Der Morgen stand hell und funkelnd über den Wiesen. Pat und ich saßen am Rande einer Waldlichtung und frühstückten. Ich hatte mir zwei Wochen Urlaub genommen und war mit Pat unterwegs. Wir wollten ans Meer.
Vor uns auf der Straße stand ein kleiner, alter Citroen. Wir hatten ihn in Zahlung genommen gegen den Ford des Bäckermeisters und Köster hatte ihn mir mitgegeben für die Zeit des Urlaubs. Er sah aus wie ein geduldiger Packesel, so beladen war er mit Koffern.
Wir lagen eine Zeitlang nebeneinander in der Wiese. Der Wind kam warm und weich vom Walde her. Es roch nach Harz und Kräutern.
Aus den Tannen rief ein Kuckuck. Pat fing an, mitzuzählen. „Wozu machst du das?” fragte ich.
„Weißt du das nicht? So oft er ruft, so viele Jahre lebt man noch.”
„Ach so, ja. Aber da gibt es noch etwas anderes. Wenn ein Kuckuck ruft, muss man sein Geld schütteln. Dann vermehrt es sich.”
Ich holte mein Kleingeld aus der Tasche und schüttelte es kräftig zwischen den hohlen Händen.
„Das bist du”, sagte Pat und lachte. „Ich will Leben und du willst Geld.”
„Um zu leben”, erwiderte ich. „Ein echter Idealist strebt nach Geld. Geld ist gemünzte Freiheit. Und Freiheit ist Leben.”
„Vierzehn”, zählte Pat. „Du hast schon mal anders darüber gesprochen.”
„Das war in meiner dunklen Zeit. Man sollte über Geld nicht verächtlich reden. Geld macht viele Frauen sogar verliebt. Die Liebe dagegen macht viele Männer geldgierig. Geld fördert also die Ideale, – Liebe dagegen den Materialismus.”
Ich steckte mein Geld wieder in die Tasche und zündete mir eine Zigarette an. „Willst du noch nicht bald mit dem Zählen aufhören?” fragte ich. „Du kommst ja schon weit über siebzig Jahre.”
„Hundert, Robby! Hundert ist eine gute Zahl. So weit möchte ich kommen.”
„Alle Achtung, das ist Mut! Aber was willst du nur damit anfangen?” Sie streifte mich mit einem raschen Blick. „Das werde ich schon sehen. Ich habe ja andere Ansichten darüber als du.”
„Das sicher. Übrigens sollen nur die ersten siebzig die schwierigsten sein. Nachher solls einfacher werden.”
„Hundert!” verkündete Pat und wir brachen auf.
Das Meer kam uns entgegen wie ein ungeheures, silbernes Segel. Schon lange vorher spürten wir seinen salzigen Hauch; – der Horizont wurde immer weiter und heller und plötzlich lag es vor uns, unruhig, mächtig und ohne Ende.
Die Straße führte in einem Bogen bis dicht heran. Dann kam ein Wald und hinter ihm ein Dorf. Wir erkundigten uns nach dem Hause, wo wir wohnen sollten. Es lag ein Stück außerhalb des Dorfes. Köster hatte uns die Adresse gegeben. Er war nach dem Kriege ein Jahr lang dort gewesen.
Es war eine kleine, alleinstehende Villa. Ich fuhr den Citroen in elegantem Bogen vor und gab Signal. Ein breites Gesicht erschien hinter einem der Fenster, glotzte bleich einen Augenblick und verschwand. „Hoffentlich ist das nicht Fräulein Müller”, sagte ich.
„Ganz egal, wie sie aussieht”, erwiderte Pat.
Die Tür öffnete sich. Gottlob, es war nicht Fräulein Müller. Es war das Dienstmädchen. Fräulein Müller, die Besitzerin des Hauses, erschien eine Minute später. Eine altjüngferliche, zierliche Dame mit grauen Haaren. Sie trug ein hochgeschlossenes, schwarzes Kleid und ein goldenes Kreuz als Brosche.
„Ich glaube, Herr Köster hat uns schon angemeldet”, sagte ich.
„Ja, er hat mir telegraphiert, dass Sie kommen.” Sie musterte mich eingehend. „Wie geht es Herrn Köster denn?”
„Ach, ganz gut, – soweit man das heute sagen kann.” Sie nickte und musterte mich weiter. „Kennen Sie ihn schon lange?”
Das wird ja ein Examen, dachte ich und gab Auskunft, wie lange ich Otto schon kannte.
„Wenn Herr Köster telegraphiert, bekommen Sie immer ein Zimmer”, erklärte Fräulein Müller und sah mich etwas abfällig an. „Sie bekommen sogar mein schönstes”, sagte sie zu Pat.
Das Zimmer, das sie uns zeigte, lag im unteren Stock. Es hatte einen eigenen Eingang vom Garten her. Das gefiel mir sehr. Es war ziemlich groß, hell und freundlich. An einer Seite, in einer Art von Nische, standen zwei Betten. „Nun?” fragte Fräulein Müller.
„Sehr schön”, sagte Pat. „Prachtvoll sogar”, fügte ich hinzu, um mich einzuschmeicheln. „Und wo ist das andere?”
Fräulein Müller drehte sich langsam zu mir herum. „Das andere? Was für ein anderes? Wollen Sie denn ein anderes? Gefällt Ihnen dieses nicht?”
Ich wollte ihr gerade erklären, dass wir zwei Einzelzimmer brauchten, da fügte sie schon hinzu: „Ihre Frau findet es doch sehr schön – ”
Ihre Frau – ich hatte das Gefühl, als wäre ich einen Schritt zurückgetreten. Aber ich hatte mich nicht von der Stelle gerührt. Vorsichtig warf ich einen Blick auf Pat, die am Fenster lehnte und ein Lachen unterdrückte, als sie mich so dastehen sah.
„Meine Frau, gewiss – ” sagte ich und starrte auf das goldene Kreuz an Fräulein Müllers Hals. Es war nichts zu machen, ich durfte sie nicht aufklären.
Missbilligend schüttelte Fräulein Müller den Kopf. „Zwei Schlafzimmer, wenn man verheiratet ist – das sind so neue Moden – ”
„Gar nicht”, sagte ich, bevor sie misstrauisch werden konnte. „Meine Frau hat nur einen sehr leisen Schlaf. Und ich schnarche leider ziemlich laut.”
„Ach so, Sie schnarchen!” erwiderte Fräulein Müller, als hätte sie sich das längst denken können.
Sie öffnete die Tür zu einem kleinen Zimmer nebenan, in dem nicht viel mehr als ein Bett stand.
„Großartig”, sagte ich, „das genügt vollkommen. Aber störe ich auch niemanden sonst?” Ich wollte wissen, ob wir hier unten für uns allein waren.
„Sie stören niemand”, erklärte Fräulein Müller und die Würde fiel plötzlich von ihr ab. „Außer Ihnen wohnt niemand hier. Die anderen Zimmer sind alle leer.” Sie stand einen Augenblick, dann raffte sie sich zusammen. „Wollen Sie hier im Zimmer essen oder im Speisezimmer?”
„Hier”, sagte ich. Sie nickte und ging.
Ich war eine Stunde geschwommen und lag am Strande in der Sonne. Pat war noch im Wasser. Ihre weiße Badekappe tauchte ab und zu zwischen dem blauen Schwall der Wellen auf.
Das Geräusch der schwachen Brandung rauschte mir in den Ohren. Es erinnerte mich an etwas, an einen Tag, wo ich ebenso gelegen hatte —
Es war im Sommer 1917 gewesen. Unsere Kompanie lag damals in Flandern und wir hatten unverhofft ein paar Tage Urlaub nach Ostende bekommen, Meyer, Holthoff, Breyer, Lütgens, ich und noch einige andere. Die meisten von uns waren noch nie am Meere gewesen und diese wenigen Tage, diese fast unbegreifliche Pause zwischen Tod und Tod, wurden zu einer wilden Hingabe an Sonne, Sand und Meer. Ein paar Tage später begann dann die große Offensive und schon am dritten Juli hatte die Kompanie nur noch zweiunddreißig Mann und Meyer, Holthoff und Lütgens waren tot.
„Robby!” rief Pat.
Ich öffnete die Augen. Einen Moment musste ich mich besinnen, wo ich war. Immer, wenn Erinnerungen aus dem Kriege kamen, war man gleich weit weg.
Ich richtete mich auf. Pat kam aus dem Wasser.
Ich sprang auf, so unwirklich, so wie aus einer anderen Welt erschien mir gerade jetzt dieses Bild, – der weite, blaue Himmel, die weißen Schaumreihen des Meeres und die schöne, schmale Gestalt davor, – als wäre ich allein auf der Welt und aus dem Wasser schritte die erste Frau herauf.
„Robby!” rief Pat noch einmal und winkte.
Ich griff ihren Bademantel vom Boden auf und ging ihr rasch entgegen. „Du bist viel zu lange im Wasser gewesen”, sagte ich.
„Ich bin ganz warm”, erwiderte sie atemlos.
Ich küsste sie auf die feuchte Schulter. „Anfangs musst du etwas vernünftiger sein.”
Sie schüttelte den Kopf und sah mich strahlend an. „Ich bin lange genug vernünftig gewesen.”
„So?”
„Natürlich. Viel zu lange! Ich will endlich einmal unvernünftig sein!”
„Gut”, sagte ich und nahm das Frottiertuch. „Zunächst will ich dich mal trocken reiben. Woher bist du eigentlich schon so braun?”
Sie zog den Bademantel an. „Das stammt noch aus meinem vernünftigen Jahr. Da musste ich jeden Tag auf dem Balkon eine Stunde in der Sonne liegen. Und abends um acht Uhr schlafen gehen. Heute abend gehe ich um acht Uhr noch einmal baden.”
Mit dem Baden abends wurde es nichts. Wir machten noch einen Gang zum Dorf und eine Fahrt mit dem Citroen durch die Dämmerung, – dann wurde Pat plötzlich sehr müde und verlangte nach Hause.
„Fahren wir nach Hause, Robby”, sagte sie und ihre dunkle Stimme war noch tiefer als sonst.
Frau Müller erwartete uns bereits.
Sie war bedeutend freundlicher als nachmittags und fragte, ob es recht sei, dass sie als Abendessen Eier, kaltes Fleisch und geräucherten Fisch vorbereitet habe.
„Gefällt es Ihnen nicht? Es sind ganz frisch geräucherte Flundern.” Sie schaute mich etwas ängstlich an.
„Gewiss”, sagte ich kühl.
„Frisch geräucherte Flundern müssen herrlich schmecken”, erklärte Pat und blickte vorwurfsvoll zu mir herüber. „Ein richtiges Nachtessen, wie man es sich nur wünschen kann am ersten Tag an der See, Fräulein Müller. Wenn es noch ordentlich heißen Tee dazu gäbe – ”
„Doch, doch! Ganz heißen Tee! Gern! Ich lasse alles gleich bringen.” Fräulein Müller raschelte erleichtert eilig in ihrem Seidenkleid davon.
Das Dienstmädchen kam mit dem Tablett. Die Flundern hatten eine Haut wie Goldtopas und rochen wunderbar nach See und Rauch. Es waren auch noch frische Garnelen dabei.
„Welch ein Glück, Pat, dass wir weitsichtige Freunde haben”, sagte ich. „Lenz hat mir da heute morgen noch rasch beim Wegfahren ein ziemlich schweres Paket in den Wagen gestopft. Wollen mal nachsehen, was drin ist.”
Ich holte das Paket aus dem Wagen. Es war eine kleine Kiste mit zwei Flaschen Rum, einer Flasche Kognak und einer Flasche Portwein. Ich hob sie hoch. „St. James-Rum sogar! Auf die Jungen kann man sich verlassen!”
Ich korkte die Flasche auf und goss Pat einen guten Schuss in den Tee. Dabei sah ich, dass ihre Hand etwas zitterte. „Friert dich wirklich so?” fragte ich.
„Nur einen Augenblick. Jetzt ist es schon besser. Der Rum ist gut. Aber ich geh bald zu Bett.”
„Tu das gleich, Pat”, sagte ich, „wir schieben den Tisch dann heran und essen so.”
Sie ließ sich überreden.
Ich sah zu Pat hinüber. Zart und schmal und zerbrechlich lag ihr Kopf mit dem dunklen Haar auf den weißen Kissen. Sie hatte nicht viel Kraft, – aber auch sie hatte das Geheimnis des Zerbrechlichen, das Geheimnis der Blumen in der Dämmerung und im schwebenden Licht des Mondes.
Sie richtete sich ein wenig auf. „Ich bin wirklich sehr müde, Robby. Ist das schlimm?”
Ich setzte mich zu ihr an das Bett. „Gar nicht. Du wirst gut schlafen.”
„Aber du willst doch noch nicht schlafen.”
„Ich gehe dann noch etwas an den Strand.”
Sie nickte und legte sich zurück. Ich blieb noch eine Weile sitzen. „Lass die Tür über Nacht offen”, sagte sie schlaftrunken. „Das ist, als ob man im Garten schläft – ”
Ich ging zum Strand hinunter, zum Meer und zum Wind, zu dem dumpfen Brausen, das wie ferner Kanonendonner heraufscholl.