Unser Taxi stand vor der Bar. Ich ging hinein, um Lenz abzulösen und mir den Schlüssel und die Papiere zu holen. Gottfried kam mit heraus. „Hast du gute Kasse gehabt?” fragte ich.
„Mäßig”, erwiderte er. „Entweder gibt es zu viel Taxis oder zu wenig Leute, die Taxi fahren. Wie wars denn bei dir?”
„Schlecht. Habe die ganze Nacht herumgestanden und nicht mal zwanzig Mark eingenommen.”
„Trübe Zeiten!” Gottfried zog die Brauen hoch. „Na, dann hast du’s ja wohl nicht so sehr eilig heute, was?”
„Nein, warum?”
„Kannst mich mal ein Stück mitnehmen.”
„Gut.” Wir stiegen ein. „Wo willst du denn hin?” fragte ich.
„Zum Dom.”
Ich hielt vor dem Hauptportal. „Weiter”, sagte Gottfried. „Ganz herum.”
Er ließ mich vor einem kleinen Eingang an der Rückseite halten und stieg aus. „Viel Vergnügen”, sagte ich. „Ich nehme an, dass du beichten willst.”
„Komm mal mit”, erwiderte er.
Ich lachte. „Heute nicht. Ich habe heute morgen schon gebetet. Das reicht bei mir für den ganzen Tag.”
„Rede keinen Unsinn, Baby! Komm mit. Ich will großmütig sein und dir was zeigen.”
Neugierig folgte ich ihm.
Gottfried zeigte auf ein paar mächtige weiße und rote Rosenbüsche. „Das wollte ich dir zeigen! Erkennst du sie wieder?”
Überrascht blieb ich stehen. „Natürlich erkenne ich sie wieder”, sagte ich. „Also hier hast du geerntet, du alter Kirchenräuber!”
Pat war vor einer Woche zu Frau Zalewski umgezogen und Lenz hatte ihr abends durch Jupp einen riesigen Strauß Rosen geschickt. Es war eine solche Menge gewesen, dass Jupp zweimal herunter musste und jedesmal mit beiden Armen voll wiederkam. Ich hatte mir schon den Kopf zerbrochen, wo Gottfried sie nur herhaben mochte, denn ich kannte sein Prinzip, Blumen niemals zu kaufen.
„Das ist eine Idee!” sagte ich anerkennend. „Darauf soll ein Mensch kommen!”
Gottfried schmunzelte. „Der Garten hier ist eine wahre Goldgrube!” Er legte mir feierlich die Hand auf die Schulter. „Hiermit nehme ich dich als Teilhaber auf! Denke, du kannst es gerade jetzt gut gebrauchen!”
Wir gingen durch den Garten. Die Rosen dufteten betäubend. Wie eine summende Wolke flogen Bienenschwärme von Blüte zu Blüte.
Ich setzte Gottfried ab und fuhr zum Stand zurück. Unterwegs kam ich am Friedhof vorbei. Ich wusste, dass Pat jetzt in ihrem Liegestuhl auf dem Balkon lag und hupte ein paarmal. Aber es zeigte sich nichts und ich fuhr weiter. Nachdenklich fuhr ich zum Stand und stellte mich in die Reihe der wartenden Taxis. Die Sonne brütete auf das Verdeck.
Ich stieg aus und ging nach vorn zu Gustavs Wagen. „Hier, trink mal”, forderte er mich auf und hielt mir eine Thermosflasche hin. „Wunderbar kalt! Eigene Erfindung! Kaffee mit Eis. Bleibt stundenlang so bei der Hitze. Ja, Gustav ist praktisch!”
Ich nahm einen Becher und trank ihn aus. „Wenn du so praktisch bist”, sagte ich, „dann erzähl mir doch mal, wie man einer Frau etwas Unterhaltung verschaffen kann, wenn sie viel allein ist.”
„So was Einfaches!” Gustav sah mich überlegen an. „Mensch Robert! Ein Kind oder ein Hund! Frag mich mal was Schwereres!”
„Ein Hund!” sagte ich überrascht, „verflucht ja, ein Hund! Da hast du recht! Mit einem Hund ist man nie allein!”
Ich bot ihm eine Zigarette an. „Hör mal, hast du zufällig eine Ahnung von sowas? So ein Köter muss doch jetzt billig zu kaufen sein.”
Gustav schüttelte vorwurfsvoll den Schädel. „Aber Robert, du weißt wahrhaftig noch gar nicht, was du an mir hast! Mein künftiger Schwiegervater ist doch zweiter Schriftführer vom Dobermannpinscherverein!
Ich erklärte Gustav, dass ein Dobermann nicht das Richtige sei. Er wäre mir zu groß und nicht zuverlässig im Charakter. Gustav überlegte nur kurz. „Komm mal mit”, sagte er. „Wollen mal spekulieren gehen. Ich weiß da was. Darfst mir nur nicht dazwischen reden.”
„Gut.”
Er führte mich zu einem kleinen Geschäft.
Ein krummbeiniger, kleiner Mann mit einer braunen Strickweste kam uns entgegen. Wässerige Augen, fahle Haut, ein Leuchtkolben als Nase: Bier- und Schnapstrinker.
Im Hintergrund des Ladens kläffte und winselte es. Gustav ging hinüber. Er brachte im Genick zwei kleine Terrier heran, links einen schwarzweißen, rechts einen rotbraunen. Unmerklich zuckte die Hand mit dem rotbraunen. Ich sah ihn an: ja.
Es war ein wunderschöner, spielerischer Hund. Die Beine gerade, der Körper quadratisch, der Kopf viereckig, klug und frech.
Wir machten ab, dass ich den Hund später holen sollte, wenn ich mit dem Taxifahren fertig war.
Kurz vor sechs Uhr fuhr ich in die Werkstatt zurück. Köster erwartete mich. „Jaffé hat heute nachmittag telefoniert. Du sollst ihn anrufen.”
Ich bekam einen Augenblick keinen Atem. „Hat er was gesagt, Otto?”
„Nein, nichts Besonderes. Nur dass er bis fünf in seiner Sprechstunde ist. Nachher im Dorotheenkrankenhaus. Du wirst also dort anrufen müssen.”
„Gut.”
Ich ging ins Büro. Es war warm und stickig, aber ich fror, und der Telefonhörer zitterte in meiner Hand. „Unsinn”, sagte ich und stützte den Arm fest auf den Tisch.
Es dauerte lange, bis ich Jaffé erreichte. „Haben Sie Zeit?” fragte er. „Ja.”
„Dann kommen Sie doch gleich hier heraus. Ich bin noch eine Stunde da.”
„Gut”, sagte ich, „in zehn Minuten bin ich da.”
Ich legte den Hörer auf und rief sofort zuhause an. Das Dienstmädchen war am Apparat. Ich fragte nach Pat. „Weiß nicht, ob sie da ist”, sagte Frida brummig.
„Will mal nachsehen.” Ich wartete. Mein Kopf war dick und heiß. Es dauerte endlos. Dann hörte ich ein Scharren und Pats Stimme. „Robby?” Ich schloss einen Moment die Augen. „Wie geht es, Pat?”
„Gut. Ich habe bis eben auf dem Balkon gesessen und gelesen. Ein aufregendes Buch.”
„So, ein aufregendes Buch”, sagte ich. „Das ist ja schön. Ich wollte dir nur sagen, dass ich heute ein bisschen später nach Hause komme. Bist du schon fertig mit deinem Buch?”
„Nein, ich bin mitten drin. Ein paar Stunden reicht es noch.”
„Bis dahin bin ich längst da. Und nun lies rasch weiter.” Ich blieb einen Augenblick sitzen. Dann stand ich auf. „Otto”, sagte ich, „kann ich Karl mal haben?”
„Natürlich. Wenn du willst, fahre ich mit. Ich habe hier nichts zu tun.”
„Ist nicht nötig. Es ist weiter nichts. Ich habe schon zuhause angerufen.”
Ich musste ein paar Minuten auf Jaffé warten. Eine Schwester führte mich in ein kleines Zimmer, in dem alte Zeitschriften umherlagen. Ein paar Blumentöpfe mit Rankengewächsen standen auf der Fensterbank.
Jaffé kam herein.
„Ich habe Ihnen versprochen, zu sagen, wie es mit Fräulein Hollmann steht”, sagte Jaffé. „Sie war vor zwei Jahren sechs Monate im Sanatorium. Wissen Sie das?”
„Nein”, sagte ich und sah weiter auf die Tischdecke.
„Es hatte sich danach gebessert. Ich habe sie jetzt genau untersucht. Sie muss diesen Winter unbedingt noch einmal hin. Sie kann nicht hier in der Stadt bleiben.”
„Wann muss sie fort?” fragte ich.
„Im Herbst. Spätestens Ende Oktober.”
„Es war also keine vorübergehende Blutung?”
„Nein.”
Ich hob die Augen. „Ich brauche Ihnen wohl nicht zu sagen”, fuhr Jaffé fort, „dass diese Krankheit ganz unberechenbar ist. Vor einem Jahr schien sie zu stehen, die Verkapselung war eingetreten und es war anzunehmen, dass sie geschlossen blieb. Ebenso, wie sie jetzt wieder aufgebrochen ist, kann sie überraschend wieder zum Stillstand kommen. Ich sage das nicht so daher, – es ist wirklich so. Ich selbst habe merkwürdige Heilungen erlebt.”
„Verschlimmerungen auch?”
Er sah mich an. „Das auch, natürlich.”
Er begann mir die Einzelheiten zu erklären. Beide Lungenflügel waren angegriffen, der rechte weniger, der linke stärker. Dann unterbrach er sich und klingelte nach der Schwester.
„Holen Sie einmal meine Mappe.”
Die Schwester brachte sie. Jaffé nahm zwei große Photographien heraus. Er zog die knisternden Umschläge herab und hielt sie gegen das Fenster. „So sehen Sie es besser. Hier haben wir die Röntgenbilder.”
Jaffé zeichnete mit der Pinzette einzelne Linien und Verfärbungen auf der Platte nach und erklärte sie. Schließlich wandte er sich mir zu. „Haben Sie es verstanden?”
„Ja”, sagte ich.
„Was ist denn?” fragte er.
„Nichts”, erwiderte ich. „Ich kann das nur nicht gut sehen.”
„Ach so.” Er rückte an seiner Brille. Dann schob er die Photographien wieder in die Hüllen zurück und musterte mich forschend. „Machen Sie sich keine unnützen Gedanken.”
„Das tue ich nicht. Aber es ist ein gottverdammtes Elend! Millionen Menschen sind gesund! Warum dieser eine nicht?”
Jaffé schwieg eine Weile.
„Darauf kann niemand eine Antwort geben”, sagte er dann.
„Ja”, erwiderte ich, plötzlich furchtbar erbittert und ganz taub vor Wut, „darauf kann niemand eine Antwort geben! Natürlich nicht! Auf das Elend und das Sterben kann niemand eine Antwort geben! Verflucht! Nicht einmal tun kann man etwas dagegen!”
Jaffé sah mich lange an. „Entschuldigen Sie”, sagte ich. „Aber ich kann mir nichts vormachen. Das ist das Verfluchte.”
„Vor neun Jahren starb meine Frau. Sie war fünfundzwanzig Jahre alt. Nie krank gewesen. Grippe.” Er schwieg einen Augenblick. „Sie verstehen, weshalb ich Ihnen das sage?”
Ich nickte wieder.
„Man kann nichts voraus wissen. Der Todkranke kann den Gesunden überleben. Das Leben ist eine sonderbare Angelegenheit.” Sein Gesicht war jetzt sehr faltig. Eine Schwester kam und flüsterte ihm etwas zu. Er reckte sich auf und nickte zum Operationssaal hinüber.
„Ich muss jetzt da hinein. Zeigen Sie Pat nicht, wenn Sie Sorge haben. Das ist das Wichtigste. Können Sie das?”
„Ja”, sagte ich.
Er gab mir die Hand und ging rasch mit der Schwester durch die Glastür in den kalkweiß erleuchteten Saal.
Ich blieb eine Zeitlang im Wagen sitzen und starrte vor mich hin. Dann nahm ich mich zusammen und fuhr zurück zur Werkstatt. Köster wartete auf mich vor dem Tor. Ich fuhr den Wagen in den Hof und stieg aus. „Wusstest du es schon?” fragte ich.
„Ja”, erwiderte er, „Aber Jaffé wollte es dir selber sagen.”
Ich nickte.
Köster sah mich an.
„Otto”, sagte ich, „ich bin kein Kind und weiß, dass noch nichts verloren ist. Aber es wird mir vielleicht doch schwer werden, mich heute abend nicht zu verraten, wenn ich mit Pat allein bleibe. Morgen geht es. Dann bin ich durch. Wollen wir heute alle zusammen irgendwohin gehen?”
„Selbstverständlich, Robby. Ich habe schon daran gedacht und Gottfried Bescheid gesagt.”
„Dann gib mir Karl noch einmal. Ich fahre nach Hause und hole erst Pat ab und dann, in einer Stunde, euch.”
„Gut.”
Ich fuhr los. In der Nikolaistraße fiel mir ein, dass ich den Hund vergessen hatte. Ich drehte um und fuhr zurück, um ihn zu holen.
Der Laden war nicht beleuchtet, aber die Tür war offen.
Der Terrier sprang mir entgegen, beschnupperte mich und leckte mir die Hand. Seine Augen schimmerten grün im schrägen Schein, der von der Straße hereinfiel.
Ich nahm den Hund, der sich warm an mich drängte, und ging. Geschmeidig, mit langen, weichen Bewegungen, lief er neben mir her zum Wagen.
Ich fuhr nach Hause und ging vorsichtig, den Hund an der Leine, hinauf. Auf dem Korridor blieb ich stehen und schaute in den Spiegel. Mein Gesicht war wie sonst. Ich klopfte an Pats Tür, öffnete sie ein wenig und ließ den Hund hinein.
„Mein Gott!” rief Pat. „Das ist ja ein irischer Terrier!”
„Alle Achtung!” sagte ich. „Vor ein paar Stunden habe ich das noch nicht gewusst.”
Sie beugte sich herunter und der Hund sprang stürmisch an ihr hoch.
„Wie heißt er denn, Robby?”
„Keine Ahnung. Wahrscheinlich Kognak oder Whisky oder so, nach seinem letzten Besitzer.”
„Gehört er uns?”
„Soweit ein lebendiges Wesen einem anderen gehören kann, ja.”
Sie war ganz atemlos vor Freude. „Wir werden ihn Billy nennen, Robby! Meine Mutter hatte einen als Mädchen. Sie hat mir oft davon erzählt. Er hieß auch Billy!”
„Dann habe ich es ja gut getroffen”, sagte ich.
„Pat”, sagte ich und nahm sie fest in die Arme, „es ist wunderbar, nach Hause zu kommen und dich hier zu finden. Es ist immer wieder eine Überraschung für mich. Wenn ich das letzte Stück der Treppe emporsteige und die Tür aufschließe, habe ich stets Herzklopfen, dass es nicht wahr sein könnte.”
Sie blickte mich lächelnd an. Sie antwortete fast nie, wenn ich ihr so etwas sagte. Sie bekam nur strahlende, glückliche Augen und damit sagte sie mehr als mit noch so vielen Worten.
Ich hielt sie lange fest, ich spürte die Wärme ihrer Haut und den leichten Duft ihres Haares, – ich hielt sie fest und es war nichts mehr da außer ihr, die Dunkelheit wich zurück, sie war da, sie lebte, sie atmete und nichts war verloren.
„Gehen wir wirklich fort, Robby?” fragte sie dicht an meinem Gesicht. „Alle zusammen sogar”, erwiderte ich, „Köster und Lenz auch. Karl steht schon vor der Tür.”
„Und Billy?”
„Billy kommt natürlich mit. Was sollen wir sonst mit dem Rest des Abendessens machen! Oder hast du schon gegessen?”
„Nein, noch nicht. Ich habe auf dich gewartet.”
„Du sollst aber nicht auf mich warten. Nie. Es ist schrecklich, auf etwas zu warten.”
Sie schüttelte den Kopf. „Das verstehst du nicht, Robby. Es ist nur schrecklich, nichts zu haben, auf das man warten kann.”
Sie knipste das Licht vor dem Spiegel an. „Jetzt muss ich aber anfangen, mich anzuziehen, sonst werde ich nicht fertig. Ziehst du dich auch an?”
„Später”, sagte ich. „ich bin ja rasch fertig. Lass mich noch etwas hierbleiben.”
Ich rief den Hund zu mir und setzte mich in den Sessel neben das Fenster. Ich liebte es, so still dazusitzen und Pat zuzusehen, während sie sich anzog.
Der frische Hauch des Abends wehte vom Friedhof durch das offene Fenster ins Zimmer. Ich saß still da, ich hatte nichts vergessen vom Nachmittag, ich wusste alles noch genau, – aber wenn ich zu Pat hinübersah, dann spürte ich, wie die dumpfe Traurigkeit, die wie ein Stein in mich heruntergesunken war, immer wieder überspült wurde von einer wilden Hoffnung, wie sie sich wandelte und sich seltsam damit vermischte, wie eines zum anderen wurde, die Traurigkeit, die Hoffnung, der Wind, der Abend und das schöne Mädchen zwischen den beglänzten Spiegeln und Leuchtern, ja, ich hatte einen Augenblick lang plötzlich das sonderbare Empfinden, als ob erst das wirklich und in einem sehr tiefen Sinne das Leben sei und vielleicht sogar das Glück: Liebe mit so viel Schwermut, Furcht und schweigendem Wissen.