Книга: Gertrud / Гертруда. Книга для чтения на немецком языке
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Sechstes Kapitel

Dass das Leben schwer zu leben ist, hatte ich auch früher schon zuzeiten dunkel empfunden. Nun hatte ich neue Ursache zu grübeln. Bis heute ist mir das Gefühl des Widerspruchs nie mehr verlorengegangen, das in jener Erkenntnis wurzelt. Denn mein Leben ist arm und mühsam gewesen und scheint doch andern, und manchmal mir selber, reich und herrlich. Mir erscheint das Menschenleben wie eine tiefe, traurige Nacht, die nicht zu ertragen wäre, wenn nicht da und dort Blitze flammten, deren plötzliche Helle so tröstlich und wunderbar ist, dass ihre Sekunden die Jahre des Dunkels auslöschen und rechtfertigen können.

Das Dunkel, die trostlose Finsternis, das ist der schreckliche Kreislauf des täglichen Lebens. Wozu steht man am Morgen auf, isst, trinkt, legt sich abermals wieder hin? Das Kind, der Wilde, der gesunde junge Mensch, das Tier leidet unter dem Kreislauf gleichgültiger Dinge und Tätigkeiten nicht. Wer nicht am Denken leidet, den freut das Aufstehen am Morgen und das Essen und Trinken, der findet Genüge darin und will es nicht anders. Wem aber diese Selbstverständlichkeit verlorenging, der sucht im Lauf der Tage begierig und wachsam nach den Augenblicken wahren Lebens, deren Aufblitzen beglückt und das Gefühl der Zeit samt allen Gedanken an Sinn und Ziel des Ganzen auslöscht. Man kann diese Augenblicke die schöpferischen nennen, weil es scheint, dass sie das Gefühl der Vereinigung mit dem Schöpfer bringen, weil man in ihnen alles, auch das sonst Zufällige, als gewollt empfindet. Es ist dasselbe, was die Mystiker die Vereinigung mit Gott nennen. Vielleicht ist es das überhelle Licht dieser Augenblicke, dass alle übrigen so finster erscheinen lässt, vielleicht kommt es von der befreiten, zauberhaften Leichtigkeit und Schwebewonne jener Augenblicke, dass das übrige leben so schwer und klebend und niederziehend empfunden wird. Ich weiß es nicht, ich habe es im Denken und Philosophieren nicht weit gebracht. Doch weiß ich: wenn es eine Seligkeit gibt und ein Paradies, so muss es eine ungestörte Dauer solcher Augenblicke sein; und wenn man diese Seligkeit durch Leid und Läuterung im Schmerz erlangen kann, so ist kein Leid und Schmerz so groß, dass man sie fliehen sollte. Einige Tage nach dem Begräbnis meines Vaters – ich ging noch in Betäubung und geistiger Erschlaffung umher – geriet ich auf einem ziellosen Spaziergang in eine vorstädtische Gartenstraße. Die kleinen hübschen Häuser weckten eine halbklare Erinnerung in mir, der ich grübelnd nachging, bis ich Garten und Haus meines alten Lehrers erkannte, der mich vor einigen Jahren zum Glauben der Theosophen hatte bekehren wollen. Ich ging hinein, der Mann kam mir entgegen, erkannte mich und führte mich freundlich in sein Zimmer, wo um Bücher und Blumentöpfe ein leichter behaglicher Duft von Tabakrauch wehte.

»Wie geht es Ihnen?« fragte Herr Lohe. »Ja, Sie haben ja Ihren Vater verloren! Sie sehen auch bekümmert aus. Ist es Ihnen so nahe gegangen?«

»Nein.« sagte ich. »Der Tod meines Vaters hätte mir weher getan, wenn ich ihm noch fremd gewesen wäre. Ich habe mich aber bei meinem letzten Besuch mit ihm befreundet und bin das peinliche Schuldgefühl losgeworden, das man gegen gute Eltern hat, solange man mehr Liebe von ihnen nimmt, als man geben kann.«

»Das freut mich.«

»Wie steht es denn mit Ihrer Theosophie? Ich würde gern etwas von Ihnen hören, weil es mir schlecht geht.«

»Wo fehlt es Ihnen denn?«

»An allem. Ich kann nicht leben und nicht sterben. Ich finde das Ganze falsch und dumm.«

Herr Lohe verzog sein gutes, zufriedenes Gärtnergesicht schmerzlich. Ich muss gestehen, eben dieses gute, etwas feistliche Gesicht hatte mich verstimmt, auch erwartete ich keineswegs von ihm und seiner Weisheit irgendeinen Trost. Ich wollte ihn nur reden hören, seine Weisheit als machtlos erweisen und ihn für sein Glücklichsein und seinen optimistischen Glauben strafen. Ich war nicht freundlich gewillt, nicht gegen ihn und gegen niemand.

Aber der Mann war durchaus nicht so selbstgefällig und in sein Dogma verschanzt, wie ich gedacht hatte. Er sah mir liebreich ins Gesicht, mit aufrichtigem Kummer, und schüttelte melancholisch den blonden Kopf.

»Sie sind krank, lieber Herr«, sagte er entschieden. »Vielleicht ist es nur körperlich, dann ist bald geholfen. Dann müssen Sie aufs Land, hart arbeiten und kein Fleisch essen. Aber ich glaube es sitzt anderswo. Sie sind gemütskrank.«

»Glauben Sie?«

»Ja. Sie haben eine Krankheit, die leider Mode ist und der man jeden Tag bei intelligenten Menschen begegnet. Die Ärzte wissen natürlich nichts davon. Es ist mit moral insanity verwandt und könnte auch Individualismus oder eingebildete Einsamkeit genannt werden. Die modernen Bücher sind voll davon. Es hat sich bei Ihnen die Einbildung eingeschlichen, Sie seien vereinsamt, kein Mensch gehe Sie etwas an, und kein Mensch verstehe Sie. Ist es nicht so?«

»Ungefähr, ja«, gab ich verwundert zu.

»Sehen Sie. Für den, der die Krankheit einmal hat, genügen ein paar Enttäuschungen, um ihn glauben zu machen, es gebe zwischen ihm und andern Menschen überhaupt keine Beziehungen, höchstens Missverständnisse, und es wandle eigentlich jeder Mensch in absoluter Einsamkeit, könne sich den andern nie recht verständlich machen und nichts mit ihnen teilen und gemeinsam haben. Es kommt auch vor, dass solche Kranke hochmütig werden und alle andern Gesunden, die einander noch verstehen und lieben können, für Herdenvieh halten. Wenn diese Krankheit allgemein würde, müssten die Menschen aussterben. Aber sie ist nur in Mitteleuropa und nur in den höheren Ständen zu treffen. Bei jungen Leuten ist sie heilbar, sie gehört sogar zu den unumgänglichen Entwicklungskrankheiten der Jugend.«

Sein leicht ironisch klingender Dozententon ärgerte mich ein wenig. Da er mich nicht lächeln und keine Miene zu meiner Verteidigung machen sah, kehrte der kummervoll gütige Ausdruck in seinem Gesicht wieder.

»Verzeihen Sie«, sagte er freundlich. »Sie haben die Krankheit selber, nicht die beliebte Karikatur davon. Aber es gibt wirklich ein Heilmittel. Es ist Einbildung, dass es keine Brücken zwischen Ich und Du gäbe, dass jeder einsam und unverstanden einhergehe. Im Gegenteil, das, was die Menschen gemeinsam haben, ist viel mehr und wichtiger, als was jeder einzelne für sich hat und wodurch er sich von andern unterscheidet.«

»Das ist möglich«, sagte ich. »Aber was soll es mir nützen, das zu wissen? Ich bin kein Philosoph, und mein Leiden besteht nicht darin, dass ich die Wahrheit nicht finden kann. Ich möchte kein Weiser und Denker werden, sondern einfach ein wenig zufriedener und leichter leben können.«

»Nun, versuchen Sie es! Sie sollen keine Bücher studieren und keine Theorien treiben. Aber an einen Arzt müssen Sie glauben, solange Sie krank sind. Wollen Sie das tun?«

»Probieren will ich es gerne.«

»Gut. Wenn Sie nur körperlich krank wären, und der Arzt würde Ihnen raten, Bäder zu nehmen oder Medizin zu trinken oder ans Meer zu gehen, so würden Sie vielleicht nicht begreifen, warum das oder das Mittel helfen soll, aber Sie würden es einmal probieren und folgen. Machen Sie es nun ebenso mit dem, was ich Ihnen rate! Lernen Sie eine Zeitlang mehr an andere als an sich selber denken! Es ist der einzige Weg zur Heilung.«

»Wie soll ich das aber machen? Es denkt doch jeder zuerst an sich selber.«

»Das müssen Sie überwinden. Sie müssen zu einer gewissen Gleichgültigkeit gegen Ihr eigenes Wohlsein kommen. Sie müssen denken lernen: was liegt an mir! Dazu hilft nur ein Mittel: Sie müssen irgend jemand so lieben lernen, dass sein Wohl Ihnen wichtiger ist als Ihr eigenes. Ich meine aber nicht, dass Sie sich verlieben sollen! Das wäre das Gegenteil!«

»Ich verstehe. Aber bei wem soll ich das denn probieren?«

»Fangen Sie in der Nähe an, bei Freunden, bei Ihren Verwandten. Da ist Ihre Mutter. Sie hat viel verloren, sie ist jetzt einsam und braucht Trost. Sorgen Sie für sie, halten Sie zu ihr und versuchen Sie, ihr etwas wert zu sein!«

»Wir verstehen einander nicht recht, meine Mutter und ich. Es wird schwer gehen.«

»Ja, wenn Ihr guter Wille nicht weiter reicht, wird es freilich nicht gehen! Das alte Lied vom Unverstandensein! Sie sollen nicht immer daran denken, dass der oder der Sie nicht ganz versteht, Ihnen vielleicht nicht ganz gerecht wird! Sie sollen selbst erst einmal versuchen, andere zu verstehen, andern Freude zu machen, andern gerecht zu werden! Tun Sie das, und fangen Sie bei Ihrer Mutter an! – Sie sehen, Sie müssen sich vorsagen: das Leben freut mich doch nicht, so oder so, warum soll ich’s also nicht einmal auf diese Art versuchen! Sie haben die Liebe zum eigenen Leben verloren, so schonen Sie es nicht, legen Sie sich eine Last auf, verzichten Sie auf das bisschen Bequemlichkeit!«

»Ich werde es versuchen, Sie haben recht, es ist ja einerlei, was ich tue; warum soll ich nicht das tun, was Sie raten?«

Was mich an seinen Worten ergriff und in Erstaunen setzte, war ihre Übereinstimmung mit dem, was mein Vater mir beim letzten Zusammensein als Lebensweisheit dargetan hatte: Leben für andere, sich selber nicht so ernst nehmen! Die Lehre widersprach meinem Gefühl unmittelbar, sie schmeckte auch ein wenig nach Katechismus und Konfirmandenunterricht, an welche ich, wie jeder gesunde junge Mensch, mit Abscheu und Verachtung dachte. Aber schließlich handelte es sich ja nicht um Meinungen und Weltanschauungen, sondern um einen ganz praktischen Versuch, das schwere Leben erträglich zu machen. Ich wollte ihn machen.

Verwundert sah ich dem Manne in die Augen, den ich nie recht ernst genommen hatte und jetzt als Ratgeber, ja als Arzt gelten ließ. Aber er schien wirklich etwas von jener Liebe zu haben, die er mir empfahl. Er schien mein Leiden zu teilen und mir ehrlich alles Gute zu wünschen. Ohnehin hatte mein Gefühl mir schon gesagt, dass ich eine gewaltsame Kur nötig habe, um wieder leben und atmen zu können wie andere. Ich hatte an eine lange Bergeinsamkeit oder an ein wildes Arbeiten gedacht, nun wollte ich aber lieber meinem Ratgeber folgen, da meine Erfahrung und Weisheit doch am Ende war.

Als ich meiner Mutter eröffnete, ich gedenke sie nicht alleine zu lassen, sondern hoffe, sie werde zu mir ziehen und mein Leben teilen, da schüttelte sie traurig den Kopf. »Was denkst du!« wehrte sie ab. »Das geht nicht so einfach. Ich habe meine alten Gewohnheiten und kann nimmer neu anfangen, und du brauchst Freiheit und darfst dich nicht mit mir beladen.«

»Wir können es ja einmal versuchen«, schlug ich vor. »Vielleicht geht es leichter, als du meinst.«

Fürs erste hatte ich genug zu tun, um vom Grübeln und Verzweifeln abgehalten zu sein. Da stand ein Haus und war ein ausgedehntes Geschäft mit Guthaben und mit Schulden, da waren Bücher und Rechnungen, was Geld ausgeliehen und Geld aufgenommen, und es war die Frage, was aus dem allen werden solle. Ich war natürlich von Anfang an entschlossen, alles zu verkaufen, doch ging das nicht so rasch, auch hing die Mutter an dem alten Hause, und das Testament meines Vaters wollte auch erfüllt sein, mit allerlei Haken und Schwierigkeiten. Der Buchhalter und ein Notar mussten helfen, die Tage und Wochen gingen mit Besprechungen hin, mit Briefwechsel um Geld und Schulden, mit Plänen und Enttäuschungen. Ich kannte mich bald in allen diesen Rechnungen und amtlichen Formularen nicht mehr aus, gab dem Notar noch einen Rechtsanwalt bei und überließ ihnen die Entwirrung.

Darüber kam meine Mutter nicht selten zu kurz. Ich gab mir Mühe, ihr diese Zeit leichter zu machen, ich hielt ihr alle Geschäfte vom Halse, ich las ihr vor und fuhr mit ihr spazieren. Zuweilen fiel es mir schwer, nicht auszureißen und alles liegenzulassen, doch hielt das Schamgefühl und eine gewisse Neugierde, wie es gehen werde, mich zurück.

Meine Mutter dachte an nichts als an den Verstorbenen, doch zeigte sich ihre Trauer in lauter kleinen, frauenhaften, mir fremden und oft kleinlich scheinenden Zügen. Anfangs musste ich bei Tisch an des Vaters Platz sitzen, dann fand sie, ich passe doch nicht dahin, und der Platz musste leer bleiben. Manchmal konnte ich ihr nicht genug vom Vater sprechen, dann wieder ward sie still und sah mich leidend an, sobald ich ihn nur nannte. Am meisten fehlte mir die Musik. Ich hätte viel darum gegeben, einmal eine Stunde geigen zu können, aber das durfte ich erst nach vielen Wochen wieder, und auch dann seufzte sie und fühlte einen Verstoß darin. Auf meine unfrohen Bemühungen, ihr mein Wesen und Leben näherzubringen und ihre Freundschafft zu gewinnen, ging sie nicht ein.

Da litt ich oft und wollte es aufgeben, doch bezwang ich mich wieder und gewöhnte mich an diese Tage ohne Resonanz. Mein eigenes Leben lag brach und tot, nur selten klang das Gewesene dunkel herüber, wenn ich im Traum die Stimme Gertruds hörte oder in einer leeren Stunde mir ungewollt Melodien aus meiner Oper einfielen. Als ich nach R. reiste, um meine Wohnung dort aufzugeben und meine Sachen einzupacken, schien alles dortige mir um Jahre entfernt. Ich besuchte Teiser, der mir treulich beistand. Nach Gertrud wagte ich nicht zu fragen.

Gegen das zurückhaltend resignierte Benehmen meiner Mutter, die mich auf die Dauer allzusehr bedrückte, musste ich allmählich einen regelrechten, versteckten Kampf beginnen. Bat ich sie offen, mir zu sagen, was sie wünsche und worin sie etwa mit mir unzufrieden sei, so streichelte sie traurig lächelnd meine Hand und sagte: »Lass nur, Kind! Ich bin eben eine alte Frau.« So begann ich denn auf eigene Faust zu forschen, wobei ich auch Fragen an den Buchhalter und die Dienstboten nicht verschmähte.

Da fand sich denn allerlei. Die Hauptsache war die: meine Mutter hatte in der Stadt eine einzige nahe Verwandte und Freundin, eine Cousine, die ein altes Fräulein war und wenig Umgang pflegte, mit meiner Mutter aber sehr enge Freundschafft unterhielt. Dieses Fräulein Schniebel hatte schon meinen Vater gar nicht geliebt, gegen mich aber einen richtigen Widerwillen gezeigt, so dass sie neuerdings nicht mehr ins Haus kam. Meine Mutter hatte ihr früher versprochen, sie zu sich zu nehmen, falls sie den Vater überlebe, und diese Hoffnung schien ihr mein Dableiben zu vereiteln. Als ich das allmählich erkundet hatte, machte ich dann der alten Dame einen Besuch und gab mir Mühe, mich ihr angenehm zu machen. Das Spiel mit Wunderlichkeiten und kleinen Intrigen war mir neu und machte mir beinahe Vergnügen. Es gelang mir, das Fräulein wieder in unser Haus zu bringen, und ich merkte, dass die Mutter mir dafür dankbar war. Allerdings taten sich die beiden nun zusammen, den von mir gewünschten Verkauf des alten Hauses zu hintertreiben, was ihnen wirklich gelang. Nun ging das Streben des Fräuleins dahin, meine Stelle im Hause einzunehmen und zu dem längst ersehnten warmen Altensitz zu gelangen, den ich ihr noch versperrte. Es wäre Raum genug für sie und mich gewesen, allein sie wollte keinen Hausherrn neben sich und weigerte sich, zu uns zu ziehen. Dagegen kam sie fleißig gelaufen, machte sich der Freundin in manchen kleinen Dingen unentbehrlich, behandelte mich diplomatisch wie eine gefährliche Großmacht und bemächtigte sich der Stellung einer Ratgeberin im Haushalt, die ich ihr nicht streitig machen konnte.

Meine arme Mutter ergriff weder ihre noch meine Partei. Sie war müde und litt tief unter der Veränderung ihres Lebens. Wie sehr der Vater ihr fehlte, merkte ich erst allmählich. Einmal traf ich sie beim Gang durch ein Zimmer, in dem ich sie nicht vermuten konnte, an einem Kleiderschrank beschäftigt. Sie erschrak über mein Dazukommen, und ich ging rasch weiter, doch sah ich wohl, dass sie die Kleider des Verstorbenen musterte, und nachher hatte sie rote Augen.

Als der Sommer kam, begann ein neuer Kampf. Ich wollte durchaus mit meiner Mutter verreisen, wir konnten beide eine Erholung wohl brauchen, ich hoft e dabei, sie zu ermuntern und mehr Einfluss auf sie zu gewinnen. Sie zeigte wenig Lust am Reisen, widersprach mir jedoch kaum; desto eifriger trat Fräulein Schniebel dafür ein, dass die Mutter dableibe und ich allein reise. Doch wollte ich hierin keineswegs nachgeben; ich versprach mir von der Reise viel. Es begann mir in dem alten Hause mit der armen, unruhig gewordenen und leidenden Mutter unheimlich zu werden; draußen hoffte ich der Mutter besser helfen und meine eigenen Gedanken und Launen besser beherrschen zu können.

So setzte ich es durch, dass wir gegen Ende des Juni abreisten. Wir fuhren in kleinen Tagreisen, sahen Konstanz und Zürich und fuhren über den Brünig dem Berner Oberland entgegen. Meine Mutter hielt sich still und müde, ließ die Reise über sich ergehen und sah unglücklich aus. In Interlaken begann sie zu klagen, sie schlafe nicht mehr, doch beredete ich sie, noch mit nach Grindelwald zu gehen, wo ich für sie und mich auf Ruhe hoffte. Auf dieser törichten, unendlichen, freudlosen Reise sah ich die Unmöglichkeit, dem eigenen Elend zu entrinnen und davonzulaufen, wohl ein. Da lagen die schönen, grünen Seen und spiegelten alte, prächtige Städte, da stiegen die Berge weiß und blau und strahlten blaugrüne Gletscher im Sonnenlicht. Wir beide aber gingen still und unerfreut an allem vorbei, schämten uns vor allem, waren von allem nur bedrückt und ermüdet. Wir machten unsere Spaziergänge, sahen an den Bergen empor, atmeten die leichte, süße Luft und hörten die Kuhglocken auf den Matten läuten, und wir sagten: »Das ist schön!« und wagten nicht, uns dabei in die Augen zu sehen.

Eine Woche hielten wir es in Grindelwald aus. Da sagte meine Mutter eines Morgens: »Du, es hat keinen Zweck, wir wollen umkehren. Ich möchte gern wieder einmal eine Nacht schlafen können. Und wenn ich krank werden und sterben soll, will ich’s zu Hause tun.«

Da packte ich schweigend unsere Koffer ein, gab ihr im stillen recht und fuhr mit ihr, schneller als wir hergekommen waren, den ganzen Weg zurück. Doch hatte ich nicht das Gefühl, in eine Heimat zurückzukehren, sondern in ein Gefängnis, und auch die Mutter zeigte nur eine leise Befriedigung.

Und am Abend des Heimkehrtages sagte ich zu ihr: »Was meinst du dazu, wenn ich allein verreise? Ich würde wieder nach R. fahren. Sieh, ich bliebe gern bei dir, wenn ich irgendeinen Nutzen darin sähe. Aber wir sind beide krank und freudlos und stecken einander nur immer wieder an. Nimm du deine Freundin ins Haus, die kann dich besser trösten als ich.«

Nach ihrer Gewohnheit nahm sie meine Hand und streichelte sie leise. Sie nickte dazu und sah mich mit Lächeln an, und das Lächeln sagte deutlich: »Ja, geh nur!«

Mit allen meinen Bemühungen und guten Vorsätzen hatte ich nichts erreicht, als sie und mich ein paar Monate lang zu quälen und sie mir noch viel mehr zu entfremden. Es hatte, trotz des Zusammenlebens, jedes von uns sein Bündel allein getragen und nicht mit dem andern geteilt, und jedes war nur tiefer in sein Leid und seine Krankheit versunken. Meine Versuche waren fruchtlos geblieben, und ich konnte nichts Besseres tun als gehen und dem Fräulein Schniebel das Feld räumen.

Das tat ich denn auch in Bälde, und da ich keinen anderen Ort wusste, ging ich nach R. zurück. Bei der Abreise kam mir zum Bewusstsein, dass ich nun keine Heimat mehr habe. Die Stadt, in der ich geboren war und die Kinderjahre gelebt und meinen Vater begraben hatte, ging mich nichts mehr an, hatte nichts von mir zu fordern und mir nichts zu geben als Erinnerungen. Ich sagte es dem Herrn Lohe beim Abschiednehmen nicht, aber sein Rezept hatte nicht geholfen.

Zufällig stand in R. meine alte Wohnung noch leer. Es war mir wie ein Zeichen, dass es nutzlos sei, den Zusammenhang mit dem Gewesenen abbrechen und sich vor dem eigenen Schicksal flüchten zu wollen. Ich lebte wieder in demselben Hause und Zimmer, in derselben Stadt, packte meine Geige und meine Arbeit wieder aus und fand alles, wie es gewesen war, nur dass Muoth nach München gegangen und Gertrud seine Braut geworden war.

Ich nahm die Stücke meiner Oper in die Hände, als wären es Trümmer meines früheren Lebens, aus denen ich nun noch etwas zu machen versuchen wollte. Doch regte sich die Musik nur langsam wieder in meiner erstarrten Seele und erwachte erst, als der Dichter aller meiner Texte mir ein neues Lied schickte. Es kam in einer Zeit, da ich am Abend nicht selten die alte Unruhe in mir spürte und mit Scham und tausend Irrlichtern im Herzen um den Garten des Imthorschen Hauses strich, und es hieß:

 

Der Föhn schreit jede Nacht,

Sein feuchter Flügel flattert schwer.

Brachvögel taumeln durch die Luft;

Nun schläft nichts mehr,

Nun ist das ganze Land erwacht.

Der Frühling ruft.

In diesen Nächten schlaf ich nicht.

Mein Herz wird jung,

Aus blauen Tiefen der Erinnerungen

Steigt meiner Jugend heißes Glück,

Schaut mir so nahe ins Gesicht,

Erschrickt und flieht zurück.

Bleib still, bleib still, mein Herz!

Ob auch im Blute eng und schwer

Die Leidenschafft sich rührt

Und dich die alten Wege führt —

Nicht jugendwärts

Gehn deine Wege mehr.

 

Diese Verse gingen mir ins Herz und erweckten Klang und Leben wieder. Aufgelöst und schmerzlich glühend floss mir die lange verhaltene und betragene Pein in Takte und Töne, von dem Liede weg fand ich den verlorenen Faden der Oper wieder und wühlte mich nach so langer Öde wieder tief in den fiebernden Rausch hinströmenden Ergusses bis zu der freien Höhe des Gefühls, wo Schmerz und Wonne nicht mehr voneinander unterschieden sind und alle Glut und Kraft der Seele sich ungeteilt in einer einzigen steilen Flamme empordrängt.

Am Tage, an dem ich das neue Lied aufgeschrieben und Teiser gezeigt hatte, ging ich abends durch eine Kastanienallee heimwärts, ganz von heraufschwellender Kraft zu neuer Arbeit erfüllt. Noch sahen mich die vergangenen Monate wie aus Maskenaugen in ihrer trostlosen Leere an. Nun schlug mein Herz begehrlich rasch und wollte nicht mehr begreifen, warum es seinem Leide habe entrinnen wollen. Gertruds Bild erhob sich klar und herrlich aus dem Staube, und ich sah ihm wieder unerschrocken in die hellen Augen und öffnete mein Herz allen Schmerzen weit. Ach, es war besser, um sie zu leiden und den Stachel tiefer in die Wunde zu drücken, als fern von ihr und fern von meinem wahren Leben gespensterhafte Zeiten hinzudämmern! Zwischen den dunklen vollen Wipfeln der breiten Kastanien hing schwarzblau der Himmel und war voll Sternen, die schwebten alle ernst und golden und strahlten unbekümmert in die Weiten. So taten die Sterne, und die Bäume trugen ihre Knospen und Blüten und Narben frei zur Schau, und mochte es ihnen Lust oder Weh bedeuten, sie gaben sich dem großen Lebenswillen hin. Die Eintagsfliegen schwärmten taumelnd dem Tod entgegen, jedes Leben hatte seinen Glanz und seine Schönheit, und ich schaute einen Augenblick hinein und verstand es und hieß es gut, und hieß auch mein Leben und meine Leiden gut.

Im Laufe des Herbstes wurde meine Oper fertig. In dieser Zeit begegnete mir in einem Konzert Herr Imthor. Er begrüßte mich herzlich und etwas verwundert, da er nichts von meinem Aufenthalt in der Stadt wusste. Er hatte nur gehört, mein Vater sei gestorben und ich lebe seither in meiner Heimat.

»Und wie geht es Fräulein Gertrud?« fragte ich möglichst ruhig.

»Oh, Sie sollten selber kommen und danach sehen. Anfang November soll ihre Hochzeit sein, da rechnen wir ohnehin bestimmt auf Sie.«

»Danke, Herr Imthor. Und was hören Sie von Muoth?«

»Er ist wohl. Sie wissen, ich bin mit der Heirat nicht recht einverstanden. Ich hätte Sie schon lange gerne einmal über Herrn Muoth befragt. Soweit ich ihn kenne, darf ich nicht über ihn klagen. Aber ich hörte so mancherlei über ihn: er soll ja mit vielen Frauen zu tun gehabt haben. Können Sie mir darüber etwas sagen?«

»Nein, Herr Imthor. Es hätte ja auch keinen Zweck. Ihre Tochter wird auf Gerüchte hin sich schwerlich anders entschließen. Herr Muoth ist mein Freund, und ich gönne es ihm, wenn er sein Glück findet.«

»Ja, ja. Sieht man Sie bald mal wieder bei uns?«

»Ich denke wohl. Auf Wiedersehen, Herr Imthor.«

Es war noch nicht lange her, da hätte ich alles getan, um die Verbindung der beiden zu hindern, nicht aus Neid oder Hoffnung, Gertrud könnte sich doch noch mir selbst zuneigen, sondern weil ich überzeugt war und vorauszufühlen meinte, dass es den beiden nicht gut gehen werde, weil ich an Muoths selbstquälerische Art von Melancholie, an seine Reizbarkeit und Gertruds Zartheit dachte, und weil mir Marion und Lotte noch so wohl im Gedächtnis waren.

Jetzt dachte ich anders. Eine Erschütterung meines ganzen Lebens, ein halbes Jahr innerer Einsamkeit und das bewusste Abschiednehmen von der Jugend hatten mich verändert. Ich war jetzt der Meinung, es sei töricht und gefährlich, seine Hand nach anderer Menschen Schicksal auszustrecken, auch hatte ich keine Ursache, meine Hand für geschickt und mich für einen Helfer und Menschenkenner zu halten, nachdem meine Versuche in dieser Richtung alle missglückt waren und mich bitter beschämt hatten. Auch jetzt noch zweifle ich stark an der Fähigkeit des Menschen, sein Leben und das von anderen irgend bewusst zu bilden und zu formen. Man kann Geld erwerben, auch Ehren und Orden, aber Glück und Unglück erwirbt man nicht, nicht für sich und nicht für andere. Man kann nur hinnehmen, was kommt, und man kann es freilich auf gar verschiedene Weisen hinnehmen. Was mich anging, so wollte ich keine gewaltsamen Versuche mehr machen, mein Leben auf die Sonnenseite hinüberzuspielen, sondern das mir Bestimmte annehmen und nach Vermögen tragen und zum Guten wenden.

Ist nun auch das Leben von solchen Meditationen unabhängig und geht über sie hinweg, so hinterlassen ehrlich gemeinte Entschlüsse und Gedanken doch einen Frieden in der Seele und helfen das Unabänderliche tragen. Wenigstens nahm mich, wie es mir nachträglich scheinen will, seit meiner Ergebung und seit meiner Erkenntnis von der Gleichgültigkeit meines persönlichen Ergehens das Leben in sanftere Hände.

Dass das, was man mit allem Wollen und Mühen nicht erreichen kann, manchmal unerwartet von selber kommt, erfuhr ich bald darauf an meiner Mutter. Ich schrieb ihr jeden Monat und war seit einiger Zeit ohne Antwort von ihr geblieben. Wäre es ihr schlecht gegangen, so hätte ich es erfahren, darum dachte ich wenig an sie und schrieb meine Briefe weiter, kurze Berichte über mein Ergehen, denen ich jedesmal freundliche Grüße an Fräulein Schniebel beifügte.

Diese Grüße nun wurden neuerdings nicht mehr ausgerichtet. Den beiden Frauen war es allzuwohl ergangen, und sie hatte die Erfüllung ihrer Wünsche nicht ertragen. Namentlich war dem Fräulein die gute Zeit in die Krone gestiegen. Sie war sofort nach meinem Abgang mit Triumph an der Stätte ihres Sieges eingezogen und hatte ihre Wohnung in unserem Hause aufgeschlagen. Da hauste sie nun bei ihrer alten Freundin und Cousine und empfand es als ein durch lange dürftige Jahre wohlverdientes Glück, als Mitherrin in einem stattlichen Hauswesen sich wärmen und brüsten zu dürfen. Nicht dass sie kostbare Gewohnheiten angenommen und sich auf das Geuden gelegt hätte – dazu war sie allzulange in gedrückten Verhältnissen und halber Armut gewesen. Sie trug weder feinere Kleider, noch schlief sie auf anderem Linnen; vielmehr begann sie das Hausen und Sparen nun erst recht, da es sich lohnte und etwas zum Sparen da war. Aber worauf sie nicht verzichten wollte, das war Macht und Einfluss. Die beiden Mägde mussten ihr nicht minder gehorchen als meiner Mutter, auch gegen Dienstleute, Handwerker, Briefträger wusste sie herrschafftlich aufzutreten. Und allmählich, da ja Leidenschafften nicht durch Erfüllungen zu löschen sind, dehnte sie ihre Herrschsucht auch auf Dinge aus, in denen meine Mutter weniger bereitwillig nachgeben konnte. Sie wollte Besuche, die meine Mutter bekam, ebenso auf sich selbst bezogen wissen und nicht leiden, dass jene einen empfing, ohne sie dabei zu haben. Sie wollte Briefe, namentlich die von mir, nicht auszugsweise mitgeteilt haben, sondern selber lesen. Und schließlich entdeckte sie, dass im Hause meiner Mutter manches gar nicht so gehalten und besorgt und regiert wurde, wie sie es richtig fand. Vor allem schien ihr die Bewachung der Dienstboten nicht streng genug. War eine Magd des Abends außer Hause, unterhielt sich eine andere zu lange mit dem Briefträger, bat die Köchin um einen freien Sonntag, so rügte sie die Nachgiebigkeit meiner Mutter aufs strengste und hielt ihr lange Reden über die richtige Führung eines Hauswesens. Ferner tat es ihr bitter weh zu sehen, wie oft und gröblich die Regeln der Sparsamkeit verletzt wurden. Da wurden schon wieder Kohlen ins Haus geführt, da standen zu viele Eier auf der Abrechnung der Köchin! Sie trat mit Ernst und Eifer dagegen auf, und hier nahm die Veruneinigung der Freundinnen ihren Anfang.

Nämlich das Bisherige hatte meine Mutter sich gerne gefallen lassen, wenn sie auch nicht mit allem einverstanden und in manchen Dingen von der Freundin, deren Verhältnis zu ihr sie sich anders mochte gedacht haben, enttäuscht war. Jetzt dagegen, wo alte und ehrwürdig gewordene Gewohnheiten des Hauses in Gefahr kamen, wo ihre tägliche Bequemlichkeit und der Hausfriede zu leiden begann, konnte sie ihre Einwendungen nicht zurückhalten und machte sich wehrhaft, worin sie freilich der Freundin es nicht gleichtun konnte. Es gab Auseinandersetzungen und kleine freundschafftliche Zankereien, und als die Köchin den Dienst aufsagte und von meiner Mutter nur mit Mühe und vielen Versprechungen, ja fast Abbitten gehalten werden konnte, begann die Machtfrage im Hause zu einem wirklichen Kriege zu führen.

Das Fräulein Schniebel, stolz auf ihre Kenntnisse, ihre Erfahrung, ihre Sparsamkeit und wirtschafftlichen Tugenden, konnte nicht einsehen, dass man ihr für alle diese Qualitäten keinen Dank wisse, und fühlte sich so sehr im Recht, dass sie mit einer Kritik der bisherigen Wirtschafftsführung, einem Tadel für die Hausfrauenkunst meiner Mutter und einer mitleidigen Verachtung für die Gebräuche und Eigenheiten des ganzen Hauses nicht mehr hinterm Berg hielt. Nun berief sich die Hausfrau auf meinen Vater, unter dessen Leitung und nach dessen Art es so viele Jahre lang im Hause gut gegangen war. Er hatte Kleinlichkeit und ängstliche Sparsamkeit nicht geduldet, er hatte den Dienstboten Freiheit und Rechte gegönnt, er hatte Mägdegezänk und Verdrossenheit gehasst. Als aber meine Mutter sich auf ihn berief , an dem sie früher wohl auch gelegentlich zu kritisieren gehabt hatte, der aber seit seinem Tode ihr zum Heiligen geworden war, da konnte Fräulein Schniebel nicht schweigen und erinnerte spitzig daran, wie sie schon längst ihre Meinung über den Seligen gehabt und geäußert habe, und meinte, es sei jetzt wohl an der Zeit, in dem Schlendrian einzuhalten und Vernunft walten zu lassen. Sie habe ja aus Schonung für ihre Freundin nicht an das Andenken des Verewigten rühren wollen; da diese aber selber sich auf ihn beziehe, müsse sie gestehen, dass allerdings der alte Herr an manchen Übelständen im Hause schuld sei, dass sie aber nicht einsehe, warum das nun, da sie freie Hand hätten, weiter so bleiben solle.

Das war für meine Mutter ein Schlag ins Gesicht, den sie der Cousine nicht vergaß. Früher war es ihr ein Bedürfnis und ein Genuss gewesen, hie und da im Gespräch mit dieser Vertrauten etwas zu klagen und ihrem Hausherrn einiges am Zeug zu flicken; jetzt aber ertrug sie nicht den mindesten Schatten auf seinem verklärten Bilde und begann die beginnende Revolution im Hause nicht nur als störend, sondern vor allem als eine Versündigung an dem Seligen zu empfinden.

So war es gegangen, ohne dass ich davon erfuhr. Als jetzt zum erstenmal ein Brief meiner Mutter diesen Unfrieden im Vogelkäfig andeutete, wenn auch noch schonend und vorsichtig, machte die Sache mich lachen. Ich ließ in meinem nächsten Schreiben die Grüße an die Jungfer weg, ging aber nicht auf die Andeutungen ein und dachte, die Frauen möchten besser ohne mich fertig werden. Auch kam anderes dazwischen, das mich weit mehr beschäftigte.

Es war Oktober geworden, und der Gedanke an Gertruds bevorstehende Hochzeit ließ mich nicht mehr los. Ich hatte ihr Haus nicht wieder besucht und sie selber nicht wiedergesehen. Nach der Hochzeit, wenn sie fort wäre, dachte ich den Verkehr mit ihrem Vater wieder aufzunehmen. Auch hoffte ich, es werde sich zwischen ihr und mir mit der Zeit wieder ein gutes, vertrauliches Verhältnis herstellen; wir waren einander schon zu nahe gewesen, um einfach das Gewesene ausstreichen zu können. Nur jetzt hatte ich noch nicht den Mut zu einer Begegnung, welcher sie, wie ich sie kannte, nicht ausgewichen wäre.

Da pochte es eines Tages auf eine wohlbekannte Art an meiner Tür. Ahnungsvoll und verwirrt sprang ich auf und öffnete, und da stand Heinrich Muoth und streckte mir die Hand entgegen.

»Muoth!« rief ich und hielt die Hand fest, und ich konnte nicht in seine Augen sehen, ohne dass alles in mir aufwachte und wehe tat. Ich sah wieder den Brief auf seinem Tische liegen, den Brief mit Gertruds Handschrift, und sah mich wieder von ihr Abschied nehmen und den Tod wählen. Da stand er nun und blickte mich forschend an. Er sah etwas gemagert aus, doch schön und stolz wie je.

»Ich hatte dich nicht erwartet«, sagte ich leise.

»So? Dass du zu Gertrud nicht mehr gekommen bist, weiß ich schon. Meinetwegen – lassen wir das alles unbesprochen! Ich bin da, um zu sehen, wie du lebst und was deine Arbeit macht. Was ist denn mit der Oper?«

»Die ist fertig. Aber zuerst: wie geht es Gertrud?«

»Gut. Wir haben ja bald Hochzeit.«

»Ich weiß.«

»Ja. Besuchst du sie nicht bald einmal?«

»Später, doch. Ich will sehen, ob sie es auch gut bei dir hat.«

»Hm…«

»Heinrich, verzeih, aber ich muss manchmal an die Lotte denken, die du schlecht gehalten und geschlagen hast.«

»Lass die Lotte! Es geschah ihr recht. Es bekommt kein Weib Schläge, das keine haben will.«

»Nun ja. Also die Oper. Ich weiß noch gar nicht, wo ich sie zuerst einreichen soll. Es müsste eine gute Bühne sein, aber ob die das Ding nehmen wird?«

»Sie wird schon. Ich wollte darüber mit dir sprechen. Bring sie nach München! Angenommen wird sie wahrscheinlich, man interessiert sich für dich, und im Notfall stehe ich dafür ein. Ich möchte sehr gern, dass kein anderer die Rolle vor mir singt.«

Damit war mir gedient. Ich sagte gern zu und versprach, bald für die Abschriften zu sorgen. Wir besprachen Einzelheiten und sprachen verlegen weiter, als sei es uns todeswichtig, und doch wollten wir nichts als die Zeit hinbringen und vor der Kluft, die sich zwischen uns aufgetan hatte, die Augen schließen. Muoth brach den Bann zuerst.

»Du«, sagte er, »weißt du noch, wie du mich damals zu den Imthors mitgenommen hast? Es ist ein Jahr her.«

»Ich weiß noch«, sagte ich, »und du brauchst mich nicht zu erinnern, du. Geh lieber!«

»Nein, Freund. Also du erinnerst dich noch. Nun, wenn du damals schon das Mädchen liebgehabt hast, warum hast du nicht ein Wort zu mir gesagt? Warum hast du nicht gesagt: lass sie in Ruhe, lass sie mir! Es wäre genug gewesen, ich hätte auch eine Andeutung verstanden.«

»Das durfte ich nicht.«

»Durftest du nicht? Warum nicht? Wer hieß dich zusehen und den Mund halten, bis es zu spät war?«

»Ich konnte ja nicht wissen, ob sie mich liebhabe. Und auch dann – wenn du ihr lieber bist, kann ich doch nichts machen.«

»Du bist ein Kind! Sie wäre mit dir vielleicht glücklicher geworden! Es hat doch jeder das Recht, sich eine Frau zu erobern. Und wenn du mir gleich anfangs ein Wort gesagt hättest, einen kleinen Wink gegeben hättest, ich wäre weggeblieben. Nachher war’s natürlich zu spät.«

Mir war diese Unterhaltung peinlich.

»Ich denke anders darüber«, sagte ich, »und du kannst ja zufrieden sein, nicht? Also lass mich in Ruhe! Sag ihr einen Gruß, und ich würde euch in München besuchen.«

»Zur Hochzeit magst du nicht kommen?«

»Nein, Muoth, das wäre geschmacklos. Aber – lasst ihr euch kirchlich trauen?«

»Natürlich, im Münster.«

»Das ist mir lieb. Ich habe etwas für die Gelegenheit zurückgelegt, ein Orgelvorspiel. Keine Sorge, es ist ganz kurz.«

»Du bist ein lieber Kerl! Hol’s der Teufel, dass ich mit dir so Pech habe!«

»Ich denke, du solltest Glück sagen, Muoth.«

»Na, wir wollen nicht streiten. Ich muss jetzt gehen, es werden noch Sachen gekauft und weiß Gott was.

Die Oper schickst du bald, nicht wahr? Schick sie an mich, dann bring ich sie unserem Alten selber. Ja, und eh ich Hochzeit mache, sollten wir zwei doch noch einmal einen Abend für uns haben. Vielleicht morgen? – Gut, auf Wiedersehen!«

Da war ich wieder im alten Kreise und brachte die

Nacht in hundertmal gedachten Gedanken und hundertmal gekosteten Leiden hin. Am nächsten Tage ging ich zu einem Organisten und bat ihn, für die

Muothsche Hochzeit mein Vorspiel zu übernehmen.

Nachmittags ging ich mit Teiser zum letztenmal meine

Ouvertüre durch. Und am Abend fand ich mich in

Heinrichs Gasthof ein.

Da fand ich ein Zimmer mit einem Kaminfeuer und Kerzenlicht für uns bereitet, einen weiß gedeckten

Tisch mit Blumen und Silbergeschirr, und Muoth wartete schon auf mich.

»So, Junge«, rief er, »nun wollen wir Abschied feiern, mehr für mich als für dich. Gertrud lässt dich grüßen, wir wollen heute auf ihre Gesundheit trinken.«

Wir schenkten unsere Gläser voll und tranken schweigend aus.

»So, und jetzt wollen wir nur noch an uns selber denken. Die Jugend will zur Neige gehen, Lieber, spürst du’s nicht auch? Sie soll ja das Schönste am Leben sein. Ich hoffe, es sei ein Schwindel wie alle diese beliebten Sprüche. Das Beste muss doch erst kommen, sonst war das Ganze nicht recht der Mühe wert. Wenn deine Oper gespielt wird, reden wir weiter darüber.«

Wir aßen behaglich und tranken einen schweren Rheinwein dazu, nachher legten wir uns mit Zigarren und Champagner in den tiefen Ecksesseln zurück, und es kam mir und ihm für eine Stunde die alte Zeit herauf, die redselige Lust am Plänebauen und Plaudern, wir blickten einander sorglos nachdenklich in aufrichtige Augen und waren miteinander zufrieden. Heinrich war in solchen Stunden gütiger und zarter als sonst, er kannte die Flüchtigkeit solcher Lust genau und hielt sie, solange die Stimmung lebendig bleiben wollte, behutsam in schonenden Händen fest. Leise und lächelnd sprach er von München, erzählte kleine Bühnengeschichten und übte seine alte feine Kunst, Menschen und Verhältnisse in kurzen klaren Worten zu zeichnen.

Als er so seinen Dirigenten, seinen Schwiegervater und andere spielend und scharf, doch ohne Bosheit charakterisiert hatte, trank ich ihm zu und fragte: »Nun, und was sagst du zu mir? Hast du für Leute meiner Art auch so eine Formel?«

»O ja«, nickte er gelassen und richtete die dunklen Augen auf mich. »Du bist in allem der Typus des Künstlers. Ein Künstler ist ja nicht, wie die Philister meinen, ein fideler Herr, der aus lauter Übermut hie und da Kunstwerke hinschmeißt, sondern leider meistens ein armer Tropf, der an einem unnützen Reichtum erstickt und darum was von sich geben muss. Es ist nichts mit der Sage vom glücklichen Künstler, das ist lauter Philistergeschwätz. Der fidele Mozart hat sich mit Champagner aufrecht gehalten und dafür Mangel an Brot gelitten, und warum Beethoven sich nicht in jungen Jahren das Leben genommen, sondern statt dessen diese herrlichen Sachen geschrieben hat, das weiß kein Mensch. Ein anständiger Künstler hat im Leben unglücklich zu sein. Wenn er Hunger hat und einen Sack aufmacht, so sind immer bloß Perlen drin!«

»Ja, wenn man ein bisschen Freude und Wärme und Anteil am Leben begehrt, da halfen einem ein Dutzend Opern und Trios und solche Sachen freilich nicht viel.«

»Ich glaub’s. So eine Stunde beim Wein mit einem Freund, wenn man einen hat, und ein gemütliches Plaudern über dieses merkwürdige Leben, das ist eigentlich das Beste, was man haben kann. Es muss schon so sein, und wir müssen froh sein, dass wir das doch haben. Wie lange schafft ein armer Teufel an einer schönen Rakete, und die Freude dran dauert dann keine Minute! So muss man auch Freunde und Seelenruhe und gutes Gewissen sparen, damit es hie und da zu einer hübschen Stunde reicht. Prosit, Freund!«

Ich war mit seiner Philosophie im Grunde gar nicht einverstanden, doch was lag daran? Mir war wohl, einen solchen Abend mit dem Freunde zu erleben, den ich verlieren zu müssen gefürchtet hatte und der auch so mir nicht mehr sicher war, und ich grüßte nachdenklich in die vergangene Zeit hinüber, die noch so nahe lag und doch schon meine Jugend umschloss, deren Leichtsinn und Harmlosigkeit mir nicht wiederkommen konnte.

Beizeiten machten wir ein Ende, und Muoth erbot sich, noch mit mir bis zu meinem Hause zu gehen. Doch hieß ich ihn bleiben. Ich wusste, dass er nicht gern mit mir auf der Straße ging, mein langsamen Hinken störte ihn und machte ihn verdrießlich. Er konnte keine Opfer bringen, und solche kleine sind ja oft die schwersten.

Mein kleines Orgelstück freute mich. Es war eine Art von Präludium und für mich eine Loslösung vom Alten, ein Dank und Glückwunsch an die Brautleute und ein Nachhall der guten Freundschafftszeiten mit ihr und mit ihm.

Am Tage der Hochzeit fand ich mich zeitig in der Kirche ein und sah der Feier versteckt von der Orgel herab zu. Als der Organist mein Stücklein spielte, sah Gertrud herauf und nickte ihrem Bräutigam zu. Ich hatte sie diese ganze Zeit nicht mehr gesehen, sie sah im weißen Kleid noch größer und schlanker aus und ging anmutig ernst den geschmückten schmalen Pfad zum Altar, an der Seite des stolzen, ungebeugt schreitenden Mannes. Es hätte weniger gut und prächtig ausgesehen, wenn an seiner Stelle ich schiefer Krüppel diesen feierlichen Weg gegangen wäre.

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