Es war schon dafür gesorgt, dass ich an die Hochzeit meiner Freunde nicht lange denken und meine Betrachtungen und Wünsche und Selbstquälereien nicht diesen Weg nehmen lassen konnte. An meine Mutter hatte ich in diesen Tagen wenig gedacht. Ich wusste zwar aus ihrem letzten Brief, dass es um Behaglichkeit und Frieden in ihrem Hause nicht glänzend bestellt sei, doch hatte ich weder Grund noch Lust, mich in den Streit der beiden Damen zu mischen, sondern ließ ihn mit einiger Schadenfreude als eine Tatsache bestehen, zu welcher mein Urteil entbehrlich war. Seither hatte ich geschrieben, ohne Antwort bekommen zu haben, und hatte mit dem Besorgen und Durchsehen der Abschriften für meine Oper genug zu tun, als dass ich mir über das Fräulein Schniebel Gedanken hätte machen können.
Da kam ein Brief von meiner Mama, der mich schon durch seinen ganz ungewohnt großen Umfang in Erstaunen setzte. Es war eine peinliche Anklageschrift gegen ihre Hausgenossin, aus der ich alle ihre Vergehungen wider den Haus- und Seelenfrieden meiner guten Mutter genau erfuhr. Es fiel ihr schwer, mir das zu schreiben, und sie tat es mit Würde und Vorsicht, allein es war ein kleines Geständnis der Täuschung, in der sie betreffs ihrer alten Freundin und Base gelebt hatte. Meine Mutter gab nicht nur meiner und meines seligen Vaters Abneigung gegen Demoiselle Schniebel durchaus recht, sie war sogar jetzt bereit, das Haus zu verkaufen, falls ich das noch wünsche, und ihren Wohnort zu wechseln, und alles nur, um der Schniebel zu entrinnen.
»Es wäre vielleicht gut, wenn Du selber herkämest. Nämlich Lucie weiß schon, wie ich denke und was ich plane, sie ist darin sehr spürig; aber wir stehen zu gespannt miteinander, als dass ich ihr in der rechten Form das Nötige sagen könnte. Meine Andeutungen, dass ich lieber wieder allein im Hause wäre und dass sie entbehrlich sei, will sie nicht verstehen, und offenen Streit will ich nicht haben. Ich weiß, sie würde keifen und sich auf die Hinterbeine stellen, wenn ich sie direkt zum Gehen auffordern wollte. Da ist es besser, Du kommst und bringst das in Ordnung. Ich will keinen Skandal haben, und sie soll nicht zu kurz kommen, aber es muss ihr deutlich und bestimmt gesagt werden.«
Ich wäre auch bereit gewesen, den Drachen zu erschlagen, wenn Mama es verlangt hätte. Mit großem Vergnügen machte ich mich reisefertig und fuhr nach Hause. Dort merkte ich freilich gleich beim Eintritt in unser altes Haus, dass ein neuer Geist darin herrschte. Namentlich die große behagliche Stube hatte ein grämliches, unfreundliches, gedrücktes und ärmliches Aussehen bekommen, alles sah mühsam bewacht und geschont aus, und auf dem alten soliden Fußboden lagen sogenannte »Läufer«, lange Trauerstreifen aus billigem und hässlichem Stoff, um die Diele zu schonen und am Aufwaschen zu sparen. Das alte Tafelklavier, das seit Jahren unbenutzt im Salon stand, war gleichfalls mit einer solchen Schonhülle bekleidet, und obwohl die Mutter zu meiner Ankunft Tee und Gebäck bereit und alles ein wenig nett gemacht hatte, roch es doch nach altjüngferlicher Kümmerlichkeit und Naphthalin so unverwischbar, dass ich gleich beim Empfang die Mutter anlächelte und die Nase rümpfte, was sie sofort verstand.
Kaum saß ich im Stuhl, so kam der Drache herein, trabte über die Läufer auf mich zu und ließ sich Ehre erweisen, was ich tat, ohne zu sparen. Ich fragte eingehend nach ihrem Befinden und entschuldigte das alte Haus, das vielleicht nicht jede Bequemlichkeit biete, an die sie gewöhnt sei. Sehr über meine Mutter hinwegsprechend, nahm sie die Rolle der Hausfrau an sich, schaute nach dem Tee, erwiderte meine Höflichkeit eifrigst und schien zwar geschmeichelt, noch mehr aber beängstigt und misstrauisch gemacht durch meine übertriebene Freundlichkeit. Sie witterte Verrat, war aber genötigt, auf die angenehme Tonart einzugehen und selber ihren ganzen Vorrat von etwas antiquierten Artigkeiten auszubreiten. Unter lauter Ergebenheit und Hochachtung sahen wir die Nacht herankommen, wünschten einander herzlich den besten Schlaf und trennten uns wie Diplomaten der alten Schule. Doch glaube ich, der Kobold hat trotz des Zuckerbrots in jener Nacht wenig geschlafen, während ich befriedigt ausruhte und meine arme Mutter vielleicht nach manchen in Ärger und Betrübnis hingebrachten Nächten zum erstenmal wieder mit ungeschmälerten Hausfrauengefühlen im eigenen Hause einschlief.
Beim Frühstück am anderen Morgen begann dasselbe zierliche Spiel. Meine Mutter, die abends nur still und gespannt zugehört hatte, nahm jetzt mit Vergnügen selber teil, und wir behandelten die Schniebel mit einer Artigkeit und Zartheit, die sie sehr ins Enge trieb, ja traurig machte, denn sie ahnte wohl, dass meiner Mutter diese Töne nicht vom Herzen kämen. Beinahe hätte mir das alte Mädchen leid getan, wie sie ängstlich wurde und sich klein zu machen strebte, alles lobte und gut hieß; allein ich dachte an die entlassene Stubenmagd, an die unzufrieden aussehende Köchin, die nur der Mutter zuliebe noch geblieben war, ich dachte an das eingenähte Klavier und den ganzen trübsinnigen kleinlichen Geruch in meinem ehemals fröhlichen Vaterhaus und blieb hart.
Nach Tisch bat ich meine Mutter, sich etwas zu legen, und blieb mit der Base allein.
»Pflegen Sie etwa nach Tisch zu schlafen?« fragte ich höflich. »Dann möchte ich Sie nicht stören. Ich hätte etwas mit Ihnen zu reden, doch eilt es ja nicht so sehr.«
»O bitte, ich schlafe nie am Tage. So alt bin ich ja gottlob noch nicht. Ich stehe ganz zu Diensten.«
»Danke sehr, gnädiges Fräulein. Ich wollte Ihnen Dank sagen für die Freundlichkeiten, die Sie meiner Mutter erwiesen haben. Sie hätte es sonst doch sehr einsam gehabt in dem leeren Haus. Nun, jetzt wird das ja anders.«
»Wie?« rief sie aufspringend. »Was wird anders?«
»Wissen Sie es noch nicht? Mama hat sich entschlossen, endlich meinen alten Wunsch zu erfüllen und zu mir zu ziehen. Da können wir das Haus natürlich nicht leer stehen lassen. So wird es denn wohl bald zum Verkauf kommen.«
Das Fräulein starrte mich fassungslos an.
»Ja, es tut mir auch leid«, fuhr ich bedauernd fort. »Nun, für Sie war diese Zeit immerhin anstrengend. Sie haben sich des ganzen Hauses so freundlich und sorglich angenommen, dass ich nicht genug danken kann.«
»Aber ich, was soll, wohin soll ich «
»Nun, das wird sich ja finden. Sie müssen sich eben wieder eine Wohnung suchen, es eilt natürlich nicht so sehr. Sie werden sich selber freuen, es wieder stiller zu haben.«
Sie war aufgestanden. Ihr Ton war noch höflich, aber bedenklich scharf.
»Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll«, rief sie erbittert. »Ihre Mutter, Herr, hat mir versprochen, mich hier wohnen zu lassen. Es war eine feste Abmachung; und jetzt, wo ich mich des Hauses angenommen und Ihrer Mutter in allem geholfen habe, jetzt setzt man mich auf die Straße!«
Sie begann zu schluchzen und wollte fortlaufen. Doch hielt ich sie an ihrer mageren Hand zurück und setzte sie wieder in ihren Sessel.
»So schlimm ist es nicht«, sagte ich lächelnd. »Dass meine Mutter von hier wegziehen will, ändert eben die Verhältnisse ein wenig. Übrigens ist der Verkauf des Hauses nicht von ihr beschlossen, sondern von mir, denn ich bin der Besitzer. Dass Sie sich beim Aussuchen einer neuen Wohnung nicht beschränken und die Sorge dafür ihr überlassen, setzt meine Mutter voraus. Sie haben es dann bequemer als bisher und sind doch noch gewissermaßen ihr Gast.«
Es kamen nun die erwarteten Einwände, der Stolz, das Weinen, das mit Bitten abwechselnde Großtun, und am Ende merkte die Schmollende, dass hier Nachgeben das klügste sei. Doch zog sie sich auf dieses hin in ihr Zimmer zurück und ließ sich auch zum Kaffee nicht sehen. Meine Mutter meinte, wir sollten ihr diesen aufs Zimmer schicken, doch wollte ich nach all der Höflichkeit auch meine Rache haben und ließ Fräulein Schniebel in ihrem Trotz verharren bis zum Abend, wo sie denn still und grämlich, doch pünktlich zur Mahlzeit erschien.
»Ich muss leider schon morgen wieder nach R. fahren«, sagte ich während des Abendessens. »Solltest du mich aber brauchen, Mama, so kann ich ja immer schnell herfahren.«
Ich sah dabei nicht meine Mutter, sondern ihre Cousine an, und sie merkte, wie es gemeint sei. Mein Abschied von ihr war kurz und meinerseits beinahe herzlich.
»Kind«, sagte meine Mutter nachher, »du hast es gut gemacht, und ich muss dir danken. Willst du mir nicht etwas aus deiner Oper vorspielen?«
Dazu kam es nun nicht, aber war ein Ring durchbrochen, und zwischen der alten Frau und mir begann es zu tagen. Das war das Beste an der Sache. Sie hatte jetzt Vertrauen zu mir, und ich freute mich darauf, bald mit ihr ein kleines Hauswesen zu eröffnen und aus der langen Heimatlosigkeit herauszukommen. Ich reiste befriedigt ab, hinterließ schöne Grüße an das alte Fräulein und begann nach meiner Rückkehr schon da und dort einzukehren, wo hübsche kleine Wohnungen zu vermieten standen. Dabei half mir Teiser, und meistens war auch seine Schwester mit, und beide freuten sich mit mir und hofften auf ein erfreuliches Zusammenleben der beiden kleinen Familien.
Inzwischen war meine Oper nach München gegangen. Nach zwei Monaten, kurz vor der Ankunft meiner Mutter, schrieb mir Muoth, sie sei angenommen, könne aber in dieser Spielzeit nicht mehr einstudiert werden. Doch werde sie im Beginn des nächsten Winters aufgeführt werden. So hatte ich der Mutter eine gute Nachricht, und Teiser veranstaltete ein Fest mit Freudentänzen, als es er hörte.
Meine Mutter weinte beim Einzug in unsere hübsche Gartenwohnung und meinte, es sei nicht gut, im Alter noch auf fremden Boden verpflanzt zu werden. Ich aber fand es sehr gut, und die Teisers auch, und Brigitte half und ging meiner Mutter zur Hand, dass es eine Freude war. Das Mädchen hatte wenig Bekannte in der Stadt und war oft, während ihr Bruder im Theater war, einsam zu Hause gesessen, was ihr allerdings nicht anzusehen war. Nun kam sie viel zu uns und half auch mir und der Mutter, den schwierigen Weg in ein freundlich stilles Zusammenleben hineinzufinden. Sie wusste es der alten Frau zu erklären, wenn ich Ruhe brauchte und allein sein musste, sie war dann zur Hand und sprang für mich ein, und mir deutete sie manche Bedürfnisse und Wünsche meiner Mutter an, die ich nie erraten und die Mutter mir nie mitgeteilt hätte. So gab es bald eine kleine Heimat und einen Heimatfrieden bei uns, anders und bescheidener, als ich mir vormals mein Heim vorgestellt hatte, doch gut und schön genug für einen, der es selber nicht weiter gebracht hatte als ich.
Jetzt lernte meine Mutter auch meine Musik kennen. Sie hieß nicht alles gut und schwieg zu dem meisten, aber sie sah und glaubte, dass es nicht Zeitvertreib und Spielerei, sondern Arbeit und Ernst war, und fand überhaupt zu ihrem Erstaunen unser Musikantenleben, das sie sich stark seiltänzerhaft vorgestellt hatte, kaum viel weniger bürgerlichfleißig als das, das der selige Papa etwa geführt hatte. Von ihm konnten wir nun auch besser reden, und allmählich hörte ich tausend Geschichten von ihm und von ihr, von den Großeltern und von der eigenen Kinderzeit. Die Vergangenheit und Familie ward mir lieb und interessant, ich fühlte mich nicht mehr außerhalb des Kreises. Dagegen lernte meine Mutter, mich gewähren zu lassen und Vertrauen zu mir zu haben, auch wenn ich in Arbeitszeiten mich einschloss oder reizbar war. Sie hatte es bei meinem Vater sehr gut gehabt, desto härter war ihre Prüfung in der Schniebelschen Zeit gewesen; jetzt fasste sie wieder Vertrauen und hörte allmählich auf, von ihrem Altwerden und Vereinsamen zu reden.
In all diesem Behagen und bescheidenen Glück sank das Leidgefühl und Ungenügen unter, in dem ich lang gelebt hatte. Es sank aber nicht ins Bodenlose, sondern ruhte tief und unverloren in meiner Seele, sah mich in mancher Nacht fragend an und behielt sein Recht. Je ferner das Vergangene zurückgesunken schien, desto klarer stieg mir das Bild meiner Liebe und meines Leides herauf, blieb bei mir und war mein stiller Mahner.
Manchmal hatte ich gemeint zu wissen, was Liebe sei. Schon in Jünglingszeiten, da ich betört um die hübsche leichte Liddy schwärmte, hatte ich Liebe zu kennen gemeint. Dann wieder, als ich Gertrud zuerst sah und fühlte, dass sie die Antwort auf meine Fragen und der Trost für meine dunklen Wünsche sei. Dann wieder, als Pein begann und aus der Freundschafft und Klarheit Leidenschafft und Dunkel wurde, und schließlich, als sie mir verloren war. Aber die Liebe blieb und war immer bei mir, und ich wusste, dass ich niemals mehr einer Frau mit Begierde folgen und nach dem Kuss eines Frauenmundes verlangen konnte, seit ich Gertrud im Herzen hatte.
Ihr Vater, den ich zuweilen besuchte, schien jetzt von meinem Verhältnis zu ihr zu wissen. Er bat sich das Präludium aus, das ich zu ihrer Hochzeit gemacht hatte, und zeigte mir ein stilles Wohlwollen. Er mochte fühlen, wie gern ich von ihr hörte und wie ungern ich doch fragte, und er teilte mir viel aus ihren Briefen mit. Darin war auch von mir häufig die Rede, namentlich von meiner Oper. Sie schrieb, dass für die Sopranrolle eine gute Sängerin gefunden sei und wie sie sich freue, das ihr schon so vertraute Werk endlich ganz zu hören. Sie freute sich auch darüber, dass ich meine Mutter bei mir habe. Was sie über Muoth schrieb, weiß ich nicht.
Mein Leben lief ruhig hin, die Ströme der Tiefe drangen nicht mehr nach oben. Ich arbeitete an einer Messe und hatte ein Oratorium im Kopf, für das mir der Text noch fehlte. Wenn ich genötigt war, an die Oper zu denken, war es mir eine fremde Welt. Meine Musik ging neue Wege, sie wurde einfacher und kühler, sie wollte trösten und nicht erregen.
In dieser Zeit waren die Geschwister Teiser mir viel wert. Wir sahen uns beinahe täglich, wir lasen, musizierten miteinander, hatten Feste und Ausflüge gemeinsam. Nur im Sommer, da ich die rüstigen Wandersleute nicht beschweren wollte, trennten wir uns für einige Wochen. Die Teisers wanderten wieder in Tirol und Vorarlberg umher und schickten Schachteln mit Edelweiß; ich aber hatte die Mutter zu ihren Verwandten in Norddeutschland gebracht, wo sie schon seit Jahren eingeladen war, und hatte mich an die Nordsee gesetzt. Da hörte ich Tag und Nacht das alte Lied des Meeres und ging in der herben, frischen Seeluft meinen Gedanken und Melodien nach. Von hier aus fand ich zum erstenmal das Herz, an Gertrud nach München zu schreiben – nicht an die Frau Muoth, sondern an meine Freundin Gertrud, der ich von meiner Musik und meinen Träumen erzählte. Vielleicht freut es sie, dachte ich, und vielleicht kann ihr auch ein Trost und Freundesgruß nicht schaden. Denn wider mein eigenes Herz musste ich meinem Freunde Muoth misstrauen und immer um Gertrud in einer leisen Sorge sein. Ich kannte ihn zu gut, den eigenwilligen Melancholiker, der gewohnt war, seinen Launen zu leben und nirgends ein Opfer zu bringen, den dunkle Triebe hinrissen und leiteten und der in nachdenklichen Stunden seinem eigenen Leben zusah wie einem Trauerspiel. Wenn das wirklich eine Krankheit war, das Einsamsein und Nichtverstandenwerden, wie es der gute Herr Lohe mir dargestellt hat, so litt Muoth an dieser Krankheit mehr als irgend jemand.
Doch hörte ich Nichts von ihm, Briefe schrieb er nicht. Auch Gertrud antwortete nur mit einem kurzen Dank und der Aufforderung, zeitig im Herbst nach München zu kommen, wo man gleich mit dem Anfang der Spielzeit mit dem Einstudieren meiner Oper fortfahren werde.
Anfangs September, als wir alle wieder in der Stadt und im gewohnten Leben waren, kamen wir einen Abend in meiner Wohnung zusammen, um meine Arbeit vom Sommer durchzusehen. Die Hauptsache war ein kleines lyrisches Stück für zwei Geigen und Klavier. Das spielten wir. Brigitte Teiser saß am Klavier, ich konnte über mein Blatt hinweg ihren Kopf mit dem schwarzen Kranz von blonden Zöpfen sehen, deren Ränder im Kerzenlicht golden flammten. Ihr Bruder stand neben ihr und spielte die erste Geige. Es war eine einfache, liedartige Musik, leise klagend und sommerabendlich verklingend, nicht froh noch traurig, sondern in verlorener Abendstimmung schwebend wie eine verglühende Wolke nach Sonnenuntergang. Das Stücklein gefiel den Teisers und besonders Brigitte. Sie pflegte mir selten etwas über meine Musik zu sagen, sondern sich in einer Art von mädchenhafter Ehrfurcht still zu verhalten und mich nur bewundernd anzusehen, denn sie hielt mich für einen großen Meister. Heute fasste sie sich ein Herz und gab ihren besonderen Gefallen kund. Sie glänzte mich aus ihren hellblauen Augen innig an und nickte, dass das Licht auf ihren blonden Zöpfen tanzte. Sie war sehr hübsch, beinahe eine Schönheit.
Um ihr eine Freude zu machen, nahm ich ihre Klavierstimme, schrieb mit dem Bleistift über die Noten eine Widmung: »An meine Freundin Brigitte Teiser« und gab ihr die Noten zurück.
»Das soll jetzt immer über dem kleinen Lied stehen«, sagte ich galant und machte ein Kompliment. Sie las die Widmung, langsam rot werdend, streckte mir die kleine, kräftige Hand hin und hatte plötzlich die Augen voll Tränen.
»Ist’s auch Ihr Ernst?« fragte sie leise.
»Es wird schon sein«, lachte ich. »Und ich finde, das Stücklein passt ganz gut zu Ihnen, Fräulein Brigitte.«
Ihr Blick, der noch voll Tränen war, setzte mich in Erstaunen, so ernst und frauenhaft war er. Doch achtete ich nicht weiter darauf, Teiser legte jetzt seine Geige weg, und meine Mutter, die seine Bedürfnisse schon kannte, schenkte den Wein in die Gläser. Das Gespräch wurde lebhaft, wir stritten über eine neue Operette, die vor einigen Wochen aufgeführt worden war, und der kleine Vorfall mit Brigitte fiel mir erst spät am Abend, als die beiden Abschied nahmen und sie mir seltsam unruhig in die Augen sah, wieder ein.
In München begann man unterdessen mein Werk einzustudieren. Da die eine Hauptrolle bei Muoth in den besten Händen war und Gertrud auch die Sopransängerin gelobt hatte, wurden mir das Orchester und die Chöre zur Hauptsache. Ich ließ meine Mutter in der Obhut der Freunde und fuhr nach München.
Am Morgen nach meiner Ankunft fuhr ich durch die schönen, breiten Straßen nach Schwabing und zu dem still gelegenen Hause, wo Muoth wohnte. Die Oper hatte ich völlig vergessen, ich dachte nur an ihn und an Gertrud und wie ich sie finden würde. Der Wagen hielt an einer fast ländlichen Nebenstraße vor einem kleinen Hause, das in herbstlichen Bäumen stand, gelbe Ahornblätter lagen zu beiden Seiten des Weges in Haufen gefegt. Beklommen trat ich ein, das Haus machte einen behaglichen herrschafftlichen Eindruck, ein Diener nahm mir den Mantel ab.
In dem großen Zimmer, in das ich geführt wurde, erkannte ich zwei von den großen alten Malereien aus dem Hause Imthor, die hierher mitgekommen waren. An einer andern Wand hing ein neues Bild Muoths, in München gemalt, und während ich es ansah, kam Gertrud herein.
Mir schlug das Herz, als ich ihr nach so langer Zeit in die Augen sah. Sie lächelte aus einem veränderten, strenger gewordenen Frauengesicht, doch in der alten Freundschafft, und gab mir herzlich die Hand.
»Geht es gut?« sagte sie freundlich. »Sie sind älter geworden, aber Sie sehen gut aus. Wir haben Sie schon lange erwartet.«
Sie fragte nach allen Freunden, nach ihrem Vater, nach meiner Mutter, und wie sie warm wurde und die erste Scheu vergaß, sah ich sie ganz so wie früher. Unversehens verflog meine Befangenheit, und ich sprach mit ihr als mit einer guten Freundin, erzählte vom Sommer am Meer, von meiner Arbeit, von Teiser, und schließlich sogar von dem armen Fräulein Schniebel.
»Nun«, rief sie, »und jetzt wird Ihre Oper gespielt! Sie werden sich freuen.«
»Ja«, sagte ich, »aber am meisten freue ich mich doch darauf, Sie wieder einmal singen zu hören.«
Sie nickte mir zu. »Darauf freu ich mich auch. Ich singe viel, aber fast nur für mich allein. Wir wollen alle Ihre Lieder singen, sie liegen immer zur Hand und werden bei mir nicht staubig. Bleiben Sie zu Tische da, mein Mann muss bald kommen und kann sie dann nachmittags zum Dirigenten begleiten.«
Wir gingen nun in das Musikzimmer, ich setzte mich ans Klavier, und da sang sie meine Lieder von damals, dass ich stiller wurde und Mühe hatte, heiter zu bleiben. Ihre Stimme war reifer und fester geworden, aber sie flog noch so leicht und mühelos wie sonst und ging mir mit der Erinnerung an die besten Tage meines Lebens zum Herzen, dass ich wie verzaubert über den Tasten saß und leise die alten Noten spielte und für Augenblicke mit geschlossenen Augen lauschend Jetzt und Einst nicht mehr zu unterscheiden vermochte. Gehörte sie nicht zu mir und zu meinem Leben? Waren wir nicht einander nahe wie Geschwister und eng Befreundete? Freilich, mit Muoth hatte sie anders gesungen!
Plaudernd saßen wir noch eine Weile, froh und ohne dass wir einander viel zu sagen hatten, denn wir spürten, dass es zwischen uns keiner Auseinandersetzung bedurfte. Wie es ihr gehe und wie es zwischen ihr und ihrem Manne stehe, darüber dachte ich jetzt nicht nach, das würde ich später selber sehen können. Jedenfalls war sie nicht von ihrer Bahn gewichen und ihrem Wesen nicht untreu geworden, und wenn es ihr nicht gut ging und sie zu tragen hatte, so trug sie es nobel und unverbittert.
Nach einer Stunde kam Heinrich, der schon von meinem Hiersein gehört hatte. Er begann sofort von der Oper zu sprechen, die jedermann wichtiger zu sein schien als mir selber. Ich fragte, wie es ihm in München gefalle und gehe.
»Wie überall«, sagte er ernsthaft. »Das Publikum hat mich nicht gern, weil es spürt, dass ich mir auch aus ihm nichts mache. Ich werde selten gleich beim ersten Auftreten freundlich aufgenommen; ich muss jedesmal die Leute erst fassen und mitreißen. So habe ich Erfolge, ohne beliebt zu sein. Manchmal singe ich freilich auch miserabel, das muss ich selber sagen. Nun, deine Oper wird ein Erfolg, darauf kannst du rechnen, für dich und mich. Heute gehen wir zum Dirigenten, morgen laden wir die Sopransängerin, und wen du sonst haben willst, ein. Morgen früh ist auch eine Orchesterprobe. Ich glaube du wirst zufrieden sein.«
Bei Tisch konnte ich beobachten, dass er gegen Gertrud außerordentlich höflich war, was mir gar nicht gefiel. Und so blieb es die ganze Zeit, solange ich in München war und die beiden täglich sah. Sie waren ein wundervolles Paar schöner Menschen und machten Eindruck, wohin sie kamen. Doch war es zwischen ihnen kühl, und ich dachte mir, dass nur Gertruds Stärke und Überlegenheit ihn vermöge, diese Kühle so in Höflichkeit und würdige Form zu verwandeln. Sie schien aus ihrer Leidenschafft für den schönen Mann noch nicht lange erwacht zu sein und noch auf die Wiederkehr der verlorenen Innigkeit zu hoffen. Jedenfalls war sie es, die auch ihn zu guten Formen nötigte. Sie war zu vornehm und gut, um selbst vor Freunden die Enttäuschte und Unverstandene zu spielen und ihr geheimes Leiden irgend jemand zu zeigen, wenn sie es auch mir nicht verbergen konnte. Doch hätte sie auch von mir keinen Blick und keine Gebärde des Verstehens oder Mitleids ertragen, wir sprachen und taten durchaus, als wäre ihre Ehe ohne Trübung.
Wie lange sich dieser Zustand würde erhalten lassen, war freilich zweifelhaft und hing ganz von Muoth ab, dessen Unberechenbarkeit ich hier zum erstenmal von einer Frau gebändigt sah. Mir taten beide leid, doch war ich nicht sehr verwundert, die Dinge so zu finden. Die beiden hatten ihre Leidenschafft gehabt und genossen, nun mochten sie entweder Entsagung lernen und die gute Zeit in wehmütiger Erinnerung tragen oder den Weg zu einem neuen Glück und einer neuen Liebe finden. Vielleicht würde ein Kind sie wieder zusammenführen, nicht mehr in den verlassenen Paradiesgarten der Liebesglut zurück, wohl aber zu einem neuen, guten Willen, gemeinsam zu leben und sich ineinander zu schicken. Dazu hatte Gertrud die Kraft und die innere Heiterkeit, das wusste ich. Ob auch Heinrich sie finden würde, darüber mochte ich mir keine Gedanken machen. So leid sie mir taten, dass der große, schöne Sturm ihrer ersten Glut und Freude aneinander schon vorüber war, so freute mich doch die gute Haltung beider, die immer noch nicht nur vor den Leuten, sondern auch voreinander ihre Schönheit und Würde bewahrt hatten.
Die Einladung, in Muoths Hause zu wohnen, mochte ich indessen nicht annehmen, und er ließ mir meinen Willen. Ich war täglich dort, und es tat mir wohl zu sehen, dass Gertrud mich gerne kommen sah und sich am Plaudern und Musizieren mit mir freute, so dass ich nicht allein der Nehmende war.
Die Aufführung der Oper sollte nun bestimmt im Dezember stattfinden. Ich blieb zwei Wochen da, nahm an allen Orchesterproben teil, musste da und dort streichen und anpassen, sah aber das Werk in guten Händen. Es war mir wunderlich, die Sänger und Sängerinnen, die Geiger und Flötisten, Kapellmeister und Chor mit meiner Arbeit beschäftigt zu sehen, die mir selber fremd geworden war und ein Leben atmete, das nicht mehr meines war.
»Warte nur«, sagte Heinrich zuweilen, »jetzt bekommst du bald die verfluchte Luft der Öffentlichkeit zu atmen. Fast möchte ich dir wünschen, es möchte keinen Erfolg geben. Denn dann hast du die Meute hinter dir, du wirst dann bald mit Locken und Autographen handeln können und sehen, wie geschmackvoll und liebenswürdig die Anbetung der Herde ist. Von deinem lahmen Bein spricht schon jetzt jedermann. So etwas macht populär!«
Nach den notwendigsten Proben und Versuchen reiste ich wieder ab, um erst einige Tage vor der Auff ührung wiederzukommen. Teiser fand kein Ende mit Fragen über die Aufführung, er dachte an hundert Einzelheiten im Orchester, die ich kaum beachtet hatte, und sah der Sache mit größerer Aufregung und Unruhe entgegen als ich selber. Als ich ihn einlud, samt seiner Schwester der Aufführung beizuwohnen, tat er einen Freudensprung. Dagegen wollte meine Mutter die Winterreise und die Aufregung nicht teilen, und mir war es nicht unlieb. Allmählich spürte ich die Spannung doch und brauchte abends ein Glas Rotwein, um einschlafen zu können.
Es wurde früh Winter, und unser Häuschen lag tief eingeschneit in seinem Garten, als eines Morgens die Geschwister Teiser mich im Wagen abholten. Die Mutter winkte vom Fenster nach, der Wagen fuhr ab, und Teiser sang aus seinem dicken Halstuch heraus ein Reiselied. Auf der ganzen langen Eisenbahnfahrt war er wie ein Knabe, der in die Weihnachtsferien fährt, und die hübsche Brigitte glühte in stillerem Vergnügen mit. Ich war froh, ihre Gesellschafft zu haben, denn meine Ruhe war nun dahin, und ich ging den Ereignissen der nächsten Tage wie ein Verurteilter entgegen.
Das merkte auch Muoth sofort, der uns am Bahnhof erwartete. »Du hast Lampenfieber, Junge«, lachte er vergnügt. »Gott sei Dank dafür! Du bist eben doch ein Musiker und kein Philosoph.«
Damit schien er recht zu haben, denn meine Erregung hielt bis zur Aufführung an, und ich habe in jenen Nächten nicht geschlafen. Von uns allen war nur Muoth ruhig. Teiser brannte vor Unruhe, er kam zu jeder Probe und fand kein Ende mit Kritisieren. Geduckt und lauernd saß er in den Proben neben mir, schlug an heiklen Stellen den Takt laut mit der Faust, lobte und schüttelte den Kopf.
»Da fehlt ja eine Flöte!« rief er gleich bei der ersten Orchesterprobe so laut, dass der Dirigent unwillig herüberschaute.
»Die haben wir streichen müssen«, sagte ich lächelnd.
»Die Flöte? Gestrichen? Ja, warum denn? So eine Viecherei! Pass auf, die verdudeln dir deine ganze Ouvertüre!«
Ich musste lachen und ihn mit Gewalt zurückhalten, so wild ging er ins Zeug. Aber bei seiner Liebling ss telle in der Ouvertüre, wo Bratschen und Celli einsetzen, lehnte er mit geschlossenen Augen zurück, drückte meine Hand krampfhaft und flüsterte nachher beschämt: »Ja, das hat mir nasse Augen gemacht. Sakrisch fein ist’s.«
Die Sopranrolle hatte ich noch nicht singen hören. Nun war es mir merkwürdig und wehmütig, sie zum erstenmal von einer fremden Stimme zu vernehmen. Die Sängerin machte es gut, und ich sagte ihr sogleich meinen Dank, aber im Herzen dachte ich an die Nachmittage, da Gertrud diese Worte gesungen hatte, und hatte ein Gefühl uneingestandenen traurigen Missbehagens, wie wenn man ein liebes Besitztum weggegeben hat und nun zum erstenmal in fremden Händen sieht.
Gertrud sah ich in diesen Tagen wenig, sie beobachtete mein Fieber lächelnd und ließ mich in Ruhe. Ich hatte mit den Teisers einen Besuch bei ihr gemacht, da hatte sie Brigitte, die zu der schönen, vornehmen Frau bewundernd aufsah, mit heiterer Zärtlichkeit aufgenommen. Seither schwärmte das Mädchen für die schöne Frau und sang ihr Lob, in das auch der Bruder einstimmte.
An die beiden Tage vor der Aufführung kann ich mich nicht mehr genau erinnern, es war alles in mir durcheinandergeraten. Dazu kamen andere Aufregungen, ein Sänger wurde heiser, ein anderer war beleidigt, keine größere Rolle zu haben, und benahm sich bei den letzten Proben sehr übel, der Dirigent wurde immer gemessener und kälter, je mehr ich noch zu sagen hatte, Muoth stand mir gelegentlich bei, lächelte seelenruhig zu dem Tumult und war mir in dieser Lage mehr wert als der gute Teiser, der wie ein Feuerteufel hin und wider fuhr und überall zu mäkeln hatte. Brigitte sah mich ehrfurchtsvoll, doch auch mit einigem Bedauern an, wenn wir in ruhigen Stunden gedrückt und ziemlich schweigsam im Hotel beisammen saßen.
Nun, die Tage vergingen, und es kam der Abend der Aufführung. Während sich das Haus füllte, stand ich hinter der Bühne, ohne doch mehr das Geringste tun oder raten zu können. Schließlich hielt ich mich zu Muoth, der schon im Kostüm war und in einem Stübchen oder Winkel abseits des Lärmes langsam eine halbe Flasche Champagner leerte.
»Willst du ein Glas?« fragte er teilnehmend.
»Nein«, sagte ich. »Regt dich denn das nicht auf?«
»Was? Der Spektakel draußen? Das ist immer so.«
»Ich meine den Sekt.«
»O nein, der macht mich ruhig. Ein Glas oder zwei nehme ich immer, wenn ich etwas leisten will. Aber jetzt geh, es wird Zeit.«
Ich wurde von einem Diener in die Loge gebracht, wo ich schon Gertrud und beide Teisers sowie einen hohen Herrn von der Theaterleitung antraf, der lächelnd grüßte.
Gleich darauf hörten wir das zweite Glockenzeichen, Gertrud schaute mich freundlich an und nickte mir zu. Teiser, der hinter mir saß, ergriff meinen Arm und kniff mich verzweifelt. Das Haus wurde dunkel, und aus der Tiefe stieg feierlich meine Ouvertüre zu mir herauf. Jetzt wurde ich ruhiger.
Und jetzt erhob sich und erklang vor mir wohlbekannt und doch fremd mein Werk, das meiner nimmer bedurfte und sein eigenes Leben hatte. Lust und Mühe der vergangenen Tage, Hoffnungen und schlaflose Nächte, Leidenschafft und Sehnsucht jener Zeit standen losgelöst und verkleidet mir gegenüber, die Erregungen heimlicher Stunden klangen frei und werbend in das Haus an tausend fremde Herzen. Muoth kam und hob mit geschonter Kraft an, wuchs und gab sich her und sang mit seiner dunklen, unwilligen Glut, und die Sängerin gab Antwort in hohen, schwebenden, lichten Tönen. Da kam eine Stelle, die hatte ich noch genau so im Ohr, wie ich sie von Gertrud einmal gehört hatte, und sie war eine Huldigung für sie und ein leises Bekenntnis meiner Liebe gewesen. Ich wandte den Blick und sah ihr in die stillen, reinen Augen, die mich verstanden und freundlich grüßten, und in einem Augenblick fühlte ich den ganzen Sinn meiner Jugend wie den feinen Duft einer reifen Frucht mich berühren.
Von da an war ich ruhig und sah und hörte zu wie ein Gast. Beifall klang herauf, die Sänger und Sängerinnen erschienen am Vorhang und verneigten sich, Muoth wurde häufig gerufen und lächelte kühl ins erleuchtete Haus hinab. Man drang auch in mich, dass ich mich zeigen solle; doch war ich allzu benommen und hatte auch keine Lust, aus meiner angenehmen Verborgenheit hervorzuhinken.
Teiser hingegen lachte wie eine Morgensonne, umarmte mich und schüttelte auch dem hohen Herrn von der Theaterleitung unverlangt beide Hände.
Das Bankett war bereit und hätte uns auch nach einem Misserfolg erwartet. Wir fuhren in Wagen hin, Gertrud mit ihrem Mann, ich mit den Teisers. Auf der kurzen Fahrt begann Brigitte, die noch kein Wort gesagt hatte, plötzlich zu weinen. Sie wehrte sich anfangs und wollte widerstehen, hielt aber dann die Hände vors Gesicht und ließ die Tränen laufen. Ich mochte nichts sagen und war verwundert, dass Teiser gleichfalls schwieg und keine Frage an sie tat. Er legte nur den Arm um sie und brummte wohlwollend und tröstend, wie man ein Kind beruhigt.
Als nachher das Händeschütteln und die Glückwünsche und Trinksprüche kamen, blinzte Muoth mich sarkastisch an. Man fragte angelegentlich nach meiner nächsten Arbeit und war enttäuscht, als ich sagte, es sei ein Oratorium. Dann stieß man auf meine nächste Oper an, die aber bis heute nicht geschrieben ist.
Erst sehr spät in der Nacht, als wir uns losgemacht hatten und schlafen gingen, konnte ich Teiser fragen, was seiner Schwester fehle und warum sie geweint habe. Sie selber war längst zu Bett gegangen. Mein Freund sah mich prüfend und etwas verwundert an, schüttelte den Kopf und pfiff, bis ich meine Frage wiederholte.
»Du bist doch ein Huhn, ein blindes«, sagte er dann vorwurfsvoll. »Hast du denn nie was gemerkt?«
»Nein«, sagte ich mit aufsteigender Ahnung der Wahrheit.
»Nun, ich darf es schon sagen. Das Mädel hat dich gern gehabt, schon lang. Natürlich, sie hat mir’s nie gesagt, sowenig wie dir, aber gemerkt hab ich’s, und, offen gestanden, gefreut hätte mich’s, wenn’s was geworden wär.«
»O weh!« sagte ich aufrichtig traurig. »Aber was war nur das heute abend?«
»Dass sie geheult hat? Du bist doch ein Kind! Ja meinst, wir hätten nichts gesehen?«
»Was denn?«
»Lieber Gott! Du brauchst mir nichts davon zu sagen, und es ist recht, dass du’s nie getan hast; aber dann hättest auch die Frau Muoth nicht so anschauen sollen. Jetzt wissen wir’s eben.«
Ich bat ihn nicht, mein Geheimnis zu schonen, ich war seiner sicher. Leise legte er mir die Hand auf die Schulter.
»Ich kann mir jetzt auch allerlei denken, Freundl, was du in diesen Jahren geschluckt und uns verschwiegen hast. Es ist mir früher auch einmal ähnlich gegangen. Wir wollen jetzt brav zusammenhalten und schöne Musik machen, gelt? Und schauen, dass das Mädel sich tröstet. Da, gib mir die Hand, schön ist’s gewesen! Und auf Wiedersehen daheim! Ich fahr mit dem Mädel morgen in der Frühe.«
Damit trennten wir uns, doch kam er nach wenigen Augenblicken noch einmal zurückgelaufen und sagte eindringlich: »Du, bei der nächsten Aufführung muss aber die Flöte wieder rein, gelt?«
So endete der Freudentag, und jeder von uns lag noch lange erregt in Gedanken wach. Ich dachte an Brigitte. Die war nun alle diese Zeit in meiner Nähe gewesen und ich hatte nichts als gute Kameradschafft mit ihr gehabt und haben wollen, gerade wie Gertrud mit mir, und als sie meine Liebe zu der anderen erraten hatte, war es für sie dasselbe, wie es damals für mich gewesen war, als ich den Brief bei Muoth entdeckte und den Revolver lud. Und so traurig es mich machte, musste ich doch darüber lächeln.
Die Tage, die ich noch in München blieb, brachte ich zumeist bei Muoths hin. Es war kein Zusammensein mehr wie jene ersten Nachmittage, da wir drei zuerst miteinander gespielt und gesungen hatten; aber es gab doch im Nachglanz der Aufführung ein wortloses, gemeinsames Denken an jene Zeit und ein gelegentliches Aufleuchten auch zwischen ihm und Gertrud. Als ich Abschied genommen hatte, sah ich von draußen noch eine Weile auf das stille Haus in den winterlichen Bäumen, hoffte dort noch manchmal einzukehren und hätte gern mein bisschen Zufriedenheit und Glück hingegeben, um den beiden drinnen von neuem und für immer zueinander zu helfen.