Messer zwischen die Rippen gestoßen hatte und den er voller Blut auf den Tannenzweigen hatte liegenlassen, und er musste dann darüber sinnen und grübeln, was jetzt eigentlich aus diesem Viktor geworden sei, ob die Tiere ihn ganz und gar gefressen, ob irgend etwas von ihm übriggeblieben sei. Ja, übrig waren wohl die Knochen geblieben und vielleicht ein paar Hände voll Haare. Und die Knochen – was wurde aus denen? Wie lange wohl dauerte es, Jahrzehnte oder bloß Jahre, bis auch sie ihre Form verloren hatten und Erde geworden waren?

Ach, heute, während er mit Mitleid den Fischen und mit Ekel den Marktleuten zusah, das Herz voll ängstlicher Schwermut und bitterer Feindseligkeit gegen die Welt und gegen sich selber, mußte er an Viktor denken. Vielleicht war er gefunden und begraben worden? Und wenn das geschehen war – war dann jetzt schon alles Fleisch von seinen Knochen gefallen, war alles verfault, hatten alles die Wurmer gefressen? Waren noch Haare auf seinem Schädel und Brauen über seinen Augenhöhlen? Und von Viktors Leben, das doch von Abenteuern und Geschichten und vom phantastischen Spiel seiner wunderlichen Späße und Schnurren erfüllt gewesen war – was war davon übriggeblieben? Lebte außer den paar losen Erinnerungen, die sein Mörder an ihn bewahrte, noch irgend etwas von diesem Menschendasein fort, das doch keines von den ganz gewöhnlichen gewesen war? Gab es noch einen Viktor in den Träumen der Frauen, die er einst geliebt hatte? Ach, es war wohl alles dahin und zerronnen. Und so erging es allen und allem, es blühte schnell und welkte schnell hinweg, nachher fiel der Schnee drüber. Was hatte alles in ihm selbst geblüht, als er vor einigen Jahren in diese Stadt gekommen war, voll Begierde nach der Kunst, voll banger tiefer Verehrung für den Meister Niklaus! War etwas davon am Leben geblieben? Nichts, nichts mehr als von der langen Schnapphahngestalt des armen Viktor. Hatte jemand ihm damals gesagt, es werde ein Tag kommen, da würde Niklaus ihn als seinesgleichen anerkennen und bei der Zunft für ihn den Meisterbrief verlangen, er hatte geglaubt, alles Glück der Welt in Händen zu halten. Und jetzt war es nichts als eine abgeblühte Blume, etwas Dürres und Freudloses.

Als er dies dachte, hatte Goldmund plötzlich ein Gesicht. Es war nur ein Augenblick, ein zuckendes Aufblitzen: er sah das Gesicht der Urmutter, über den Abgrund des Lebens geneigt, mit einem verlorenen Lächeln schön und grausig blicken, sah es lächeln zu den Geburten, zu den Toden, zu den Blumen, zu den raschelnden Herbstblättern, lächeln zur Kunst, lächeln zur Verwesung.

Alles galt ihr gleich, der Urmutter, über allem hing wie Mond ihr unheimliches Lächeln, ihr war der schwermütig sinnende Goldmund so lieb wie der auf dem Pflaster des Fischmarktes sterbende Karpfen, die stolze kühle Jungfer Lisbeth so lieb wie die im Wald verstreuten Knochen jenes Viktor, der ihm einst so gern seinen Dukaten gestohlen hätte.

Schon war der Blitz wieder erloschen, das geheimnisvolle Muttergesicht verschwunden. Aber tief zuckte sein fahles Leuchten in Goldmunds Seele fort, eine Woge von Leben, von Schmerz, von würgender Sehnsucht lief aufwühlend durch sein Herz. Nein, nein, er wollte das Glück und die Sattheit der andern nicht, der Fischkäufer, der Bürger, der geschäftigen Leute. Mochte der Teufel sie holen. Ah, dieses aufzuckende bleiche Gesicht, dieser volle reife spätsommerliche Mund, über dessen schwere Lippen dies namenlose Todeslächeln wie Wind und Mondschein hingelaufen war!

Goldmund ging zum Hause des Meisters, es war gegen Mittag, er wartete, bis er hörte, dass Niklaus drinnen seine Arbeit verließ und die Hände wusch. Da trat er zu ihm herein.

»Lasset mich ein paar Worte zu Euch sagen, Meister, es kann geschehen, während Ihr Eure Hände waschet und den Rock anzieht Ich verdurste nach einem Mundvoll Wahrheit, ich möchte Euch etwas sagen, was ich vielleicht gerade jetzt sagen kann und dann nicht wieder. Es steht so mit mir, daûû ich mit einem Menschen sprechen muûû, und Ihr seid der einzige, der es vielleicht verstehen kann. Ich spreche nicht zu dem Mann, der eine berühmte Werkstatt hat und der von Städten und Klöstern alle die ehrenvollen Aufträge empfängt und zwei Gehilfen und ein schönes reiches Haus hat Ich spreche zu dem Meister, der die Mutter Gottes im Kloster draußen gemacht hat, das schönste Bild, das ich kenne. Diesen Mann habe ich geliebt und verehrt, seinesgleichen zu werden schien mir das höchste Ziel auf Erden. Ich habe jetzt eine Figur gemacht, den Johannes, und konnte ihn nicht so vollkommen machen, wie Eure Mutter Gottes ist, aber er ist nun eben so, wie er ist. Eine andere Figur habe ich nicht zu machen, es ist keine vorhanden, die mich verlangt und sie zu machen zwingt. Vielmehr, es ist eine vorhanden, ein fernes heiliges Bild, das ich einmal werde machen müssen, das ich aber heute noch nicht machen kann. Um es machen zu können, muss ich noch viel mehr erfahren und erleben. Vielleicht kann ich es in drei, vier Jahren machen, oder in zehn Jahren oder später, oder auch niemals. Bis dahin aber, Meister, will ich nicht Handwerk treiben und Figuren lackieren und Kanzeln schnitzen und ein Handwerkerleben in der Werkstatt führen und Geld verdienen und so werden, wie alle Handwerker sind, nein, das will ich nicht, sondern ich will leben und wandern, Sommer und Winter spüren, die Welt ansehen und ihre Schönheit und ihr Grauen kosten. Ich will Hunger und Durst erleiden und will das alles wieder vergessen und loswerden, was ich hier bei Euch gelebt und gelernt habe Ich möchte wohl einmal etwas so Schönes und tief ans Herz Rührendes machen, wie Eure Mutter Gottes ist – aber so werden wie Ihr und so leben, wie Ihr lebet, das will ich nicht.«

Der Meister hatte seine Hände gewaschen und getrocknet, jetzt wendete er sich um und sah Goldmund an. Sein Gesicht war streng, aber nicht böse.

»Du hast gesprochen«, sagte er, »und ich habe gehört. Lass es nun gut sein. Ich erwarte dich nicht zur Arbeit, obwohl viel zu tun ist. Ich betrachte dich nicht als Gehilfen, du brauchst Freiheit Ich möchte dies und jenes mit dir besprechen, lieber Goldmund, nicht jetzt, in einigen Tagen, du magst dir indessen die Zeit nach Belieben vertreiben. Sieh, ich bin viel älter als du und habe dies und jenes erfahren. Ich denke anders als du, aber ich verstehe dich und das, was du meinst. In ein paar Tagen werde ich dich rufen lassen. Wir werden über deine Zukunft sprechen, ich habe allerlei Pläne. Bis dahin habe Geduld! Ich weiß gut genug, wie es ist, wenn man ein Werk fertiggebracht hat, das einem am Herzen lag, ich kenne diese Leere. Sie geht vorüber, glaube mir.«

Unbefriedigt lief Goldmund weg. Der Meister meinte es gut mit ihm, aber was konnte er ihm helfen?

Am Fluss kannte er eine Stelle, dort war das Wasser nicht tief und strömte über einen Grund voll Gerümpel und Abfall, aus den Häusern der Fischervorstadt wurde dort allerlei Kehricht in den Fluss geworfen. Dahin ging er, setzte sich auf die Ufermauer und blickte ins Wasser hinab. Wasser liebte er sehr, jedes Wasser zog ihn an. Und wenn man von hier aus durch das strömende, kristallfädige Wasser hinabschaute auf den dunklen undeutlichen Grund, dann sah man hier und dort irgend etwas mit gedämpftem Goldglanz aufblinken und verlockend glitzern, unerkennbare Dinge, vielleicht eine alte Tellerscherbe oder eine weggeworfene verbogene Sichel oder einen lichten glatten Stein oder glasierten Ziegel, manchmal auch mochte es ein Schlammfisch sein, eine feiste Trüsche oder ein Rotauge, das sich da unten umdrehte und einen Augenblick auf den hellen Bauchflossen und Schuppen einen Lichtstrahl aufing – niemals konnte man genau erkennen, was es eigentlich sei, immer aber war es zauberhaft schön und verlockend, dies kurze gedämpfte Aufblinken versunkener Goldschätze im nassen schwarzen Grunde. So wie dies kleine Wassergeheimnis, schien ihm, waren alle echten Geheimnisse, alle wirklichen, echten Bilder der Seele: sie hatten keinen Umriss, sie hatten keine Form, sie ließen sie nur wie eine ferne schöne Möglichkeit ahnen, sie waren verschleiert und vieldeutig. Wie da in der Dämmerung der grünen Flusstiefe für zuckende Augenblicke etwas unsäglich Goldenes oder Silbernes herblinkte, ein Nichts und doch voll seligster Versprechungen, ebenso konnte das verlorene Profil eines Menschen, halb von hinten gesehen, manchmal etwas unendlich Schönes oder unerhört Trauriges ankündigen, oder auch wie unter einem nächtlichen Lastwagen eine Laterne hing und die sich drehenden riesigen Schatten der Radspeichen an die Mauern malte, konnte dies Schattenspiel eine Minute lang so voll von Anblicken, Geschehnissen und Geschichten sein wie der ganze Vergil. Aus demselben unwirklichen, magischen Stoff waren nachts die Träume gewoben, ein Nichts, das alle Bilder der Welt in sich enthielt, ein Wasser, in dessen Kristall die Formen aller Menschen, Tiere, Engel und Dämonen als allzeit wache Möglichkeiten wohnten.

Wieder vertiefte er sich in das Spiel, starrte verloren in den ziehenden Fluss, sah formlose Schimmer auf dem Grunde beben, ahnte Königskronen und blanke Frauenschultern. Einstmals in Mariabronn, so erinnerte er sich, hatte er in den lateinischen und griechischen Buchstaben ähnliche Formträume und Verwandlungszauber gesehen. Hatte er nicht damals mit Narziss einmal darüber gesprochen? Ach, wann war das gewesen, vor wieviel hundert Jahren? Ach, Narziss! Um den zu sehen, um mit dem eine Stunde zu sprechen, seine Hand zu halten, seine ruhige kluge Stimme zu hören, hätte er gern seine zwei Golddukaten gegeben.

Warum waren denn diese Dinge so schön, dies Goldgeleucht unterm Wasser, diese Schatten und Ahnungen, alle diese unwirklichen und feenhaften Erscheinungen – warum waren sie denn so unsäglich schön und beglückend, da sie doch genau das Gegenteil von dem waren, was ein Künstler Schönes machen konnte? Denn wenn die Schönheit jener unnennbaren Dinge ohne jede Form war und ganz nur aus Geheimnis bestand, so war es ja bei Werken der Kunst gerade umgekehrt, sie waren ganz und gar Form, sie sprachen vollkommen klar. Nichts war unerbittlich klarer und bestimmter als die Linie eines gezeichneten oder in Holz geschnittenen Kopfes oder Mundes. Genau, haargenau hatte er die Unterlippe oder die Augenlider von Niklaus’ Marienfigur nachzuzeichnen vermocht, da gab es nichts Unbestimmtes, Täuschendes, Zerfließendes.

Goldmund dachte hingegeben darüber nach. Es wurde ihm nicht klar, wie es möglich sei, dass das denkbar Bestimmteste und Geformteste ganz ähnlich auf die Seele wirke wie das Ungreifbarste und Gestaltloseste. Eines aber wurde ihm bei dieser Gedankenübung dennoch klar, nämlich warum so viele tadellose und gutgemachte Kunstwerke ihm ganz und gar nicht gefielen, sondern trotz einer gewissen Schönheit ihm langweilig und beinah verhasst waren. Werkstätten, Kirchen und Paläste waren voll von solchen fatalen Kunstwerken, er selber hatte an einigen mitgearbeitet. Sie waren so schwer enttäuschend, weil sie das Verlangen nach Höchstem erweckten und es doch nicht erfüllten, weil ihnen die Hauptsache fehlte: das Geheimnis. Das war es, was Traum und höchstes Kunstwerk Gemeinsames hatten: das Geheimnis.

Weiter dachte Goldmund ein Geheimnis ist es, das ich liebe, dem ich auf der Spur bin, das ich mehrmals habe aufblitzen sehen und das ich als Künstler, wenn es mir einmal möglich sein wird, darstellen und zum Sprechen bringen möchte. Es ist die Gestalt der großen Gebärerin, der Urmutter, und ihr Geheimnis besteht nicht, wie das einer anderen Figur, in dieser oder jener Einzelheit, in besonderer Fülle oder Magerkeit, Derbheit oder Zierlichkeit, Kraft oder Anmut, sondern es besteht darin, dass die größten Gegensätze der Welt, die sonst unvereinbar sind, in dieser Gestalt Frieden geschlossen haben und beisammenwohnen: Geburt und Tod, Güte und Grausamkeit, Leben und Vernichtung. Hatte ich diese Figur mir ausgesonnen, wäre sie nur mein Gedankenspiel oder ein ehrgeiziger Künstlerwunsch, so wäre es nicht schade um sie, ich könnte ihren Fehler einsehen und sie vergessen. Aber die Urmutter ist kein Gedanke, denn ich habe sie nicht erdacht, sondern gesehen! Sie lebt in mir, immer wieder ist sie mir begegnet. Zuerst habe ich sie geahnt, als ich in einem Dorf, in einer Winternacht, über dem Bett einer gebärenden Bäuerin das Licht halten musste: damals fing das Bild in mir zu leben an. Oft ist es ferne und verloren, lange Zeit, aber plötzlich zuckt es wieder auf, auch heute wieder. Das Bild meiner eigenen Mutter, einst mein liebstes, hat sich ganz in dies neue Bild verwandelt, es ist in ihm drinnen wie der Kern in einer Kirsche.

Deutlich fühlte er jetzt seine augenblickliche Lage, das Bangen vor einer Entscheidung. Er war, nicht minder als damals beim Abschied von Narziss und dem Kloster, auf einem wichtigen Wege: dem Weg zur Mutter. Vielleicht wurde einmal aus der Mutter ein allen sichtbares, gestaltetes Bild werden, ein Werk seiner Hände. Vielleicht lag dort das Ziel, war dort der Sinn seines Lebens verborgen. Vielleicht, er wusste es nicht. Eines aber wußte er: der Mutter zu folgen, zu ihr unterwegs zu sein, von ihr gezogen und gerufen zu werden, das war gut, das war Leben. Vielleicht konnte er nie ihr Bild gestalten, vielleicht blieb sie immer Traum, Ahnung, Lockung, goldenes Aufblinken heiligen Geheimnisses. Nun, auf jeden Fall hatte er ihr zu folgen, ihr hatte er sein Schicksal anheimzustellen, sie war sein Stern.

Und nun lag die Entscheidung schon nahe vor ihm, es war alles klar geworden. Die Kunst war eine schöne Sache, aber sie war keine Göttin und kein Ziel, für ihn nicht, nicht der Kunst hatte er zu folgen, nur dem Ruf der Mutter. Was konnte es nutzen, seine Finger noch immer geschickter zu machen? Am Meister Niklaus konnte man sehen, wohin das führte. Es führte zu Ruhm und Namen, zu Geld und sesshaftem Leben, und zu einer Verdorrung und Verkümmerung jener inneren Sinne, denen allein das Geheimnis zugänglich ist. Es führte zum Herstellen hübscher kostbarer Spielwaren, zu allerlei reichen Altären und Kanzeln, heiligen Sebastianen und hübsch gelockten Engelsköpfchen, das Stück zu vier Talern. Oh, das Gold im Aug’ eines Karpfens und der süße dünne Silberflaum am Rand eines Schmetterlingsflügels war unendlich viel schöner, lebendiger, köstlicher als ein ganzer Saal voll von jenen Kunstwerken.

Ein Knabe kam singend die Uferstraße herabgegangen, manchmal verstummte sein Gesang, und er biss in ein großes Stuck Weißbrot, das er in der Hand trug. Ihn sah Goldmund und bat ihn um ein Stückchen von seinem Brot, krallte ein Stück Weiches mit zwei Fingern heraus und formte daraus kleine Kugeln. Über die Mauerbrüstung hinausliegend, warf er die Brotkugeln, langsam eine um die andere, ms Wasser hinab, sah im dunkeln Wasser die helle Kugel hinabsinken und sah sie von den raschen drängenden Köpfen der Fische umschwärmt, bis sie in einem der Mäuler verschwand. Kugel um Kugel sah er sinken und verschwinden, tief befriedigt. Dann fühlte er Hunger und suchte eine seiner Geliebten auf, die im Hause eines Fleischers Magd war und die er »Gebieterin der Würste und Schinken« nannte. Mit dem gewohnten Pfiff lockte er sie ans Küchenfenster und war willens, sich dies oder jenes Nahrhafte von ihr geben zu lassen, um es zu sich zu stecken und draußen überm Fluss auf einem der Rebhügel zu verzehren, deren roter fetter Boden so kräftig unterm satten Weinlaub leuchtete, und wo im Frühling die kleinen blauen Hyazinthen blühten, die so zart nach Steinobst dufteten.

Aber es schien heut ein Tag der Entscheidungen und Einsichten zu sein. Als Kathrine am Fenster erschien und mit dem festen, etwas derben Gesicht herüberlächelte, als er schon die Hand ausstreckte, um ihr das gewohnte Zeichen zu geben, da musste er sich plötzlich anderer Male erinnern, da er ebenso hier gestanden war und gewartet hatte. Und mit langweilender Deutlichkeit sah er zugleich alles voraus, was in den nächsten Minuten geschehen würde: wie sie sein Zeichen erkennen und sich zurückziehen, wie sie in Bälde an der Hintertür des Hauses erscheinen würde, etwas Geräuchertes in der Hand, wie er es entgegennehmen und sie dabei ein wenig streicheln und an sich drücken würde, wie sie es erwartete – und plötzlich schien es ihm unendlich dumm und hässlich, diesen ganzen mechanischen Ablauf oft erlebter Dinge wieder hervorzurufen und seine Rolle dann zu spielen, die Wurst in Empfang zu nehmen, die kräftigen Brüste sich an ihn drängen zu fühlen und sie wie zum Gegengeschenk ein wenig zu drücken. Plötzlich meinte er in ihrem guten derben Gesicht einen Zug von entseelter Gewohnheit, in ihrem freundlichen Lächeln etwas allzuoft Gesehenes, etwas Mechanisches und Geheimnisloses, etwas seiner Unwürdiges zu sehen. Er beschrieb den gewohnten Wink mit der Hand nicht zu Ende, auf seinem Gesicht erfror das Lächeln. Liebte er sie denn noch, begehrte er sie noch ernstlich? Nein, allzuoft schon war er hier gewesen, allzuoft hatte er dies immer gleiche Lächeln gesehen und ohne Herzensantrieb erwidert. Was er gestern noch unbedenklich gekonnt hatte, war ihm heut plötzlich nicht mehr möglich. Die Magd stand noch und schaute, da hatte er sich schon umgewendet und war aus der Gasse verschwunden, entschlossen, sich nie mehr dort zu zeigen Mochte ein anderer diese Brüste streicheln! Mochte ein anderer diese guten Würste essen! Überhaupt, was wurde hier in dieser fetten vergnügten Stadt nicht Tag für Tag gefressen und vergeudet! Wie faul, wie verwöhnt, wie wählerisch waren diese feisten Bürger, wegen deren jeden Tag so viel Säue und Kälber geschlachtet und so viel schöne arme Fische aus dem Fluss gezogen wurden! Und er selbst – wie war er selbst verwöhnt und verdorben, wie ekelhaft ähnlich war er diesen fetten Bürgern geworden! Auf Wanderung, im verschneiten Feld, da schmeckte eine gedörrte Pflaume oder eine alte Brotrinde köstlicher als hier im Wohlleben ein ganzes Zunftessen. O Wanderung, o Freiheit, o mondbeschienene Heide und vorsichtig beäugte Tierspur im graufeuchten Morgengras! Hier in der Stadt, bei den Sesshaften, ging alles so leicht und kostete so wenig, sogar die Liebe. Er hatte genug davon, plötzlich, er spie darauf. Dies Leben hier hatte seinen Sinn verloren, es war ein Knochen ohne Mark. Es war schön gewesen und hatte Sinn gehabt, solang der Meister ein Vorbild, Lisbeth eine Prinzessin gewesen war, es war erträglich gewesen, solang er an seinem Johannes gearbeitet hatte. Jetzt war es zu Ende damit, der Duft war dahin, das Blümlein war verwelkt. Mit heftiger Welle ergriff ihn das Gefühl der Vergänglichkeit, das ihn oft so tief peinigen und so tief berauschen konnte. Schnell verblühte alles, schnell war jede Lust erschöpft, und nichts blieb übrig als Knochen und Staub. Doch, eines blieb: die ewige Mutter, die uralte und ewig junge, mit dem traurigen und grausamen Liebeslächeln.

Wieder sah er sie für Augenblicke: eine Riesin, Sterne im Haar, träumerisch sitzend am Rande der Welt, mit verspielter Hand pflückte sie Blume um Blume, Leben um Leben, und ließ sie langsam ins Bodenlose fallen.

In diesen Tagen, während Goldmund ein verblühtes Stück Leben hinter sich erblassen sah und in einem traurigen Rausch von Abschiednehmen durch die vertraute Gegend schweifte, gab sich Meister Niklaus große Mühe, für seine Zukunft zu sorgen und diesen unruhigen Gast für immer sesshaft zu machen. Er bewog die Zunft, Goldmund das Meisterzeugnis auszustellen, und erwog den Plan, ihn nicht als Untergebenen, sondern als Mitarbeiter dauernd an sich zu fesseln, alle großen Aufträge mit ihm zu beraten und auszuführen und ihn zum Teilhaber an deren Ertrag zu machen. Es mochte ein Wagnis sein, auch Lisbeths wegen, denn natürlich würde der junge Mensch dann bald sein Schwiegersohn werden. Aber eine Figur wie den Johannes hatte auch der beste aller Gehilfen, die Niklaus je besoldet hatte, niemals zu machen vermocht, und er selbst wurde alt und wurde ärmer an Einfällen und Schöpferkraft, und zu einem gewöhnlichen handwerklichen Gewerbe wollte er seine berühmte Werkstatt nicht herabsinken sehen. Es würde schwierig sein mit diesem Goldmund, aber es musste gewagt werden.

So rechnete sorgenvoll der Meister. Er würde für Goldmund die hintere Werkstatt ausbauen und vergrößern lassen und ihm die Stube im Dachstock einräumen, ihn auch zu seiner Aufnahme in die Zunft mit neuer, schöner Kleidung beschenken. Vorsichtig holte er auch Lisbeths Meinung ein, die seit jenem Mittagessen auf etwas Dergleichen wartete. Und siehe, Lisbeth war nicht dagegen. Wenn der Bursche sesshaft gemacht wurde und Meister hieß, war er ihr schon recht. Auch hier gab es keine Hindernisse. Und wenn es dem Meister Niklaus und dem Handwerk noch immer nicht ganz gelungen war, diesen Zigeuner zu zähmen, Lisbeth würde es schon vollends fertigbringen.

So wurde alles eingefädelt und dem Vogel der Köder hübsch hinter die Schlinge gehängt. Und eines Tages wurde nach Goldmund geschickt, der sich nicht mehr hatte sehen lassen, und er wurde abermals zu Tische geladen, erschien wieder gebürstet und gekämmt, saß wieder in der schönen, etwas zu feierlichen Stube, stieß wieder mit dem Meister und des Meisters Tochter an, bis diese sich entfernte und Niklaus mit seinem großen Plan und Anerbieten herausrückte.

»Du hast mich verstanden«, fügte er seinen überraschenden Eröffnungen hinzu, »und ich brauche dir nicht zu sagen, dass wohl niemals ein junger Mensch, ohne auch nur die vorgeschriebene Lehrzeit abgedient zu haben, so rasch zum Meister aufgerückt und ins warme Nest gesetzt worden ist. Dein Glück ist gemacht, Goldmund.«

Verwundert und beklommen sah Goldmund seinen Meister an und schob den Becher von sich, der noch halbvoll vor ihm stand. Er hatte eigentlich erwartet, dass Niklaus ihn wegen der verbummelten Tage etwas schelten und ihm dann vorschlagen werde, als Gehilfe bei ihm zu bleiben. Nun stand es so. Es machte ihn traurig und verlegen, diesem Manne so gegenübersitzen zu müssen. Er fand nicht gleich eine Antwort.

Der Meister, schon mit etwas gespanntem und enttäuschtem Gesicht, als sein ehrenvolles Anerbieten nicht sofort mit Freude und Demut angenommen wurde, stand auf und sagte: »Nun, mein Vorschlag kommt dir unerwartet, vielleicht willst du erst darüber nachdenken. Es kränkt mich ja ein wenig, ich hatte gedacht, dir eine große Freude zu bereiten. Aber meinetwegen, nimm also Bedenkzeit.«

»Meister«, sagte Goldmund, um die Worte ringend, »seid mir nicht böse! Ich danke Euch von ganzem Herzen für Euer Wohlwollen und danke Euch noch mehr für die Geduld, mit der Ihr mich als Schüler behandelt habt. Ich werde nie vergessen, in welcher Schuld ich bei Euch stehe. Aber die Bedenkzeit brauche ich nicht, ich habe mich langst entschlossen.«

»Wozu entschlossen?«

»Es war bei mir beschlossen, noch ehe ich Euerer Einladung folgte und ehe ich eine Ahnung von Eueren ehrenvollen Anerbietungen hatte. Ich bleibe nicht länger hier, ich wandere.«

Bleich geworden, blickte ihn Niklaus mit finsteren Augen an.

»Meister«, flehte Goldmund, »glaubet mir, dass ich Euch nicht kränken will! Ich habe Euch gesagt, wozu ich entschlossen bin. Es ist nichts mehr daran zu ändern. Ich muss fort, ich muss reisen, ich muss in die Freiheit. Lasst mich Euch noch einmal herzlich danken, und lasst uns freundlich voneinander Abschied nehmen.«

Er streckte ihm die Hand hin, die Tränen waren ihm nahe. Niklaus nahm seine Hand nicht, er war weiß im Gesicht geworden und begann jetzt rasch und rascher in der Stube auf und ab zu gehen, mit vor Wut dröhnenden Schritten. Nie hatte Goldmund ihn so gesehen.

Dann blieb der Meister plötzlich stehen, beherrschte sich mit furchtbarer Anstrengung und sagte, ohne Goldmund anzublicken, zwischen den Zähnen hervor »Gut, also geh! Aber geh sogleich! Dass ich dich nicht wiedersehen muss! Dass ich nicht etwas tue und sage, was mich einmal reuen könnte. Geh!«

Nochmals streckte Goldmund ihm seine Hand entgegen. Der Meister machte Miene, auf die dargereichte Hand zu speien. Da wendete sich Goldmund, der nun auch bleich geworden war, ging leise aus der Stube, setzte draußen seine Mütze auf, schlich die Treppe hinab und ließ die Hand über ihre geschnitzten Pfostenköpfe laufen, trat unten in die kleine Hofwerkstatt, stand zum Abschied eine kleine Weile vor seinem Johannes und verließ das Haus mit einem Weh im Herzen, tiefer als er es einst beim Verlassen der Ritterburg und der armen Lydia empfunden hatte.

Es ist wenigstens rasch gegangen! Es ist wenigstens nichts Unnützes gesprochen worden! Das war der einzige Trostgedanke, als er über die Schwelle hinausging und plötzlich Gasse und Stadt ihm mit jenem verwandelten, fremden Gesicht ins Auge sahen, den die gewohnten Dinge annehmen, wenn unser Herz von ihnen Abschied genommen hat. Er warf einen Blick auf die Haustür zurück – es war jetzt die Tür zu einem fremden, ihm verschlossenen Hause.

In seiner Kammer angekommen, stand Goldmund und begann die Zurüstungen zur Abreise. Freilich, es war da nicht viel zu rüsten, es war nichts zu tun, als Abschied zu nehmen. Es hing da ein Bild an der Wand, das er selbst gemalt hatte, eine sanfte Madonna, und es hingen und lagen Dinger herum, die sein Eigentum waren: ein Sonntagshut, ein Paar Tanzschuhe, eine Rolle Zeichnungen, eine kleine Laute, eine Anzahl von ihm gekneteter Tonfigürchen, einige Geschenke von Geliebten: ein künstlicher Blumenstrauß, ein rubinrotes Trinkglas, ein alter hartgewordener Lebkuchen in Herzform und dergleichen Kram, wovon jedes Stück seine Bedeutung und Geschichte gehabt hatte und ihm liebgewesen war und was jetzt alles lästiger Plunder war, denn nichts davon konnte er mitnehmen. Wenigstens tauschte er beim Hausherrn das Rubinglas gegen ein starkes gutes Jagdmesser um, das er am Schleifstein im Hofe scharf machte, er zerbröselte den Lebkuchen und fütterte ihn den Hühnern im Nachbarhof, schenkte das Madonnenbild der Hausfrau und bekam dafür auch ein nützliches Gegengeschenk einen alten ledernen Reiseranzen und einen reichlichen Mundvorrat für die Reise. In den Ranzen packte er einige Hemden, die er besaß, und ein paar kleinere Zeichnungen, über ein Stück Besenstiel gerollt, dazu die Esswaren. Der übrige Kram musste zurückbleiben.

Es gab mehrere Frauen in der Stadt, von denen sich zu verabschieden schicklich gewesen wäre, bei einer von ihnen hatte er noch gestern geschlafen, ohne ihr von seinen Plänen zu sagen. Ja, so hängte sich einem dies und jenes an die Fersen, wenn man wandern wollte. Man durfte es nicht ernst nehmen. Er sagte niemandem Lebewohl als den Hausleuten. Er tat es am Abend, um in aller Frühe weggehen zu können.

Trotzdem war am Morgen jemand aufgestanden und lud ihn, als er eben still das Haus verlassen wollte, zu einer Milchsuppe in die Küche ein. Es war die Tochter des Hauses, ein Kind von fünfzehn Jahren, ein stilles kränkliches Geschöpf mit schönen Augen, aber mit einem Schaden am Hüftgelenk, der sie hinken machte. Sie hieß Marie. Mit übernächtigem Gesicht, ganz bleich, aber sorgfältig gekleidet und gestrählt, bediente sie ihn in der Küche mit heißer Milch und Brot und schien sehr traurig darüber zu sein, dass er fortging. Er dankte ihr und küsste sie zum Abschied mitleidig auf den schmalen Mund. Andächtig, mit geschlossenen Augen, empfing sie den Kuss.

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