Indessen hatte ich nicht an Muoths Ferien und Reiselust gedacht. Er freute sich über meinen Opernplan und versprach alle Hilfe, war aber schon in Reiseplänen und konnte mir nur versprechen, bis zum Herbst seine Rolle durchzunehmen. Ich schrieb sie ihm ab, soweit ich schon fertig war. Er nahm sie mit und ließ nach seiner Gewohnheit in all den Monaten nichts von sich hören.
So war eine Frist für uns gewonnen. Zwischen Gertrud und mir bestand nun eine gute Kameradschafft. Ich glaube, sie wusste seit jener Stunde am Klavier genau, was in mir vorging, doch sagte sie nie ein Wort und war um nichts anders gegen mich. Sie liebte nicht nur meine Musik, sie hatte mich selber gern und fühlte wie ich, dass zwischen uns beiden ein natürlicher Einklang war, dass jeder von uns des andern Wesen gefühlsmäßig verstand und billigte. So ging sie neben mir in Eintracht und Freundschafft, doch ohne Leidenschafft. Zuzeiten genügte mir das, und ich lebte stille, dankbare Tage in ihrer Nähe. Doch immer kam bald die Leidenschafft dazwischen, dann war mir jede ihrer Freundlichkeiten nur ein Almosen, und ich empfand mit Qualen, dass die Stürme des Liebhabens und Begehrens, die mich erschütterten, ihr fremd und unlieb waren. Oft täuschte ich mich gewaltsam und suchte mir vorzureden, sie sei eben eine gleichmäßige und heiter stille Natur. Doch wusste mein Gefühl, dass es falsch sei, und kannte Gertrud genug, um zu wissen, dass auch ihr die Liebe Sturm und Gefahren bringen müsse. Oft habe ich darüber nachgedacht, und ich glaube, wenn ich sie damals bestürmt und bekriegt und mit allen Kräften an mich gezogen hätte, sie wäre mir gefolgt und für immer mit mir gegangen. So aber misstraute ich ihrer Heiterkeit, und was sie mir von Zärtlichkeit und feiner Zuneigung zeigte, schob ich auf das fatale Mitleid. Ich konnte den Gedanken nicht loswerden, dass sie mit einem andern, gesunden und äußerlich schönen Manne, wenn sie ihn so gern hatte wie mich, nicht so lange in dieser ruhigen Freundschafftlichkeit hätte verharren können. Dann waren wieder die Stunden nicht selten, in denen ich meine Musik und alles, was in mir lebte, für ein gerades Bein und flottes Wesen hingegeben hätte.
Um jene Zeit kam Teiser mir wieder näher. Er war mir unentbehrlich für die Arbeit, und so war er der nächste, der mein Geheimnis erfuhr und Text und Plan meiner Oper kennenlernte. Bedächtig nahm er alles an sich, um es zu Hause zu studieren. Dann aber kam er, und sein blondbärtiges Kindergesicht war rot vor Vergnügen und Musikleidenschafft.
»Das wird was, Ihre Oper!« rief er erregt. »Die Ouvertüre dazu spür ich schon in den Fingern! Jetzt gehen wir und trinken einen guten Schoppen, Sie Manderl, und wenn’s nicht unbescheiden wär, würd ich sagen, wir trinken Brüderschafft. Aber es soll nicht aufgenötigt sein.«
Das nahm ich gerne an, und es wurde ein froher Abend daraus. Teiser nahm mich zum erstenmal in seine Wohnung mit. Er hatte vor kurzem eine Schwester zu sich genommen, die nach dem Tod der Mutter allein geblieben war, und wusste nicht genug zu rühmen, wie wohlig ihm nach langen Junggesellenjahren im neuen Haushalt sei. Die Schwester war ein schlichtes, vergnügtes, harmloses Mädchen mit den selben hellen, kindlichen, freudig guten Augen, wie ihr Bruder sie hatte, und hieß Brigitte. Sie brachte uns Kuchen und hellgrünen Österreicher Wein, dazu das Kästlein mit den langen Virginiazigarren. Da tranken wir das erste Glas auf ihr Wohl und das zweite auf gute Brüderschafft, und während wir Kuchen aßen, Wein tranken und rauchten, fuhr der gute Teiser in seiner Herzensfreude hin und wieder durchs Zimmerlein, saß bald am Klavier, bald mit der Gitarre im Arm auf dem Kanapee, bald mit der Geige auf der Tischecke, spielte, was ihm Schönes durch den Kopf ging, sang und ließ seine frohen Augen glänzen, und alles mir und meiner Oper zu Ehren. Es zeigte sich, dass die Schwester dasselbe Blut habe und nicht minder auf Mozart schwöre; Arien aus der Zauberflöte und Stücke aus dem Don Giovanni funkelten durch die kleine Wohnung, von Gesprächen und Gläserklirren unterbrochen, von der Geige, dem Klavier, der Gitarre oder auch nur vom Pfeifen des Bruders tadellos rein und richtig begleitet.
Für die kurze Sommerspielzeit war ich noch als Orchestergeiger verpflichtet, hatte aber auf den Herbst um meine Entlassung gebeten, da ich alsdann alle Zeit und Lust für meine Arbeit zu brauchen dachte. Der Kapellmeister, den mein Gehen ärgerte, behandelte mich zu guter Letzt mit ausgesuchter Grobheit, die mir aber Teiser brav parieren und belachen half.
Mit diesem Treuen arbeitete ich die Instrumentierung meiner Opernmusik aus, und so andächtig er meine Gedanken gelten ließ, so unerbittlich legte er den Finger auf alle Verstöße in der Orchesterbehandlung. Oft geriet er in hellen Zorn und kanzelte mich ab wie ein derber Dirigent, bis ich eine zweifelhafte Stelle, in die ich verliebt und verbissen war, ausstrich und änderte. Und immer war er mit Beispielen zur Hand, wenn ich zweifelte und ungewiss war. Wo ich etwas Misslungenes durchsetzen oder eine Kühnheit nicht wagen wollte, kam er mit Partituren angelaufen und wies mir nach, wie das der Mozart oder der Lortzing gemacht habe, und dass mein Zögern eine Feigheit oder mein Beharren eine »Kuhdummheit« sei. Wir brüllten einander an, kriegten und tobten, und wenn es in Teisers Wohnung geschah, so hörte die Brigitte andächtig zu, kam und ging mit Wein und Zigarren und strich manches zerknüllte Notenblatt mitleidig und sorgfältig wieder glatt. Der Liebe zu ihrem Bruder kam ihre Bewunderung für mich gleich, ich war für sie ein Maestro. An jedem Sonntag musste ich zum Essen kommen, und nach Tische ging es, wenn nur ein blauer Fleck am Himmel war, mit der Straßenbahn hinaus. Da spazierten wir über die Hügel und durch die Wälder, plauderten und sangen, und die Geschwister ließen ungebeten immer wieder ihre heimischen Jodler steigen.
Dabei kamen wir einmal zum Imbiss in ein Dorfwirtshaus, wo uns aus weit offenen Fenstern eine ländliche Tanzmusik entgegenjubelte, und als wir gegessen hatten und beim Apfelmost ausruhend im Garten saßen, schlich die Brigitte bald zum Hause hinüber und hinein, und als wir es merkten und nach ihr ausschauten, sahen wir sie am Fenster vorbeitanzen, frisch und sprühend wie ein Sommermorgen. Als sie wiederkam, drohte ihr Teiser mit dem Finger und meinte, sie hätte ihn wohl auch auffordern dürfen. Da wurde sie rot und verlegen, winkte ihm abwehrend zu und sah mich an.
»Was ist denn?« fragte ihr Bruder.
»Lass doch«, meinte sie nur, aber zufällig sah ich, wie sie ihn mit dem Blick auf mich aufmerksam machte; und Teiser sagte: »Ach so.«
Ich sagte nichts, doch war es mir wunderlich, sie darüber verlegen zu sehen, dass sie in meiner Gegenwart getanzt hatte. Es fiel mir erst jetzt ein, dass wohl auch ihre Spaziergänge rascher und weiter und anders gegangen wären ohne meine hemmende Gesellschafft, und ich schloss mich von da an ihren Sonntagsausflügen nur selten mehr an.
Gertrud hatte, als wir mit dem Durchsingen der Sopranrolle soweit fertig waren, wohl bemerkt, dass es mir schwerfiel, auf die häufigen Besuche bei ihr und das vertrauliche Beisammensein am Klavier zu verzichten, und dass ich mich doch scheute, Vorwände für dessen Fortsetzung zu erfinden. Da überraschte sie mich mit dem Vorschlag, sie regelmäßig beim Singen zu begleiten, und ich kam nun zwei, dreimal in der Woche am Nachmittag in ihr Haus. Der Alte sah ihre Freundschafft mit mir gerne; ohnehin ließ er sie, die schon früh die Mutter verloren hatte und dem Haus als Dame vorstand, in allem gewähren.
Der Garten stand in voller Frühsommerpracht, überall waren Blumen und sangen Vögel um das stille Haus, und wenn ich von der Straße in den Garten trat und an den dunklen, alten Steinbildern der Allee vorüber mich dem grünumwachsenen Hause näherte, war es mir jedesmal wie der Eintritt in ein Heiligtum, wohin Stimmen und Dinge der Welt nur leise und gemildert dringen konnten. Da sangen vor den Fenstern im blühenden Gebüsch die Bienen, Sonne und leichte Laubschatten fielen ins Zimmer, und ich saß am Flügel und hörte Gertrud singen, horchte ihrer Stimme nach, die sich leicht emporschwang und im mühelosen Schweben wiegte, und wenn wir nach einem Lied einander ansahen und lächelten, so war es einig und vertraulich, wie zwischen Geschwistern. Da meinte ich manches Mal, jetzt brauche ich nur die Hand auszustrecken und mein Glück leise zu fassen, um es für immer zu haben, und tat es doch nie, denn ich wollte warten, bis auch sie einmal Verlangen und Sehnsucht zeige. Gertrud aber schien in reiner Zufriedenheit zu atmen und nichts anders zu wünschen, ja mir kam es oft vor, als bäte sie mich, dieses stille Einvernehmen nicht zu erschüttern und unsern Frühling nicht zu stören.
War ich darüber enttäuscht, so tröstete es mich zu fühlen, wie innig sie in meiner Musik lebte, wie sie mich verstand und darüber stolz war.
Das dauerte bis zum Juni, dann reiste Gertrud mit ihrem Vater in die Berge, ich blieb zurück, und wenn ich an ihrem Hause vorüberging, lag es leer hinter seinen Platanen, und die Pforte war geschlossen. Da fing die Pein wieder an, wuchs und verfolgte mich tief in die Nächte hinein.
Da kam ich abends, fast immer mit Noten in der Tasche, zu den Teisers, nahm an ihrem heiter genügsamen Leben teil, trank von ihrem österreichischen Wein und spielte Mozart mit ihnen. Dann ging ich durch die milden Nächte heim, sah in den Anlagen die Liebespaare spazieren, legte mich zu Hause müd aufs Bett und fand doch keinen Schlaf. Es war mir jetzt unbegreiflich, wie ich so brüderlich mit Gertrud hatte umgehen können, dass ich nie den Bann gebrochen, sie an mich gezogen und bestürmt und erobert hatte. Ich sah sie in ihrem hellblauen oder grauen Kleid, munter oder ernsthaft, ich hörte ihre Stimme und begriff nimmer, dass ich sie jemals hatte hören können, ohne in Glut und Werbung auszubrechen. Berauscht und fiebernd stand ich auf, machte Licht und warf mich auf die Arbeit, ließ Menschenstimmen und Instrumente werben und flehen und drohen, wiederholte das Lied der Sehnsucht in neuen, fiebernden Melodien. Oft aber blieb mir diese Tröstung aus, dann lag ich glühend und wild in grimmiger Schlaflosigkeit, sagte wirr und sinnlos ihren Namen Gertrud, Gertrud vor mich hin, warf Trost und Hoffnung weg und gab mich verzweifelnd der grauenhaften Ohnmacht des Begehrens hin. Ich rief Gott an und fragte ihn, warum er mich so geschaffen, warum er mich verstümmelt und mir statt des Glückes, das jeder Ärmste habe, nichts gegeben habe als den grausamen Trost, in Tönen zu wühlen und das Unerreichbare in wesenlosen Tonphantasien immer wieder vor mein Begehren hinzumalen.
Bei Tage gelang es mir besser, meiner Leidenschafft Herr zu werden. Da biss ich auf die Zähne, saß vom frühesten Morgen an bei der Arbeit, erzwang Ruhe durch lange Gänge und Ermunterung durch kalte Sturzbäder, und abends floh ich vor den Schatten der heraufdrohenden Nacht in die heitere Nähe der Geschwister Teiser, wo mir für Stunden Ruhe und manchmal beinahe Behagen kam. Teiser merkte wohl, dass ich litt und krank war, doch schrieb er es der Arbeit zu und riet mir Schonung, obwohl er selber flammend dabei war und im Grunde meine Oper ebenso erregt und ungeduldig wachsen sah wie ich selbst. Manchmal holte ich ihn auch ab, um ihn allein zu haben, und brachte den Abend mit ihm in einem kühlen Wirtsgarten zu, wo jedoch die Liebespaare und das Nachtblau, die Lampions und Feuerwerke und der Duft von Begehrlichkeit, den die Sommerabende der Städter immer haben, mir nicht wohl tat.
Völlig schlimm wurde es, als auch Teiser abreiste, um mit Brigitte die Ferien im Gebirge zu verwandern. Er lud mich zum Mitkommen ein, und es war ihm Ernst, so sehr ich mit meiner Unbeweglichkeit ihm die Lust zerstört hätte; aber ich konnte nicht annehmen. Zwei Wochen blieb ich allein in der Stadt, schlaflos und aufgerieben, und die Arbeit gedieh nicht mehr.
Da schickte mir Gertrud eine kleine Schachtel Alpenrosen aus einem Dorf im Wallis, und als ich ihre Handschrift sah und die bräunlichen, welken Blumen auspackte, fiel es wie ein Blick aus ihren lieben Augen auf mich, und ich schämte mich meiner Wildheit und meines Misstrauens. Ich sah ein, dass es besser sei, sie wisse von meinem Zustand, und am nächsten Morgen schrieb ich ihr einen kurzen Brief. Da erzählte ich ihr halb scherzhaft, dass ich nimmer schlafen könne, und dass es vor Sehnsucht nach ihr geschehe, und dass ich ihre Freundschafft nicht mehr annehmen könne, da es bei mir Liebe sei. Im Schreiben überfiel es mich wieder, und der Brief, der ruhig und fast scherzend begonnen hatte, ward zum Schluss heftig und heiß.
Die Post brachte beinah jeden Tag Grüße und Ansichtskarten von den Geschwistern Teiser, die nicht ahnen konnten, dass ihre Karten und Brieflein mir jedesmal eine Enttäuschung brachten, da ich andere Post von anderer Hand erwartete.
Endlich kam sie doch, ein graues Kuvert mit Gertruds leichter, heiterer Schrift, und innen ein Brief.
»Lieber Freund! Ihr Brief bringt mich in Verlegenheit. Ich sehe, dass Sie leiden und schwere Zeiten haben, sonst müsste ich schelten, dass Sie mich so überfallen. Sie wissen, wie gern ich Sie habe; aber mir ist mein jetziger Zustand lieb, ich habe noch kein Verlangen, ihn zu ändern. Wenn ich Gefahr sähe, Sie zu verlieren, würde ich alles tun, Sie mir zu halten. Aber auf Ihren heißen Brief kann ich nicht antworten. Haben Sie Geduld, lassen Sie es zwischen uns, wie es war, bis wir uns wiedersehen und miteinander reden können. Dann wird alles leichter sein. In Freundschafft
Ihre Gertrud.«
Damit war wenig anders geworden, und doch tat der Brief mir wohl. Es war ein Gruß von ihr, sie duldete doch und ließ es geschehen, dass ich um sie warb, sie hatte mich nicht abgewiesen. Auch brachte ihr Brief mir etwas von ihrem Wesen mit, etwas von ihrer beinahe kühlen Klarheit, und statt des Bildes, das meine Sehnsucht von ihr geschaffen hatte, stand wieder sie selber vor meinen Gedanken. Ihr Blick forderte Vertrauen von mir, ich spürte ihre Nähe, und sogleich erhoben sich Scham und Stolz in mir, halfen mir das verzehrende Schmachten besiegen und die brennenden Wünsche niederhalten. Nicht getröstet, doch gestärkt und wehrhafter hielt ich mich aufrecht. Ich quartierte mich mit meiner Arbeit im Wirtshaus eines Dorfes ein, zwei Stunden von der Stadt. Da saß ich viel in einer schattigen, schon verblühten Fliederlaube und dachte nach und wunderte mich über mein Leben. Wie ging ich einsam und fremd meinen Weg, ungewiss wohin! Und nirgends hatte ich Wurzeln geschlagen und Heimatrecht erworben. Mit den Eltern stand ich nur in äußerlichem Verkehr, mit höflichen Briefen; meinen Beruf hatte ich verlassen, um gefährlichen Schöpferphantasien nachzugehen, die mich doch nicht sättigten. Meine Freunde kannten mich nicht, Gertrud war der einzige Mensch, mit dem ich ein volles Verstehen und eine vollkommene Gemeinschafft hätte haben können. Und meine Arbeit, das, wofür ich doch lebte und was meinem Leben Sinn geben sollte, wie war das ein Jagen nach Schatten, ein Bauen von Lufthäusern! Konnte das wirklich einen Sinn haben und eines Menschen Leben rechtfertigen und ausfüllen, das Hintürmen von Tonreihen und erregten Spielen mit Gebilden, die im besten Fall einmal anderen Menschen eine Stunde angenehm zubringen halfen?
Dennoch arbeitete ich wieder leidlich fleißig und kam innerlich in diesem Sommer vollends mit der Oper zustande, wenn auch außen noch viel fehlte und erst das wenigste aufgeschrieben war. Manchmal kam ich wieder in helle Freude und dachte mit Hochmut mir aus, wie mein Werk Macht über Menschen gewinnen würde, wie Sänger und Musikanten, Kapellmeister und Chöre Vollstrecker meines Willens sein müssten, und wie er auf Tausende wirken werde. Zu andern Zeiten kam es mir beinahe unheimlich und gespenstisch vor, dass alle diese Bewegungen und diese Macht ausgehen sollten von den ohnmächtigen Träumen und Phantasien eines armen, einsamen Menschen, den alle bemitleideten. Zuweilen verlor ich auch den Mut und wollte finden, meine Arbeit könne unmöglich je aufgeführt werden, es sei alles falsch und übertrieben. Doch war das selten, im Grunde war ich vom Leben und von der Kraft meiner Arbeit überzeugt. Sie war auch ehrlich und glühend, sie war erlebt und hatte Blut in den Adern, und wenn ich sie auch heute nicht mehr hören mag und ganz andere Noten schreibe, so ist doch in jener Oper meine ganze Jugend, und wenn manche Takte daraus mir wieder begegnen, so ist mir nicht anders, als wehe ein lauer Frühlingssturm aus verlassenen Tälern der Jugend und der Leidenschafft herüber. Und wenn ich denke, dass ihre ganze Glut und Macht über die Herzen aus Schwäche und Entbehrung und Sehnsucht geboren ist, so weiß ich nicht mehr, ob ich mein ganzes Leben in jener Zeit, und auch noch das jetzige, lieb oder leid sein soll.
Der Sommer ging zur Neige, in einer finsteren Nacht mit wilden, leidenschafftlich schluchzenden Regengüssen schrieb ich die Ouvertüre zu Ende, und am Morgen war der Regen kühl und mild, der Himmel glatt grau und der Garten herbstlich geworden. Ich packte meine Sachen zusammen und fuhr in die Stadt zurück.
Von allen meinen Bekannten war nur Teiser mit seiner Schwester schon zurückgekehrt. Sie sahen beide bergbraun aus, hatten auf ihren Touren erstaunlich viel erlebt und waren doch voll Teilnahme und Spannung, zu sehen, wie es mit der Oper stehe. Wir nahmen die Ouvertüre durch, und es war mir selber nahezu feierlich, als Teiser mir die Hand auf die Schulter legte und zu seiner Schwester sagte: »Brigitt, schau den an, das ist ein großer Musiker!«
Gertruds Ankunft erwartete ich trotz aller Sehnsucht und Erregung doch mit Vertrauen. Ich konnte ihr ein schönes Stück Arbeit zeigen und wusste, sie lebe mit und verstehe und genieße alles wie ihr Eigenes. Am meisten war ich auf Heinrich Muoth gespannt, dessen Hilfe mir unentbehrlich war und von dem ich seit Monaten kein Wort gehört hatte.
Endlich erschien er, noch vor Gertruds Rückkehr, und trat eines Morgens in mein Zimmer. Lange sah er mir ins Gesicht.
»Sie sehen scheußlich aus«, sagte er kopfschüttelnd. »Na, wenn man solche Sachen schreibt!«
»Haben Sie die Rolle angesehen?«
»Angesehen? Ich kann sie auswendig und werde sie singen, sobald Sie wollen. Das ist ja eine verfluchte Musik!«
»Meinen Sie?«
»Sie werden sehen. Jetzt haben Sie Ihre schönste Zeit gehabt, warten Sie nur! Mit der Dachkammerberühmtheit ist es vorbei, sobald die Oper gespielt wird. Nun, das ist Ihre Sache. Wann wollen wir singen? Ein paar Anmerkungen hätte ich immerhin zu machen. Wie weit sind Sie mit dem Ganzen?«
Ich zeigte ihm, was zu zeigen war, und er nahm mich gleich mit in seine Wohnung. Da hörte ich ihn zum erstenmal diese Rolle singen, bei der ich durch meine eigene Leidenschafft hindurch immer an ihn gedacht hatte, und fühlte die Macht meiner Musik und seiner Stimme. Erst jetzt konnte ich in Gedanken das Ganze auf der Bühne vor mir sehen, erst jetzt schlug meine eigene Flamme mir entgegen und ließ mich ihre Wärme fühlen, gehörte nimmer mir und war nimmer mein Werk, sondern hatte eigenes Leben und wirkte als eine fremde Macht auf mich. Zum erstenmal fühlte ich diese Loslösung eines Werkes vom Schöpfer, an die ich bis dahin nicht recht geglaubt hatte. Mein Werk begann dazustehen und sich zu regen und Leben zu zeigen, eben noch hatte ich es in der Hand gehabt, und schon jetzt war es nimmer mein, war es wie ein Kind dem Vater entwachsen, lebte und übte Macht auf eigne Faust, sah mich aus fremden Augen selbständig an und trug doch meinen Namen und mein Zeichen an der Stirn geschrieben. Dieselbe zwiespältige, ja manchmal erschreckende Empfindung habe ich später bei den Aufführungen gehabt.
Muoth hatte die Rolle gut geübt, und was er geändert zu sehen begehrte, konnte ich ihm wohl zugestehen. Nun fragte er neugierig nach der Sopranrolle, die er nur halb kannte, und wollte wissen, ob sie mir schon einer Sängerin durchgesungen worden sei. Ich musste ihm nun, zum erstenmal, von Gertrud sprechen, und es gelang mir, es ruhig und unauffällig zu tun. Dem Namen nach kannte er sie wohl, hatte aber nie im Hause Imthor verkehrt und war erstaunt zu hören, dass Gertrud die Rolle studiert habe und singen könne.
»Dann muss sie eine gute Stimme haben«, meinte er anerkennend, »sehr hoch und leicht. Wollen Sie mich dort einmal einführen?«
»Ich hätte ohnehin darum gebeten. Ich möchte Sie ein paarmal mit Fräulein Imthor singen hören, es werden Korrekturen nötig sein. Sobald die Herrschafften wieder in der Stadt sind, will ich sie darum bitten.«
»Eigentlich sind Sie doch ein Glückspilz, Kuhn. Und für die Orchestermusik haben Sie den Teiser als Helfer. Sie werden schon sehen, das Stück schlägt ein.«
Ich sagte nichts, ich hatte für später und für das Schicksal meiner Oper noch keine Gedanken frei, erst musste sie fertig sein. Doch seit ich ihn hatte singen hören, glaubte auch ich an die Kraft meiner Arbeit.
Teiser, dem ich davon erzählte, sagte grimmig: »Ich glaub’s schon. Der Muoth hat ja eine Heidenkraft. Wenn er nur nicht so ein Pfuscher wär. Dem ist es nie um die Musik zu tun, immer nur um sich selber. Er ist ein Draufgänger, überall.«
An dem Tage, da ich durch den herbstlichen Garten beim schon sachte beginnenden Blätterfall das Imthorsche Haus aufsuchte, um die endlich zurückgekehrte Gertrud zu besuchen, schlug mir das Herz beklommen. Sie aber, schöner und aufrechter und ein wenig bräunlich geworden, kam mir lächelnd entgegen, gab mir die Hand und tat mit ihrer lieben Stimme und ihrem hellen Blick und ihrer ganzen noblen, freien Art mir sogleich wieder den alten Zauber an, dass ich beglückt meine Sorgen und Begierden beiseite tat und froh war, wieder in ihrer heilenden Nähe zu sein. Sie ließ mich gewähren, und da ich den Weg nicht fand, auf meinen Brief und mein Anliegen zu reden zu kommen, schwieg auch sie von alledem und gab mit keiner Gebärde kund, dass unsere Kameradschafft getrübt oder gefährdet sei. Sie suchte nicht, sich mir zu entziehen, sie war wieder häufig mit mir allein, indem sie darauf vertraute, ich werde ihren Willen achten und meine Werbung nicht wiederholen, ehe sie selbst mich dazu ermunterte. Wir nahmen unverweilt alles durch, was ich in diesen Monaten gearbeitet hatte, und ich erzählte ihr, dass Muoth seine Rolle habe und lobe. Ich bat um Erlaubnis, ihn mitzubringen, da es mir unentbehrlich war, beide Hauptrollen mit ihnen gemeinsam durchzunehmen, und sie gab ihre Einwilligung.
»Sehr gern tue ich’s nicht«, sagte sie, »das wissen Sie ja. Ich singe sonst nie vor Fremden, und vor Herrn Muoth ist es mir doppelt peinlich. Nicht nur, weil er ein berühmter Sänger ist. Er hat etwas, was ich fürchte, wenigstens auf der Bühne. Nun, wir werden sehen, es wird doch gehen.«
Ich wagte nicht, meinen Freund in Schutz zu nehmen und zu rühmen, um sie nicht noch scheuer zu machen. Ich war überzeugt, sei würde nach dem ersten Versuch gern mit ihm weitersingen.
Einige Tage später kam ich mit Muoth in einem Wagen gefahren, wir wurden erwartet und vom Hausherrn empfangen, der von großer Höflichkeit und Kühle war. Gegen meine häufigen Besuche und meine Vertrautheit mit Gertrud hatte er nicht das mindeste, er würde gelacht haben, wenn jemand ihn darauf gewiesen hätte. Aber dass nun Muoth dazukam, gefiel ihm wenig. Dieser war sehr elegant und korrekt, und die Imthors schienen beide angenehm von ihm enttäuscht zu sein. Der als gewaltig und hochmütig verschriene Sänger konnte vortrefliche Manieren zeigen, auch war er nicht eitel und im Gespräch bestimmt, doch bescheiden.
»Wollen wir singen?« fragte Gertrud nach einiger Weile, und wir standen auf, um ins Musikzimmer hinüberzugehen. Ich setzte mich an den Flügel, skizzierte Vorspiel und Szene, gab Erklärungen und bat schließlich Gertrud zu beginnen. Sie tat es unfrei und vorsichtig, mit halber Stimme. Muoth dagegen, als an ihn die Reihe kam, sang ohne Zögern und Schonung mit voller Stimme, riss uns beide mit und brachte uns schnell mitten hinein, so dass auch Gertrud nun sich hergab. Muoth, der in guten Häusern die Damen sehr gemessen zu behandeln pflegte, ward erst jetzt auf sie aufmerksam, folgte ihrem Gesang mit Teilnahme und sprach ihr in herzlichen, nicht übertreibenden, kollegialen Worten seine Bewunderung aus.
Von da an war alle Befangenheit verschwunden, die Musik befreundete uns und machte uns einmütig. Und mein Werk, das immer noch in schlecht verbundenen Stücken halbtot dalag, wuchs mir immer mehr und inniger zusammen. Ich wusste jetzt, dass die Hauptsache daran getan war und nichts Wesentliches mehr daran zu verderben war, und es schien mir gut. Ich verbarg meine Freude nicht und dankte meinen beiden Freunden mit Bewegung. Festlichfroh gingen wir aus dem Hause, und Heinrich Muoth führte mich zu einem improvisierten Festmahl in sein Gasthaus. Da tat er beim Champagner, was er nie hatte tun wollen, er nannte mich du und blieb dabei, und ich freute mich und ließ es gelten.
»Da sind wir vergnügt und feiern«, lachte er, »und eigentlich haben wir recht, dass wir’s im voraus tun, da ist es am schönsten. Nachher sieht es anders aus. Du läufst jetzt in den Theaterglanz hinein, Junge, und wir wollen darauf anstoßen, dass es dich nicht kaputt macht wie die meisten.«
Noch eine Zeitlang behielt Gertrud ihre Scheu vor Muoth und ward ihm gegenüber nur beim Singen frei und harmlos. Er war sehr zurückhaltend und rücksichtsvoll, und allmählich sah ihn Gertrud gerne kommen und lud ihn, gerade wie mich, jedesmal mit unbefangener Freundlichkeit zum Wiederkommen ein. Die Stunden, in denen wir drei allein zusammen waren, wurden selten. Die Rollen waren durchgesungen und durchbesprochen, auch hatte bei Imthors die winterliche Geselligkeit mit den regelmäßigen Musikabenden wieder begonnen, an denen nun auch Muoth häufig erschien, doch ohne dabei mitzuwirken.
Manchmal meinte ich wahrzunehmen, dass Gertrud mir fremder zu werden anfange, dass sie sich etwas von mir zurückziehe; doch strafte ich mich für solche Gedanken stets und schämte mich meines Misstrauens. Ich sah Gertrud als Dame eines geselligen Hauses sehr in Anspruch genommen und hatte oft meine Freude daran, sie inmitten der Gäste so schlank und fürstlich und doch anmutig gehen und walten zu sehen.
Für mich vergingen die Wochen schnell. Ich saß an der Arbeit, die ich während des Winters möglichst zu vollenden dachte, hatte Zusammenkünfte mit Teiser, Abende bei ihm und seiner Schwester, dazu allerlei Briefwechsel und Erlebnisse, denn es wurden da und dort meine Lieder gesungen und in Berlin alles, was ich für Streichmusik komponiert hatte, aufgeführt. Es kamen Anfragen und Zeitungskritiken, und plötzlich schien auch schon jedermann zu wissen, dass ich an einer Oper arbeite, obwohl ich selber außer Gertrud, den Teisers und Muoth niemand ein Wort davon gesagt hatte. Nun, jetzt war es einerlei, und im Grunde freuten mich diese Zeichen des Erfolges, es schien nun endlich und doch früh genug ein offener Weg vor mir zu liegen.
Zu Hause bei den Eltern war ich ein ganzes Jahr nimmer gewesen. Nun fuhr ich zu Weihnachten hin. Ich fand die Mutter liebevoll, doch in der alten Befangenheit, die zwischen uns bestand und die bei mir eine Furcht für Nichtverstandenwerden, bei ihr ein Unglaube an meinen Künstlerberuf und ein Misstrauen gegen die Ernsthaftigkeit meiner Bestrebungen war. Nun sprach sie lebhaft von dem, was sie über mich gehört und gelesen hatte, doch mehr um mir damit eine Freude zu machen als aus Überzeugung, denn im Grunde misstraute sie diesen scheinbaren Erfolgen ebenso wie meiner ganzen Kunst. Sie war nicht ohne Freude an Musik, hatte früher auch etwas gesungen, doch war immerhin ein Musikant in ihren Augen etwas Armseliges, auch konnte sie meine Musik, von der sie einiges gehört hatte, nicht verstehen oder billigen.
Der Vater hatte mehr Glauben. Als Kaufmann dachte er vor allem an mein äußeres Fortkommen, und obwohl er mich stets ohne Murren reichlich unterstützt und seit meinem Austritt aus dem Orchester sogar meinen ganzen Unterhalt wieder bestritten hatte, sah er es doch gerne, dass ich zu verdienen begann und Aussicht hatte, einmal vom eigenen Erwerb leben zu können, was er auch bei vorhandenem Reichtum für die notwendige Grundlage einer ehrenhaften Existenz ansah. Übrigens fand ich ihn im Bett liegend, er war gerade am Tage vor meiner Ankunft gefallen und hatte sich am Fuß verletzt.
Ich traf ihn geneigt zu leicht philosophierenden Gesprächen, kam ihm näher als je und hatte meine Freude an seiner bewährten praktischen Lebensweisheit. Ich konnte ihm manche meiner Leiden klagen, was ich früher aus Scham nie getan hatte. Dabei fiel ein Ausspruch Muoths mir ein, den ich meinem Vater wiederholte. Muoth hatte einmal gesagt, allerdings nicht im Ernst, er halte die Jugend für die schwerste Zeit im Leben und finde, alte Leute seien meistens viel heiterer und zufriedener als junge. Mein Vater lachte dazu und meinte dann nachdenklich: »Wir Alten sagen natürlich das Gegenteil. Aber dein Freund hat doch etwas von der Wahrheit gefühlt. Ich glaube, man kann im Leben eine ganz genaue Grenze ziehen zwischen Jugend und Alter. Die Jugend hört auf mit dem Egoismus, das Alter beginnt mit dem Leben für andere. Ich meine es so: junge Leute haben viel Genuss und viel Leiden von ihrem Leben, weil sie es nur für sich allein leben. Da ist jeder Wunsch und Einfall wichtig, da wird jede Freude ausgekostet, aber auch jedes Leid, und mancher, der seine Wünsche nicht erfüllbar sieht, wirft gleich das ganze Leben weg. Das ist jugendlich. Für die meisten Menschen aber kommt eine Zeit, wo das anders wird, wo sie mehr für andere leben, keineswegs aus Tugend, sondern ganz natürlich. Bei den meisten bringt es die Familie. Man denkt weniger an sich selber und seine Wünsche, wenn man Kinder hat. Andere verlieren den Egoismus an ein Amt, an die Politik, an die Kunst oder Wissenschafft. Die Jugend will spielen, das Alter arbeiten. Es heiratet keiner, damit er Kinder kriege, aber wenn er Kinder kriegt, so ändern sie ihn, und schließlich sieht er, dass alles doch nur für sie geschehen ist. Das hängt damit zusammen, dass die Jugend zwar gern vom Tode redet, aber doch nie an ihn denkt. Bei den Alten ist es umgekehrt. Die Jungen glauben ewig zu leben und können darum alle Wünsche und Gedanken auf sich selber stellen. Die Alten haben schon gemerkt, dass irgendwo ein Ende ist und dass alles, was einer für sich allein hat und tut, am Ende in ein Loch fällt und für nichts war. Darum braucht er eine andere Ewigkeit und den Glauben, er arbeite nicht bloß für die Würmer. Dafür sind Frau und Kind, Geschäft und Amt und Vaterland, damit man wisse, für wen denn das tägliche Schinden und Plagen geschehe. Und darin hat dein Freund ganz recht; man ist zufriedener, wenn man für andere, als wenn man für sich allein lebt. Nur sollten die Alten nicht gar so sehr ein Heldentum daraus machen, was es nicht ist. Auch werden aus den eifrigsten Jungen die besten Alten und nicht aus denen, die schon auf Schulen wie Großväter tun.«
Ich blieb eine Woche zu Hause und saß viel am Bett meines Vaters, der kein geduldiger Kranker und freilich außer der kleinen Verletzung am Fuß bei bester Kraft und Gesundheit war. Ich gestand ihm mein Bedauern darüber, dass ich ihm nicht schon früher gerecht geworden und nachgekommen sei, doch meinte er, das sei gegenseitig, und es werde unserer künftige Freundschafft bekommen, als wenn wir vorzeitige Versuche des Verstehens aneinander gemacht hätten, welche selten gelängen. Vorsichtig und freundlich erkundigte er sich danach, wie es mir mit den Frauen gegangen sei. Von Gertrud mochte ich nichts sagen, meine übrige Beichte war sehr einfach.
»Tröste dich«, sagte mein Vater lächelnd. »Du hast das Zeug zu einem recht guten Ehemann, das merken gescheite Frauen bald. Nur einer ganz armen darfst du nicht glauben, die könnte dein Geld meinen. Und wenn du die nicht findest, die du dir denkst und gerne hättest, so ist auch nicht alles verloren. Die Liebe zwischen jungen Leuten und die in einer langen Ehe ist nicht dieselbe. In der Jugend denkt jedes an sich und sorgt für sich. Aber wenn einmal ein Hausstand da ist, gibt es anderes zu sorgen. Mir ist es auch so gegangen, du darfst es wohl wissen. Ich war in deine Mama sehr verliebt, und es war eine rechte Liebesheirat. Das dauerte aber nur ein Jahr oder zwei, dann hörte die Verliebtheit auf und war bald bis auf den letzten Rest verbraucht, und wir standen da und wussten nicht recht, was miteinander anfangen. Da kamen gerade die Kinder, deine beiden älteren Geschwister, die ja früh gestorben sind, und wir hatte für die zu sorgen. Darüber wurden unsere Ansprüche aneinander kleiner, die Fremdheit hörte wieder auf, und auf einmal war die Liebe wieder da, freilich nicht die alte, sondern eine ganz andere. Und die hat seither gehalten ohne viel Flicken zu brauchen, mehr als dreißig Jahre. Es geht nicht allen Liebesheiraten so gut, sogar sehr wenigen.«
Mir war nun allerdings mit diesen Anschauungen nicht gedient, doch tat das neue, freundschafftliche Verhältnis zu meinem Vater mir wohl und machte mir die Heimat wieder lieb, die mir in den letzten Jahren beinahe gleichgültig geworden war. Als ich wieder abreiste, bereute ich den Besuch nicht und beschloss, künftig in besserer Verbindung mit dem Alten zu bleiben.
Arbeit und Reisen zur Aufführung meiner Streichmusik hielten mich eine Weile vom Besuch des Imthorschen Hauses ab. Als ich wiederkam, fand ich Muoth, der früher nur in meiner Begleitung hingegangen war, dort unter den meistgeladenen Gästen. Der alte Imthor trat ihm noch immer kühl und leicht ablehnend gegenüber, Gertrud aber schien gut Freund mit ihm geworden zu sein. Mir war das lieb, ich wusste keinen Grund zur Eifersucht und war überzeugt, dass zwei so ungleiche Menschen wie Muoth und Gertrud einander wohl interessieren und anziehen, nicht aber befriedigen und lieben könnten. So sah ich es ohne Misstrauen, wenn er mit ihr sang, und sie beide ihre schönen Stimmen vermischten. Sie sahen gut aus, beide große, hohe, aufrechte Menschen, er dunkel und ernst, sie hell und heiter. Neuerdings kam es mir allerdings zuweilen vor, als habe ihre alte angeborene Heiterkeit einige Mühe, sich zu behaupten, und sei manchmal müde und verschattet. Sie sah mich nicht selten ernsthaft und prüfend an, mit einer Neugierde und einem Interesse, wie bedrückte und geängstigte Menschen einander ansehen; und wenn ich ihr dann zunickte und mit einem fröhlichen Blick antwortete, spannte sie die Züge so langsam und angestrengt zum Lächeln, dass es mir weh tat.
Doch machte ich solche Beobachtungen nur ganz selten, zu anderen Zeiten sah Gertrud so heiter und strahlend aus wie je, so dass ich jene Beobachtungen für Einbildungen hielt oder einem vorübergehenden Unwohlsein zuschrieb. Nur einmal war ich ernstlich erschrocken. Sie saß während einer der Hausfreunde Beethoven spielte, im Halbdunkel zurückgelehnt und musste glauben, ganz unbeobachtet zu sein. Vorher, beim hellen Licht zwischen den Gästen beim Empfang, war sie immer klar und heiter anzusehen gewesen. Nun aber, in sich zurückgezogen und offenbar von der Musik unberührt, ließ sie ihr Gesicht gehen und bekam einen Ausdruck von Müdigkeit, Angst und Scheu wie ein verhetztes, ratlos gewordenes Kind. Es dauerte mehrere Minuten, und als ich das sah, wollte mir das Herz stillstehen. Sie litt und hatte Kummer, schon das war schlimm, und dass sie auch vor mir die Fröhliche spielte und auch mir alles verbarg, machte mich ängstlich. Sobald das Spiel zu Ende war, suchte ich ihre Nähe, setzte mich zu ihr und fing ein harmloses Gespräch an. Ich sprach davon, dass es für sie ein unruhiger Winter sei und dass auch ich dabei entbehre, doch sagte ich alles leichthin in scherzendem Tone. Schließlich erinnerte ich an die Zeit im Frühjahr, da wir die Anfänge meiner Oper miteinander gespielt und gesungen und besprochen hatten.
Da sagte sie: »Ja, das ist eine schöne Zeit gewesen.« Mehr nicht, aber es war doch ein Geständnis, denn sie sagte es mit ungewollter Ernsthaftigkeit. Ich aber las daraus Hoffnung für mich und war ihr im Herzen dankbar.
Gar gern hätte ich ihr meine Frage vom Sommer wiederholt. Die Veränderung in ihrem Wesen, die Befangenheit und unsichere Scheu, die sie gerade vor mir zuweilen zeigte, glaubte ich doch bei aller Bescheidenheit als günstige Anzeichen für mich hinnehmen zu dürfen. Es war mir rührend zu sehen, wie ihr Mädchenstolz krank zu liegen und sich hart zu wehren schien. Doch wagte ich nichts zu sagen, sie tat mir leid in ihrer Unsicherheit, und mein stilles Versprechen glaubte ich auch halten zu müssen. Ich habe nie gewusst mit Frauen umzugehen; ich machte den umgekehrten Fehler wie Heinrich Muoth: ich ging mit Frauen um wie mit Freunden.
Da ich auf die Dauer meine Wahrnehmungen nicht für Täuschungen halten konnte und Gertruds veränderte Art doch nur halb verstand, hielt ich mich zurück, ließ meine Besuche etwas seltener werden und vermied intime Gespräche mit ihr. Ich wollte sie schonen und nicht noch scheuer machen und ängstigen, da sie doch zu leiden und in sich uneins zu sein schien. Sie merkte es, wie ich glaube, und sah meine Zurückhaltung nicht ungern. Ich hoffte, es werde mit dem Ende des Winters und der lebhaften Geselligkeit wieder eine stille, schöne Zeit für uns beide kommen, bis dahin wollte ich warten. Oft aber tat mir das schöne
Mädchen bitter leid, und wider meinen Willen ward ich selber allmählich unruhig und fühlte etwas Schlimmes in der Luft.
Der Februar kam, ich wünschte sehnlich das Frühjahr her und litt unter der Spannung dieses Zustandes. Auch Muoth ließ sich wenig bei mir sehen, allerdings hatte er einen angestrengten Winter an der Oper und war in der Wahl zwischen zwei ehrenvollen Berufungen an große Theater, die ihm neuestens zugekommen waren. Eine Geliebte schien er nicht mehr zu haben, wenigstens hatte ich seit seinem Bruch mit Lotte keine Frau mehr bei ihm gesehen.
Kürzlich hatten wir seinen Geburtstag gefeiert, seither hatte ich ihn nicht gesehen.
Nun trieb mich ein Bedürfnis zu ihm, ich begann unter der Veränderung meiner Beziehung zu Gertrud, unter Überarbeitung und Wintermüdigkeit zu leiden und suchte ihn auf, um wieder einmal zu plaudern. Er setzte mir einen Sherry vor und erzählte von der Bühne, war übrigens müde und zerstreut und merkwürdig milde. Ich hörte zu, schaute im Zimmer umher und wollte eben fragen, ob er wieder bei Imthors gewesen sei. Da sah ich, bei einem gleichgültigen Blick über den Tisch, ein Kuvert mit Gertruds Handschrift liegen. Noch ehe ich darüber nachdenken konnte, stieg schon Schrecken und Bitterkeit in mir auf. Es konnte ja eine Einladung, eine einfache Höflichkeit sein, doch glaubte ich daran nicht, so gern ich es auch getan hätte.
Es gelang mir, ruhig zu bleiben, und bald ging ich fort. Und wider meinen Willen wusste ich alles schon. Es konnte eine Einladung, eine Kleinigkeit, ein Zufall sein – ich wusste aber, dass es das nicht war. Ich sah auf einmal alles und begriff alles, was in der letzten Zeit gewesen und geschehen war. Wohl nahm ich mir vor, zu prüfen und zu warten, doch waren alle diese Gedanken nur Vorwände und Ausflüchte, im Grunde saß der Pfeil und schwärte im Blut, und als ich nach Hause kam und in meiner Stube saß, wich langsam die Betrübung einer furchtbaren Klarheit, die mich eisig durchfloss und mir zu fühlen gab, dass nun mein Leben zerstört und mein Glauben und Hoffen vernichtet war.
Mehrere Tage kam ich weder zu Tränen noch zu Schmerzen. Ohne viel zu denken, hatte ich beschlossen, nicht weiterzuleben. Vielmehr hatte der Lebenswille in mir sich niedergelegt und schien verschwunden. Ich bedachte das Sterben wie ein Geschäft, das unweigerlich getan werden muss und bei dem man sich nicht besinnt, ob es angenehm ist oder nicht.
Zu den Dingen, die ich zuvor besorgen musste und besorgte, gehörte vor allem ein Besuch bei Gertrud, um – gewissermaßen der Ordnung wegen – die für mein Gefühl entbehrliche Bestätigung zu holen. Ich hätte sie von Muoth haben können; aber obwohl er weniger schuld schien als Gertrud, brachte ich es nicht über mich, zu ihm zu gehen. Ich ging zu Gertrud, traf sie nicht, kam anderen Tages wieder und unterhielt mich ein paar Minuten mit ihr und ihrem Vater, bis dieser uns allein ließ, da er glaubte, wir wollten musizieren.
Nun stand sie mir allein gegenüber, und ich sah sie neugierig noch einmal an, die leicht verwandelt, doch nicht minder schön als jemals war.
»Verzeihen Sie mir, Gertrud«, sagte ich fest, »dass ich Sie noch einmal quälen muss. Ich habe Ihnen im Sommer einen Brief geschrieben – kann ich auf den jetzt Antwort haben? Ich muss verreisen, vielleicht für lange, sonst hätte ich gewartet, bis Sie selber…«
Da sie bleich wurde und mich verwundert ansah, half ich ihr und sprach weiter: »Nicht wahr, Sie müssen nein sagen? Ich habe es mir gedacht. Ich möchte nur Gewissheit haben.«
Sie nickte traurig.
»Ist es Heinrich?« fragte ich.
Und sie nickte wieder, und plötzlich erschrak sie und fasste meine Hand.
»Verzeihen Sie mir! Und tun Sie ihm nichts!«
»Das habe ich nicht im Sinn, seien Sie ruhig«, sagte ich und musste lächeln, denn mir fiel die Marion ein und die Lotte, die auch so ängstlich an ihm hingen und die er geschlagen hatte. Vielleicht würde er auch Gertrud schlagen und ihre ganze herrliche Hoheit und ihr ganzes vertrauensvolles Wesen zerstören.
»Gertrud«, fing ich noch einmal an, »besinnen Sie sich noch! Nicht meinetwegen, ich weiß schon, wie es steht! Aber Muoth wird Sie nicht glücklich machen. Adieu, Gertrud.«
Meine Kälte und Klarheit war unerschüttert geblieben. Erst jetzt, als Gertrud mich so anredete und jenen Ton hatte, den ich von Lotte her kannte, und als sie mich nun ganz krank ansah und sagte: »Gehen Sie nicht so, das verdiene ich nicht von Ihnen!« da brach mir das Herz, und ich hatte Mühe, mich zu halten.
Ich gab ihr die Hand und sagte: »Ich will Ihnen nicht wehtun. Ich will auch Heinrich nicht schaden. Aber warten Sie noch, lassen Sie ihm noch nicht Gewalt über sich! Er zerstört alle, die er liebhat.«
Sie schüttelte den Kopf und ließ meine Hand los. »Adieu!« sagte sie leise. »Ich bin ja nicht schuld.
Denken Sie gut an mich und auch an Heinrich!«
Es war fertig. Ich ging nach Hause zurück und fuhr fort, meine Angelegenheit wie ein Geschäft zu besorgen. Wohl würgte mich zwischendurch das Weh und blutete mir das Herz, doch sah ich wie von ferne zu und hatte keine Gedanken dafür frei. Es war einerlei, ob es mir in den Tagen oder Stunden, die ich übrig hatte, wohl oder übel ging. Ich ordnete die Mengen von Notenblättern, auf denen meine halbfertige Oper stand, und schrieb einen Brief an Teiser dazu, damit das Werk womöglich erhalten werde. Daneben besann ich mich angestrengt darüber, wie ich sterben sollte. Ich hätte gern meine Eltern geschont, doch fand ich keine Todesart aus, die das ermöglicht hätte. Schließlich lag daran auch nicht so viel; ich beschloss, es mit dem Revolver zu tun. Alle diese Fragen tauchten nur schattenhaft und unwirklich vor mir auf. Fest stand nur die Erkenntnis, dass ich nicht mehr leben dürfe; denn schon empfand ich ahnend hinter der eisigen Hülle meines Entschlusses die Schrecklichkeit des Lebens, das mir geblieben wäre. Es schaute mich aus leeren Augen scheußlich an und war unendlich viel hässlicher und furchtbarer als die dunkle, ziemlich gleichgültige Vorstellung des Sterbens.
Am zweiten Tage nach Mittag war ich mit meinen Besorgungen fertig. Ich wollte noch einen Gang durch die Stadt machen, ich musste der Bibliothek noch ein paar Bücher zurückbringen. Es war mir beruhigend zu wissen, dass ich am Abend nimmer leben werde. Ich hatte die Empfindung eines Verunglückten, der in halber Narkose liegt und der nicht den Schmerz selbst, wohl aber eine Vorahnung grauenhafter Qualen fühlt. Nun hoffter nur, er möge vollends in Bewusstlosigkeit versinken, ehe der geahnte Schmerz wirklich ausbräche. So war mir zumute. Ich litt weniger unter einem wirklichen Schmerz als unter der peinigenden Furcht, ich möchte nochmals zum Bewusstsein kommen und dann den ganzen Becher ausleeren müssen, den der gerufene Tod mir abnehmen sollte. Darum tat ich meinen Gang in Eile, besorgte mein Geschäft und lief stracks zurück. Einen kleinen Umweg machte ich nur, um nicht an Gertruds Hause vorübergehen zu müssen. Denn ich ahnte, ohne es ausdenken zu können, dass vielleicht beim Anblick des Hauses mich die unerträgliche Qual, vor der ich auf der Flucht war, überfallen und niederwerfen möchte.
So kam ich zum Haus, in dem ich wohnte, aufatmend zurück, öffnete das Tor und stieg unverweilt die Treppe hinan, in der Seele erleichtert. Wenn jetzt noch das Weh hinter mir war und die Krallen nach mir ausstreckte, wenn jetzt irgendwo in mir der entsetzliche Schmerz zu wühlen begänne, ich hatte nur noch Schritte und Sekunden zwischen mir und der Befreiung.
Ein Mann in Uniform kam die Treppe herab mir entgegen. Ich wich aus und eilte, mich an ihm vorbeizudrängen, voller Furcht, ich möchte aufgehalten werden. Da griff er an die Mütze und nannte meinen Namen. Taumelnd sah ich ihn an. Die Anrede, der Aufenthalt, die Erfüllung meiner Befürchtung fuhr mir durch die Glieder, und es überkam mich plötzlich eine Todesmüdigkeit, als müsse ich niedersinken und habe keine Hoffnung, die paar Schritte noch zu tun und mein Zimmer zu erreichen.
Indessen starrte ich den fremden Mann gepeinigt an, und da die Erschlaffung mich überkam, setzte ich mich auf eine Treppenstufe nieder. Er fragte, ob ich krank sei, ich schüttelte den Kopf. Dabei hielt er immer etwas in der Hand, was er mir anbot, und was ich nicht nehmen wollte, bis er es mir fast mit Gewalt in die Hand drückte. Ich winkte ab und sagte: »Ich will nicht.«
Er rief nach der Wirtin, die war nicht da. Da fasste er mich unter den Armen, um mich hinaufzubringen, und sobald ich sah, dass kein Entrinnen war und er mich nicht allein lassen würde, fühlte ich wieder Macht über mich, stand auf und ging voran in mein Zimmer, wohin er mir folgte. Da er mich, wie mir schien, mit Misstrauen betrachtete, deutete ich auf mein lahmes Bein und tat, als schmerze es mich, und er glaubte es. Ich suchte meinen Geldbeutel und gab ihm eine Mark, er dankte und drückte mir endgültig das Ding in die Hand, das ich nicht hatte annehmen wollen und das ein Telegramm war.
Erschöpft stand ich am Tisch und entsann mich. Nun hatte man mich doch aufgehalten, hatte meinen Bann durchbrochen. Was lag da? Ein Telegramm, von wem? Einerlei, es ging mich nichts an. Es war eine Roheit, mir jetzt Telegramme zu bringen. Nun hatte ich alles besorgt, und im letzten Augenblick schickt mir noch jemand ein Telegramm. Ich sah mich um, ein Brief lag auch auf dem Tisch.
Den Brief steckte ich in die Tasche, er focht mich nicht an. Aber das Telegramm quälte mich, es hatte sich in meine Gedanken eingehängt und meine Kreise gestört. Ich saß ihm gegenüber und sah es liegen, und ich besann mich, ob ich es lesen sollte oder nicht. Natürlich war es ein Angriff auf meine Freiheit, daran zweifelte ich nicht. Irgend jemand wollte versuchen, mich zu stören. Man missgönnte mir die Flucht, man wollte, dass ich mein Leid ausfresse und durchkoste, dass kein Biss und Stich und kein Krampf mir erspart werde.
Warum mir das Telegramm so zu schaffen machte, weiß ich nicht. Lange saß ich am Tisch und wagte es nicht zu öffnen, im Gefühl, es berge eine Macht, mich wieder zurückzuziehen und mich zum Ertragen des Unerträglichen zu zwingen, dem ich entrinnen wollte. Als ich es endlich doch öffnete, zitterte es mir in der Hand, und ich entzifferte nur langsam, als müsse ich aus einer ungewohnten fremden Sprache übersetzen, den Inhalt. Der hieß: »Vater sterbend. Bitte sofort kommen. Mama.« Allmählich begriff ich, was es bedeute. Gestern noch hatte ich an meine Eltern gedacht und bedauert, ihnen wehtun zu müssen, doch es war nur eine oberflächliche Erwägung gewesen. Nun erhoben sie Widerspruch, rissen mich zurück, machten ihr Recht geltend. Sogleich fielen mir die Gespräche ein, die ich an Weihnachten mit meinem Vater geführt hatte. Junge Leute, hatte er gesagt, können in ihrem Egoismus und Unabhängigkeitsgefühl dazu kommen, eines ungestillten Wunsches wegen das Leben wegzuwerfen; wer aber sein Leben mit anderen Leben verbunden wisse, den könnten die eigenen Begierden nicht mehr so weit führen. Und da hing auch ich an einem solchen Bande! Mein Vater lag sterbend, die Mutter war allein bei ihm, sie rief mich. Sein Sterben und ihre Not griff mir im Augenblick noch nicht ans Herz, ich glaubte schlimmere Leiden zu kennen; aber dass es nicht angehe, ihnen jetzt noch mein eigenes Bündel hinzuwerfen, ihre Bitte nicht zu hören, ihnen davonzulaufen, das sah ich wohl ein.
Am Abend stand ich reisefertig auf dem Bahnhof, tat willenlos und doch gewissenhaft das Notwendige, nahm die Karte, strich Geld ein, das mir zurückgegeben wurde, stellte mich am Perron auf und stieg in einen Wagen. Da setzte ich mich in die Ecke, einer langen Nachtreise gewärtig. Ein junger Mensch stieg ein, sah sich um, grüßte und setzte sich mir gegenüber. Er fragte etwas, ich sah ihn nur an, nichts denkend und wünschend, als dass er mich allein lassen möge. Er hustete und stand auf, nahm seine Tasche aus gelbem Leder und suchte einen anderen Platz.
Der Zug fuhr durch die Nacht, blind in blödsinnigem Eifer, genau so dumpf und gewissenhaft wie ich, als ob etwas zu versäumen oder etwas zu retten wäre. Nach Stunden, als ich in die Tasche griff, fiel mir der Brief in die Hand. Auch der ist noch da, dachte ich, und machte ihn auf.
Da schrieb mein Verleger über Konzerte und Honorare und teilte mir mit, er stehe gut und gehe vorwärts, ein großer Kritiker in München habe über mich geschrieben, er gratuliere dazu. Dabei lag der Ausschnitt aus einer Zeitschrift, ein Artikel mit meinem Namen und Titel, und ein langes Getöne vom Stand der heutigen Musik und von Wagner und von Brahms, und dann eine Kritik meiner Streichmusik und meiner Lieder, und ein reichliches Lob und Glückauf; und während ich die kleinen schwarzen Buchstaben las, ward mir allmählich klar, dass das mir gelte, dass da die Welt und der Ruhm mir die Hand hinüberstrecke. Da musste ich einen Augenblick lachen.
Aber der Brief und der Artikel hatte mir die Binde vor den Augen gelockert, und unvermutet sah ich in die Welt zurück und sah mich nicht ausgelöscht und zurückgesunken, sondern mitten darin und dazugehörend. Ich musste leben, ich musste es mir gefallen lassen. Wie war das möglich? Ach, nun stieg alles wieder herauf, was seit fünf Tagen war und was ich nur dumpf gefühlt, und dem ich zu entgehen gedacht hatte, und es war alles ekelhaft, bitter und schmählich. Es war alles ein Todesurteil, und ich hatte es nicht vollzogen, ich musste es unvollzogen lassen.
Ich hörte den Zug knattern, ich öffnete das Fenster und sah dunkle Gegenden geduckt dahinstreichen, traurige kahle Bäume mit schwarzem Geäst, und Höfe unter großen Dächern, und ferne Hügel. Das alles schien ungern zu existieren, schien Leid und Widerwillen zu atmen. Man konnte es schön finden, mir aber kam es nur traurig vor. Das Lied fiel mir ein: »Hat das Gott gewollt?«
So sehr ich versuchte, die Bäume und Felder und Dächer draußen zu betrachten, so eifrig ich auf den Takt der Räder horchte, so heftig ich mich in Gedanken an alles klammerte, was irgend fern war und woran sich ohne Verzweiflung denken ließ, es war nicht lange möglich. Auch an den Vater konnte ich kaum denken. Er sank hinab mit Bäumen und Nachtgelände zusammen in Vergessenheit, und wider meinen Willen und mein Bemühen kehrten meine Gedanken dahin zurück, wo sie nicht sein durften. Da lag ein Garten mit alten Bäumen, und darin ein Haus, am Eingang Palmen und an allen Wänden alte Gemälde, und ich trat ein und stieg die Treppe hinan, an allen alten Bildern vorüber, und niemand sah mich, ich ging als ein Schatten hindurch. Da war eine schlanke Dame, die wandte mir den Rücken zu, ein Haupt mit dunkelblondem Haar. Ich sah sie beide, sie und ihn, die sich umschlungen hielten, und ich sah meinen Freund Heinrich Muoth lächeln, so schwermütig und grausam, wie er es manchmal tat, als wisse er schon, dass er auch diese Blonde missbrauchen und misshandeln werde, und als sei dagegen nichts zu machen. Es war töricht und hatte keinen Sinn, dass diesem Armen und Verderber die schönsten Frauen zufielen, und dass bei mir alle Liebe und alles Wohlmeinen vergeblich blieb. Es war töricht und hatte keinen Sinn, aber es war so.
Aus einer Art von Schlaf oder Bewusstlosigkeit erwachend, sah ich vor dem Fenster Morgengrau und fahle Himmelshelle. Ich streckte erstarrte Glieder, fühlte Nüchternheit und Bangen und sah nun die Dinge trüb und verdrossen vor mir liegen. Zunächst war jetzt an den Vater und an die Mutter zu denken.
Es war noch grau und morgenfrüh, da sah ich die Brücken und Häuser der Heimatstadt sich nähern. Im Gestank und Geschrei des Bahnhofs befiel mich Müdigkeit und Widerwillen so stark, dass ich kaum aussteigen mochte; dann nahm ich mein leichtes Gepäck und stieg in den nächsten Wagen, der fuhr über glatten Asphalt, und hernach über leichtgefrorene Erde und über dröhnendes Pflaster und hielt vor dem breiten Tor unseres Hauses, das ich nie geschlossen gesehen hatte.
Jetzt aber war es geschlossen, und als ich, verwirrt und erschrocken, die Glocke zog, kam niemand und keine Antwort. Ich blickte am Haus hinauf und war wie in einem unangenehmen, närrischen Traum, wo alles verschlossen ist und man über Dächer steigen muss. Der Kutscher schaute verwundert zu und wartete. Ich ging beklommen zu der anderen Tür, die ich nur selten und seit Jahren nicht mehr durchschritten hatte. Die war offen, und dahinter war meines Vaters Kontor, und als ich eintrat, saßen da in grauen Röcken wie immer, still und staubig, die Bureauherren, die standen bei meinem Eintritt auf und grüßten, denn ich war der Erbe. Der Buchhalter Klemm, der nicht anders aussah als vor zwanzig Jahren, machte seinen Bückling und sah mich traurig fragend an.
»Warum ist vorn geschlossen?« fragte ich.
»Es ist niemand da.«
»Wo ist denn mein Vater?«
»Im Spital, und die Gnädige auch.«
»Lebt er noch?«
»Er hat heut morgen noch gelebt, man wartet aber«
»Ja. Was ist denn?«
»Wie? Ach so, es ist immer noch der Fuß. Er war falsch behandelt, sagen wir alle. Auf einmal kamen Schmerzen, der Herr hat schrecklich geschrien. Da wurde er ins Spital gebracht. Jetzt ist es Blutvergiftung. Um zwei Uhr dreißig haben wir Ihnen gestern depeschiert.«
»Ja, danke. Nun lassen Sie mir schnell ein Butterbrot und ein Glas Wein bringen, und einen Wagen, bitte.«
Man lief und flüsterte, und es wurde wieder still, dann gab mir jemand einen Teller und ein Glas, ich aß Brot und trank Wein, ich stieg in einen Wagen, ein Pferd schnob, und bald stand ich an der Spitalpforte, wo Schwestern mit weißen Hauben und Wärter mit blaugestreiften Leinenanzügen durch den Korridor liefen. Man nahm mich an der Hand und zog mich in ein Zimmer, aufschauend sah ich meine Mutter in Tränen nicken und in einem eisernen, niedern Bett meinen Vater liegen, verändert und klein, und sein kurzer, grauer Bart stand sonderbar in die Luft.
Er lebte noch, er machte die Augen auf und erkannte mich trotz des Fiebers.
»Immer noch Musik machen?« sagte er leise, und Stimme und Blick war ebenso gütig wie spöttisch. Er blinkte mir zu mit einer müden ironischen Weisheit, die nichts mehr zu sagen hat, und mir war, er schaue mir ins Herz und sehe und wisse alles.
»Vater«, sagte ich. Aber er lächelte nur, blickte noch einmal halb spöttisch, doch mit schon zerstreutem Blick, und schloss die Augen wieder.
»Wie siehst du aus!« sagte die Mutter, als sie mich umarmte. »Hat es dich so mitgenommen?«
Ich konnte nichts sagen, gleich darauf kam ein junger Arzt, und bald hinter ihm ein alter, der Sterbende bekam Morphium und tat die klugen Augen, die jetzt so überlegen und allwissend schauen konnten, nicht mehr auf. Wir saßen bei ihm und sahen ihn liegen, und sahen ihn ruhig werden und sein Gesicht verändern, und warteten auf sein Ende. Er lebte noch manche Stunde dahin und starb am späten Nachmittag. Ich empfand nichts mehr als dumpfes Leid und tiefe Müdigkeit, saß mit heißen trockenen Augen und schlief gegen Abend am Totenbette sitzend ein.