Es war drei Wochen später, an einem kalten Abend im Januar. Ich saß im International und spielte mit dem Wirt „Siebzehn und vier”. Das Lokal war leer, nicht einmal die Huren waren gekommen. Die Stadt war unruhig. Draußen marschierten alle Augenblicke Kolonnen vorüber; manche mit schmetternden Militärmärschen, andere mit der Internationale und dann wieder schweigende, lange Züge, denen Schilder vorangetragen wurden mit Forderungen nach Arbeit und Brot. Man hörte die vielen Schritte auf dem Pflaster wie das Gehen einer riesigen, unerbittlichen Uhr. Nachmittags war es zwischen Streikenden und der Polizei bereits zu einem Zusammenstoß gekommen, bei dem zwölf Leute verletzt worden waren, und die ganze Polizei stand seit Stunden unter Alarm. Die Pfiffe der Überfallautos gellten durch die Straßen.
„Es gibt keine Ruhe”, sagte der Wirt und zeigte eine Sechzehn vor. „Seit dem Krieg hats keine Ruhe mehr gegeben. Und damals haben wir doch alle nichts anderes gewollt als Ruhe. Verrückte Welt!”
Ich zeigte Siebzehn vor und strich den Pot ein. „Die Welt ist nicht verrückt”, sagte ich. „Nur die Menschen.”
Ich strich das Geld ein. Der Wirt gähnte und sah nach der Uhr. „Fast elf. Ich glaube, wir machen Schluss. Kommt doch keiner mehr.”
„Da kommt noch einer”, sagte Alois.
Die Tür ging. Es war Köster. „Gibts was Neues draußen, Otto?”
Er nickte. „Eine Saalschlacht in den Borussiasälen. Zwei Schwerverletzte, ein paar Dutzend Leichtverletzte und ungefähr hundert Verhaftungen. Zwei Schießereien im Norden. Ein Schupo tot. Weiß nicht, wieviel Verletzte. Na, und jetzt gehts ja wohl erst noch los, wenn die großen Versammlungen zu Ende sind. Bist du hier fertig?”
„Ja”, sagte ich. „Wir wollten gerade Schluss machen.”
„Dann komm mit.”
Ich sah zum Wirt hinüber. Er nickte. „Also Servus”, sagte ich.
„Servus”, erwiderte der Wirt träge. „Nehmt euch in Acht.”
Wir gingen hinaus. Draußen roch es nach Schnee. Flugblätter lagen wie große, tote, weiße Schmetterlinge auf der Straße.
„Gottfried ist nicht da”, sagte Köster. „Er steckt in einer dieser Versammlungen. Ich habe gehört, dass sie gesprengt werden sollen, und glaube, dass noch allerhand passieren wird. Es wäre ganz gut, wenn wir ihn vor Schluss erwischen könnten. Er ist ja nicht gerade der Ruhigste.”
„Weißt du denn, wo er ist?” fragte ich.
„Nicht genau. Aber ziemlich sicher in einer der drei Hauptversammlungen. Wir müssen sie abfahren. Gottfried mit seinem leuchtenden Haarschopf ist ja leicht zu erkennen.”
„Gut.” Wir stiegen ein und jagten mit Karl los zum ersten Versammlungslokal.
Auf der Straße stand ein Lastwagen mit Schupos. Die Sturmriemen der Tschakos waren heruntergelassen. Karabinerläufe schimmerten stumpf im Laternenlicht. Bunte Fahnen hingen in den Fenstern. Vor dem Eingang drängte sich eine Anzahl uniformierter Leute. Fast alle waren sehr jung.
Wir blieben am Eingang stehen und Köster, der sehr scharfe Augen hatte, musterte die Reihen.
Auf dem Podium stand ein kräftiger, untersetzter Mann und redete. Er hatte eine volle Bruststimme, die mühelos in den entferntesten Winkeln verständlich war. Es war eine Stimme, die überzeugte, ohne dass man viel darauf achtete, was sie sagte. Und was sie sagte, war leicht verständlich. Der Mann ging auf der Bühne umher, ungezwungen, mit kleinen Armbewegungen, ab und zu trank er einen Schluck Wasser und machte einen Witz. Dann aber stand er plötzlich still, voll dem Publikum zugekehrt, und peitschte mit veränderter, greller Stimme Satz um Satz hinaus, Wahrheiten, die jeder kannte, von der Not, vom Hunger, von der Arbeitslosigkeit, sich immer weiter steigernd, die Zuhörer mitreißend, bis er in einem Furioso herausschmetterte: „Das kann nicht so weitergehen! Das muss anders werden!”
Das Publikum tobte Beifall, es klatschte und schrie, als sei damit schon alles anders geworden.
Ich sah mir die Zuhörer an. Es waren Leute aller Berufe: Buchhalter, kleine Gewerbetreibende, Beamte, eine Anzahl Arbeiter und viele Frauen. Sie saßen jetzt da in dem heißen Saal, zurückgelehnt oder vorgebeugt, Reihe an Reihe, Gesicht neben Gesicht, der Strom der Worte spülte über sie hin und es war sonderbar: so verschieden sie auch waren, die Gesichter hatten alle den gleichen, abwesenden Ausdruck, einen schläfrigsüchtigen Blick in die Ferne einer nebeligen Fata Morgana, es war Leere darin und zugleich eine übermächtige Erwartung, die alles auslöschte, Kritik, Zweifel, Widersprüche und Fragen, den Alltag, die Gegenwart, die Realität. Der da oben wusste alles; – er hatte für jede Frage eine Antwort, für jede Not eine Hilfe. Es war gut, sich ihm anzuvertrauen. Es war gut, jemand zu haben, der für einen dachte. Es war gut, zu glauben.
Köster stieß mich an. Lenz war nicht da. Er winkte mit dem Kopf nach dem Ausgang. Ich nickte und wir gingen. Die Saalwachen sahen uns finster und argwöhnisch nach. Im Vorraum stand eine Kapelle, fertig zum Einmarsch in den Saal. Ein Wald von Fahnen und Abzeichen dahinter.
„Gut gemacht, was?” fragte Köster draußen.
„Erstklassig. Das kann ich als alter Propaganda-chef beurteilen.”
Wir fuhren ein paar Straßen weiter. Dort war die zweite politische Versammlung. Andere Fahnen, andere Uniformen, ein anderer Saal; aber sonst alles ähnlich. Auf den Gesichtern der gleiche Ausdruck von ungewisser Hoffnung und gläubiger Leere.
„Komm”, sagte Köster nach einer Weile. „Hier ist er auch nicht. Habe ich übrigens auch nicht erwartet.”
Wir fuhren weiter. Die Luft war kalt und frisch nach dem verbrauchten Dunst in den überfüllten Sälen. Der Wagen schoss durch die Straßen. Wir kamen am Kanal vorbei. Die Laternen warfen öliggelbe Reflexe auf das dunkle Wasser, das leise an die betonierten Ufer klatschte.
„Ich denke, wir lassen den Wagen hier stehen und gehen das letzte Stück zu Fuß”, sagte Köster nach einer Weile. „Ist unauffälliger.”
Wir kamen an eine riesige, schmutzige Mietskaserne mit mehreren Hinterhäusern, Höfen und Durchgängen. Im untersten Stock befanden sich Läden, eine Bäckerei und eine Annahmestelle für Lumpen und altes Eisen. Auf der Straße vor dem ersten Durchgang standen zwei Lastwagen mit Schupos.
Im ersten Hof war in einer Ecke aus Holzlatten ein Stand aufgebaut, an dem ein paar große Sternkarten hingen. Vor einem Tisch mit Papieren stand auf einem kleinen Podium ein Mann mit einem Turban. Über seinem Kopf hing ein Schild: Astrologie, Handlesekunst, Zukunftsdeutung, – Ihr Horoskop für 50 Pfennige. Ein Schwarm Menschen umdrängte ihn.
„Otto”, sagte ich zu Köster, der vor mir herging, „jetzt weiß ich, was die Leute wollen. Sie wollen gar keine Politik. Sie wollen Religionsersatz.”
Er sah sich um. „Natürlich. Sie wollen an irgend etwas wieder glauben. An was, ist ganz egal. Deshalb sind sie auch so fanatisch.”
Wir kamen auf den zweiten Hof, an dem das Versammlungslokal lag. Alle Fenster waren erleuchtet. Plötzlich hörten wir Lärm von drinnen. Im selben Moment stürzte aus einem dunklen Seiteneingang eine Anzahl junger Leute in Windjacken wie auf ein verabredetes Zeichen über den Hof, dicht unter den Fenstern entlang, auf die Tür des Lokals los. Der vorderste riss sie auf und sie stürmten hinein.
„Ein Stoßtrupp”, sagte Köster. „Komm hier an die Wand hinter die Bierfässer.”
Ein Brüllen und Toben begann im Saal. In der nächsten Sekunde splitterte ein Fenster und jemand flog heraus. Gleich darauf brach die Tür auf, ein Haufen Menschen wälzte sich heraus, die ersten stürzten, die andern fielen darüber hinweg. Eine Frau schrie gellend um Hilfe und rannte durch den Torbogen hinaus. Ein zweiter Schub folgte mit Stuhlbeinen und Biergläsern, wütend ineinanderverfilzt. Ein riesiger Zimmermann sprang heraus, stellte sich etwas außerhalb auf und jedesmal, wenn er den Kopf eines Gegners vor sich sah, fegte sein langer Arm im Kreise herum und schlug ihn in das Gewühl zurück. Er machte das völlig ruhig, als ob er Holz hackte.
Ein neuer Knäuel stürzte heran und plötzlich sahen wir, drei Meter vor uns, den gelben Schopf Gottfrieds in den Händen eines tobenden Schnauzbarts.
Köster duckte sich und verschwand in dem Haufen. Ein paar Sekunden später ließ der Schnauzbart Gottfried los, warf mit einer Miene äußersten Erstaunens die Arme hoch und fiel wie ein entwurzelter Baum in die Menge zurück. Gleich darauf entdeckte ich Köster, der Lenz am Kragen hinter sich herschleppte.
Lenz wehrte sich. „Lass mich nur noch einen Augenblick hin, Otto”, keuchte er.
„Unsinn”, rief Köster, „die Schupo kommt sofort! Los, da hinten rauf.” Wir liefen über den Hof, dem dunklen Seiteneingang zu. Es war keinen Augenblick zu früh. Im gleichen Moment schrillte jähes Pfeifen über den Hof, die schwarzen Tschakos der Schupo blitzten auf und die Polizei riegelte den Hof ab. Wir rannten die Treppe hinauf, um nicht mit zur Wache geschleppt zu werden. Von einem Flurfenster aus sahen wir, wie es weiterging. Die Schupo arbeitete glänzend. Sie sperrte ab, trieb einen Keil in den Knäuel, riss die Haufen auseinander, löste sie auf und begann sofort abzutransportieren. Als ersten den verblüfften Zimmermann, der vergeblich etwas zu erklären suchte. Hinter uns schnappte eine Tür. Eine Frau im Hemd, mit bloßen, dünnen Beinen, eine Kerze in der Hand, steckte den Kopf heraus. „Bist du da?” fragte sie mürrisch.
„Nein”, sagte Lenz, der sich erholt hatte. Die Frau warf die Tür zu. Lenz leuchtete mit seiner Taschenlampe die Tür ab. Es war der Maurerpolier Gerhard Peschke, der hier erwartet wurde.
Unten wurde es still. Die Schupo zog ab und der Hof wurde leer. Wir warteten noch etwas, dann gingen wir die Treppen hinunter. Hinter einer Tür weinte ein Kind. Es weinte leise und klagend im Dunkel. „Recht hat es”, sagte Gottfried. „Es weint im voraus.”
Wir gingen die Straße entlang. Ein paar Leute kamen uns auf der anderen Seite entgegen. Es waren vier junge Burschen. Einer trug hellgelbe, neue Ledergamaschen, die andern eine Art von Militärstiefeln. Sie blieben stehen und sahen zu uns herüber. „Da ist er!” rief plötzlich der mit den Gamaschen und lief schräg über die Straße auf uns zu. Im nächsten Augenblick krachten zwei Schüsse, der Bursche sprang weg und alle vier rissen aus, so schnell sie konnten. Ich sah, wie Köster zum Sprung ansetzte, aber dann in einer merkwürdigen Drehung abbog, die Arme ausstreckte, einen gepressten, wilden Laut ausstieß und Gottfried Lenz aufzufangen versuchte, der schwer aufs Pflaster schlug.
Eine Sekunde dachte ich, er sei nur gefallen; dann sah ich das Blut. Köster riss ihm die Jacke auf, zerrte das Hemd weg, – das Blut quoll dick hervor. Ich presste mein Taschentuch dagegen. „Bleib hier, ich hole den Wagen”, rief Köster und rannte los.
„Gottfried”, sagte ich, „hörst du mich?”
Sein Gesicht wurde grau. Die Augen waren halb geschlossen. Die Lider bewegten sich nicht. Ich hielt mit der einen Hand seinen Kopf, mit der anderen drückte ich das Taschentuch auf die blutende Stelle. Ich kniete neben ihm, ich lauschte auf sein Röcheln, seinen Atem, aber ich hörte nichts, lautlos war alles, die endlose Straße, die endlosen Häuser, die endlose Nacht, – ich hörte nur leise klatschend das Blut auf das Pflaster fallen und wusste, dass das schon einmal so gewesen sein musste und dass es nicht wahr sein konnte.
Köster raste heran. Er riss die Lehne des linken Sitzes nach hinten herum. Wir hoben Gottfried vorsichtig hoch und legten ihn auf die beiden Sitze. Ich sprang in den Wagen und Köster schoss los. Wir fuhren zur nächsten Unfallstelle. Köster bremste vorsichtig. „Sieh nach, ob ein Arzt da ist. Sonst müssen wir weiter.”
Ich lief hinein. Ein Sanitäter kam mir entgegen. „Ist ein Arzt da?”
„Ja. Habt ihr jemand?”
„Ja. Kommen Sie mit ran! Eine Tragbahre.”
Wir hoben Gottfried auf die Bahre und trugen ihn hinein. Der Arzt stand schon in Hemdärmeln bereit.
„Hierher!” Er zeigte auf einen flachen Tisch. Wir hoben die Bahre hinauf. Der Arzt zog eine Lampe herunter, dicht über den Körper.
„Was ist es?”
„Revolverschuss.”
Er nahm einen Bausch Watte, wischte das Blut fort, griff nach Gottfrieds Puls, horchte ihn ab und richtete sich auf. „Nichts mehr zu machen.”
Köster starrte ihn an. „Der Schuss sitzt doch ganz seitlich. Es kann doch nicht schlimm sein!”
„Es sind zwei Schüsse!” sagte der Arzt.
Er wischte wieder das Blut weg. Wir beugten uns vor. Da sahen wir, dass schräg unter der stark blutenden Wunde eine zweite war, – ein kleines dunkles Loch in der Herzgegend.
„Er muss fast augenblicklich tot gewesen sein”, sagte der Arzt. Köster richtete sich auf. Er sah Gottfried an. Der Arzt bedeckte die Wunden mit Tampons und klebte Heftpflasterstreifen darüber. „Wollen Sie sich waschen?” fragte er mich.
„Nein”, sagte ich.
Gottfrieds Gesicht war jetzt gelb und eingefallen. Der Mund war etwas schief gezogen, die Augen waren halb geschlossen, das eine etwas mehr als das andere. Er sah uns an. Er sah uns immerfort an.
„Wie ist es denn gekommen?” fragte der Arzt.
Niemand antwortete. Gottfried sah uns an. Er sah uns unverwandt an.
„Er kann hierbleiben”, sagte der Arzt.
Köster rührte sich. „Nein”, erwiderte er. „Wir nehmen ihn mit!”
„Das geht nicht”, sagte der Arzt. „Wir müssen die Polizei anrufen. Die Kriminalpolizei auch. Es muss doch sofort alles getan werden, um den Täter zu finden.”
„Den Täter?” Köster blickte den Arzt an, als verstände er ihn nicht. „Gut”, sagte er dann, „ich werde hinfahren und die Polizei holen.”
„Sie können telefonieren. Dann sind sie schneller hier.”
Köster schüttelte langsam den Kopf. „Nein. Ich werde sie holen.”
Er ging hinaus und ich hörte Karl anspringen. Der Arzt schob mir einen Stuhl hin. „Wollen Sie sich nicht solange setzen?”
„Danke”, sagte ich und blieb stehen. Das helle Licht lag immer noch auf Gottfrieds blutiger Brust. Der Arzt schob die Lampe etwas höher.
„Wie ist es denn gekommen?” fragte er nochmals. „Ich weiß nicht. Es muss eine Verwechslung mit jemand gewesen sein.”
„War er im Krieg?” fragte der Arzt.
Ich nickte.
„Man sieht es an den Narben”, sagte er. „Und an dem zerschossenen Arm. Er ist mehrere Male verwundet worden.”
„Ja. Viermal.”
„Eine Gemeinheit”, sagte der Sanitäter. „Sind doch alles Lausebengels, die damals noch in den Windeln lagen.”
Ich erwiderte nichts. Gottfried sah mich an. Immerfort an.
Es dauerte lange, bis Köster wiederkam. Er war allein. Der Arzt legte die Zeitung weg, in der er gelesen hatte. „Sind die Beamten da?” fragte er.
Köster blieb stehen. Er hatte nicht gehört, was der Arzt gesagt hatte.
„Ist die Polizei da?” fragte der Arzt noch einmal.
„Ja”, erwiderte Köster. „Die Polizei. Wir müssen telefonieren, dass sie kommt.”
Der Arzt sah ihn an, sagte aber nichts und ging zum Telefon. Ein paar Minuten später kamen zwei Beamte. Sie setzten sich an einen Tisch und einer von ihnen nahm Gottfrieds Personalien auf. Ich weiß nicht, aber es schien mir irrsinnig, zu sagen, wie er hieß und wann er geboren war und wo er wohnte, jetzt, wo er tot war. Ich starrte auf den schwärzlichen Bleistiftstummel, den der Beamte ab und zu mit den Lippen befeuchtete, und gab mechanisch Antwort.
Der andere Beamte begann ein Protokoll aufzusetzen. Köster machte die notwendigen Angaben. „Können Sie mir ungefähr sagen, wie der Täter aussah?” fragte der Beamte.
„Nein”, erwiderte Köster. „Ich habe nicht darauf geachtet.”
Ich blickte zu ihm hinüber. Ich dachte an die gelben Gamaschen und die Uniformen.
„Wissen Sie nicht, welcher politischen Partei er angehörte? Haben Sie nicht die Abzeichen oder die Uniform gesehen?”
„Nein”, sagte Köster. „Ich habe nichts gesehen vor den Schüssen. Und dann habe ich mich nur um – ” er stockte einen Augenblick – „um meinen Kameraden gekümmert.”
„Gehören Sie einer politischen Partei an?”
„Nein.”
„Ich meinte, weil Sie sagten, er wäre Ihr Kamerad – ”
„Er ist mein Kamerad aus dem Kriege”, sagte Köster.
Der Beamte wandte sich mir zu. „Können Sie den Täter beschreiben?”
Köster sah mich fest an. „Nein”, sagte ich. „Ich habe auch nichts gesehen.”
„Merkwürdig”, sagte der Beamte.
„Wir waren im Gespräch und haben auf nichts geachtet. Es ging auch alles sehr schnell.”
Der Beamte seufzte. „Da ist wenig Aussicht, dass wir die Kerle kriegen.” Er machte das Protokoll fertig.
„Können wir ihn mitnehmen?” fragte Köster.
„Eigentlich – ” Der Beamte blickte den Arzt an.
„Es ist eigentlich nicht erlaubt”, sagte er dann, „aber wenn Sie ihn nach Hause nehmen wollen, – der Tatbestand ist ja klar, nicht wahr, Herr Doktor?” Der Arzt nickte. „Sie sind ja auch Gerichtsarzt”, fuhr der Beamte fort, „also dann – wie Sie wollen – Sie müssen nur, – es könnte sein, dass morgen noch eine Kommission kommt – ”
„Ich weiß”, sagte Köster. „Wir werden alles genau so lassen.” Die Beamten gingen.
Wir nahmen die Bahre, trugen sie hinaus und legten sie auf die beiden linken Sitze, die mit der heruntergeklappten Lehne eine Ebene bildeten. Der Sanitäter und der Arzt kamen heraus und sahen zu. Wir deckten Gottfrieds Mantel über ihn und fuhren ab. Nach einer Weile wandte sich Köster zu mir um. „Wir fahren die Straße noch einmal ab. Ich habe es vorhin schon getan. Aber da war es zu früh. Vielleicht sind sie jetzt unterwegs.”
Es fing langsam an zu schneien. Köster fuhr den Wagen fast unhörbar. Er kuppelte aus und oft stellte er auch die Zündung ab. Er wollte nicht gehört werden, obschon die vier, die wir suchten, ja nicht wussten, dass wir den Wagen hatten. Dann glitten wir lautlos, wie ein weißes Gespenst durch den immer stärker fallenden Schnee. Ich holte mir aus dem Werkzeug einen Hammer heraus und legte ihn neben mich, um sofort aus dem Wagen springen und zuschlagen zu können. Wir kamen die Straße entlang, in der es passiert war. Unter der Laterne war noch der schwarze Fleck des Blutes. Köster schaltete das Licht aus. Wir glitten dicht an der Bordkante entlang und beobachteten die Straße. Niemand war zu sehen. Nur aus einer erleuchteten Kneipe hörten wir Stimmen.
Köster hielt an der Kreuzung. „Bleib hier”, sagte er, „ich will in der Kneipe nachsehen.”
„Ich gehe mit”, erwiderte ich.
Er sah mich mit einem Blick an, wie ich ihn aus der Zeit kannte, als er allein auf Patrouille ging. „Ich werde es nicht in der Kneipe abmachen”, sagte er. „Da kann er mir doch noch entwischen. Ich will nur sehen, ob er da ist. Dann werden wir auf ihn warten. Bleib du hier bei Gottfried.”
Ich nickte und er verschwand im Schneegestöber. Die Flocken flogen mir ins Gesicht und schmolzen auf der Haut. Ich konnte es plötzlich nicht ertragen, dass Gottfried zugedeckt war, als ob er nicht mehr zu uns gehörte, und ich schob den Mantel von seinem Kopf fort. Der Schnee fiel jetzt auch auf sein Gesicht, auf seine Augen und seinen Mund, aber er schmolz nicht. Ich nahm mein Taschentuch, wischte ihn weg und deckte den Mantel wieder darüber.
Köster kam zurück. „Nichts gewesen?”
„Nein”, sagte er.
Er stieg ein. „Wir fahren jetzt noch die andern Straßen ab. Ich habe das Gefühl, dass wir ihnen jeden Moment begegnen müssen.”
Der Wagen brüllte auf und wurde sofort wieder abgedrosselt. Leise schlichen wir durch die weiße, wirbelnde Nacht, von Straße zu Straße, in den Kurven hielt ich Gottfried fest, damit er nicht herunterrutschte, und ab und zu hielten wir hundert Meter hinter einer Kneipe und Köster lief in langen Sprüngen zurück um hineinzusehen. Er war von einer finsteren, kalten Besessenheit, er dachte nicht daran, Gottfried erst fortzubringen, zweimal setzte er dazu an, aber dann kehrte er wieder um, weil er glaubte, gerade in diesem Augenblick könnten die vier unterwegs sein.
Plötzlich sahen wir weit vor uns, auf einer langen, kahlen Straße, eine dunkle Gruppe von Menschen. Köster schaltete sofort die Zündung ab und lautlos, ohne Licht, kamen wir heran.
Es waren vier harmlose, ältere Leute. Einer von ihnen war betrunken. Sie begannen zu schimpfen. Köster erwiderte nichts. Wir fuhren weiter. „Otto”, sagte ich, „wir werden ihn heute nicht kriegen. Ich glaube nicht, dass er sich auf die Straße traut.”
„Ja, vielleicht”, erwiderte er nach einer Weile und wendete den Wagen. Wir fuhren zu Kösters Wohnung. Sein Zimmer hatte einen eigenen Eingang, so dass wir niemand zu wecken brauchten. Als wir ausstiegen, sagte ich: „Weshalb wolltest du der Polizei nicht sagen, wie er aussah? Wir hatten doch Hilfe beim Suchen gehabt. Und gesehen haben wir ihn doch ziemlich genau.”
Köster blickte mich an. „Weil wir das allein abmachen werden, ohne Polizei. Glaubst du denn – ” seine Stimme wurde ganz leise, unterdrückt und schrecklich, – „ich werde ihn der Polizei übergeben? Damit er ein paar Jahre Gefängnis bekommt? Du weißt doch, wie alle diese Prozesse enden! Diese Burschen wissen, dass sie milde Richter finden! Das gibt es nicht! Ich sage dir, und wenn die Polizei ihn fände, ich würde erklären, er wäre es nicht, damit ich ihn wiederbekäme! Gottfried tot und der am Leben! Das gibt es nicht!”
Wir nahmen die Bahre von den Sitzen und trugen sie durch das Schneegestöber und den Wind hinein und es war, als wären wir in Flandern und brächten einen toten Kameraden aus den Schützengräben zurück nach hinten.
Wir kauften einen Sarg und ein Grab auf dem Gemeindefriedhof. Es war ein klarer, sonniger Tag, als er beerdigt wurde. Wir machten den Sarg selbst zu und trugen ihn die Treppen hinunter. Es gingen nicht viele Leute mit. Ferdinand, Valentin, Alfons, der Barmixer Fred, Georgie, Jupp, Frau Stoß, Gustav, Stefan Grigoleit und Rosa.
Vor dem Friedhofstor mussten wir eine Zeitlang warten. Es waren noch zwei Trauerzüge vor uns da, die durchgelassen werden mussten. Einer mit einem schwarzen Beerdigungsauto, ein anderer mit schwarz und silbern behangenen Pferden und einer endlosen Reihe von Leidtragenden, die sich lebhaft unterhielten.
Wir hoben den Sarg vom Wagen und ließen ihn selbst mit den Seilen hinunter. Der Totengräber war zufrieden damit, denn er hatte bei den andern Gräbern genug zu tun. Wir hatten auch einen Geistlichen bestellt. Wir wussten zwar nicht, was Gottfried dazu gesagt hätte, aber Valentin war dafür gewesen. Wir hatten den Pastor allerdings gebeten, keine Rede zu halten. Er sollte nur eine Bibelstelle vorlesen. Der Geistliche war ein alter, kurzsichtiger Mann. Als er an das Grab trat, stolperte er über einen Erdklumpen und wäre hineingestürzt, wenn Köster und Valentin ihn nicht gehalten hätten. Bei dem Fall aber rutschte ihm die Bibel fort und die Brille, die er gerade aufsetzen wollte. Sie fielen in das Grab. Bestürzt starrte der Geistliche hinterher. „Lassen Sie es gut sein, Herr Pfarrer”, sagte Valentin, „wir ersetzen Ihnen die Sachen.”
„Es ist nicht wegen des Buches”, erwiderte der Geistliche leise, „aber die Brille brauche ich.”
Valentin brach einen Zweig von der Friedhofshecke. Dann kniete er am Grabe nieder und es gelang ihm, die Brille an einem Bügel zu fassen und sie aus den Kränzen herauszuholen. Sie war aus Gold. Vielleicht hatte der Pfarrer sie deshalb wiederhaben wollen. Die Bibel war seitlich am Sarge vorbeigerutscht; man hätte ihn herausholen und heruntersteigen müssen, um sie zu finden. Das wollte auch der Geistliche nicht. Er stand verlegen da. „Soll ich statt dessen einige Worte sprechen?” fragte er.
„Lassen Sie nur, Herr Pfarrer”, sagte Ferdinand. „Er hat ja nun da unten das ganze Testament.”
Die aufgeworfene Erde roch stark. In einer der Schollen kroch ein weißer Engerling. Wenn die Erde wieder heruntergeworfen war, würde er unten weiterleben, sich verpuppen und im nächsten Jahre die Scholle durchbrechen und ans Licht gelangen. Gottfried aber war tot. Er war ausgelöscht. Wir standen an seinem Grabe, wir wussten, dass sein Körper, sein Haar, seine Augen noch da waren, verwandelt schon, aber doch noch da und dass er trotzdem schon fort war und nie wieder kam. Es war nicht zu begreifen. Unsere Haut war warm, unsere Gedanken arbeiteten, unser Herz pumpte Blut durch die Adern, wir waren da wie vorher, wie gestern noch, uns fehlte nicht plötzlich ein Arm, wir waren nicht blind oder stumm geworden, alles war wie immer, gleich würden wir fortgehen und Gottfried Lenz würde zurückbleiben und niemals nachkommen. Es war nicht zu begreifen.
Die Schollen polterten auf den Sarg. Der Totengräber hatte uns Spaten gegeben und nun gruben wir ihn ein, Valentin, Köster, Alfons, ich, wie wir schon manchen Kameraden eingegraben hatten. Dröhnend schlug mir ein altes Soldatenlied durch den Schädel, ein altes, trauriges Soldatenlied, das er oft gesungen hatte – „Argonnerwald, Argonnerwald, – ein stiller Friedhof bist du bald – ”
Alfons hatte ein einfaches, schwarzes Holzkreuz mitgebracht, ein Kreuz, wie sie auf den endlosen Gräberreihen in Frankreich zu Hunderttausenden stehen. Wir setzten es an das Kopfende des Grabes.
„Kommt”, sagte Valentin schließlich heiser.
„Ja”, sagte Köster. Aber er blieb stehen. Wir blieben alle stehen. Valentin sah uns der Reihe nach an. „Wozu?” sagte er langsam. „Wozu nur? Verflucht!”
Keiner antwortete.
Valentin machte eine müde Bewegung. „Kommt.”
Wir gingen über die Kieswege, dem Ausgang zu. Am Tor erwarteten uns Fred, Georgie und die andern. „Er konnte so wunderbar lachen”, sagte Stefan Grigoleit und die Tränen flossen über sein hilfloses, zorniges Gesicht.
Ich sah mich um. Niemand kam hinter uns her.