Книга: Drei Kameraden / Три товарища. Книга для чтения на немецком языке
Назад: XXIV
Дальше: XXVI

XXV

Im Februar saß ich mit Köster zum letzten Mal in unserer Werkstatt. Wir hatten sie verkaufen müssen und jetzt warteten wir auf den Auktionator, der die Einrichtungsgegenstände und die Droschke versteigern sollte. Köster hatte Aussicht, als Rennfahrer bei einer kleineren Autofirma im Frühjahr unterzukommen. Ich blieb im Cafe International und wollte versuchen, tagsüber noch irgendeine Arbeit dazu zu finden, um mehr zu verdienen.

Auf dem Hof versammelten sich allmählich ein paar Leute. Der Auktionator kam. „Gehst du raus, Otto?” fragte ich. „Wozu? Es steht ja alles draußen und er weiß Bescheid.” Köster sah müde aus. Man konnte es bei ihm nicht leicht merken, aber wenn man ihn genau kannte, wusste man es. Sein Gesicht sah dann eher gespannter und härter aus als sonst. Er war Abend für Abend unterwegs, immer in derselben Gegend.

Er kannte längst den Namen des Burschen, der Gottfried erschossen hatte. Er konnte ihn nur nicht finden, weil der andere, aus Furcht vor der Polizei, sein Quartier gewechselt hatte und sich irgendwo verborgen hielt. Alfons hatte das alles herausbekommen. Er wartete ebenfalls. Es war allerdings möglich, dass der andere gar nicht in der Stadt war. Dass Köster und Alfons hinter ihm her waren, wusste er nicht. Sie warteten darauf, dass er zurückkam, wenn er sich sicher fühlte.

„Ich werde mal rausgehen und zusehen, Otto”, sagte ich.

„Gut.”

Ich ging auf den Hof. Unsere Werkzeugbänke und die übrigen Sachen waren in der Mitte aufgebaut. Rechts an der Mauer stand die Taxe. Wir hatten sie sauber gewaschen. Ich betrachtete die Polster und die Reifen. Unsere brave Milchkuh hatte Gottfried sie immer genannt. War gar nicht so einfach, sich davon zu trennen.

* * *

Wir fuhren zur Bank und zur Post und Köster zahlte das Geld an den Konkursverwalter ein. „Ich gehe jetzt schlafen”, sagte er, als er wieder herauskam. „Bist du nachher da?”

„Ich habe mich heute für den ganzen Abend frei gemacht.”

„Gut, ich komme dann so um acht.”

* * *

Wir saßen in einer kleinen Kneipe vor der Stadt und fuhren dann wieder hinein. Als wir in die ersten Straßen kamen, platzte uns ein Vorderreifen. Wir wechselten ihn aus. Karl war lange nicht gewaschen worden und ich wurde ziemlich schmutzig dabei. „Müsste mir mal die Hände waschen, Otto”, sagte ich.

In der Nähe war ein ziemlich großes Cafe. Wir gingen hinein und setzten uns an einen Tisch in der Nähe des Eingangs. Zu unserm Erstaunen war das Lokal fast ganz besetzt. Eine Damenkapelle spielte und es herrschte großer Betrieb. Die Musik trug bunte Papiermützen, eine Anzahl Gäste war kostümiert, Papierschlangen flogen von Tisch zu Tisch, Luftballons stiegen auf, die Kellner rannten mit hochbeladenen Tabletts umher und der ganze Raum war voll Bewegung, Gelächter und Lärm.

„Was ist denn hier los?” fragte Köster.

Ein blondes Mädchen neben uns überschüttete uns mit einer Wolke Konfetti. „Wo kommen Sie denn her?” lachte sie. „Wissen Sie nicht, dass heute Faschingsanfang ist?”

„Ach so”, sagte ich. „Na, dann werde ich mir mal die Hände waschen.”

Ich musste das ganze Lokal durchqueren, um zu den Waschräumen zu gelangen. Eine Weile wurde ich aufgehalten durch einige Leute, die betrunken waren und eine Frau auf den Tisch heben wollten, damit sie singen sollte. Die Frau wehrte sich kreischend, dabei fiel der Tisch um und mit dem Tisch die ganze Gesellschaft. Ich wartete, bis der Durchgang frei wurde; – aber plötzlich war es mir, als hätte ich einen elektrischen Schlag erhalten. Ich stand steif und erstarrt da, das Lokal versank, der Lärm, die Musik, nichts war mehr da, undeutliche, huschende Schatten waren es nur noch, aber deutlich, ungeheuer scharf und klar blieb ein Tisch, ein einziger Tisch und an dem Tisch ein junger Mensch, mit einer Narrenkappe schief auf dem Kopf, einen Arm um ein angetrunkenes Mädchen gelegt, glasige, dumme Augen, sehr schmale Lippen, und unter dem Tisch hellgelbe, auffallende, glänzend geputzte Ledergamaschen —

Ein Kellner stieß mich an. Ich ging wie betrunken weiter und blieb stehen. Mir war glühend heiß, aber ich zitterte am ganzen Körper. Meine Hände waren klatschnass. Ich sah jetzt auch die andern Leute am Tisch. Ich hörte, dass sie im Chor mit herausfordernden Gesichtern irgendein Lied sangen und im Takt dazu mit den Biergläsern auf den Tisch klopften. Wieder stieß mich jemand an. „Versperren Sie doch nicht die Passage”, knurrte er.

Ich ging mechanisch weiter, ich fand die Waschräume, ich wusch mir die Hände und ich merkte es erst, als ich mir die Haut fast verbrüht hatte. Dann ging ich zurück.

„Was hast du?” fragte Köster.

Ich konnte nicht antworten. „Ist dir schlecht?” fragte er.

Ich schüttelte den Kopf und sah nach dem Tisch nebenan, von wo das blonde Mädchen herüberschielte. Plötzlich wurde Köster blass. Seine Augen verengten sich. Er beugte sich vor.

„Ja?” fragte er ganz leise.

„Ja”, erwiderte ich.

„Wo?”

Ich blickte in die Richtung.

Köster erhob sich langsam. Es war, als ob eine Schlange sich aufrichtete. „Achtung”, flüsterte ich. „Nicht hier, Otto!”

Er wehrte mit einer kurzen Handbewegung ab und ging langsam vorwärts. Ich hielt mich bereit, hinter ihm her zu stürzen. Eine Frau stülpte ihm eine grünrote Papiermütze auf und hängte sich an ihn. Sie fiel ab, ohne dass er sie berührt hätte, und starrte ihm nach. Er ging in einem flachen Bogen durch das Lokal und kehrte zurück.

„Nicht mehr da”, sagte er.

Ich stand auf und blickte durch den Saal. Köster hatte recht.

„Glaubst du, dass er mich erkannt hat?” fragte ich.

Köster zuckte die Achseln. Er bemerkte jetzt erst die Papiermütze auf seinem Kopf und streifte sie ab. „Ich verstehe das nicht”, sagte ich. „Ich bin doch höchstens ein, zwei Minuten im Waschraum gewesen.”

„Du warst über eine Viertelstunde weg.”

„Was?” Ich sah noch einmal zu dem Tisch hinüber. „Die andern sind auch weg. Da war noch ein Mädchen mit ihnen, das ist auch nicht mehr da. Wenn er mich erkannt hätte, wäre er doch bestimmt allein verschwunden.”

Köster winkte dem Kellner. „Gibt es hier noch einen zweiten Ausgang?”

„Ja, drüben, auf der andern Seite, nach der Hardenbergstraße.”

Köster zog ein Geldstück aus der Tasche und gab es dem Kellner. „Komm”, sagte er.

„Schade”, sagte das blonde Mädchen am Nebentisch und lächelte. „So ernste Kavaliere.”

Der Wind draußen schlug uns entgegen. Er schien eisig zu sein nach dem heißen Qualm des Cafes. „Geh nach Hause”, sagte Köster.

„Es waren mehrere”, erwiderte ich und stieg zu ihm ein.

Der Wagen schoss los. Wir kämmten rund um das Cafe sämtliche Straßen durch, immer weiter, aber wir sahen nichts. Endlich hielt Köster an. „Entwischt”, sagte er. „Aber das macht nichts. Wir werden ihn jetzt irgendwann kriegen.”

„Otto”, sagte ich. „Wir sollten es lassen.” Er sah mich an.

„Gottfried ist tot”, fuhr ich fort und wunderte mich selbst darüber, was ich redete. „Er wird nicht wieder lebendig davon.”

Köster sah mich immer noch an. „Robby”, erwiderte er langsam, „ich weiß nicht mehr, wie viele Menschen ich getötet habe. Aber ich weiß noch, wie ich einen jungen Engländer abgeschossen habe. Er hatte eine Ladehemmung und konnte nichts mehr machen. Ich war mit meiner Maschine ein paar Meter hinter ihm und sah sein erschrockenes, kindliches Gesicht mit der Angst in den Augen ganz genau, es war sein erster Flug, das stellten wir nachher fest und er war knapp achtzehn Jahre alt und in dieses erschrockene, hilflose, hübsche Kindergesicht habe ich auf ein paar Meter Entfernung eine Garbe mit meinem Maschinengewehr gejagt, dass der Schädel platzte wie ein Hühnerei. Ich kannte den Jungen nicht und er hatte mir nichts getan. Es hat damals länger gedauert als sonst, bis ich darüber weggekommen bin und bis ich mein Gewissen zugestampft hatte mit diesem verdammten: Krieg ist Krieg. Aber ich sage dir, wenn ich den, der Gottfried umgebracht hat, der ihn wie einen Hund niedergeschossen hat ohne Grund, nicht auch umbringe, dann war das mit dem Engländer ein furchtbares Verbrechen, verstehst du das?”

„Ja”, sagte ich.

„Und jetzt geh nach Hause. Ich muss sehen, dass es zu Ende kommt. Es ist wie eine Mauer. Ich kann nicht weiter, ehe sie nicht weg ist.”

„Ich gehe nicht nach Hause, Otto. Wenn es so ist, wollen wir zusammenbleiben.”

„Unsinn”, sagte er ungeduldig. „Ich kann dich nicht brauchen.” Er hob die Hand, als er sah, dass ich reden wollte. „Ich werde schon aufpassen! Ich werde ihn allein treffen, ohne die andern, ganz allein! Hab keine Angst.”

Er schob mich ungeduldig vom Sitz und raste sofort davon. Ich wusste, dass nichts ihn mehr aufhalten konnte. Ich wusste auch, weshalb er mich nicht mitgenommen hatte. Wegen Pat. Gottfried hätte er mitgenommen.

* * *

Ich ging zu Alfons. Er war der einzige, mit dem ich sprechen konnte. Ich wollte mit ihm beraten, ob wir etwas tun könnten. Aber Alfons war nicht da. Ein verschlafenes Mädchen sagte mir, er sei vor einer Stunde zu einer Versammlung gegangen. Ich setzte mich an einen Tisch um zu warten.

Das Lokal war leer. Nur eine kleine Birne brannte über dem Schanktisch. Das Mädchen hatte sich wieder hingesetzt und schlief weiter. Ich dachte an Otto und an Gottfried, ich blickte aus dem Fenster auf die Straße, die jetzt vom langsam über die Dächer steigenden Vollmond erhellt wurde, ich dachte an das Grab mit dem schwarzen Holzkreuz und dem Stahlhelm darüber und plötzlich merkte ich, dass ich weinte. Ich wischte die Tropfen weg.

Nach einiger Zeit hörte ich rasche, leise Schritte im Hause. Die Tür, die zum Hof führte, öffnete sich und Alfons trat herein. Sein Gesicht glänzte von Schweiß.

„Ich bins, Alfons”, sagte ich.

„Komm her, rasch!”

Ich folgte ihm in das Zimmer rechts hinter dem Schankraum. Alfons ging an einen Schrank und holte zwei alte Militärverbandspäckchen heraus. „Kannst mich mal verbinden”, sagte er und zog geräuschlos die Hose aus.

Er hatte einen Riss am Oberschenkel. „Das sieht aus wie ein Streifschuss”, sagte ich.

„Ist es auch”, knurrte Alfons. „Los, verbinde schon!”

„Alfons”, sagte ich und richtete mich auf. „Wo ist Otto?”

„Wie soll ich wissen, wo Otto ist”, murrte er und presste die Wunde aus.

„Wart ihr nicht zusammen?”

„Nein.”

„Du hast ihn nicht gesehen?”

„Keine Ahnung. Fasere das zweite Päckchen auseinander und leg es drauf. Ist nur ne Schramme.”

Er beschäftigte sich weiter brummend mit seiner Wunde.

„Alfons”, sagte ich, „wir haben den – du weißt schon, mit Gottfried, – wir haben ihn heute abend gesehen und Otto ist hinter ihm her.”

„Was?” Er wurde sofort aufmerksam. „Wo ist er denn? Hat doch keinen Sinn mehr! Er muss weg!”

„Er geht nicht weg.”

Alfons warf die Schere beiseite. „Fahr hin! Weißt du, wo er ist? Er soll verschwinden. Sag ihm, dass das mit Gottfried fertig ist. Habe früher Bescheid gewusst als ihr! Siehst es ja! Hat geschossen, aber ich habe ihm die Hand runtergeschlagen. Dann habe ich geschossen. Wo ist Otto?”

„Irgendwo um die Mönkestraße rum.”

„Gott sei Dank. Da wohnt er ja längst nicht mehr. Aber schaff ihn trotzdem weg.”

Ich ging zum Telefon und rief den Taxistand an, wo Gustav sich gewöhnlich aufhielt. Er war da. „Gustav”, sagte ich, „kannst du mal zur Ecke Wiesenstraße und Bellevueplatz kommen? Schnell? Ich warte da.”

„Gemacht. Bin in zehn Minuten da.”

Ich hängte den Hörer ein und ging zu Alfons zurück. Er zog sich eine andere Hose an. „Habe nicht gewusst, dass ihr unterwegs wart”, sagte er. Sein Gesicht war immer noch naß.

„Wäre besser gewesen, ihr hättet irgendwo gesessen. Wegen des Alibis. Könnte ja sein, dass sie euch danach fragen. Man weiß nie – ”

„Denk lieber an dich”, sagte ich.

„Ach wo!” Er sprach schneller als sonst. „War allein mit ihm. Habe im Zimmer auf ihn gewartet. War in einer Wohnlaube. Ringsum keine Nachbarn. Außerdem Notwehr. Er schoss sofort, als er reinkam. Brauche kein Alibi. Kann ein Dutzend haben, wenn ich will.” Er sah mich an. Er saß auf einem Stuhl, das nasse, breite Gesicht mir zugewandt, die Haare verschwitzt, den großen Mund schief verzogen, und seine Augen waren fast unerträglich, so viel Qual, Schmerz und Liebe lag plötzlich nackt und hoffnungslos darin. „Nun wird Gottfried Ruhe haben”, sagte er leise und heiser. „Hatte das Gefühl, dass er keine Ruhe hatte vorher.”

Ich stand stumm vor ihm.

„Geh jetzt”, sagte er.

Ich ging durch die Wirtsstube hinaus.

Gustav kam ein paar Minuten später. „Was ist los, Robert?” fragte er.

„Unser Wagen ist uns gestohlen worden heute abend. Jetzt habe ich gehört, er wäre in der Gegend der Mönkestraße gesehen worden. Wollen wir mal hinfahren?”

„Aber klar!” Gustav wurde eifrig. „Was da augenblicklich alles geklaut wird! Jeden Tag ein paar Wagen. Aber meistens fahren sie ja nur damit rum, bis das Benzin zu Ende ist, und lassen sie dann stehen.”

„Ja, so wirds mit unserm auch wohl sein.”

Gustav erzählte mir, dass er bald heiraten wolle. Es sei was Kleines unterwegs, da helfe alles nichts. Wir fuhren durch die Mönkestraße und dann durch die Querstraßen. „Da ist er!” rief Gustav plötzlich.

Der Wagen stand in einer versteckten, dunklen Seitengasse. Ich stieg aus, nahm meinen Schlüssel und schaltete die Zündung ein. „Alles in Ordnung, Gustav”, sagte ich. „Danke schön, dass du mich hergebracht hast.”

„Wollen wir nicht noch irgendwo einen trinken?” fragte er.

„Nein, heute nicht. Morgen. Ich muss jetzt rasch los.”

Ich griff in die Tasche, um ihm die Fahrt zu bezahlen. „Bist du verrückt?” fragte er.

„Also danke, Gustav. Lass dich nicht aufhalten. Wiedersehen.”

Er fuhr ab. Ich wartete eine Weile, dann fuhr ich hinterher, erreichte die Mönkestraße und fuhr sie im dritten Gang langsam herunter. Als ich wieder heraufkam, stand Köster an der Ecke. „Was soll das?”

„Steig ein”, sagte ich rasch. „Du brauchst nicht mehr hier zu stehen. Er hat – er hat ihn schon getroffen.”

„Und?”

„Ja”, sagte ich.

Köster stieg schweigend ein. Er setzte sich nicht ans Steuer. Er hockte neben mir, etwas zusammengesunken, und ich fuhr.

„Wollen wir zu mir nach Hause?” fragte ich.

Er nickte. Ich gab Gas und nahm die Strecke am Kanal entlang.

„Ich bin froh, Otto, dass es so gekommen ist”, sagte ich.

„Ich nicht”, erwiderte er.

* * *

Bei Frau Zalewski war noch Licht. Sie kam aus ihrem Salon, als ich die Tür aufschloss.

„Es ist ein Telegramm für Sie da”, sagte sie.

„Ein Telegramm?” fragte ich erstaunt. Ich dachte immer noch an den Abend. Dann begriff ich und lief in mein Zimmer. Das Telegramm lag mitten auf dem Tisch, kalkig im grellen Licht. Ich riss die Verschlussmarke auf, die Brust presste sich mir zu, die Buchstaben verschwammen, wichen aus, kamen wieder, ich atmete auf, alles stand still und ich gab das Telegramm Köster. „Gottseidank. Ich dachte schon – ”

Es waren nur drei Worte. „Robby, komm bald – ”

Ich nahm das Blatt wieder. Die Erleichterung schwand. Die Angst kam zurück. „Was mag da los sein, Otto? Herrgott, weshalb telegraphiert sie nicht mehr? Es muss doch was los sein!”

Köster legte die Depesche auf den Tisch. „Wann hast du zum letzten Mal von ihr gehört?”

„Vor einer Woche. Nein, länger.”

„Melde ein Gespräch an. Wenn etwas ist, fahren wir gleich ab. Mit dem Wagen. Hast du ein Kursbuch?”

Ich meldete die Verbindung mit dem Sanatorium an und holte das Kursbuch aus Frau Zalewskis Salon. Köster schlug es auf, während wir warteten. „Der nächste gute Anschlusszug fährt erst morgen mittag”, sagte er. „Es ist besser, wir nehmen den Wagen und fahren so weit heran, wie es geht. Dann können wir immer noch den nächsten Anschlusszug nehmen. Ein paar Stunden sparen wir bestimmt. Was meinst du?”

„Ja, auf jeden Fall.” Ich konnte mir nicht vorstellen, wie ich die untätigen Stunden in der Eisenbahn ertragen sollte.

Das Telefon klingelte. Köster ging mit dem Kursbuch in mein Zimmer. Das Sanatorium meldete sich. Ich fragte nach Pat. Eine Minute später sagte mir die Stations-schwester, es wäre besser, wenn Pat nicht telefoniere.

„Was hat sie?” schrie ich.

„Eine kleine Blutung vor einigen Tagen. Und heute etwas Fieber.”

„Sagen Sie ihr, dass ich käme”, rief ich. „Mit Köster und Karl. Wir fahren jetzt ab. Haben Sie verstanden?”

„Mit Köster und Karl”, wiederholte die Stimme.

„Ja. Aber sagen Sie es ihr sofort. Wir fahren jetzt ab.”

„Ich werde es ihr gleich bestellen.”

Ich ging zurück in mein Zimmer. Meine Beine waren merkwürdig leicht. Köster saß am Tisch und schrieb die Züge aus.

„Pack deinen Koffer”, sagte er. „Ich fahre nach Hause und hole meinen auch. In einer halben Stunde bin ich zurück.”

Ich nahm den Koffer vom Schrank. Es war der von Lenz mit den bunten Hotelschildern. Ich packte rasch und sagte Frau Zalewski und dem Wirt vom International Bescheid. Dann setzte ich mich in mein Zimmer ans Fenster, um auf Köster zu warten. Es war sehr still. Ich dachte daran, dass ich morgen abend bei Pat sein würde, und plötzlich ergriff mich eine heiße, wilde Erwartung, vor der alles andere verblich, Angst, Sorge, Trauer, Verzweiflung. Ich würde morgen abend bei ihr sein, – das war ein unvorstellbares Glück, etwas, an das ich fast nicht mehr geglaubt hatte. Es war so vieles verlorengegangen seitdem.

* * *

Ich nahm meinen Koffer und ging hinunter. Alles war auf einmal nah und warm, die .Treppe, der abgestandene Geruch des Hausflurs, das kalte, blinkende Gummigrau des Asphalts, über den Karl soeben heranschoss.

„Ich habe ein paar Decken mitgebracht”, sagte Köster. „Es wird kalt werden. Wickle dich ordentlich ein.”

„Wir fahren abwechselnd, was? fragte ich.

„Ja. Aber vorläufig fahre ich. Ich habe ja nachmittags geschlafen.”

Eine halbe Stunde später hatten wir die Stadt hinter uns und das ungeheure Schweigen der klaren Mondnacht nahm uns auf. Die Straße lief weiß vor uns her bis zum Horizont. Es war so hell, dass wir ohne Scheinwerfer fahren konnten. Der Klang des Motors war wie ein dunkler Orgelton; er unterbrach die Stille nicht, er machte sie nur noch fühlbarer.

„Du solltest etwas schlafen”, sagte Köster.

Ich schüttelte den Kopf. „Kann ich nicht, Otto.”

„Dann leg dich wenigstens hin, damit du morgen früh frisch bist. Wir müssen noch durch ganz Deutschland.”

„Ich ruhe mich auch so aus.”

Ich blieb neben Köster sitzen. Der Mond glitt langsam über den Himmel. Die Felder glänzten wie Perlmutter.

* * *

Gegen Morgen wurde es kalt. Die Wiesen schimmerten plötzlich von Reif, die Bäume standen wie aus Stahl gegossen vor dem fahler werdenden Himmel, in den Wäldern begann es zu wehen und aus den Schornsteinen der Häuser stieg vereinzelt Rauch auf. Wir wechselten das Steuer und ich fuhr bis zehn Uhr. Dann frühstückten wir rasch in einem Wirtshaus am Wege und ich fuhr weiter bis zwölf. Von da an blieb Köster am Steuer. Es ging schneller, wenn er allein fuhr.

Nachmittags, als es zu dämmern anfing, kamen wir an das Gebirge. Wir hatten Schneeketten und eine Schaufel bei uns und erkundigten uns, wie weit wir kommen könnten.

„Sie können es mit Ketten versuchen”, sagte der Sekretär des Autoklubs. „Es ist dieses Jahr sehr wenig Schnee. Nur wie es die letzten Kilometer ist, weiß ich nicht genau. Kann sein, dass Sie da stecken bleiben.”

Wir hatten einen großen Vorsprung vor dem Zug und beschlossen zu versuchen, ganz herauf zu kommen. Im letzten Dorf ließen wir uns einen Eimer Sand geben, weil wir jetzt sehr hoch waren und Sorge hatten, beim Abwärtsfahren vereiste Kurven vor uns zu haben. Es war ganz dunkel geworden, die Bergwände ragten steil und kahl über uns in den Abend, der Pass verengte sich, der Motor brüllte im ersten Gang und Kurve um Kurve ging es abwärts. Plötzlich glitt das Licht der Scheinwerfer von den Hängen ab, es stürzte ins Leere, die Berge öffneten sich und wir sahen unten das Lichtnetz des Dorfes vor uns liegen.

Der Wagen donnerte zwischen den bunten Läden der Hauptstraße hindurch. Fußgänger sprangen beiseite, erschreckt durch den ungewohnten Anblick, Pferde scheuten, ein Schlitten rutschte ab, der Wagen jagte die Kehren zum Sanatorium hinauf und hielt vor dem Portal. Ich sprang hinaus, ich sah wie durch einen Schleier neugierige Gesichter, Leute, das Bureau, den Aufzug, dann lief ich durch den weißen Korridor, riss die Tür auf und erblickte Pat, wie ich sie hundertmal in Traum und Sehnsucht gesehen hatte, sie kam mir entgegen und ich hielt sie in den Armen wie das Leben und mehr als das Leben.

„Gottseidank”, sagte ich, als ich mich wieder zurechtfand, „ich glaubte, du lägest im Bett.”

Sie schüttelte den Kopf an meiner Schulter. Dann richtete sie sich auf, nahm mein Gesicht in ihre Hände und sah mich an. „Dass du da bist”, murmelte sie. „Dass du gekommen bist!”

Sie küsste mich, vorsichtig, ernst und behutsam, wie etwas, das man nicht zerbrechen will. Als ich ihre Lippen fühlte, begann ich zu zittern. Es war alles zu schnell gegangen, ich fasste es jetzt doch noch nicht ganz. Ich war noch nicht richtig da; ich war noch voll Fahrt, voll Motordröhnen und Straße. Es ging mir wie jemand, der aus Kälte und Nacht in ein warmes Zimmer tritt; – er spürt die Wärme auf der Haut, er empfindet sie mit den Augen, – aber er ist noch nicht warm.

„Wir sind schnell gefahren”, sagte ich.

Sie antwortete nicht. Sie sah mich immer noch schweigend an. Ihr ernstes Gesicht hatte einen ergreifenden Ausdruck, ihre Augen waren dicht vor mir und es war, als wolle sie etwas sehr Wichtiges suchen und wiederfinden. Ich wurde verlegen. Ich legte die Hände auf ihre Schultern und senkte den Blick.

„Bleibst du jetzt hier?” fragte sie.

Ich nickte.

„Sag es mir gleich. Sag mir, ob du wieder fortgehst, damit ich es gleich weiß.”

Ich wollte ihr antworten, dass ich es noch nicht wüsste und dass ich wahrscheinlich in ein paar Tagen abfahren müsste, weil ich kein Geld hätte um hierzubleiben. Aber ich konnte es nicht. Ich konnte es nicht, während sie mich so ansah. „Ja”, sagte ich, „ich bleibe hier. Solange, bis wir zusammen abreisen.”

Ihr Gesicht bewegte sich nicht. Aber es wurde plötzlich hell, wie von innen her erleuchtet. „Ach”, murmelte sie, „ich hätte es auch nicht ertragen.”

Ich versuchte, über ihre Schulter hinweg die Fieberkurve am Kopfende des Bettes zu lesen. Sie bemerkte es, zog rasch das Blatt aus dem Halter, zerknüllte es und warf es unter das Bett.

„Das gilt jetzt nicht mehr”, sagte sie.

Ich merkte mir, wo das Papierknäuel lag, und beschloss, es nachher, wenn sie es nicht sah, einzustecken. „Warst du krank?” fragte ich.

„Etwas. Aber das ist jetzt vorbei.”

„Was hat denn der Arzt gesagt?”

Sie lachte. „Frag jetzt nicht nach dem Arzt. Frag überhaupt nichts mehr. Du bist da, das ist genug!”

Sie war plötzlich verändert. Ich wusste nicht, ob es daher kam, dass ich sie so lange nicht gesehen hatte, aber sie erschien mir auch anders als früher. Ihre Bewegungen waren geschmeidiger, ihre Haut wärmer, die Art, wie sie zu mir kam, war anders, sie war nicht mehr nur ein schönes, junges Mädchen, das beschützt werden musste, es war noch etwas hinzugekommen und während ich früher oft nicht gewusst hatte, ob sie mich liebte, spürte ich es jetzt, sie verbarg nichts mehr, sie war lebendiger und mir näher als je, lebendiger, näher und schöner, beglückender, aber sonderbarerweise auch beunruhigender.

„Pat”, sagte ich, „ich muss rasch hinunter. Köster ist unten. Wir müssen sehen, wo wir wohnen.”

„Köster? Und wo ist Lenz?”

„Lenz”, antwortete ich, „Lenz ist zu Hause geblieben.”

Sie merkte nichts.

„Darfst du hinunter, nachher?” fragte ich. „Oder sollen wir herauf kommen ?’’

„Ich darf alles. Ich darf jetzt alles. Wir gehen hinunter und dann trinken wir etwas. Ich werde euch zusehen, wie ihr trinkt.”

„Gut. Wir warten dann unten in der Halle auf dich.”

Sie ging zum Schrank, um ein Kleid herauszunehmen. Ich benützte die Gelegenheit, die zusammengeknäuelten Fieberkurven in die Tasche zu stecken.

„Also bis gleich, Pat.”

„Robby!”

Sie kam mir nach und legte mir die Arme um den Hals. „Ich wollte dir eigentlich so viel sagen.”

„Ich dir auch, Pat. Aber nun haben wir ja Zeit dazu. Wir werden uns den ganzen Tag etwas erzählen. Morgen. Zu Anfang geht das nicht gleich so.”

Sie nickte. „Ja, wir wollen uns alles erzählen. Dann ist diese ganze Zeit, die wir allein waren, keine Zeit mehr, wo wir getrennt waren. Dann wissen wir alles voneinander und das ist dann, als ob wir immer beisammen gewesen sind.”

„Das waren wir auch so”, sagte ich.

Sie lächelte. „Ich nicht. Ich habe nicht so viel Kraft. Für mich wars schlimmer. Ich kann mich nicht mit Gedanken trösten, wenn ich allein bin. Ich bin dann allein, mehr weiß ich nicht. Es ist leichter, ohne Liebe allein zu sein.” Sie lächelte noch immer. Es war ein gläsernes Lächeln, sie hielt es fest, aber man konnte hindurchsehen.

„Pat”, sagte ich. „Alter, tapferer Bursche.

Das hab ich lange nicht gehört”, sagte sie und ihre Augen waren voll Tränen.

* * *

Ich ging zu Köster hinunter. Die Koffer waren schon ausgeladen. Man hatte uns zwei Zimmer nebeneinander in der Dependance gegeben. „Sieh dir das an”, sagte ich und zeigte ihm die Fieberkurven. „Wie das herauf und herunter geht.”

Wir gingen über den knirschenden Schnee die Treppen hinauf. „Frag morgen den Arzt”, sagte Köster. „Aus den Fieberkurven allein kann man nichts sehen.”

„Ich sehe genug”, erwiderte ich, zerknüllte sie und steckte sie wieder in die Tasche.

Wir wuschen uns. Dann kam Köster zu mir ins Zimmer. Er sah aus, als wäre er gerade aufgestanden. „Du musst dich anziehen, Robby”, sagte er.

„Ja.” Ich wachte aus meinem Brüten auf und packte den Koffer aus. Wir gingen zum Sanatorium zurück. Karl stand noch draußen. Köster hatte ihm eine Decke über den Kühler gehängt.

„Wann fahren wir zurück, Otto?” fragte ich.

Er blieb stehen. „Ich denke, ich fahre morgen abend oder übermorgen früh. Du bleibst doch hier – ”

„Wie soll ich das denn machen”, erwiderte ich verzweifelt. „Mein Geld reicht höchstens für zehn Tage. Und für Pat ist das Sanatorium auch nur bis zum fünfzehnten bezahlt. Ich muss zurück und verdienen. Hier brauchen sie wahrscheinlich keinen so schlechten Klavierspieler.”

Köster beugte sich über Karls Kühler und hob die Decke hoch. „Ich besorge dir Geld”, sagte er und richtete sich auf. „Deshalb kannst du ruhig hier bleiben.”

„Otto”, sagte ich, „ich weiß doch, was du von der ganzen Versteigerung übrigbehalten hast. Keine dreihundert Mark.”

„Das meine ich nicht. Ich kriege welches. Mach dir deswegen keine Sorgen. In acht Tagen hast du es hier.”

„Erbst du?” fragte ich mit trübem Spott.

„So was Ähnliches. Verlass dich auf mich. Du kannst doch jetzt nicht wieder wegfahren.”

„Nein”, sagte ich. „Wüsste nicht, wie ich ihr das beibringen sollte.”

Köster legte die Decke wieder über den Kühler Karls. Er strich leicht über die Haube. Dann gingen wir in die Halle und setzten uns an den Kamin. „Wie spät ist es eigentlich?” fragte ich.

Köster sah nach der Uhr. „Halb sieben.”

„Merkwürdig”, sagte ich. „Dachte, es wäre viel später.”

Pat kam die Treppen herunter. Sie trug ihre Pelzjacke und ging rasch durch die Halle, um Köster zu begrüßen. Ich bemerkte jetzt erst, wie braun sie war. Ihre Haut hatte die Farbe rötlicher Bronze und sie glich fast einer jungen, sehr hellen Indianerin. Aber ihr Gesicht war schmaler geworden und die Augen glänzten zu sehr.

„Hast du Fieber?” fragte ich.

„Etwas”, erwiderte sie rasch und ausweichend. „Abends hat hier jeder Fieber. Es ist nur, weil ihr gekommen seid. Seid ihr müde?”

„Wovon?”

„Dann gehen wir in die Bar, ja? Es ist doch das erstemal, dass ich hier oben Besuch habe.”

„Gibst denn hier eine Bar?”

„Ja, eine kleine. Oder wenigstens eine Ecke, die so aussieht. Das gehört zur Behandlung. Alles vermeiden, was nach Krankenhaus aussieht. Man bekommt schon nichts, wenn man nicht darf.”

Die Bar war voll. Pat begrüßte ein paar Leute. Ein Italiener fiel mir auf. Wir setzten uns an einen Tisch, der gerade frei wurde.

„Was willst du denn haben?” fragte ich.

„Einen Cocktail von Rum. So wie wir ihn immer in der Bar getrunken haben. Weißt du das Rezept?”

„Das ist einfach”, sagte ich zu dem Mädchen, das bediente. „Halb Portwein, halb Jamaika-Rum.”

„Zwei”, rief Pat. „Und einen Spezial.”

Das Mädchen brachte zwei Porto-Roncos und ein hellrotes Getränk. „Das ist für mich”, sagte Pat. Sie schob uns den Rum zu. „Salute!”

Sie stellte ihr Glas hin, ohne getrunken zu haben, sah sich um, griff dann rasch nach meinem Glas und trank es aus. „Ach”, sagte sie, „wie gut das ist!”

„Was hast du denn da bestellt?” fragte ich und probierte die verdächtig hellrote Sache. Sie schmeckte nach Himbeersaft und Zitrone. Es war kein Tropfen Alkohol drin. „Ganz gut”, sagte ich.

Pat sah mich an. „Gegen den Durst”, fügte ich hinzu.

Sie lachte. „Bestell noch einen Porto-Ronco. Aber für dich. Ich bekomme keinen.”

Ich winkte dem Mädchen. „Einen Porto-Ronco und einen Spezial”, sagte ich. Ich sah, dass an den Tischen ziemlich viel Spezial getrunken wurde.

„Heute darf ich, Robby, ja?” sagte Pat, „nur heute! So wie in den alten Zeiten. Ja, Köster?”

„Der Spezial ist ganz gut”, erwiderte ich und trank das zweite Glas davon aus.

„Ich hasse ihn! Armer Robby, was Schönes musst du hier trinken!”

„Wenn wir schnell genug bestellen, komme ich schon noch zu meinem Recht”, sagte ich.

Pat lachte. „Nachher zum Essen darf ich etwas trinken. Rotwein.”

Wir bestellten noch ein paar Porto-Roncos, dann gingen wir in den Speisesaal. Pat war wunderschön. Ihr Gesicht leuchtete. Wir setzten uns an einen der kleinen, weißgedeckten Tische neben den Fenstern. Es war warm und unten lag das Dorf mit seinen beglänzten Straßen im Schnee.

„Wo ist denn Helga Guttmann?” fragte ich.

„Abgereist”, sagte Pat nach einer Pause.

„Abgereist? So früh?”

„Ja”, sagte Pat und ich begriff, was sie meinte.

Das Mädchen brachte den dunkelroten Wein. Köster schenkte die Gläser voll. Die Tische waren jetzt alle besetzt. Überall saßen Menschen und plauderten. Ich fühlte Pats Hand auf meiner. „Liebling”, sagte sie sehr leise und zärtlich. „Ich konnte es nicht mehr aushalten.”

Назад: XXIV
Дальше: XXVI