Unsere Werkstatt stand immer noch leer wie eine Scheune vor der Ernte. Wir hatten deshalb beschlossen, das Taxi, das wir auf der Auktion gekauft hatten, nicht weiterzuverkaufen, sondern es einstweilen selbst als Taxi zu fahren. Lenz und ich sollten es abwechselnd machen. Köster konnte mit Jupp die Werkstatt ganz gut allein besorgen, bis wieder Arbeit kam.
Lenz und ich würfelten, wer als erster fahren sollte. Ich gewann, steckte mir die Tasche voll Kleingeld, nahm meine Papiere und strich dann mit dem Taxi langsam durch die Straßen, um mir zunächst einmal einen guten Standplatz auszusuchen. Es war etwas merkwürdig, so das erste Mal. Jeder Idiot konnte mich anhalten und mir einen Auftrag geben. Das war kein besonders großartiges Gefühl.
Ich suchte mir einen Halteplatz aus, an dem nur fünf Wagen standen. Er war gegenüber dem Hotel Waldecker Hof, mitten im Geschäftsviertel. Das ließ auf raschen Betrieb hoffen. Ich stellte die Zündung ab und stieg aus. Von einem der vorderen Wagen kam ein großer Kerl in einem Ledermantel auf mich zu. „Scher dich hier weg”, knurrte er.
Ich sah ihn ruhig an und rechnete mir aus, dass ich ihn am besten von unten mit einem Uppercut umlegen würde, wenn es sein müsste. Er konnte wegen seines Mantels nicht schnell genug die Arme hochkriegen.
„Nicht kapiert?” forschte der Ledermantel und spuckte mir seine Zigarette vor die Füße. „Sollst dich wegscheren! Sind genug hier! Brauchen keinen mehr!”
Er war ärgerlich über den Zuzug, das war klar; aber es war mein Recht, mich herzustellen. „Ich schmeiße ein paar Runden Einstand”, sagte ich.
Damit wäre die Sache für mich erledigt gewesen. Es war die übliche Art, wenn man neu herankam. Ein junger Chauffeur trat hinzu.
„Schön, Kollege. Lass ihn doch, Gustav – ”
Aber Gustav gefiel etwas an mir nicht. Ich wusste, was es war. Er spürte, dass ich neu im Beruf war. „Ich zähle bis drei – “ erklärte er. Er war einen Kopf größer als ich, darauf vertraute er.
Ich merkte, dass mit Reden nicht mehr viel zu machen war. Ich musste abfahren oder schlagen. Es war zu deutlich.
„Eins – ” zählte Gustav und knöpfte seinen Mantel auf.
„Macht keinen Unsinn”, sagte ich, um es noch einmal zu versuchen. „Wollen lieber einen Schnaps in die Kehle zischen lassen.”
„Zwei – ” knurrte Gustav —
Ich sah, dass er mich regulär hinschlachten wollte. „Und eins ist – ” Er schob seine Mütze zurück.
„Halts Maul, Idiot!” schnauzte ich plötzlich scharf. Gustav klappte vor Überraschung den Mund auf und trat einen Schritt näher. Genau dahin, wohin ich ihn haben wollte. Ich schlug sofort zu. Gustav sackte weg. „Schadet ihm nichts”, sagte der junge Chauffeur. „Alter Radaubruder.”
Ich war etwas beunruhigt. In der Eile hatte ich den Daumen falsch gehalten beim Schlagen und ihn mir verstaucht. Wenn Gustav wieder aufwachte, konnte er mit mir machen, was er wollte. Ich sagte es dem jungen Chauffeur und fragte, ob ich nicht lieber abhauen sollte. „Unsinn”, sagte er, „die Sache ist erledigt. Komm jetzt in die Kneipe und schmeiß deinen Einstand. Du bist kein gelernter Chauffeur, was?”
„Nein – ”
„Ich auch nicht. Ich bin Schauspieler.”
„Und?”
„Man lebt – ” erwiderte er lachend. „Theater ist auch so genug.”
Wir waren zu fünf, zwei ältere und drei junge. Nach einer Weile erschien auch Gustav im Lokal. Er glotzte stier zu unserm Tisch herüber und kam ran. Ich fasste mit der linken Hand mein Schlüsselbund in der Tasche und nahm mir vor, mich auf jeden Fall zu wehren, bis ich mich nicht mehr rühren konnte.
Doch es kam nicht dazu.
„Prost”, sagte er zu mir, aber mit einem Gesicht wie Dreck.
„Prost”, erwiderte ich und kippte.
Gustav zog eine Schachtel Zigaretten heraus. Er hielt sie mir hin, ohne mich anzusehen. Ich nahm eine und gab ihm dafür Feuer. Dann bestellte ich eine Lage doppelten Kümmel. Wir tranken sie. Gustav sah mich wieder von der Seite an.
„Ich heiße übrigens Gustav.”
„Ich Robert.”
„Schön. Also in Ordnung, Robert, was? Dachte, du wärst so’n Bubi von Mamas Schürze.”
„In Ordnung, Gustav.”
Von dieser Zeit an waren wir Freunde.
Die Wagen rückten langsam vor. Der Schauspieler, der Tommy genannt wurde, bekam eine glänzende Fuhre zum Bahnhof. Gustav eine zum nächsten Restaurant für dreißig Pfennige. Er platzte fast vor Wut darüber, denn er musste sich für zehn Pfennige Verdienst nun wieder hinten anstellen. Ich erwischte etwas ganz Seltenes, – eine alte Engländerin, die sich die Stadt ansehen wollte. Ich war fast eine Stunde mit ihr unterwegs. Auf der Rückkehr schnappte ich noch ein paar kleinere Sachen.
Ziemlich aufgekratzt fuhr ich nachmittags in den Hof unserer Werkstatt ein. Lenz und Köster erwarteten mich schon.
„Brüder, was habt ihr verdient?” fragte ich.
„Siebzig Liter Benzin”, meldete Jupp.
„Sonst nichts?”
Lenz schaute mit wildem Gesicht zum Himmel auf. „Regnen müsste es! Und dann ein kleiner Zusammenstoß auf dem Rutschasphalt direkt vor der Tür! Keine Verletzten! Nur eine nette, runde Reparatur.”
„Schaut her!” Ich zeigte fünfunddreißig Mark auf der flachen Hand.
„Großartig”, sagte Köster. „Davon sind zwanzig Mark verdient. Die werden wir heute auf den Kopf hauen. Müssen die Jungfernfahrt doch feiern!”
„Wir wollen eine Waldmeisterbowle trinken”, erklärte Lenz.
„Bowle?” fragte ich. „Wozu denn Bowle?”
„Weil Pat mitkommt.”
„Pat?”
„Sperr den Schnabel nicht so weit auf”, sagte der letzte Romantiker, „wir haben alles längst abgemacht. Um sieben holen wir sie ab. Sie weiß Bescheid. Wenn du nicht daran denkst, müssen wir uns eben selbst helfen. Schließlich hast du sie doch durch uns kennen gelernt.”
„Otto”, sagte ich, „hast du je etwas Unverfroreneres gesehen als diesen Rekruten?”
Köster lachte.
Wir saßen im Garten eines kleinen Wirtshauses vor der Stadt. Der feuchte Mond hing wie eine rote Fackel tief über den Wäldern. Die bleichen Blütenkandelaber der Kastanien schimmerten, der Flieder roch betäubend und vor uns auf dem Tisch das große Glasgefäß, mit dem nach Waldmeister duftenden Wein sah im ungewissen Licht der frühen Nacht aus wie ein heller Opal, in dem sich bläulich und perlmuttern der letzte Schein des Abends sammelte. Wir hatten es schon zum vierten Mal füllen lassen.
Später ging ich mit Pat allein durch den Garten. Der Mond war höher gestiegen und die Wiesen schwammen in grauem Silber. Die Schatten der Bäume lagen lang und schwarz darüber wie dunkle Wegweiser ins Ungewisse. Wir gingen bis zum See hinunter und kehrten dann um. Unterwegs trafen wir Gottfried Lenz, der sich einen Gartenstuhl mitgenommen und ihn tief in ein Gebüsch von Fliedersträuchern geschoben hatte. Da saß er nun und nur sein blonder Schopf und seine Zigarette leuchteten heraus. Neben sich auf der Erde hatte er ein Glas und den Rest der Maibowle stehen.
„Das ist ein Platz!” sagte Pat. „Mitten im Flieder.”
„Es lässt sich aushalten.” Gottfried stand auf.
„Versuchen Sie es mal.” Pat setzte sich auf den Stuhl. Ihr Gesicht schimmerte zwischen den Blüten. „Ich bin verrückt mit Flieder”, sagte der letzte Romantiker. „Heimweh bedeutet für mich Flieder. Im Frühjahr 1924 bin ich einmal Hals über Kopf aus Rio de Janeiro abgereist, nur weil mir einfiel, dass hier der Flieder blühen müsse. Als ich dann ankam, war es natürlich schon viel zu spät.” Er lachte. „So geht es immer.”
„Rio de Janeiro.” Pat zog einen Zweig mit Blüten zu sich herunter. „Waren Sie zusammen da?”
Gottfried stutzte. Mir lief es plötzlich kalt über den Rücken.
„Seht mal den Mond!” sagte ich rasch. Gleichzeitig trat ich Lenz beschwörend auf den Fuß.
Im Aufflammen seiner Zigarette sah ich ein schwaches Lächeln und ein Augenblinzeln. Ich war gerettet.
Um elf Uhr fuhren wir zurück. Valentin und Ferdinand hatten das Taxi, das Valentin steuerte. Wir andern fuhren mit Karl. Die Nacht war warm und Köster machte noch einen Umweg durch ein paar Dörfer, die verschlafen an der Straße lagen mit wenigen Lichtern und vereinzeltem Hundegebell. Lenz saß vorne neben Otto und sang, Pat und ich hockten hinten im Wagen.
Köster fuhr wunderbar.
Das Tempo nahm zu. Ich deckte unsere Mäntel über Pat. Sie lächelte mir zu. „Liebst du mich eigentlich?” fragte ich.
Sie schüttelte den Kopf. „Du mich?”
„Nein. Ein Glück, was?”
„Ein großes Glück.”
„Dann kann uns ja nichts passieren, wie?”
„Gar nichts – ” erwiderte sie und fasste unter den Mänteln nach meiner Hand.
Köster hielt in der Nähe des Friedhofes. Wir stiegen aus. Die beiden sausten sofort weiter, ohne sich umzusehen. Ich blickte ihnen nach. Einen Augenblick war das sonderbar. Sie fuhren ab, meine Kameraden fuhren ab und ich blieb zurück. Ich blieb zurück.
Ich schüttelte es ab. „Komm”, sagte ich zu Pat, die mich ansah, als hätte sie etwas gespürt.
„Fahr mit”, sagte sie.
„Nein”, erwiderte ich.
„Du möchtest doch mitfahren – ”
„Ach wo – ” sagte ich und wusste, dass es stimmte. „Komm – ”
Wir gingen am Friedhof entlang, noch etwas schwankend vom Wind und vom Fahren. „Robby”, sagte Pat, „ich möchte lieber nach Hause.”
„Warum?”
„Ich will nicht, dass du meinetwegen etwas aufgibst.”
„Was fällt dir ein”, sagte ich, „was gebe ich denn auf?”
„Deine Kameraden – ”
„Die gebe ich doch gar nicht auf, – die treffe ich ja morgen früh schon wieder.”
„Du weißt schon, was ich meine”, sagte sie. „Du warst früher viel mehr mit ihnen zusammen.”
„Weil du nicht da warst”, erwiderte ich und schloss die Tür auf.
Sie schüttelte den Kopf. „Das ist etwas ganz anderes.”
„Natürlich ist es anders. Gott sei Dank.”
Ich nahm sie hoch und trug sie den Korridor entlang in mein Zimmer. „Du brauchst Kameraden”, sagte sie dicht an meinem Gesicht.
„Dich brauche ich auch”, erwiderte ich.
„Aber nicht so nötig – ”
„Das werden wir ja noch sehen – ”
Ich stieß die Tür auf und ließ sie zu Boden gleiten. Sie hielt mich fest. „Ich bin nur ein sehr schlechter Kamerad, Robby.”
„Das will ich hoffen”, sagte ich. „Ich will auch keine Frau als Kameraden. Ich will eine Geliebte.”
„Bin ich auch nicht”, murmelte sie.
„Was bist du denn?”
„Nichts Halbes und nichts Ganzes. Ein Fragment – ”
„Das ist das Beste”, sagte ich. „Das regt die Phantasie an. Solche Frauen liebt man ewig. Fertige Frauen kriegt man leicht über. Wertvolle auch. Fragmente nie.”
Es war vier Uhr nachts. Ich hatte Pat nach Hause gebracht und ging zurück.
Ich ging noch lange durch die Straßen. Es war eine sonderbare Nacht. Ich war sehr wach und konnte nicht schlafen. Mein Gott, dachte ich, ich glaube, ich bin glücklich.