Mitte Oktober ließ Jaffé mich rufen. Es war zehn Uhr morgens, aber das Wetter war so trübe, dass in der Klinik noch Licht brannte. Es vermischte sich mit der Nebeldämmerung von draußen zu einer fahlen, krankhaften Helligkeit.
Jaffé saß allein in seinem großen Sprechzimmer. Er hob den kahlen, beglänzten Kopf, als ich eintrat. Mürrisch zeigte er auf das große Fenster, gegen das der Regen klatschte. „Was sagen Sie zu diesem verdammten Wetter?”
Ich zuckte die Achseln. „Hoffentlich hört es bald mal auf.”
„Das hört nicht auf.”
Er sah mich an und schwieg. Dann nahm er einen Bleistift vom Schreibtisch, betrachtete ihn, klopfte damit auf die Platte und legte ihn wieder beiseite.
„Ich kann mir denken, weshalb Sie mich gerufen haben”, sagte ich.
Jaffé knurrte irgendetwas.
Ich wartete einen Augenblick. Dann sagte ich: „Pat muss wohl jetzt bald fort – ”
„Ja – ”
Jaffé starrte ärgerlich vor sich hin. ,,Ich hatte Ende Oktober gerechnet. Aber bei diesem Wetter – ” Er griff nach dem silbernen Bleistift.
Der Wind warf einen Schauer Regen prasselnd gegen das Fenster. Es klang wie fernes Maschinengewehrfeuer. „Wann denken Sie, dass sie reisen soll?” fragte ich.
Er sah mich plötzlich voll an. „Morgen”, sagte er.
Ich spürte eine Sekunde keinen Boden unter den Füßen. Die Luft war wie Watte und klebte mir in der Lunge. Dann ging es vorüber und ich fragte, so ruhig ich konnte, aber meine Stimme kam weit her, als fragte ein anderer: „Ist es auf einmal so viel schlimmer geworden?”
Jaffé schüttelte heftig den Kopf und stand auf. „Wenn es sich so schnell verändert hätte, könnte sie doch überhaupt nicht fahren”, erklärte er unfreundlich. „Es ist nur besser. Bei diesem Wetter ist jeder Tag eine Gefahr. Erkältungen und sowas – ”
Er nahm ein paar Briefe vom Schreibtisch. „Ich habe schon alles vorbereitet. Sie brauchen nur abzufahren. Den Chefarzt des Sanatoriums kenne ich seit meiner Studienzeit. Er ist sehr tüchtig. Ich habe ihn genau informiert.”
Er gab mir die Briefe. Ich nahm sie, aber ich steckte sie nicht ein. Er sah mich an, dann blieb er vor mir stehen und legte eine Hand auf meinen Arm. Sie war leicht wie ein Vogelflügel, ich spürte sie überhaupt nicht. „Schwer”, sagte er leise mit veränderter Stimme, „ich weiß es. Deshalb habe ich auch damit gewartet, solange es ging.”
„Es ist nicht schwer – ” erwiderte ich.
Er wehrte ab. „Lassen Sie nur – ”
„Nein”, sagte ich, „so meine ich das auch nicht. Ich möchte nur eines wissen: kommt sie zurück?”
Jaffé schwieg einen Augenblick. Seine dunklen, schmalen Augen glänzten in dem trüben, gelben Licht. „Weshalb wollen Sie das jetzt wissen?” fragte er nach einer Weile.
„Weil es sonst besser ist, dass sie nicht fährt”, sagte ich.
Er blickte rasch auf. „Was sagen Sie da?”
„Es ist sonst besser, dass sie hierbleibt.”
Er starrte mich an. „Wissen Sie auch, was das mit Sicherheit bedeuten würde?” fragte er dann leise und scharf.
„Ja”, sagte ich. „Es würde bedeuten, dass sie nicht allein sterben würde. Und was das heißt, weiß ich auch.”
Jaffé hob die Schultern hoch, als fröstele er. Dann ging er langsam zum Fenster und sah in den Regen hinaus. Als er zurückkam, war sein Gesicht eine Maske. Er blieb dicht vor mir stehen. „Wie alt sind Sie?” fragte er.
„Dreißig”, erwiderte ich. Ich begriff nicht, was er wollte.
„Dreißig”, wiederholte er in einem merkwürdigen Tone, als spräche er zu sich selbst und hätte mich gar nicht verstanden. „Dreißig, mein Gott!” Er ging zu seinem Schreibtisch und blieb dort stehen, klein und sonderbar abwesend, ganz verloren neben dem riesigen, blanken Möbel. „Ich bin jetzt bald sechzig”, sagte er, ohne mich anzusehen, „aber ich könnte das nicht. Ich würde immer wieder alles versuchen, immer wieder, und wenn ich genau wüsste, dass es zwecklos wäre.”
Ich schwieg. Jaffé stand da, als hätte er alles um sich herum vergessen. Dann machte er eine Bewegung und sein Gesicht verlor den Ausdruck. Er lächelte. „Ich glaube bestimmt, dass sie oben den Winter gut überstehen wird.”
„Nur den Winter?” fragte ich.
„Ich hoffe, dass sie dann im Frühjahr wieder herunter kann.”
„Hoffen”, sagte ich, „was heißt hoffen?”
„Alles”, erwiderte Jaffé. „Immer alles. Ich kann Ihnen jetzt nicht mehr sagen. Das andere sind Möglichkeiten. Man muss sehen, wie es oben wird. Aber ich hoffe bestimmt, dass sie im Frühjahr zurückkommen kann.”
„Bestimmt?”
„Ja.” Er ging um den Schreibtisch herum und stieß mit dem Fuß eine offenstehende Schublade so heftig zu, dass die Gläser klirrten. „Verdammt, Mann, es geht mir doch selber nahe, dass sie weg muss!” murmelte er.
Eine Schwester kam herein. Jaffé winkte ihr ab. Sie blieb trotzdem stehen, untersetzt, vierschrötig, mit einem Bulldoggengesicht unter grauem Haar.
„Nachher!” knurrte Jaffé, „kommen Sie nachher wieder!”
Dann wandte er sich mir zu. „Nun?”
„Wir fahren heute abend”, sagte ich.
„Heute?”
„Ja. Wenn es schon sein muss, dann ist es heute besser als morgen. Ich werde sie hinbringen. Ein paar Tage kann ich schon hier weg.”
Er nickte und gab mir die Hand.
Ich ging. Der Weg zur Tür erschien mir sehr weit.
Mittags kam ich nach Hause. Ich hatte alles erledigt und auch dem Sanatorium schon telegraphiert. „Pat”, sagte ich noch in der Tür, „kannst du bis heute abend alles gepackt haben?”
„Muss ich fort?”
„Ja”, sagte ich. „Ja, Pat.”
„Allein?”
„Nein. Wir fahren mitsammen. Ich bringe dich hin.”
Ihr Gesicht bekam wieder Farbe. „Wann muss ich denn fertig sein?” fragte sie.
„Der Zug fährt heute abend um zehn.
Und gehst du jetzt noch einmal fort?”
„Nein. Ich bleibe hier, bis wir wegfahren.”
Sie atmete tief. „Dann ist es ganz einfach. Robby”, sagte sie, „Wollen wir gleich anfangen?”
„Wir haben noch Zeit.”
„Ich möchte gleich anfangen. Dann ist es fertig.”
„Gut.”
Ich verstaute die paar Sachen, die ich mitnehmen wollte, rasch und war in einer halben Stunde fertig. Dann ging ich zu Frau Zalewski hinüber und sagte ihr, dass wir abends reisen würden. Ich machte mit ihr ab, dass das Zimmer zum ersten November frei würde, wenn sie es nicht früher vermieten könnte.
Pat kniete vor ihrem Schrankkoffer, rundum hingen ihre Kleider, auf dem Bett lag Wäsche und sie packte gerade ihre Schuhe ein. Ich erinnerte mich daran, dass sie auch so gekniet hatte, als sie in dieses Zimmer eingezogen war und ausgepackt hatte, und mir schien, als wäre das endlos lange her und doch eigentlich erst gestern gewesen. Sie sah auf. „Nimmst du das silberne Kleid auch mit?” fragte ich.
Sie nickte. „Was machen wir nur mit all den andern Sachen, Robby? Mit den Möbeln?”
„Ich habe schon mit Frau Zalewski gesprochen. So viel ich kann, nehme ich in mein Zimmer hinüber. Das übrige geben wir einer Speditionsfirma zum Aufbewahren. Da holen wir es dann wieder ab, wenn du zurückkommst.”
„Wenn ich zurückkomme”, sagte sie.
„Ja”, erwiderte ich, „im Frühling, wenn du braun von der Sonne zurückkommst.”
Ich half ihr packen und nachmittags, als es schon dunkel draußen wurde, waren wir fertig. Es war sonderbar: die Möbel standen alle noch auf dem gleichen Platz, nur die Schränke und Schubladen waren geleert, und trotzdem erschien das Zimmer plötzlich kahl und traurig. Pat setzte sich auf ihr Bett. Sie sah müde aus. „Soll ich Licht machen?” fragte ich.
Sie schüttelte den Kopf. „Lass es noch etwas so.” Ich setzte mich neben sie. „Willst du eine Zigarette?” fragte ich.
„Nein, Robby. Nur ein bisschen so sitzen.”
Ich stand auf und ging zum Fenster. Draußen brannten die Laternen unruhig im Regen. Der Wind wühlte in den Bäumen.
Es war acht Uhr abends. Draußen röhrte ein Klaxon. „Das ist Gottfried mit dem Taxi”, sagte ich, „er will uns zum Essen abholen.”
Ich stand auf, ging zum Fenster und rief herunter, dass wir kämen. Dann knipste ich die kleine Tischlampe an und ging in mein Zimmer. Es war mir verflucht fremd. Ich holte die Rumflasche und trank rasch ein Glas. Dann ging ich zu Pat zurück. „Wollen wir los, alter Bursche?” fragte ich.
„Ja”, sagte sie, „aber ich will noch einmal in dein Zimmer gehen.”
„Warum?” erwiderte ich. „Die alte Bude – ”
„Bleib du hier”, sagte sie. „Ich komme gleich wieder.” . Ich wartete eine Zeitlang, dann ging ich hinüber. Sie stand in der Mitte des Zimmers und fuhr zusammen, als sie mich erblickte. Ich hatte sie noch nie so gesehen. Sie war ganz ausgelöscht. Es war nur eine Sekunde, dann lächelte sie wieder.
„Komm”, sagte sie. „Jetzt wollen wir gehen.”
Wir gingen. Die Korridortür klappte hinter uns zu. Im Treppenhaus war es halbdunkel; ein paar elektrische Birnen waren ausgebrannt. Pat schwieg, während sie leise und weich die Treppen herunterstieg. Ich hatte das Gefühl, als wäre ein Urlaub zu Ende und wir gingen jetzt im grauen Morgen zum Bahnhof, um an die Front zu fahren.
Lenz öffnete die Tür zum Taxi. „Vorsicht!” sagte er.
Der Wagen war voller Rosen. Zwei riesige Büsche weißer und roter Blüten lagen auf den hinteren Sitzen. Ich erkannte sofort, woher sie kamen; – aus dem Domgarten. „Die letzten”, erklärte Gottfried selbstzufrieden.
Es gab bei Alfons gespickten Hasen mit Rotkohl und geschmorten Äpfeln. Hinterher spielte er zum Abschluss auf seinem Grammophon einen Chor der Donkosaken. Es war ein sehr leises Lied, bei dem der Chor nur gedämpft wie eine ferne Orgel brummte, während eine einsame, klare Stimme darüber schwebte.
„Kinder”, sagte Alfons, als der Chor immer leiser und leiser geworden war, bis er schließlich wie ein Seufzer verhauchte, „Kinder, wisst ihr, woran ich immer denken muss, wenn ich das höre? An Ypern 1917, Gottfried, damals im März, an den einen Abend mit Bertelsmann – ”
„Ja”, sagte Lenz, „ich weiß es noch, Alfons. Es war der Abend mit den Kirschbäumen – ”
Alfons nickte.
Köster stand auf. „Ich glaube, es wird Zeit.” Er sah nach der Uhr. „Ja, wir müssen los.”
„Noch einen Kognak”, sagte Alfons. „Von dem echten Napoleon! Habe ihn doch extra für euch mitgebracht!”
Wir tranken den Kognak, dann brachen wir auf.
„Auf Wiedersehen, Alfons!” sagte Pat. „Ich bin immer so gern hier gewesen.” Sie gab ihm die Hand.
Alfons wurde rot. Er hielt ihre Hand fest zwischen seinen beiden Pranken. „Also, wenn mal was ist, – einfach nur Bescheid geben.” Er sah sie äußerst verlegen an. „Sie gehören ja jetzt dazu. Hätte nie gedacht, dass eine Frau auch mal dazu gehören könnte.”
„Danke”, sagte Pat, „danke, Alfons. Sie hätten mir nichts Schöneres sagen können. Auf Wiedersehen und alles Gute.”
„Auf Wiedersehen! Bald!”
Köster und Lenz brachten uns zur Bahn. Vor unserm Hause hielten wir einen Augenblick und ich holte den Hund herunter. Die Koffer hatte Jupp schon zum Bahnhof gebracht.
Wir kamen gerade rechtzeitig an. Kaum waren wir eingestiegen, da fuhr der Zug schon los. Als die Lokomotive anzog, griff Gottfried in die Tasche und reichte mir eine eingewickelte Flasche herauf. „Hier, Robby, nimm das mal. So was kann man unterwegs immer gebrauchen.”
Der Zug wurde schneller und Gottfried blieb zurück. Pat lehnte aus dem Fenster und winkte, bis der Bahnhof hinter einer Kurve verschwand. Dann wandte sie sich um. Sie war sehr blass und ihre Augen glänzten feucht. Ich nahm sie in den Arm. „Komm”, sagte ich, „jetzt trinken wir was. Du hast dich großartig gehalten.”
„Mir ist aber gar nicht großartig zumute”, erwiderte sie mit einem Versuch zu lächeln.
„Mir auch nicht”, sagte ich. „Deshalb wollen wir ja was trinken.”
Ich machte die Flasche auf und gab ihr einen Becher Kognak.
„Gut?” fragte ich.
Sie nickte und lehnte sich an meine Schulter. „Ach, Liebling, was soll das alles werden?”
„Du musst nicht weinen”, sagte ich. „Ich war so stolz, dass du nicht geweint hast, den ganzen Tag.”
„Ich weine ja gar nicht”, erwiderte sie und schüttelte den Kopf und die Tränen liefen ihr über das schmale Gesicht.
„Komm, trink noch etwas”, sagte ich und hielt sie fest. „Es ist nur immer der erste Moment, dann wird es schon besser.”
Sie nickte. „Ja, Robby. Du musst dich auch gar nicht darum kümmern. Es ist gleich vorbei und es ist besser, wenn du es gar nicht siehst. Lass mich nur ein paar Minuten hier allein sitzen, dann werde ich schon damit fertig.”
„Warum denn? Du warst den ganzen Tag so tapfer, da kannst du jetzt ruhig soviel weinen, wie du willst.”
„Ich war gar nicht tapfer. Du hast es nur nicht gemerkt.”
„Vielleicht”, sagte ich, „aber das war es dann gerade.”
Sie versuchte zu lächeln. „Warum denn eigentlich, Robby?”
„Weil man sich nicht ergibt.” Ich strich ihr über das Haar.
„Solange man sich nicht ergibt, ist man mehr als das Schicksal.”
„Bei mir ist es kein Mut, Liebling”, murmelte sie. „Es ist einfach nur Angst. Jämmerliche Angst vor der großen, letzten Angst.”
„Das ist aller Mut, Pat.”
Sie lehnte sich an mich. „Ach, Robby, du weißt ja gar nicht, was Angst ist.”
„Doch”, sagte ich.
Die Tür ging auf. Der Schaffner verlangte die Fahrkarten. Ich gab sie ihm. „Ist die Schlafwagenkarte für die Dame?” fragte er.
Ich nickte.
„Dann müssen Sie in den Schlafwagen gehen”, sagte er zu Pat. „Die Karte gilt nicht für die übrigen Abteile.”
„Gut.”
„Und der Hund muss in den Packwagen”, erklärte er. „Das Hundeabteil ist im Packwagen.”
„Schön”, sagte ich. „Wo ist denn der Schlafwagen?”
„Rechts der dritte Wagen. Der Packwagen ist ganz vorn.”
Er ging. Auf seiner Brust baumelte eine kleine Laterne. Das sah aus, als ginge er durch die Schächte eines Bergwerks.
„Dann wollen wir mal umziehen, Pat”, sagte ich. „Billy schmuggle ich schon zu dir rein. Der hat im Packwagen nichts zu suchen.”
Ich hatte für mich keinen Schlafwagenplatz genommen. Es machte mir nichts, in einer Abteilecke die Nacht zu verbringen. Außerdem war es billiger.
Jupp hatte Pats Gepäck schon in den Schlafwagen gebracht. Das Abteil war ein hübscher, kleiner, mit Mahagoniholz getäfelter Raum. Pat hatte das untere Bett. Ich fragte den Schaffner, ob auch das obere belegt sei.
„Ja”, sagte er, ,,ab Frankfurt.”
„Wann sind wir in Frankfurt?”
„Um halb drei.”
Ich gab ihm ein Trinkgeld und er ging in seine Wagenecke zurück.
„In einer halben Stunde bin ich mit dem Hund wieder bei dir”, sagte ich zu Pat.
„Aber das geht doch nicht; der Schaffner bleibt ja im Wagen.”
„Es geht schon. Schließ nur deine Türe nicht ab.”
Ich ging zurück, an dem Schaffner vorbei, der mich ansah. Auf der nächsten Station stieg ich mit dem Hund aus und ging über den Bahnsteig am Schlafwagen vorbei bis zum nächsten Wagen. Hier wartete ich, bis der Schaffner ausstieg, um mit dem Zugführer zu schwätzen. Dann stieg ich wieder ein, ging durch den Wagen bis zu den Schlafwagenabteils und kam zu Pat, ohne dass mich jemand gesehen hatte.
Sie trug einen weichen, weißen Mantel und sah wunderschön aus. Ihre Augen glänzten. „Ich bin jetzt ganz darüber weg, Robby”, sagte sie.
„Das ist gut. Aber willst du dich nicht zu Bett le-gen? Es ist mächtig knapp hier. Ich setze mich dann zu dir.”
„Ja, aber – ”, sie zögerte und zeigte auf das obere Bett. „Wenn nun die Vorsteherin des Vereins für gefallene Mädchen plötzlich in der Tür steht – ”
„Bis Frankfurt ists noch lange”, sagte ich. „Ich passe schon auf. Ich schlafe nicht ein.”
Kurz vor Frankfurt ging ich in mein Abteil zurück. Ich setzte mich in die Fensterecke und versuchte zu schlafen.
Als ich aufwachte, war draußen alles weiß. Es schneite in großen Flocken und das Abteil war in ein seltsam unwirkliches Zwielicht getaucht. Wir fuhren schon durchs Gebirge. Es war fast neun Uhr. Ich dehnte mich und ging mich waschen und rasieren. Als ich zurückkam, stand Pat im Abteil. Sie sah frisch aus.
„Hast du gut geschlafen?” fragte ich.
Sie nickte.
„Und wie war die alte Spiritistin in deinem Abteil?”
„Jung und hübsch. Sie heißt Helga Guttmann und fährt ins selbe Sanatorium wie ich.”
Wir gingen zum Speisewagen. Ich war plötzlich guter Stimmung. Es schien alles nicht mehr so schlimm wie am Abend vorher.
Helga Guttmann saß schon da. Sie war ein schlankes, lebhaftes Mädchen von südlichem Typ. „Merkwürdig”, sagte ich, „dass sich das so getroffen hat mit demselben Sanatorium.”
„Gar nicht so merkwürdig”, erwiderte sie.
Ich sah sie an. Sie lachte. „Um diese Zeit sammeln sich doch die Zugvögel alle wieder. Drüben – ” sie zeigte in die Ecke des Speisewagens, „der ganze Tisch dort fährt auch hin.”
„Woher wissen Sie das?” fragte ich.
„Ich kenne sie alle vom vorigen Jahr. Da oben kennt doch jeder den andern.”
Wir kamen spät nachmittag an. Es war ganz klar geworden, die Sonne schien golden auf die Schneefelder und der Himmel war so blau, wie wir ihn seit Wochen nicht mehr gesehen hatten. Am Bahnhof warteten eine Menge Leute. Sie grüßten und winkten und aus dem Zuge winkten die Ankommenden zurück. Helga Guttmann wurde von einer lachenden, blonden Frau und zwei Männern in hellen Knickerbockers in Empfang genommen. Sie war ganz aufgeregt und wirbelig, so als wäre sie nach langer Abwesenheit nach Hause gekommen. „Auf Wiedersehen, nachher, oben!” rief sie uns zu und bestieg mit ihren Freunden einen Schlitten.
Die Leute zerstreuten sich rasch und wir standen ein paar Minuten später allein auf dem Bahnsteig. Ein Gepäcksträger trat zu uns heran.
„Welches Hotel?” fragte er. „Sanatorium Waldfrieden”, erwiderte ich. Er nickte und winkte einem Kutscher.
Wir stiegen ein. „Wollen Sie zur Drahtseilbahn oder mit dem Schlitten rauf?” fragte der Kutscher. „Wie weit ist es mit dem Schlitten?”
„Eine halbe Stunde.”
„Dann mit dem Schlitten.”
Der Kutscher schnalzte mit der Zunge und wir fuhren los. Es ging aus dem Dorf hinaus und dann in Kehren aufwärts. Das Sanatorium lag auf einer Anhöhe über dem Dorf. Es war ein langgestrecktes, weißes Gebäude mit langen Fensterreihen.
Wir meldeten uns im Büro. Ein Hausdiener holte unser Gepäck herein und eine ältere Dame erklärte uns, dass Pat Zimmer 79 habe. Ich fragte, ob ich für ein paar Tage ebenfalls ein Zimmer haben könne. Sie schüttelte den Kopf. „Nicht im Sanatorium. Wohl aber in der Dependance.”
„Wo ist die Dependance?”
„Gleich nebenan.”
„Gut”, sagte ich, „dann geben Sie mir dort ein Zimmer und lassen Sie mein Gepäck hinüber bringen.”
Wir fuhren in einem völlig geräuschlosen Lift zum zweiten Stock hinauf. Eine Oberschwester nahm uns in Empfang.
„Fräulein Hollmann?”
„Ja”, sagte Pat, „Zimmer 79, nicht wahr?”
Die Oberschwester nickte, ging voran und öffnete eine Tür.
„Hier ist Ihr Zimmer.”
Es war ein heller, mittelgroßer Raum, in den durch ein breites Fenster die Abendsonne schien. Auf dem Tisch stand ein Strauß gelber und roter Astern und draußen lagen die beglänzten Schneefelder, in die sich das Dorf wie eine große, weiche Decke schmiegte.
„Gefällt es dir?” fragte ich Pat.
Sie sah mich einen Augenblick an. „Ja”, sagte sie dann.
Der Hausknecht brachte die Koffer. „Wann muss ich zur Untersuchung?” fragte Pat die Schwester.
„Morgen vormittag. Heute abend gehen Sie am besten früh schlafen, damit Sie ausgeruht sind.”
Pat zog ihren Mantel aus und legte ihn auf das weiße Bett, über dem eine neue Fiebertafel angebracht war. „Ist kein Telefon im Zimmer?” fragte ich.
„Es ist ein Anschluss da”, sagte die Schwester. „Man kann ein Telefon hereinstellen.”
„Muss ich noch irgend etwas tun?” fragte Pat.
Die Schwester schüttelte den Kopf. „Heute nicht. Erst morgen nach der Untersuchung wird alles festgelegt. Die Untersuchung ist um zehn Uhr. Ich hole Sie ab.”
„Danke, Schwester”, sagte Pat.
Die Schwester ging. Der Hausknecht wartete noch an der Tür. Ich gab ihm ein Trinkgeld und er ging auch. Es wurde plötzlich sehr still im Zimmer. Pat stand am Fenster und sah hinaus. Ihr Kopf war ganz dunkel vor dem Glänzen draußen.
„Bist du müde?” fragte ich.
Sie drehte sich um. „Nein.”
„Du siehst so aus”, sagte ich.
„Ich bin anders müde, Robby. Aber dafür habe ich immer noch Zeit.”