Книга: Das doppelte Lottchen / Близнецы. Книга для чтения на немецком языке
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Viertes Kapitel

Die Ferien gehen dem Ende zu. In den Schränken sind die Stapel frischer Wäsche zusammengeschmolzen. Die Betrübnis, das Kinderheim bald verlassen zu müssen, und die Freude aufs Zuhause wachsen gleichmäßig.

Frau Muthesius plant ein kleines Abschiedsfest. Der Vater eines der Mädchen, dem ein Kaufhaus gehört, hat eine große Kiste Lampions, Girlanden und viele andere Dinge geschickt. Nun sind die Helferinnen und die Kinder eifrig dabei, die Veranda und den Garten schön zu schmücken. Sie schleppen Küchenleitern von Baum zu Baum, hängen bunte Laternen ins Laub, schlingen Girlanden von Zweig zu Zweig und bereiten auf einem langen Tisch eine Tombola vor. Andere schreiben auf kleine Zettel Losnummern. Der Hauptgewinn: ein Paar Rollschuhe! „Wo sind eigentlich die Locken und die Zöpfe?“, fragt Fräulein Ulrike. (So nennt man neuerdings Luise und Lotte.)

„Oh, die!“, meint Monika abfällig. „Die werden wieder irgendwo im Gras sitzen und sich an den Händen halten, damit der Wind sie nicht auseinander weht!“



Die Zwillinge sitzen nicht irgendwo im Gras, sondern im Garten. Sie halten sich auch nicht an den Händen – dazu haben sie keine Zeit —, sondern haben Heftchen vor sich liegen, halten Bleistifte in der Hand, und im Augenblick diktiert Lotte gerade der emsig kritzelnden Luise: „Am liebsten mag Mutti Nudelsuppe mit Rindfleisch. Das Rindfleisch holst du beim Metzger Huber.“

Luise hebt den Kopf. „Metzger Huber, Max-Emanuel-Straße, Ecke Prinz-Eugen-Straße“, murmelt sie.

Lotte nickt befriedigt. „Das Kochbuch steht im Küchenschrank, im untersten Fach ganz links. Und in dem Buch liegen alle Rezepte, die ich kann.“

Luise notiert: „Kochbuch… Küchenschrank… unteres Fach… ganz links…“ Dann stützt sie die Arme auf und meint: „Vor dem Kochen hab ich eine Heidenangst! Aber wenn’s in den ersten Tagen schief geht, kann ich vielleicht sagen, ich hätt’s in den Ferien verlernt.“





Lotte nickt zögernd. „Außerdem kannst du mir ja gleich schreiben, wenn etwas nicht klappt. Ich gehe jeden Tag aufs Postamt und frage, ob etwas angekommen ist.“

„Ich auch“, meint Luise. „Schreib nur recht oft! Und iss tüchtig im lmperial! Vati freut sich immer so, wenn es mir schmeckt!“

„Zu dumm“, dass ausgerechnet gefüllter Eierkuchen dein Lieblingsgericht ist!“, murrt Lottchen. „Na, da kann eben nichts helfen! Aber Kalbsschnitzel und Gulasch wären mir lieber!“

„Wenn du gleich den ersten Tag drei Eierkuchen isst, oder vier oder fünf, kannst du hinterher sagen, du hast dich fürs ganze weitere Leben daran überfressen“, schlägt Luise vor.

„Das geht“, antwortet die Schwester, obwohl sich ihr bereits bei dem bloßen Gedanken an fünf Eierkuchen der Magen umdreht. Sie macht sich nun einmal nichts daraus!

Dann beugen sich beide wieder über ihre Heftchen und hören einander wechselseitig die Namen der Mitschülerinnen, die Sitzordnung in der Klasse, die Gewohnheiten der Lehrerin und den genauen Schulweg ab.

„Mit dem Schulweg hast du’s leichter als ich“, meint Luise. „Du sagst Trude ganz einfach, sie soll dich am ersten Tag abholen! Das macht sie manchmal. Na, und da läufst du dann ganz gemütlich neben ihr her und merkst dir die Straßenecken und den übrigen Palawatsch!“

Lotte nickt. Plötzlich erschrickt sie. „Das hab ich noch gar nicht gesagt – vergiss ja nicht, Mutti, wenn sie dich zu Bett bringt, einen Gutenachtkuss zu geben!“

Luise blickt vor sich hin. „Das brauch ich mir nicht aufzuschreiben. Das vergesse ich bestimmt nicht!“





Merkt ihr, was sich anspinnt? Die Zwillinge wollen den Eltern noch immer nicht erzählen, dass sie Bescheid wissen. Sie wollen Vater und Mutter nicht vor Entscheidungen stellen. Sie ahnen, dass sie kein Recht darauf haben. Und sie fürchten, die Entschlüsse der Eltern könnten das junge Geschwisterglück sofort und endgültig wieder zerstören. Aber das andere brächten sie erst recht nicht übers Herz: als wäre nichts geschehen, zurückzufahren, woher sie gekommen sind! Weiterzuleben in der ihnen von den Eltern ungefragt zugewiesenen Hälfte! Nein! Kurz und gut, es ist eine Verschwörung im Gange! Der von Sehnsucht und Abenteuerlust geweckte, fantastische Plan sieht so aus: Die beiden wollen Kleider, Frisuren, Koffer, Schürzen und Existenzen tauschen! Luise will, mit braven Zöpfen, als sei sie Lotte, zur Mutter, von der sie nichts als eine Fotografie kennt, „heimkehren“! Und Lotte wird, mit offenem Haar, lustig und lebhaft, wie sie’s nur vermag, zum Vater nach Wien fahren!

Die Vorbereitungen auf die zukünftigen Abenteuer waren gründlich. Die Hefte sind randvoll von Notizen. Man wird einander postlagernd schreiben, wenn wichtige unvorhergesehene Ereignisse eintreten sollten.

Vielleicht wird es ihnen gelingen zu enträtseln, warum die Eltern getrennt leben? Und vielleicht werden sie dann, eines schönen, eines wunderschönen Tages miteinander und mit beiden Eltern – doch so weit wagen sie nicht zu denken, geschweige denn, darüber zu sprechen.





Das Gartenfest am Vorabend der Abreise ist als Generalprobe gesehen. Lotte kommt als lockige, lebhafte Luise. Luise erscheint als brave, bezopfte Lotte. Und beide spielen ihre Rollen ausgezeichnet. Es macht beiden einen Mordsspaß, einander laut beim eigenen Vornamen zu rufen. Lotte schlägt vor Übermut Purzelbäume, und Luise tut so sanft und still, als könne sie kein Wässerchen trüben.

Die Lampions schimmern in den Sommerbäumen. Die Girlanden schaukeln im Abendwind. Das Fest und die Ferien gehen zu Ende. An der Tombola werden Gewinne verteilt. Steffie gewinnt den ersten Preis, die Rollschuhe. (Besser ein schwacher Trost als gar keiner!)

Die Schwestern schlafen schließlich, ihren Rollen treu, in den vertauschten Betten und träumen vor Aufregung wilde Dinge. Lotte beispielsweise wird in Wien am Bahnsteig von einer überlebensgroßen Fotografie ihres Vaters abgeholt, und daneben steht ein Hotelkoch mit einem Schubkarren voll dampfender Eierkuchen – brr!





Am nächsten Morgen, in aller Herrgottsfrühe, fahren in der Bahnstation Egern, bei Seebühl am Bühlsee zwei aus entgegengesetzten Richtungen kommende Züge ein. Dutzende kleiner Mädchen klettern in die Abteile. Lotte beugt sich weit aus dem Fenster. Aus einem Fenster des anderen Zuges winkt Luise. Sie lächeln einander Mut zu. Die Herzen klopfen. Das Lampenfieber wächst. Wenn jetzt nicht die Lokomotiven zischten und spuckten, würden die kleinen Mädchen vielleicht im letzten Moment doch noch …

Aber nein, der Fahrplan hat das Wort. Der Stationsvorsteher hebt sein Szepter. Die Züge setzen sich gleichzeitig in Bewegung. Kinderhände winken.

Lotte fährt als Luise nach Wien. Und Luise als Lotte nach München.





Aufgaben

Ist das richtig?

1.Die Ferien sind noch lange nicht zu Ende.

2.Die Ferien gehen dem Ende zu.

3.Man nennt Luise und Lotte scherzlich Locken und Zöpfe.

4.Luise und Lotte haben den Plan, die Rollen auszutauschen.

5.Die Kinder wollen den Eltern nicht erzählen, dass sie Bescheid wissen.

6.Die Mädchen tauschen verschiedene Informationen aus. Lottes Lieblingsgericht ist Eierkuchen. Luise mag Eierkuchen nicht. Schnitzel oder Gulasch wären ihr lieber.

7.Das Abschiedsfest macht den Mädchen Spaß.

8.Lotte fährt als Luise nach Wien.

9.Luise fährt als Lotte zur Mutter nach München.

10.Die Mädchen haben keine Angst.





Übersetzen Sie:

1. Die Kinder wissen Bescheid, dass sie Zwillinge sind.

2.Luises Liebligsgericht ist Eierkuchen. Lotte mag Eierkuchen nicht.

3.Luise erscheint am Abschiedstag als brave, bezopfte Lotte.

4.Lotte erscheint als lockige Luise. Sie schlägt Purzelbäume vor Übermut.

5.Den beiden macht es Mordsspaß.

6.Sie schlafen in vertauschten Betten.





Wie heißt auf Deutsch:

любимое блюдо, омлет, заговор, прощальный вечер, генеральная репетиция, меняться ролями, обмениваться информацией, появляться в роли /под видом /как, доставлять удовольствие, доставлять огромное удовольствие





Nacherzählung:

1.Die Leiterin plant ein Abschiedsfest.

2.Die Verschwörung im Gange.

3.Die geheimnisvollen Hefte mit vielen Notizen.

4.Das Gartenfest als Generalprobe.

5.Abschied von Seebühl.

Fünftes Kapitel



München. Hauptbahnhof, Bahnsteig 16. Die Lokomotive steht still und ringt nach Luft. In dem Strom der Reisenden haben sich Inseln des Wiedersehens gebildet. Kleine Mädchen umhalsen ihre strahlenden Eltern. Man vergisst, dass man ja erst auf dem Bahnhof und gar nicht daheim ist!

Allmählich wird der Bahnsteig leer. Und zum Schluss steht nur noch ein einziges Kind, ein Kind mit Zöpfen und Zopfschleifen. Bis gestern trug es Locken. Bis gestern hieß es Luise Palfy.

Das kleine Mädchen hockt sich schließlich auf den Koffer und beißt die Zähne fest zusammen. Im Bahnhof einer fremden Stadt auf seine Mutter zu warten, die man nur als Fotografie kennt und die nicht kommt, das ist kein Kinderspiel!

Frau Luiselotte Palfy, geborene Körner, die sich seit sechseinhalb Jahren (seit ihrer Scheidung) wieder Luiselotte Körner nennt, ist im Verlag der „Münchner Illustrierte“ als Bildredakteurin tätig. Heute ist sie durch neu eingetroffenes Material für die aktuellen Seiten aufgehalten worden.







Endlich hat sie ein Taxi gefunden. Endlich hat sie im Dauerlauf Bahnsteig 16 erreicht.

Der Bahnsteig ist leer.

Nein! Ganz, ganz hinten sitzt ein Kind auf einem Koffer! Die junge Frau rast wie die Feuerwehr den Bahnsteig entlang!

Einem kleinen Mädchen, das auf einem Koffer hockt, zittern die Knie. Ein ungeahntes Gefühl ergreift das Kinderherz. Diese junge, glückstrahlende, diese lebendige Frau ist ja die Mutti.

„Mutti!“

Luise stürzt der Frau entgegen und springt ihr, Arme hochwerfend, an den Hals.

„Mein Hausmütterchen“, flüstert die junge Frau unter Tränen. „Endlich, endlich habe ich dich wieder!“

Der kleine Kindermund küsst leidenschaftlich ihr Gesicht, ihre zärtlichen Augen, ihre Lippen, ihr Haar, ihr schickes Hütchen. Ja, das Hütchen auch!





Sowohl im Restaurant als auch in der Küche des Hotels Imperial in Wien herrscht Aufregung. Der Liebling der Stammgäste und der Angestellten, die Tochter des Opernkapellmeisters Palfy, ist wieder da! Lotte, Pardon, Luise sitzt, wie es alle gewohnt sind, auf einem Stuhl mit den zwei hohen Kissen und isst mit Todesverachtung Eierkuchen. Die Stammgäste kommen, einer nach dem andern zum Tisch, streichen dem kleinen Mädchen über die Locken, klopfen ihm zärtlich die Schultern, fragen, wie es ihm im Ferienheim gefallen hat, meinen, in Wien beim Papa sei es aber doch wohl am schönsten, legen Geschenke auf den Tisch: Schokolade, Buntstifte, ja, einer holt sogar ein kleines altmodisches Nähzeug aus der Tasche und sagt verlegen, es sei noch von seiner Großmutter – dann nicken sie dem Kapellmeister zu und wandern an ihre Tische zurück. Heute wird ihnen das Essen endlich wieder richtig schmecken, den einsamen Onkels!

Am besten schmeckt’s freilich dem Herrn Kapellmeister selber. Ihm, der immer aufs Einsamseinmüssen aller „wahren Künstlernatu-ren“ so viel Wert legt und der seine Ehe stets für einen Fehler gehalten hat, ihm ist heute höchst warm ums Herz. Und als die Tochter schüchtern lächelnd seine Hand ergreift, als habe sie Angst, der Vater könne ihr sonst womöglich davonlaufen, da hat er einen Kloß im Hals!

Ach, und da kommt der Kellner Franz schon wieder mit einem neuen Eierkuchen!

Lotte schüttelt die Locken, „Ich kann nicht mehr, Herr Franz!“

„Aber Luiserl!“, meint der Kellner vorwurfsvoll. „Es ist doch erst der fünfte!“







Nachdem der Herr Franz leicht bekümmert mit dem fünften Eierkuchen in die Küche zurückgegangen ist, nimmt sich Lotte ein Herz und sagt: „Weißt du, Vati – ab morgen esse ich immer das, was du isst!“

„Nanu!“, ruft der Herr Kapellmeister. „Und wenn ich nun Geselchtes esse? Das kannst du doch nicht ausstehen! Da wird dir doch übel!“

„Wenn du Geselchtes isst“, meint sie zerknirscht „kann ich ja wieder Eierkuchen essen. „ (Es ist nicht ganz so einfach, seine eigene Schwester zu sein!) Und nun?

Und nun erscheint Herr Strobl mit Peperl. Peperl ist ein Hund. „Schau, Peperl“, sagt Herr Strobl, „wer wieder da ist! Geh hin und sag dem Luiserl grüß Gott!“

Peperl wedelt mit dem Schwanz und trabt eifrig an den Tisch, um dem Luiserl, seiner alten Freundin, grüß Gott zu sagen.







Als Peperl am Tisch angekommen ist, beschnuppert er das kleine Mädchen und zieht sich, ohne grüß Gott, eiligst zum Herrn Strobl zurück. „So ein blödes Viech!“, bemerkt dieser. „Erkennt seine beste Freundin nicht wieder! Bloß weil sie ein paar Wochen am Land war. Und da reden die Leute immer vom untrüglichen Instinkt der Tiere!“ Lottchen aber denkt bei sich: „Ein Glück, dass die Hofräte nicht so gescheit wie der Peperl sind!“

Der Herr Kapellmeister und seine Tochter sind mit den Geschenken der Stammgäste, dem Koffer, der Puppe und der Badetasche zu Haus in der Rotenturmstraße eingetroffen. Und Resi, Palfys Haushälterin ist außer sich vor Freude.

Aber Lotte weiß von Luise, dass Resi eine falsche Person und ihr Getue Theater ist. Vater merkt natürlich nichts. Die Männer merken nie etwas!

Er fischt ein Billett aus der Brieftasche, gibt es der Tochter und sagt: „Heute Abend dirigiere ich Humperdinks „Hänsel und Gretel“. Resi bringt dich ins Theater und holt dich nach Schluss wieder ab.“

„Oh!“ Lotte strahlt. „Kann ich dich von meinem Platz aus sehen?“

„Freilich.“

„Und guckst du manchmal zu mir hin?“

„Na selbstverständlich!“

„Und darf ich ein bisschen winken, wenn du guckst?“

„Ich werde sogar zurückwinken, Luiserl!“

Dann klingelt das Telefon. Am anderen Ende redet eine weibliche Stimme. Der Vater antwortet ziemlich einsilbig. Aber als er den Hörer aufgelegt hat, hat er es dann plötzlich eilig. Er muss noch ein paar Stunden allein sein, ja, und komponieren. Denn schließlich ist er nicht nur Kapellmeister, sondern auch Komponist. Und komponieren kann er nun einmal nicht zu Hause. Nein, dafür hat er sein Atelier in der Ringstraße. Also …







„Morgen Mittag auf Wiedersehen im lmperial!“ „Und ich darf dir in der Oper zuwinken, Vati?“ „Natürlich, Kind. Warum denn nicht?“

Kuss auf die ernste Kinderstirn! Hut auf den Künstlerkopf! Die Tür schlägt zu.

Das kleine Mädchen geht langsam zum Fenster und denkt bekümmert über das Leben nach. Die Mutter darf nicht zu Hause arbeiten. Der Vater kann nicht zu Hause arbeiten.

Man hat es schwer mit den Eltern!

Aber da sie dank der mütterlichen Erziehung ein resolutes und praktisches Persönchen ist, gibt sie bald das Nachdenken auf, nimmt das Heft mit Luises Angaben und beginnt systematisch, Zimmer für Zimmer, die schöne Altwiener Wohnung für sich zu entdecken.

Nachdem sie die Forschungsreise hinter sich hat, setzt sie sich aus alter Gewohnheit an den Küchentisch und rechnet in dem herumliegenden Haushaltsbuch die Ausgabenspalten durch.

Dabei fällt ihr zweierlei auf. Erstens hat sich Resi, die Haushälterin, auf fast jeder Seite verrechnet. Und zweitens hat sie das jedes Mal zu ihren Gunsten getan!

„Ja, was soll denn das heißen?“ Resi steht in der Küchentür. „Ich habe in deinem Buch nachgerechnet“, sagt Lotte leise, aber bestimmt.

„Was sind denn das für neue Moden?“, fragt Resi böse. „Rechne du in der Schule, wo’s hingehört!“ „Ich werde jetzt immer bei dir nachrechnen“, erklärt das Kind sanft und hüpft vom Küchenstuhl. „Wir lernen in der Schule, aber nicht für die Schule, hat die Lehrerin gesagt.“ Damit stolziert sie aus der Tür.

Resi starrt verblüfft hinterdrein.







Liebe kleinere und größere Leserinnen und Leser! Jetzt wird es, glaube und fürchte ich, allmählich Zeit, dass ich auch ein wenig von Luises und Lottes Eltern berichte, vor allem darüber, wie es seinerzeit zu der Scheidung zwischen ihnen kam. Wenn euch an dieser Stelle des Buches ein Erwachsener über die Schulter blickt und ruft: „Dieser Mensch! Wie kann er nur, um alles in der Welt, solche Sachen den Kindern erzählen!“, dann lest ihm, bitte, das Folgende vor:

„Als Shirley Temple ein kleines Mädchen von sieben, acht Jahren war, war sie doch schon ein auf der ganzen Erde berühmter Filmstar, und die Firmen verdienten viele Millionen Dollar mit ihr. Wenn Shirley aber mit ihrer Mutter in ein Kino gehen wollte, um sich einen Shirley-Temple-Film anzuschauen, ließ man sie nicht hinein. Sie war noch zu jung. Es war verboten. Sie durfte nur Filme drehen. Das war erlaubt. Dafür war sie alt genug.“

Wenn der Erwachsene, der euch über die Schulter guckt, das Beispiel von Shirley Temple und den Zusammenhang mit Luises und Lottes Eltern und ihrer Scheidung nicht verstanden hat, dann richtet ihm einen schönen Gruß von mir aus und ich ließe ihm sagen: es gibt auf der Welt sehr viele geschiedene Eltern, und es gibt sehr viele Kinder, die darunter litten! Und es gibt sehr viele andere Kinder, die darunter litten, dass die Eltern sich nicht scheiden ließen! Wenn es so ist, so halte ich für richtig, mit Kindern darüber in verständlicher Form zu sprechen!

Also, der Herr Kapellmeister Ludwig Palfy ist ein Künstler, und die Künstler sind bekanntlich seltsame Lebewesen. Er trägt zwar keine flatternden Krawatten, im Gegenteil, er ist ganz manierlich gekleidet, sauber und beinahe elegant.

Aber sein Innenleben! Das ist kompliziert! Oh! Wenn er einen musikalischen Einfall hat, muss er, um ihn zu notieren und kompositorisch auszugestalten, auf der Stelle allein sein. Und so einen Einfall hat er womöglich auf einer großen Gesellschaft! „Wo ist denn Palfy hin?“, fragt dann der Hausherr. Und irgendjemand antwortet: „Es ist ihm wohl wieder etwas eingefallen!“ Der Hausherr lächelt sauersüß, bei sich aber denkt er: „Flegel! Man kann doch nicht bei jedem Einfall weglaufen!“ Doch der Kapellmeister Palfy, der kann!

Der lief auch aus der eigenen Wohnung fort, als er noch verheiratet war, damals, blutjung, verliebt, ehrgeizig und verrückt in einem!

Und als dann gar die kleinen Zwillinge in der Wohnung Tag und Nacht krähten und die Wiener Philharmoniker sein Erstes Klavierkonzert uraufführten, ließ er einfach den Flügel abholen und in ein Atelier am Ring bringen, das er in seiner künstlerischen Verzweiflung gemietet hatte!

Und da er damals sehr viele Einfälle hatte, kam nur noch sehr selten zu seiner jungen Frau und brüllenden Zwillingen.

Luiselotte Palfy, geborene Körner, kaum zwanzig Jahre alt, fand das nicht sehr fidel. Und als ihr zu den kaum zwanzigjährigen Ohren kam, dass ihr Mann in seinem Atelier nicht nur Noten malte, sondern auch mit Opernsängerinnen, die ihn sehr nett fanden, Gesangsrollen studierte, da reichte sie empört die Scheidung ein!

Nun konnte er so viel allein sein, wie er wollte. Den ihm nach der Scheidung verbliebenen Zwilling versorgte in der Rotenturmstraße ein Kindermädchen. Um ihn selber im Atelier am Ring, kümmerte sich, wie er sich gewünscht hatte, kein Aas!

Das war ihm nun mit einem Male auch nicht recht. O diese Künstler! Sie wissen wirklich nicht, was sie wollen! Immerhin, er komponierte und dirigierte fleißig und wurde Jahr zu Jahr berühmter. Außerdem konnte er, wenn ihn der Katzenjammer packte, in die andere Wohnung gehen und mit Luise, dem Töchterchen spielen.

Sooft in München ein Konzert war, bei dem neue Werke von Ludwig Palfy aufgeführt wurden, kaufte sich Luiselotte Körner ein Billett, saß dann, mit gesenktem Kopf in einer der letzten, billigen Reihen und hörte Musik ihres geschiedenen Mannes und verstand, dass er kein glücklicher Mensch geworden war. Trotz seiner Erfolge. Und trotz seiner Einsamkeit.

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