Книга: Gertrud / Гертруда. Книга для чтения на немецком языке
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Achtes Kapitel

Nach meiner Heimkehr empfing mich, wie Heinrich mir vorausgesagt hatte, der Ruf des Erfolges mit vielen unangenehmen und zum Teil lächerlichen Folgen. Die Geschäfte waren leicht abzuwälzen, indem ich die Oper einem Agenten überließ. Aber es kamen auch Besucher, Zeitungsleute, Verleger, törichte Briefe, und es dauerte einige Zeit, bis ich mich an die kleinen Lasten eines rasch bekannt gewordenen Namens gewöhnte und mich von der ersten Enttäuschung erholte. Die Menschen machen ihre Rechte an einem bekannt gewordenen Namen auf merkwürdige Art geltend, da ist kein Unterschied zwischen Wunderkind, Komponist, Dichter, Raubmörder. Der eine will sein Bild haben, der andere seine Handschrift, der dritte bettelt um Geld, jeder junge Kollege schickt seine Arbeiten ein, schmeichelt gewaltig und bittet um ein Urteil, und antwortet man nicht oder sagt seine Meinung, so wird derselbe Verehrer plötzlich bitter, grob und rachsüchtig. Die Zeitschriften wollen das Bild des Mannes abdrucken, die Zeitungen erzählen von seinem Leben, seiner Herkunft, seinem Aussehen. Schulkameraden bringen sich in Erinnerung, und entfernte Verwandte wollen schon vor Jahren gesagt haben, dass ihr Vetter noch einmal berühmt werde.

Unter den Briefen dieser Art, die mich in Verlegenheit und Bedrängnis brachten, war auch einer von Fräulein Schniebel, der uns belustigte, und einer von jemand, an den ich lange nimmer gedacht hatte. Es war die hübsche Liddy, die mir schrieb, jedoch ohne unsere Schlittenfahrt zu erwähnen, sondern ganz im Tone einer alten treuen Freundin. Sie hatte einen Musiklehrer in ihrer Heimat geheiratet und gab mir ihre Adresse, damit ich recht bald alle meine Kompositionen mit einer hübschen Widmung an sie schicken könne. Sie legte ihr Bildnis bei, das jedoch die wohlbekannten Züge gealtert und vergröbert zeigte, und ich gab ihr möglichst freundlich Antwort.

Doch gehören diese kleinen Dinge zum Untergesunkenen, das keine Spuren lässt. Auch die guten und herrlichen Früchte meines Erfolges, die Bekanntschafft mit edlen und feinen Menschen, die die Musik im Herzen und nicht nur im Munde haben, gehören nicht zu meinem eigentlichen Leben, das nach wie vor in der Stille blieb und sich seither wenig mehr verändert hat. Es bleibt mir nur übrig zu erzählen, welche Wendung das Schicksal meiner nächsten Freunde genommen hat.

Der alte Herr Imthor sah nicht mehr so viel Gesellschafft wie früher, als Gertrud dagewesen war. Aber es gab in seinem Hause zwischen den vielen Bildern alle drei Wochen einen Abend mit auserwählter Kammermusik, den ich regelmäßig besuchte. Ich brachte zuweilen auch Teiser dahin mit. Doch hielt Imthor darauf, dass ich ihn auch sonst besuche. So kam ich manchmal früh am Abend, das war seine Lieblingsstunde, zu ihm in sein einfaches Schreibzimmer, wo ein Bild von Gertrud hing, und da es allmählich zwischen dem alten Herrn und mir zu einem äußerlich kühlen, doch haltbaren Verständnis und Redebedürfnis gekommen war, kam unser Gespräch nicht selten auf das, was uns beide im Herzen am meisten beschäftigte. Ich musste von München erzählen und verschwieg nicht, welchen Eindruck ich vom Verhältnis der Gatten bekommen hatte. Er nickte dazu.

»Es kann wohl doch alles gut werden«, sagte er seufzend, »aber wir können nichts dazu tun. Ich freue mich auf den Sommer, da habe ich das Kind zwei Monate für mich. In München besuche ich sie selten und nicht gerne, sie hält sich auch so tapfer, dass ich sie nicht stören und weich machen darf.«

Gertruds Briefe brachten nichts Neues. Als sie aber in der Zeit um Ostern zu Besuch beim Alten war und auch uns in unserem Häuschen besuchte, sah sie mager und gespannt aus, und so sehr sie mit uns freundlich war und sich zu verstecken suchte, sahen wir doch oft in ihren ernst gewordenen Augen eine ungewohnte Hoffnungslosigkeit stehen. Ich musste ihr meine neue Musik spielen, aber als ich sie bat, uns etwas zu singen, schüttelte sie den Kopf und sah mich abwesend an.

»Ein andermal wieder«, sagte sie unsicher.

Wir sahen alle, dass es ihr nicht gut ging, und ihr Vater gestand mir nachher, er habe ihr vorgeschlagen, ganz bei ihm zu bleiben, doch habe sie es nicht angenommen.

»Sie liebt ihn«, sagte ich.

Er zuckte die Achseln und sah mich bekümmert an. »Ach, ich weiß nicht. Wer will sich in dem Elend noch auskennen! Aber sie hat gesagt, es sei seinetwegen, dass sie bei ihm bleibe, er sei so zerstört und unglücklich und brauche sie mehr, als er selber wisse. Ihr sage er nichts, aber es stehe ihm im Gesicht geschrieben.«

Dann senkte der Alte die Stimme und sagte ganz leise und beschämt: »Sie meint, er trinke.«

»Ein wenig hat er das immer getan«, sagte ich tröstend, »aber ich habe ihn nie betrunken gesehen. Er hält auf sich. Er ist ein nervöser Mensch, der sich nicht in der Zucht hat, aber an seinem Wesen selber vielleicht mehr leidet, als es andere leiden macht.«

Wie furchtbar die beiden schönen, herrlichen Menschen in der Stille litten, wussten wir alle nicht. Ich glaube nicht, dass sie jemals aufgehört haben, einander zu lieben. Aber im Grunde ihres Wesens gehörten sie nicht zusammen, sie fanden sich nur in Erregung und im Glanz gesteigerter Stunden. Das heiter Hinnehmende des Lebens, das beruhigte Atmen in der Klarheit des eigenen Wesens hatte Muoth nie gekannt, und Gertrud konnte sein Stürmen und Brüten, sein Fallen und Wiederaufstehen, seinen ewigen Durst nach Selbstvergessen und Rausch nur dulden und bemitleiden, nichts ändern und nicht mitleben. So liebten sie einander und kamen doch nie ganz zusammen, und während er seine stille Hoffnung betrogen sah, durch Gertrud zu Frieden und Genügen zu kommen, musste sie sehen und leiden, dass ihr Wille und ihr Opfer vergebens war, und dass auch sie ihn nicht trösten und vor sich selbst retten konnte. So war ihnen beiden der geheime Traum und sehnlichste Wunsch zerstört, sie konnten nur mit Opfern und Schonung beisammen bleiben, und es war tapfer, dass sie es taten.

Ich sah Heinrich erst im Sommer wieder, als er Gertrud zu ihrem Vater brachte. Da war er mit ihr und mir zart und behutsam, wie ich ihn nie gesehen hatte, und ich merkte wohl, wie er sie zu verlieren fürchtete, und ich fühlte auch, dass er den Verlust nicht ertragen würde. Sie aber war müde und verlangte nichts als Ruhe und stille Tage, um sich wiederzufinden und wieder Kraft und Gleichmut zu gewinnen. Wir brachten einen lauen Abend bei uns im Garten zu. Da saß Gertrud zwischen meiner Mutter und Brigitte, deren Hand sie hielt, Heinrich ging leise zwischen den Rosen hin und wider, und ich spielte mit Teiser auf der Terrasse eine Geigensonate. Wie da Gertrud stille ruhte und den Frieden der Stunde atmete, und wie Brigitte verehrend sich an die schöne leidende Frau schmiegte, und wie Muoth geneigt mit leisen Schritten draußen im Schatten ging und horchte, das ist mir als ein unverlierbares Bild in der Seele geblieben. Nachher sagte Heinrich leise scherzend, aber mit traurigen Augen zu mir: »Wie die drei Frauen beieinander sitzen! Und glücklich sieht von allen dreien nur deine Mutter aus. Wir wollen sehen, dass wir auch so alt werden.«

Dann reisten wir auseinander, Muoth allein nach Bayreuth, Gertrud mit ihrem Vater in die Berge, die Teisers nach Steiermark und ich mit meiner Mutter wieder dem Meere zu und dachte nicht anders, als ich es vor Jahren in der ersten Jugend getan hatte, mit Verwunderung und Grauen an die traurig närrischen Wirrnisse des Lebens, dass Liebe vergebens sein kann, und dass Menschen, die es gut miteinander meinen, doch einer am andern vorbei ihr Schicksal leben, jeder sein eigenes, unbegreifliches, und wie jeder dem andern helfen und nahe sein möchte und nicht kann, wie in sinnlosen trüben Angstträumen. Und ich dachte oft auch wieder an Muoths Worte über Jugend und Alter und war neugierig, ob auch mir einmal das Leben einfach und klar werden würde. Meine Mutter lächelte dazu, wenn ich im Gespräch daran rührte, und sah wirklich zufrieden aus. Und sie erinnerte mich zu meiner Beschämung an meinen Freund Teiser, der noch nicht alt war und doch alt genug, um seinen Teil erfahren zu haben, und der als ein Kind mit einer Mozartmelodie auf den Lippen unbeschwert dahinlebte. Es lag nicht am Alter, das sah ich wohl, und vielleicht war unser Leid und Nichtwissen doch nur jene Krankheit, von der mir einst Herr Lohe gesprochen hatte. Oder war auch dieser Weise eben ein Kind wie Teiser?

Allein so oder so, mein Denken und Brüten änderte nichts. Wenn mir Musik die Seele bewegte, dann verstand ich ohne Worte doch alles, fühlte in der Tiefe alles Lebens reine Harmonie und glaubte zu wissen, dass ein Sinn und schönes Gesetz in allem Geschehen verborgen sei. Wenn es auch eine Täuschung war, ich lebte doch darin und war darin beglückt.

Vielleicht wäre es besser gewesen, Gertrud hätte sich für den Sommer nicht von ihrem Mann getrennt. Sie begann zwar sich zu erholen und wirklich im Herbst, als ich sie nach der Reise wiedersah, gesünder und widerstandsfähiger aus. Aber die Hoffnungen, die wir auf diese Kräftigung bauten, waren Täuschungen.

Gertrud hatte es nun einige Monate bei ihrem Vater gut gehabt, sie hatte ihrem Bedürfnis nach Ruhe nachgeben können und sich diesem stillen Zustand ohne tägliche Kämpfe aufatmend überlassen, wie sich ein Ermüdeter dem Schlaf überlässt, sobald man ihn liegen lässt. Es zeigte sich aber jetzt, dass sie tiefer erschöpft war, als wir geglaubt und als sie selber gewusst hatte. Denn jetzt, wo Muoth sie bald wieder abholen sollte, verfiel sie in mutlose Angst, verlor den Schlaf und bat ihren Vater flehentlich, sie noch einige Zeit bei sich zu behalten.

Natürlich war Imthor etwas erschreckt, da er hatte glauben müssen, sie freue sich darauf, mit neuer Kraft und neuem Willen zu Muoth zurückzukehren; doch widersprach er nicht und legte ihr sogar vorsichtig den Gedanken an eine vorläufige längere Trennung als Einleitung zu einer späteren Scheidung nahe. Allein dagegen wehrte sie sich mit großer Erregung.

»Ich liebe ihn doch!« rief sie heftig, »und will ihm niemals untreu werden. Es ist nur so schwer, mit ihm zu leben! Ich will nur noch ein wenig Ruhe haben, ein paar Monate vielleicht, bis ich wieder besseren Mut habe.«

Der alte Imthor suchte sie zu beruhigen und hatte selber gar nichts dagegen, sein Kind noch eine Weile behalten zu dürfen. Er schrieb Muoth, Gertrud sei noch leidend, und wünsche noch einige Zeit zu Hause zu bleiben. Leider nahm dieser die Nachricht nicht leicht. In ihm war während der Trennungszeit die Sehnsucht nach seiner Frau überstark geworden, er hatte sich auf sie gefreut und war voller guter Vorsätze, sie wieder ganz zu gewinnen und zu eigen zu bekommen.

Nun traf ihn Imthors Brief als eine schwere Enttäuschung. Er schrieb sogleich leidenschafftlich zurück, voll Argwohn gegen den Schwiegervater. Er glaubte, dieser habe gegen ihn gearbeitet, da er die Trennung der Ehe wünsche, und verlangte eine sofortige Zusammenkunft mit Gertrud, auf deren Wiedergewinnung er sicher hoffte. Der Alte kam mit dem Briefe zu mir, und wir überlegten lange, was zu tun sei. Es schien uns beiden richtig, dass eine Zusammenkunft der Gatten im Augenblick vermieden werde, da Gertrud offenbar jetzt keine Stürme ertragen konnte. Imthor war voll Besorgnis und bat mich, selber zu Muoth zu reisen und ihm zuzureden, er möge Gertrud für eine Weile in Ruhe lassen. Ich weiß jetzt, dass ich das hätte tun sollen. Damals hatte ich Bedenken und hielt es für gefährlich, meinen Freund wissen zu lassen, dass ich der Vertraute seines Schwiegervaters und mit Dingen seines Lebens bekannt sei, in die er mich nicht selber hatte einweihen wollen. Ich weigerte mich denn, und es blieb bei einem Brief des Alten, der natürlich nichts besserte.

Vielmehr kam Muoth, ohne sich anzumelden, selber hergereist und erschreckte uns alle durch die kaum gezügelte Leidenschafft seiner Liebe und seines Argwohns. Gertrud, die von dem kurzen Briefwechsel nichts wusste, war von dem Besuch des noch nicht Erwarteten und von seiner fast zornigen Erregung völlig überrascht und benommen. Es gab einen peinlichen Auftritt, von dem ich wenig erfahren konnte. Ich weiß nur: Muoth drang in Gertrud, sie möge mit ihm nach München zurückkehren. Sie erklärte sich bereit zu folgen, wenn es nicht anders sein könne, bat aber, sich noch länger bei ihrem Vater zu lassen, sie sei müde und brauche noch Ruhe. Nun warf er ihr vor, sie wolle sich ihm entziehen und sei von ihrem Vater aufgestiftet, wurde bei ihren sanften Erklärungen noch misstrauischer und war in seinem Anfall von Zorn und Bitterkeit so töricht, ihr kurzerhand die Rückkehr zu ihm zu befehlen. Darauf empörte sich ihr Stolz, sie blieb ruhig, weigerte sich aber, ihn weiter anzuhören, und erklärte nun, auf alle Fälle hierzubleiben. Auf diese Szene war am nächsten Morgen eine Art Versöhnung gefolgt, und Muoth hatte, beschämt und reuig, nun alle ihre Wünsche gebilligt. Dann war er wieder abgereist, ohne bei mir vorgesprochen zu haben.

Als ich das hörte, erschrak ich und sah das Übel kommen, das ich von Anfang an gefürchtet hatte. Auf den hässlichen und törichten Auftritt hin, dachte ich mir, mochte es nun lange dauern, bis sie die Heiterkeit und den Mut zur Rückkehr wiederfinden würde. Und er war inzwischen in Gefahr, zu verwildern und ihr trotz aller Sehnsucht noch fremder zu werden. Er würde allein in dem Hause, in dem er eine Weile glücklich gewesen war, es nicht lange aushalten, er würde verzweifeln, trinken, vielleicht wieder andere Frauen nehmen, die ihm ohnehin nachliefen.

Indessen blieb es still, er schrieb an Gertrud und bat nochmals um Verzeihung, sie gab ihm Antwort und mahnte voll Mitleid und Freundlichkeit zur Geduld. Ich sah sie um diese Zeit wenig. Zuweilen machte ich den Versuch, sie zum Singen zu bewegen, sie schüttelte aber stets den Kopf. Doch traf ich sie mehrmals am Flügel.

Es war mir merkwürdig und unheimlich, die schöne, stolze Frau, die ich immer voll Kraft und Heiterkeit und innerer Ruhe gesehen hatte, nun scheu und im Kern ihres Empfindens erschüttert zu finden. Manchmal kam sie zu meiner Mutter, fragte freundlich nach unserem Ergehen, saß neben der alten Frau eine kleine Weile auf dem grauen Diwan und versuchte zu plaudern und ich hörte mit brechendem Herzen zu und sah, wie sie Mühe hatte, ein Lächeln aufzubringen. Der Schein wurde aufrechterhalten, als wisse weder ich noch irgend jemand von ihrem Leid oder als hielten wir es nur für Nervosität und äußere Schwäche. So vermochte ich kaum ihr in die Augen zu blicken, in denen der uneingestandene Jammer, von dem ich nichts wissen wollte, so deutlich geschrieben stand. Und wir sprachen und lebten und gingen aneinander vorbei, als wäre alles wie immer, und schämten uns doch voreinander und wichen einander aus! Und mitten in dieser traurigen Wirrnis des Fühlens packte mich hie und da mit plötzlicher Fieberglut die Vorstellung, dass ihr Herz ihrem Manne nicht mehr gehöre und frei sei, und dass es nun an mir sei, sie nicht abermals verlorengehen zu lassen, sondern sie für mich zu gewinnen und vor allem Sturm und Leide an meinem Herzen zu bergen. Dann schloss ich mich ein, spielte die heiße werbende Musik meiner Oper, die ich plötzlich wieder liebte und verstand, lag glühende Nächte verlangend und dürstend und litt alle lächelnd überwundene Qual der Jugend und unerfüllbaren Begehrens noch einmal und nicht minder schwer als damals, da ich zuerst für sie gebrannt und ihr jenen einzigen, unvergessenen Kuss gegeben hatte. Der loderte mir wieder auf den Lippen und sengte die Ruhe und Entsagung von Jahren in Stunden zu Asche.

Nur in Gertruds Gegenwart sank die Flamme in sich zusammen. Selbst wenn ich töricht und unedel genug gewesen wäre, meinem Verlangen zu folgen und ohne Rücksicht auf ihren Mann, der mein Freund war, um ihr Herz zu werben, ich hätte unter den Blicken dieser leidenden, zarten, eigensinnig in ihren Schmerz verbissenen Frau mich schämen müssen, ihr anders als mit Mitleid und vorsichtiger Schonung entgegenzukommen. Auch wurde sie, je mehr sie litt und vielleicht an Hoffnung verlor, desto stolzer und unnahbarer. Sie trug ihre hohe Gestalt und den feinen, dunkelblonden Kopf so steil und nobel wie noch nie und erlaubte keinem von uns durch die leiseste Gebärde ihr nahezutreten und tragen zu helfen.

Diese langen schweigsamen Wochen sind vielleicht die schwersten in meinem Leben gewesen. Hier Gertrud, mir nahe und doch unerreichbar, und kein Weg zu ihr, die allein bleiben wollte; dort Brigitte, von deren Liebe zu mir ich wusste und mit der nach längerem Vermeiden langsam wieder ein erträglicher Umgang sich anspann; und zwischen uns allen meine Mutter, die uns leiden sah und alles ahnte und sich nichts zu sagen getraute, da ich selber hartnäckig schwieg und es nicht über mich vermochte, ein Wort von meinem Zustande zu sagen. Das schlimmste war aber dieses tödliche Zusehenmüssen, die hilflose Überzeugung, dass meine nächsten Freunde sich zugrunde richteten, ohne dass ich nur merken lassen durfte, ich wisse darum.

Am schwersten schien Gertruds Vater zu leiden. Seit ich ihn vor Jahren als einen klugen, strammen, stillheiteren alten Herrn hatte kennenlernen, war er älter geworden, anders geworden, sprach leiser und unruhiger, machte keine Scherze mehr und sah sorgenvoll und elend aus. Ich ging eines Tages im November zu ihm, mehr um Neues zu hören und selber Hoffnung zu schöpfen, als ihm tröstliche Gesellschafft zu leisten.

Er empfing mich in seiner Schreibstube, gab mir eine von seinen kostbaren Zigarren und begann die Unterhaltung in einem höflich leichten Ton, der ihm Mühe machte und den er bald fallen ließ. Mit betrübtem Lächeln sah er mich an und sagte: »Sie wollen fragen, wie es geht? Schlecht, lieber Herr, schlecht. Das Kind hat wohl mehr getragen, als wir wissen, sonst fände sie sich besser zurecht. Ich bin entschieden für eine Scheidung, aber sie will nichts davon hören. Sie liebt ihn, wenigstens sagt sie es, und hat doch Furcht vor ihm! Das ist nicht gut. Sie ist krank, das Kind, sie macht die Augen zu, will nichts mehr sehen und meint, es müsse schon besser werden, wenn man nur warte und sie in Ruhe lasse. Das ist ja nervös, natürlich, aber sie scheint doch tiefer krank zu sein. Denken Sie, sie fürchtet manchmal sogar, ihr Mann möchte sie misshandeln, wenn sie wieder zu ihm ginge! Und doch meint sie ihn zu lieben.«

Er schien sie nicht zu verstehen und sah den Dingen hilflos zu. Mir war ihr Leiden wohl begreiflich, als ein Kampf zwischen Liebe und Stolz. Sie fürchtete nicht, von ihm geschlagen zu werden; sie fürchtete, ihn nicht mehr achten zu können, und in ihrem ängstlichen Warten hoffte sie wieder Kraft zu finden. Sie hatte ihn beherrscht und im Bann gehalten, sich dabei aber so erschöpft, dass sie ihrer Kraft dazu nicht mehr traute, das war ihre Krankheit. Nun sehnte sie sich nach ihm und fürchtete doch, ihn ganz zu verlieren, wenn ein neuer Versuch des Zusammenlebens nicht gelänge. Ich sah nun deutlich, wie unnütz und verblendet meine frechen Liebesphantasien gewesen waren; Gertrud liebte ihren Mann und würde nie mit einem andern gehen.

Der alte Imthor vermied es, über Muoth zu sprechen, da er mich ihm befreundet wusste. Aber er hasste ihn und konnte nicht begreifen, wie er Gertrud habe betören können, er dachte an ihn wie an einen bösen Zauberer, der Unschuldige einfängt und nimmer hergibt. Nun, die Leidenschafft ist immer ein Rätsel und unerklärbar, und leider ist es gewiss, dass das Leben seine schönsten Kinder nicht schont und dass häufig die herrlichsten Menschen gerade das lieben müssen, was sie zugrunde richtet.

In dieser Trübe traf mich ein kurzer Brief von Muoth wie eine Erlösung. Er schrieb: »Lieber Kuhn! Deine Oper wird ja jetzt überall gespielt, vielleicht besser als hier. Es wäre trotzdem hübsch, wenn Du wieder einmal kämest, zum Beispiel nächste Woche, wo ich Deine Rolle zweimal singe. Du weißt, meine Frau ist krank, und ich bin allein hier. Du würdest also ungeniert bei mir wohnen. Bring aber niemand mit! Herzlich Dein Muoth.«

Er schrieb so selten Briefe und gar nie unnötige, dass ich sofort entschlossen war zu reisen. Er musste mich nötig haben. Einen Augenblick hatte ich den Gedanken, es Gertrud mitzuteilen. Vielleicht war das die rechte Gelegenheit, den Bann zu brechen, vielleicht würde sie mir einen Brief oder ein gutes Wort für ihn mitgeben, vielleicht ihn herbitten, vielleicht sogar selber mitkommen. Es war nur ein Einfall, und ich führte ihn nicht aus. Ich besuchte nur ihren Vater vor der Abreise.

Es war ein schlechter, nasser und stürmischer Spätherbst, von München aus sah man zuweilen für eine Stunde die nahen Berge im jungen Schnee liegen, die Stadt war trüb und verregnet. Ich fuhr sogleich nach Muoths Hause. Da war alles wie vor einem Jahre, derselbe Diener, dieselben Räume, dieselbe Stellung der Möbel, nur sah alles unbewohnt und leer aus, auch fehlten die Blumen, für welche Gertrud sonst gesorgt hatte. Muoth war nicht da, der Diener führte mich in mein Zimmer und half mir auspacken; ich kleidete mich um und ging, da der Hausherr noch ausblieb, in das Musikzimmer hinab, wo ich hinter den Doppelfenstern die Bäume brausen hörte und Zeit hatte, an Vergangenes zu denken. Je länger ich saß und die Bilder anschaute und in Büchern herumblätterte, desto trauriger ward mir ums Herz, als sei diesem Hause nicht mehr zu helfen. Unwillig setzte ich mich an den Flügel, um die nutzlosen Gedanken loszuwerden, und ich spielte mein Hochzeitspräludium, als könnte ich damit das gewesene Gute zurückkaufen.

Endlich hörte ich rasche, schwere Tritte nebenan, und Heinrich Muoth kam herein. Er bot mir die Hand und sah mich ermüdet an.

»Verzeih«, sagte er, »ich hatte im Theater zu tun. Du weißt ja, ich singe heute abend. Wir wollen jetzt essen, nicht?«

Er ging voran, und ich fand ihn verändert, er war zerstreut und gleichgültig, sprach nur vom Theater und schien kein anderes Gespräch zu wünschen. Erst nach Tische, als wir schweigsam und beinahe verlegen in den gelben Rohrsesseln einander gegenüber saßen, fing er unerwartet an: »Das ist schön von dir, dass du gekommen bist! Ich will mich auch heute abend extra anstrengen.«

»Danke«, sagte ich. »Du siehst nicht gut aus.«

»Meinst du? Nun, wir wollen schon vergnügt sein. Ich bin ja Strohwitwer, weißt du.«

»Ja.« Er blickte zur Seite.

»Du weißt nichts von Gertrud?«

»Nichts Besonderes. Sie ist eben immer noch nervös und schläft nicht gut – «

»Ja, lassen wir’s! Sie ist ja bei euch in guten Händen.«

Er stand auf und ging durchs Zimmer. Es schien, als ob er noch etwas sagen wolle, er sah mich prüfend und, wie es mir vorkam, misstrauisch an.

Dann lachte er und ließ es ungesagt.

»Die Lotte ist auch wieder aufgetaucht«, begann er von neuem.

»Die Lotte?«

»Ja, die damals bei dir war und mich verklagt hat. Sie ist hier und verheiratet, und es scheint, sie interessiert sich noch für mich. Sie war da und hat einen richtigen Besuch gemacht.«

Er sah mich wieder listig an und lachte, als er mich erschrecken sah.

»Hast du sie empfangen?« fragte ich zögernd.

»Ah, du traust es mir zu! Nein, Werter, ich habe sie fortschicken lassen. Aber verzeih, ich rede dummes Zeug. Ich bin so verdammt müde, und abends muss ich singen. Wenn du erlaubst, lege ich mich drüben für eine Stunde hin und schlafe.«

»Gut, Heinrich, ruh dich aus, ich fahre ein wenig in die Stadt. Willst du mir einen Wagen kommen lassen?«

Ich mochte nicht wieder stumm in diesem Hause sitzen und dem Wind in den Bäumen zuhören. Ich fuhr in die Stadt, ohne Ziel, und geriet in die alte Pinakothek. Dort schaute ich eine halbe Stunde lang bei dem trüben grauen Licht die alten Bilder an, dann wurde geschlossen, und ich wusste nichts Besseres, als in einem Café die Zeitungen zu lesen und durch die hohen Scheiben auf die verregnete Straße zu schauen. Ich nahm mir vor, um jeden Preis diese Kühle zu durchbrechen und aufrichtig mit Heinrich zu reden.

Aber als ich zurückkehrte, fand ich ihn lächelnd und wohlgelaunt.

»Es hat nur am Schlaf gefehlt«, sagte er munter. »Jetzt bin ich wieder ganz frisch. Du musst mir etwas spielen, gelt? Das Präludium, wenn du so gut sein willst.«

Erfreut und erstaunt, ihn so rasch verändert zu sehen, tat ich ihm den Willen, und nach dem Spielen plauderte er wie früher, mit Ironie und leichter Skepsis, ließ seine Laune farbig spielen und gewann mein Herz wieder ganz. Die erste Zeit unserer Freundschafft fiel mir ein, und als wir abends das Haus verließen, schaute ich mich unwillkürlich um und fragte: »Du hast keine Hunde mehr?«

»Nein. – Gertrud mochte sie nicht.«

Wir fuhren nun schweigend ins Theater. Ich begrüßte den Kapellmeister und ließ mir einen Platz anweisen. Wieder hörte ich die wohlbekannte Musik, doch war alles anders als das letztemal. Ich saß allein in meiner Loge, Gertrud war fort, und der da unten spielte und sang, war auch ein anderer. Er sang mit Leidenschafft und Gewalt, das Publikum schien ihn in dieser Rolle zu lieben und ging von Anfang an lebhaft mit. Mir aber schien sein Feuer übertrieben und seine Stimme gesteigert, beinahe roh. In der ersten Pause ging ich hinab und suchte ihn auf. Da saß er wieder in seiner Kammer und trank Champagner, und bei den paar Worten, die wir wechselten, waren seine Augen unstet wie die eines Angetrunkenen. Ich suchte nachher, während Muoth sich umkleidete, den Kapellmeister auf.

»Sagen Sie«, bat ich ihn, »ist Muoth krank? Mir scheint, er hat sich mit Champagner aufrecht gehalten. Sie wissen, er ist mein Freund.«

Der Mann sah mich zweifelnd an.

»Ob er krank ist, weiß ich nicht. Aber daß er sich kaputt macht, ist ja klar. Er ist manchmal fast betrunken auf die Bühne gekommen, und wenn er einmal nicht trinkt, spielt er schlecht und singt miserabel. Er hat schon früher immer vor dem Auftreten ein Glas Sekt genommen, aber jetzt tut er’s nicht unter einer ganzen Flasche. Wenn Sie ihm raten wollen es wird aber wenig zu machen sein. Der Muoth macht sich mit Gewalt kaputt.«

Muoth holte mich ab, und wir nahmen im nächsten Wirtshaus ein Abendessen. Er war wieder, wie am Mittag, abgespannt und unzugänglich, trank ohne Maß von dem dunklen Rotwein, da er sonst nicht schlafen könne, und sah aus, als wolle er um jeden Preis vergessen, dass es auf der Welt noch andere Dinge als seine Müdigkeit und sein Schlafbedürfnis gäbe.

Unterwegs im Wagen erwachte er für einen Augenblick, lachte mich an und rief: »Junge, wenn ich nimmer da bin, kannst du deine Oper einsalzen, die Rolle kann außer mir niemand singen.«

Andern Tages stand er spät auf und war dann müde und erschlafft, mit unsicheren Augen und grauem Gesicht. Nach dem Frühstück nahm ich ihn vor und redete in ihn ein.

»Du bringst dich um«, sagte ich betrübt und unmutig. »Du machst dich mit Champagner frisch und musst es nachher natürlich büßen. Ich kann mir denken, warum du es tust, und ich würde nichts dagegen sagen, wenn du nicht eine Frau hättest. Der bist du schuldig, dass du dich außen und innen sauber und tapfer hältst.«

»So?« lächelte er schwach und scheinbar durch meinen Eifer belustigt. »Und was ist denn sie mir schuldig? Hält sie sich denn tapfer? Sie sitzt beim Papa und lässt mich allein. Warum soll ich mich zusammennehmen, wenn sie es nicht tut? Die Leute wissen ja schon, dass es nichts mehr zwischen uns ist, und du weißt es auch. Nebenher soll ich auch noch singen und den Leuten den Hanswurst machen, das geht nicht aus dem Leeren und aus dem Ekel heraus, den ich an allem habe, an der Kunst am meisten.«

»Du musst trotzdem anders anfangen, Muoth! Wenn du noch glücklich dabei wärst! Aber es geht dir ja miserabel. Wenn dir das Singen zuviel wird, so nimm Urlaub, den kriegst du sofort; du hast ja auch das Geld, um das du singst, gar nicht nötig. Geh in die Berge, oder ans Meer, oder irgendwohin und werde wieder gesund! Und lass doch das dumme Trinken! Es ist nicht bloß dumm, es ist feig, das weißt du wohl.«

Er lächelte nur. »Gut«, sagte er kühl. »So geh doch du einmal und tanz einen Walzer! Es würde dir gut tun, glaub mir! Denk doch nicht immer an dein dummes Bein, das ist nur Einbildung!«

»Lass doch«, rief ich ungehalten. »Du weißt genau, dass das etwas anderes ist. Ich würde sehr gern tanzen, wenn ich könnte, aber ich kann nicht. Du aber könntest recht gut dich zusammennehmen und gescheiter sein. Das Trinken musst du unbedingt lassen!«

»Unbedingt! Lieber Kuhn, ich möchte fast lachen. Ich kann sowenig anders werden und das Trinken lassen, als du tanzen kannst. Ich muss bei dem bleiben, was mich noch notdürftig bei Leben und Laune erhält, verstehst du? Trinker pflegen bekehrt zu werden, wenn sie bei der Heilsarmee oder irgendwo etwas finden, was sie noch besser und dauernder befriedigt. Es hat für mich so etwas gegeben, das sind die Frauen gewesen. Mit anderen Frauen kann ich mich nimmer einlassen, seit die meine mein war und mich verlassen hat, also «

»Sie hat dich nicht verlassen! Sie kommt wieder. Sie ist nur krank.«

»Das meinst du, und das meint sie selber, ich weiß. Aber sie kommt nicht zurück. Wenn ein Schiff versinken soll, pflegen vorher die Ratten es zu verlassen. Sie wissen wahrscheinlich auch nicht, dass das Schiff kaputt geht. Sie fühlen sich nur von einem unangenehmen Schauder berührt und laufen fort, gewiss mit der guten Absicht, bald wiederzukommen.«

»Ach, rede nicht so! Du bist schon oft am Leben verzweifelt, und es ist doch wieder gegangen.«

»Richtig. Es ist gegangen, weil ich einen Trost oder eine Betäubung fand. Einmal war es eine Frau, einmal ein lieber Freund – ja, du hast mir den Dienst auch schon getan! – ein andermal die Musik oder das Klatschen im Theater. Nun, und jetzt freuen eben diese Sachen mich nimmer, und darum trinke ich. Ich könnte nicht singen ohne ein paar Gläser vorher, aber ich kann auch nicht denken und reden und leben und mich erträglich fühlen – ohne ein paar Gläser vorher. Und jetzt kurz – das Predigen musst du lassen, so gut es dir steht. Es war schon einmal so, vor zwölf Jahren ungefähr. Da hat mir auch einer gepredigt und nicht nachgelassen, es war wegen eines Mädels, und zufällig war’s mein bester Freund «

»Und dann?«

»Dann hat er mich genötigt, ihn hinauszuwerfen, und dann hatte ich lange keinen Freund mehr, eigentlich bist du dann kamst.«

»Das ist deutlich.«

»Gelt?« sagte er milde. »Du hast nun die Wahl. Aber ich will dir sagen, es wäre nicht schön, wenn du mir jetzt auch drausliefst. Ich habe dich gern, du, und ich habe mir ausgedacht, dass du auch eine Freude haben sollst.«

»So. Was denn?«

»Sieh, du hast ja meine Frau gern – oder wenigstens gern gehabt, und ich hab sie auch gern, sogar sehr. Nun wollen wir heute abend ein Fest geben, nur für dich und mich, zu ihren Ehren. Nämlich, es ist ein Grund dazu vorhanden. Ich habe sie malen lassen, sie musste im Frühjahr immer zu dem Maler hingehen, ich war oft dabei. Dann reiste sie fort, das Bild war fast fertig. Der Maler wollte sie noch einmal sitzen haben, aber jetzt habe ich das Warten satt bekommen und das Bild bestellt, wie es halt ist. Das ist vor einer Woche gewesen, und jetzt ist ein Rahmen drum, und das Bild ist gestern ins Haus gekommen. Ich hätte dir’s gleich gezeigt, aber es ist besser, dass das festlich geschieht. Freilich, ohne einigen Champagner wird es nicht gut gehen, wie soll ich sonst vergnügt werden! Ist dir’s recht?«

Ich fühlte hinter seinen Scherzen Rührung, ja Tränen verborgen und stimmte munter ein, obwohl mir nicht so zumute war. Unser Fest zu Ehren der Frau, die ihm so ganz verloren schien, wie sie es mir wirklich war, wurde vorbereitet.

»Kannst du dich noch an ihre Blumen erinnern?« fragte er mich. »Ich verstehe von Blumen nichts und weiß nicht, wie sie heißen. Sie hatte immer solche weiße und gelbe, und auch rote. Weißt du nimmer?«

»Ja, einige weiß ich noch. Warum?«

»Du musst sie kaufen. Lass einen Wagen kommen, ich muss ohnehin auch in die Stadt. Wir wollen es so machen, wie wenn sie da wäre.«

So fiel ihm noch manches ein, woran ich sah, wie tief und unablässig er an Gertrud gedacht hatte. Es tat mir wohl und weh, es zu merken. Ihretwegen hielt er keine Hunde mehr und lebte einsam, der sonst nie lang ohne Frauen hatte sein können. Er hatte ihr Bild bestellt, er hieß mich ihre Blumen kaufen! Das war, als nehme er eine Maske ab und ich sähe hinter den harten selbstsüchtigen Zügen ein Kindergesicht versteckt.

»Aber«, wandte ich noch ein, »wir sollten das Bild doch lieber jetzt ansehen oder am Nachmittag. Bilder muss man doch bei Tageslicht sehen.«

»Ach was, du kannst es ja morgen noch lang genug anschauen. Es ist ja hoffentlich eine gute Malerei, aber im Grund ist uns das doch ganz einerlei, wir wollen doch bloß sehen.«

Nach Tische fuhren wir in die Stadt und kauften ein, vor allem die Blumen, einen großen Strauß Chrysanthemen, einen Korb Rosen und ein paar Büsche weißen Flieder. Dabei fiel es ihm ein, auch eine große Sendung Blumen an Gertrud nach R. schicken zu lassen.

»Es ist doch etwas Schönes um Blumen«, sagte er nachdenklich. »Ich begreife, dass Gertrud sie gern hat. Sie gefallen mir auch, nur kann ich keine Sorgfalt für so etwas aufbringen. Wenn keine Frau danach sah, war es bei mir immer unordentlich und nicht recht behaglich.«

Am Abend fand ich im Musikzimmer das neue Bild aufgestellt und mit einem Seidentuche verhängt. Wir hatten festlich getafelt, und Muoth begehrte nun zuerst das Hochzeitspräludium zu hören. Nachdem ich es gespielt hatte, enthüllte er das Bild, und wir standen eine Weile schweigend davor. Gertrud war in einem hellen sommerlichen Kleide gemalt, in ganzer Figur, und blickte uns aus den klaren Augen vertraulich an, und es dauerte eine Zeit, ehe wir einander ansehen und die Hände geben konnten. Muoth schenkte zwei Gläser voll Rheinwein, nickte dem Bilde zu, und wir tranken auf sie, an die wir beide dachten. Dann nahm er das Bild sorglich in die Arme und trug es hinaus.

Ich bat ihn, etwas zu singen, doch wollte er nicht.

»Weißt du noch«, sagte er lächelnd, »wie wir damals vor meiner Hochzeit einen Abend beieinander saßen? Jetzt bin ich ja wieder Junggesell, und wir wollen noch einmal versuchen, mit den Gläsern zu läuten und ein bisschen vergnügt zu sein. Dein Teiser sollte dabei sein, der versteht sich auf die Fröhlichkeit besser als ich und du. Du musst ihn schön grüßen, wenn du wieder heimkommst. Er kann mich ja nicht leiden, aber trotzdem.«

Mit der vorsichtigen, gehaltenen Heiterkeit, mit der er immer seine guten Stunden gekostet hatte, begann er zu plaudern und mich an Vergangenes zu erinnern, und ich war erstaunt, wie alles, auch Kleines und Zufälliges, was ich bei ihm längst vergessen glaubte, unverloren in seiner Erinnerung lebte. Auch den allerersten Abend, den ich bei ihm und Marion mit Kranzl und den andern zugebracht hatte, und unsern damaligen Streit hatte er nicht vergessen. Nur von Gertrud sprach er nicht; die Zeit, seit der sie zwischen uns getreten war, ließ er unberührt, und mir war es lieb.

Ich freute mich über diese unerwartet schönen Stunden, ließ ihn auch dem guten Wein reichlich zusprechen, ohne ihn zu mahnen. Ich wusste, wie selten solche Stimmungen bei ihm waren, wie er sie selber hütete und hegte, wenn sie einmal kamen, und sie kamen freilich nie ohne Wein. Ich wusste auch, dass das nicht lange dauern konnte, dass er morgen wieder verdrossen und unzugänglich sein werde; dennoch kam auch in mir eine herzliche Wärme und beinahe fröhliche Stimmung auf, indessen ich seinen gescheiten, nachdenklichen, wenn auch widerspruchsvollen Betrachtungen zuhörte. Dabei warf er mir zuweilen einen seiner schönen Blicke zu, die er nur in solchen Stunden hatte, und die wie die Blicke eines eben Erwachenden mitten aus einem Traum zu kommen schienen.

Einmal, als er schwieg und sann, begann ich ihm zu erzählen, was mein Theosoph mir über die Krankheit des Einsamen gesagt hatte.

»So?« sagte er gutmütig. »Und du hast es natürlich geglaubt? Du hättest überhaupt Theosoph werden sollen.«

»Warum? Es kann doch was dran sein.«

»Natürlich. Die gescheiten Herren weisen immer von Zeit zu Zeit nach, das alles nur Einbildung sei. Weißt du, ich habe früher oft solche Bücher gelesen, und ich kann dir sagen, es ist nichts damit, absolut nichts. Alles, was diese Philosophen schreiben, ist nur eine Spielerei, vielleicht trösten sie sich selber damit. Der eine erfindet den Individualismus, weil er seine Zeitgenossen nicht leiden mag, und der andere den Sozialismus, weil er es allein nicht aushält. Es kann ja sein, dass unser Einsamkeitsgefühl eine Krankheit ist. Nur wird damit nichts anders. Das Nachtwandeln ist auch eine Krankheit, deswegen steht so ein Kerl doch tatsächlich in der Dachrinne, und wenn man ihn anschreit, dann bricht er das Genick.«

»Nun, das ist doch etwas anderes.«

»Meinetwegen, ich will nicht recht haben. Ich meine nur, mit der Weisheit kommt man zu nichts. Es gibt nur zwei Weisheiten, alles zwischen drin ist Geschwätz.«

»Was für zwei Weisheiten meinst du?«

»Nun, entweder ist die Welt schlecht und lumpig, wie es die Buddhisten und Christen sagen. Dann muss man sich kasteien, auf alles verzichten, und ich glaube, man kann dabei ganz zufrieden werden. Asketen haben kein so schweres Leben, wie man meint. Oder aber ist die Welt und das Leben gut und recht, dann kann man nur eben mitmachen und nachher ruhig sterben, weil es dann fertig ist…«

»Und an was glaubst du selber?«

»Das muss man niemand fragen. Die meisten Leute glauben beides, je nachdem das Wetter ist und sie gesund sind und Geld im Sack haben oder nicht. Und die, die wirklich glauben, leben nicht danach. So ist es bei mir auch. Ich glaube nämlich wie Buddha, dass das Leben nichts wert ist. Aber ich lebe doch, wie es meinen Sinnen wohl tut und wie wenn die die Hauptsache wären. Wenn es nur vergnüglicher wäre!«

Es war noch nicht spät, als wir ein Ende machten. Als wir durchs Nebenzimmer gingen, wo nur eine einsame elektrische Lampe glühte, hielt Muoth mich am Arm zurück, entzündete alle Lichter und nahm den Vorhang von Gertruds Bild, das da lehnte. Wir blickten noch einmal in das liebe, klare Gesicht, dann deckte er das Tuch darüber und löschte das Licht aus. Er begleitete mich in mein Zimmer und legte mir noch ein paar Zeitschriften auf den Tisch, falls ich lesen wolle. Dann gab er mir die Hand und sagte leise: »Gute Nacht, Lieber!«

Ich ging zu Bett und lag noch eine halbe Stunde wach, in Gedanken an ihn. Es hatte mich gerührt und beschämt zu hören, wie treulich er sich aller kleinen Erlebnisse unserer Freundschafft erinnerte. Er, dem es schwerfiel, Freundschafft zu zeigen, hing an denen, die er liebte, inniger, als ich dachte.

Danach schlief ich ein und träumte durcheinander von Muoth, von meiner Oper und vom Herrn Lohe. Als ich erwachte, war es noch Nacht. Ich war an einem Schrecken erwacht, der nichts mit meinen Träumen zu tun hatte, sah mattgrau das bleiche Viereck des Fensters dämmern und fühlte eine quälende Beklemmung, richtete mich im Bett auf und versuchte, vollends wach und klar zu werden.

Da geschahen rasche, kräftige Schläge an meine Tür, ich sprang auf und öffnete, es war kalt, und ich hatte noch kein Licht gemacht. Draußen stand der Diener, nur notdürftig angekleidet, und starrte mich aus erschreckten, dummen Augen ängstlich an.

»Kommen Sie!« flüsterte er keuchend. »Kommen Sie! Es ist ein Unglück geschehen.«

Ich zog nur einen Schlafrock an, der eben da hing, und folgte dem jungen Manne die Treppe hinab. Er öffnete eine Tür, trat zurück und ließ mich eintreten. Da stand auf einem kleinen Rohrtische ein Leuchter, in dem drei dicke Kerzen brannten, und daneben ein zerwühltes Bett, und darin sah ich, auf dem Gesichte liegend, meinen Freund Muoth.

»Wir müssen ihn umdrehen«, sagte ich leise.

Der Diener traute sich nicht recht heran.

»Der Arzt muss gleich kommen«, sagte er stotternd. Aber ich zwang ihn anzufassen, und wir wendeten den Liegenden um, und ich sah meinem Freunde in das Gesicht, das war weiß und verzogen, und sein Hemd war voll Blut, und als wir ihn legten und wieder zudeckten, zuckte sein Mund ganz leicht, und die Augen hatten keinen Blick mehr.

Der Diener fing jetzt eifrig an zu erzählen, aber ich wollte nichts wissen. Als der Arzt kam, war Muoth schon tot. In der Frühe telegraphierte ich an Imthor, denn kehrte ich in das stille Haus zurück, saß am Bett des Toten, hörte den Wind draußen in den Bäumen gehen und wusste erst jetzt genau, wie lieb ich diesen armen Menschen gehabt hatte. Bedauern konnte ich ihn nicht, sein Sterben war leichter gewesen als sein Leben.

Am Abend stand ich am Bahnhof und sah den alten Imthor aus dem Zuge steigen, und hinter ihm eine hohe, schwarz gekleidete Frau, und führte sie hinaus zu dem Toten, der nun angekleidet und aufgebahrt lag, zwischen den Blumen von gestern. Da bückte sich Gertrud und küsste ihn auf den blassen Mund.

Als wir an seinem Grabe standen, sah ich eine hübsche, große Frau mit verweintem Gesicht, die Rosen in den Händen hatte und allein stand, und als ich neugierig hinschaute, was es Lotte. Sie nickte mir zu, und ich lächelte. Gertrud aber hatte nicht geweint, sie schaute aus einem bleichen, schmalen Gesicht überwach und streng vor sich in den leisen Regen, der im Wind versprühte, und hielt sich gerade wie ein junger Baum, als stünde sie auf unerschütterten Wurzeln. Es war aber nur Notwehr, und zwei Tage später, als sie zu Hause Muoths Blumen auspackte, die unterdessen angekommen waren, brach sie zusammen und blieb eine lange Zeit für uns alle unsichtbar.

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