Книга: Gertrud / Гертруда. Книга для чтения на немецком языке
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Viertes Kapitel

Während der kurzen Zeit meiner Besuche bei dem frommen Theosophen und Obstzüchter erhielt ich eines Tages eine kleine Geldanweisung, deren Herkunft mir dunkel war. Abgesandt war sie von einem bekannten norddeutschen Konzertagenten, mit dem ich jedoch niemals zu tun gehabt hatte. Auf meine Frage ward mir die Antwort, der Betrag sei im Auftrag des Herrn Heinrich Muoth angewiesen und stelle mein Honorar dafür dar, dass Muoth in sechs Konzerten ein von mir komponiertes Lied gesungen habe.

Nun schrieb ich Muoth, dankte ihm und bat um Bericht. Vor allem hätte ich gern gewusst, wie mein Lied in den Konzerten aufgenommen worden war. Von Muoths Konzertreise hatte ich wohl gehört und ein oder zweimal Zeitungsnotizen gelesen, von meinem Lied war aber da nicht die Rede gewesen. Ich berichtete in meinem Brief mit der Ausführlichkeit der Einsamen von meinem Leben und von meiner Arbeit, legte auch eines der neuen Lieder bei. Dann wartete ich zwei, drei, vier Wochen auf Antwort, und dann, da sie ausblieb, vergaß ich die ganze Sache wieder. Immer noch schrieb ich fast alle Tage an meine Mutter, die mir wie im Traume quoll. In den Pausen aber war ich schlaff und unzufrieden, das Stundengeben fiel mir furchtbar schwer, ich fühlte, dass ich es nimmer lang aushalten werde.

Es war daher wie eine Erlösung aus einem Bann, als endlich doch ein Brief von Muoth kam. Er schrieb:

»Lieber Herr Kuhn! Ich bin kein Briefschreiber, darum ließ ich Ihren Brief liegen, auf den ich nichts Rechtes zu antworten wusste. Jetzt aber kann ich mit wirklichen Vorschlägen kommen. Ich bin jetzt am Opernhaus hier in R. angestellt. Und es wäre schön, wenn Sie auch kämen. Sie könnten fürs erste als zweiter Geiger bei uns unterkommen, der Kapellmeister ist ein vernünftiger und freier Mann, wenn auch ein Grobian. Wahrscheinlich findet sich auch Gelegenheit, bald etwas von Ihnen hier zu spielen, wir haben gute Kammermusiker. Wegen der Lieder wäre auch einiges zu sagen, unter anderem ist ein Verleger da, der sie haben will. Aber das Schreiben ist so langweilig, kommen Sie selber! Aber schnell, und telegraphieren Sie wegen der Stelle, es hat Eile.

Ihr Muoth.«

Da war ich plötzlich aus meiner Einsiedelei und Nutzlosigkeit gerissen und trieb wieder im Strom des Lebens, hatte Hoffnungen und Sorgen, bangte und freute mich. Es gab nichts, was mich hielt, und meine Eltern waren froh, mich auf die Bahn kommen und einen ersten entschiedenen Schritt ins Leben tun zu sehen. Ich telegraphierte unverweilt, und drei Tage später war ich schon in R. und bei Muoth.

Ich war in einem Hotel abgestiegen, hatte ihn besuchen wollen und nicht gefunden. Nun kam er in den Gasthof und stand unvermutet vor mir. Er gab mir die Hand, fragte nach nichts und erzählte nichts und teilte meine Erregung nicht im mindesten. Er war gewohnt, sich treiben zu lassen und immer nur den gegenwärtigen Augenblick ernst zu nehmen und auszuleben. Er ließ mir kaum Zeit, mich umzukleiden, und brachte mich zum Kapellmeister Rößler.

»Das ist Herr Kuhn«, sagte er.

Rößler nickte kurz. »Freut mich. Was wünschen Sie?«

»Nun«, rief Muoth, »das ist der Geiger.«

Der Kapellmeister sah mich erstaunt an, wandte sich wieder zu dem Sänger und meinte grob: »Davon haben Sie mir nichts gesagt, dass der Herr lahm ist. Ich muss Leute mit geraden Gliedern haben.«

Mir stieg das Blut ins Gesicht, aber Muoth blieb ruhig. Er lachte nur. »Soll er denn tanzen, Rößler? Ich meinte, er solle geigen. Wenn er das nicht kann, so müssen wir ihn wieder schicken. Aber das wollen wir doch zuerst probieren.«

»Also meinetwegen, Leute. Herr Kuhn, kommen Sie morgen früh zu mir, so nach neune! Hier in die Wohnung. Sind Sie bös wegen des Fußes? Ja, das hätt mir der Muoth auch vorher sagen können. Na, wir werden sehen. Auf Wiederschauen.«

Im Weggehen machte ich Muoth Vorwürfe deswegen. Er zuckte die Achseln und meinte, wenn er gleich anfangs von meinem Gebrechen gesprochen hätte, würde der Kapellmeister schwerlich zugestimmt haben; nun aber sei ich einmal da, und wenn Rößler halbwegs mit mir zufrieden sei, werde ich ihn bald von besseren Seiten kennenlernen.

»Aber wie haben Sie mich überhaupt empfehlen können?« fragte ich. »Sie wissen ja gar nicht, ob ich was kann.«

»Ja, das ist Ihre Sache. Ich dachte mir, es werde schon gehen, und es wird auch. Sie sind ein bescheidenes Kaninchen, dass Sie es nie zu etwas bringen würden, wenn man Ihnen nicht zuzeiten einen Stoß gäbe. Das war einer, nun taumeln Sie weiter! Angst brauchen Sie nicht zu haben. Ihr Vorgänger hat nicht viel getaugt.«

Wir brachten den Abend in seiner Wohnung zu. Auch hier hatte er einige Zimmer weit draußen gemietet, in Gärten und Stille, und sein gewaltiger Hund sprang ihm entgegen, und kaum saßen wir und wurden warm, so ging die Glocke, und es kam eine sehr schöne, hoch gewachsene Dame und leistete uns Gesellschafft. Es war dieselbe Atmosphäre wie damals, und seine Geliebte war wieder eine tadelfreie, fürstliche Figur. Er schien die schönen Frauen mit großer Selbstverständlichkeit zu verbrauchen, und ich sah diese neue mit Teilnahme und mit der Befangenheit an, die ich in der Nähe von liebefähigen Frauen stets empfand, und die wohl nicht ohne Neid war, da ich mit meinem lahmen Beine immer noch hoff nungslos und ungeliebt einherging.

Wie früher ward auch diesmal bei Muoth gut und viel getrunken, er tyrannisierte uns mit seiner gewalttätigen, heimlich schwülen Lustigkeit und riss uns doch hin. Er sang wundervoll, und er sang auch ein Lied von mir, und wir drei befreundeten uns, wurden warm und kamen uns nahe, sahen einander in unverhüllte Augen und blieben beisammen, solange die Wärme in uns brannte. Die große Frau, die Lotte hieß, zog mich mit sanfter Freundlichkeit an. Es war nun nicht mehr das erstemal, dass eine schöne und liebende Frau mir mit Mitleid und merkwürdigem Vertrauen entgegenkam, und es tat mir auch diesmal so wohl wie weh, doch kannte ich diese Melodie nun schon ein wenig und nahm sie nicht zu ernsthaft. Es ist mir noch manchmal begegnet, dass eine verliebte Frau mich besonderer Freundschafft würdigte. Sie hielten mich alle wie der Liebe so der Eifersucht für unfähig, dazu kam das leidige Mitleid, und so vertrauten sie mir in halb mütterlicher Freundschafft.

Leider hatte ich in solchen Verhältnissen noch keine Übung und konnte einem Liebesglück noch nicht aus der Nähe zusehen, ohne ein wenig an mich selber zu denken und dass ich eigentlich auch gerne einmal so etwas erlebt hätte. Das beschnitt mir die Freude einigermaßen, doch war es ein guter Abend bei der hingegebenen schönen Frau und dem dunkelglühenden, kraftvollen und schroffen Manne, der mich liebhatte und für mich sorgte und mir doch seine Liebe nicht anders zeigen konnte, als er sie den Frauen zeigte, gewalttätig und launisch.

Als wir mit dem letzten Becher vor dem Abschied anstießen, nickte er mir zu und sagte: »Eigentlich sollte ich Ihnen jetzt Brüderschafft anbieten, gelt? Ich täte es auch gern. Aber wir wollen es lassen; es geht auch so. Früher, wissen Sie, hab ich jedem, der mir gefiel, gleich du gesagt, aber das tut nicht gut, am wenigsten unter Kollegen. Ich habe noch mit allen Händel gekriegt.«

Diesmal hatte ich nicht das bittersüße Glück, die Geliebte meines Freundes nach Hause begleiten zu dürfen; sie blieb da, und es war mir lieber so. Die Reise, der Besuch beim Kapellmeister, die Spannung auf morgen, der neue Verkehr mit Muoth, alles hatte mir gut getan. Ich sah erst jetzt, wie vergessen und verblödet und menschenfremd ich während des langen, einsam verwarteten Jahres geworden war, und fühlte mich mit Behagen und wohliger Spannung endlich wieder erregt und unter Menschen, der Welt wieder angehörig.

Zeitig am nächsten Morgen fand ich mich beim Kapellmeister Rößler ein. Ich fand ihn im Schlafrock und unfrisiert, doch hieß er mich willkommen und forderte mich, freundlicher als gestern, zum Spielen auf, indem er mir geschriebene Noten vorlegte und sich ans Klavier setzte. Ich spielte möglichst tapfer, doch machte mir das lesen der schlecht geschriebenen Noten einige Mühe. Als wir fertig waren, legte er schweigend ein anderes Blatt auf, das ich ohne Begleitung spielen sollte, und dann ein drittes.

»Es ist gut«, sagte er. »An das Notenlesen müssen Sie sich noch mehr gewöhnen, sie sind nicht immer wie gestochen. Kommen Sie heute abend ins Theater, ich mache Platz, dann können Sie Ihre Stimme neben dem anderen spielen, der den Platz einstweilen zur Not versah. Es wird ein wenig eng hergehen. Sehen Sie sich die Noten vorher gut an, Probe ist heute keine. Ich gebe Ihnen einen Zettel mit, damit gehen Sie nach elf Uhr uns Theater und holen sich die Noten.«

Ich wusste noch nicht recht, wo ich dran sei, sah aber, dass dieser Mann das Fragen nicht liebte, und ging. Im Theater wollte niemand von den Noten wissen und mich hören, ich war an das Getriebe dort noch nicht gewöhnt und kam aus der Fassung. Dann sandte ich einen Eilboten an Muoth, er kam, und sogleich ging alles prächtig. Und am Abend spielte ich zum erstenmal im Theater, wo ich mich vom Kapellmeister scharf beobachtet sah. Anderntags erhielt ich die Anstellung.

So wunderlich ist der Mensch, dass ich mitten im neuen Leben und nach erfüllten Wünschen manchmal merkwürdig von einem flüchtigen, nur leise und unter Schleiern empfundenen Heimweh nach Einsamkeit, ja Langeweile und Leere der Tage befallen wurde. Dann erschien mir die vergangene Zeit in der Heimatstadt, deren trister Ereignislosigkeit ich so dankbar entronnen war, wie etwas Ersehnenswertes, namentlich aber dachte ich an die Wochen im Gebirge vor zwei Jahren mit wahrem Heimweh. Ich glaubte zu fühlen, dass ich nicht zu Wohlergehen und Glück bestimmt sei, sondern zu Schwäche und Unterliegen im Leben, und dass ohne diese Schatten und Opfer mir der Quell des Schaffens trüber und ärmer fließen müsse. Wirklich war zunächst von stillen Stunden und von schöpferischer Arbeit keine Rede. Und während es mir wohl ging und ich ein reiches Leben führte, meinte ich in der Tiefe immer den verschütteten Born leise rauschen und klagen zu hören.

Das Geigen im Orchester machte mir Freude, ich saß viel über Partituren und tastete mit Verlangen vorwärts in diese Welt hinein. Langsam lernte ich, was ich nur theoretisch und aus der Ferne gekannt hatte, die Art und Farbe und Bedeutung der einzelnen Instrumente von unten herauf zu verstehen, sah und studierte daneben die Bühnenmusik und hoffte immer ernsthafter auf die Zeit, wo ich mich an eine eigene Oper würde wagen dürfen.

Mein vertrauter Umgang mit Muoth, der eine der ersten und ehrenvollsten Stellen an der Oper einnahm, brachte mir das Ganze rasch näher und nützte mir viel. Bei meinesgleichen aber, bei den Kollegen vom Orchester, schadete mir das sehr, es kam nicht zu dem freundschafftlich offenen Verhältnis, zu dem ich gewillt war. Nur unser erster Geiger, namens Teiser, kam mir entgegen und wurde mein Freund. Er war wohl zehn Jahre älter als ich, ein schlichter offener Mann mit einem feinen, zarten, leicht errötenden Gesicht und erstaunlich musikalisch, namentlich von einem unglaublich zarten und scharfen Gehör. Er war einer von denen, die in ihrer Kunst Genüge finden, ohne selber eine Rolle spielen zu wollen. Er war kein Virtuos und hat auch nie komponiert, er spielte zufrieden seine Geige und hatte seine Herzensfreude daran, das Handwerk im Grunde zu kennen. Jede Ouvertüre kannte er wie kaum ein Dirigent durch und durch, und wo eine Finesse und Glanzstelle kam, wo der Einsatz eines Instrumentes schön und originell hervorleuchtete, da strahlte er und genoss es wie niemand im ganzen Hause. Er spielte fast alle Instrumente, so dass ich täglich von ihm lernen und ihn fragen konnte.

Monatelang sprachen wir kein Wort miteinander als vom Handwerk, aber ich hatte ihn lieb, und er sah, dass ich mit Ernst dabei war, etwas zu lernen, so entstand ein unberedetes Einvernehmen, dem nicht mehr viel zur Freundschafft fehlte. Da erzählte ich ihm schließlich von meiner Violinsonate und bat ihn, sie einmal mit mir zu spielen. Er sagte freundlich zu und kam am bestimmten Tag in meine Wohnung. Da hatte ich, um ihm eine Freude zu machen, einen Wein aus seiner Heimat besorgt, von dem tranken wir ein Glas, dann legte ich die Noten auf, und wir fingen an. Er spielte vorzüglich vom Blatt, aber plötzlich hörte er auf und ließ den Bogen sinken.

»Sie, Kuhn«, sagte er, »das ist ja eine verdammt schöne Musik. Die spiel ich nicht so herunter, die wird zuerst studiert. Ich nehme sie mit heim. Darf ich?«

Ja, und als er wiederkam, spielten wir die Sonate durch, zweimal, und als das fertig war, schlug er mir auf die Schulter und rief: »Sie Duckmäuser, Sie! Da tun Sie immer wie ein kleiner Bub, und heimlich machen Sie solche Sachen! Ich will ja nicht viel sagen, ich bin kein Professor, aber sakrisch schön ist’s!«

Das war das erstemal, dass jemand meine Arbeit lobte, zu dem ich wirklich Vertrauen hatte. Ich zeigte ihm alles; auch die Lieder, die gerade im Druck waren und bald darauf erschienen. Aber dass ich so kühn war, an eine Oper zu denken, wagte ich ihm doch nicht zu sagen.

In dieser guten Zeit erschreckte mich ein kleines Erlebnis, das ich nimmer vergessen konnte. Bei Muoth, zu dem ich häufig kam, hatte ich die schöne Lotte seit einiger Zeit nicht mehr angetroffen, mir aber keine Gedanken darüber gemacht, denn in seine Liebesgeschichten mochte ich mich nicht mischen, sie am liebsten gar nicht kennen. Darum hatte ich nie nach ihr gefragt, und er sprach mit mir ohnehin nie von diesen Sachen.

Nun saß ich eines Nachmittags in meiner Stube und studierte eine Partitur. Am Fenster lag meine schwarze Katze und schlief, es war im ganzen Hause still. Da ging draußen die Tür, jemand kam herein, ward von der Wirtin begrüßt und aufgehalten, machte sich los und kam auf meine Tür zu, an der auch sofort gepocht wurde. Ich ging hin und machte auf, da kam eine große, elegante Frauensperson mit verschleiertem Gesicht herein und schloss die Tür hinter sich. Sie tat ein paar Schritte ins Zimmer, holte tief Atem und nahm endlich den Schleier ab. Ich erkannte Lotte. Sie sah erregt aus, und ich ahnte gleich, warum sie gekommen sei. Auf meine Bitte setzte sie sich, sie hatte mir die Hand gegeben, aber noch kein Wort gesagt. Da sie meine Befangenheit merkte, schien sie erleichtert, als habe sie gefürchtet, ich möchte sie gleich wieder fortschicken.

»Ist es wegen Heinrich Muoth?« fragte ich endlich.

Sie nickte. »Haben Sie etwas gewusst?«

»Ich weiß nichts, ich dachte es mir nur.«

Sie sah mir ins Gesicht wie ein Kranker dem Arzt, schwieg und zog langsam die Handschuhe aus. Plötzlich stand sie auf, legte mir beide Hände auf die Schultern und starrte mich aus großen Augen an.

»Was soll ich tun? Er ist nie zu Hause, er schreibt mir nimmer, er macht nicht einmal meine Briefe auf! Seit drei Wochen hab ich ihn nimmer sprechen können. Gestern war ich dort, ich weiß, dass er daheim war, aber er hat nicht aufgemacht. Nicht einmal dem Hund hat er gepfiffen, er hat mir das Kleid zerrissen, der will mich auch schon nimmer kennen.«

»Haben Sie denn Streit mit ihm gehabt?« fragte ich, um nicht gar so dumm dabeizusitzen.

Sie lachte. »Streit? Ach, Streit haben wir genug gehabt, von Anfang an! An das war ich schon gewöhnt. Nein, in der letzten Zeit ist er sogar höflich gewesen, es wollte mir gleich nicht gefallen. Einmal war er nicht da, wenn er mich bestellt hatte; einmal meldete er sich an und kam nicht. Schließlich sagte er auf einmal Sie zu mir! Ach, wenn er mich lieber wieder geschlagen hätte!«

Ich erschrak heftig. »Geschlagen…?«

Wieder lachte sie. »Wissen Sie das nicht? Oh, er hat mich oft geschlagen, aber jetzt schon lange nicht mehr. Er ist höflich geworden, er hat Sie zu mir gesagt, und jetzt kennt er mich nimmer. Er hat eine andere, glaube ich. Darum bin ich gekommen. Sagen Sie mir’s, ich bitte! Hat er eine andere? Sie wissen es! Sie müssen es wissen!«

Eh ich abwehren konnte, hatte sie meine beiden Hände gefasst. Ich war wie erstarrt, und so sehr ich abzulehnen und die ganze Szene zu kürzen wünschte, war ich doch fast froh, dass sie mich gar nicht zu Worte kommen ließ, denn ich hätte nicht gewusst, was sagen.

Sie, in Hoffnung und Jammer, war zufrieden, dass ich sie anhörte, und bat und erzählte und klagte mit ausbrechender Leidenschafft. Ich aber sah ihr immerzu in das tränenvolle, reife, schöne Gesicht und konnte nichts anderes denken als: »Er hat sie geschlagen!« Ich meinte seine Faust zu sehen, und mir graute vor ihm und vor ihr, die nach Schlägen und Verachtung und Abweisung keinen anderen Gedanken und Wunsch zu haben schien, als den Weg zu ihm und zu den alten Demütigungen zurückzufinden.

Endlich versiegte die Flut. Lotte redete langsamer, schien befangen und der Situation bewusst zu werden und verstummte. Zugleich ließ sie meine Hände los.

»Er hat keine andere«, sagte ich leise, »wenigstens weiß ich nichts davon und glaube es nicht.«

Sie schaute mich dankbar an.

»Aber helfen kann ich Ihnen nicht«, fuhr ich fort. »Ich rede nie mit ihm über solche Sachen.«

Wir waren beide eine Weile still. Ich musste an Marion denken, an die schöne Marion und an jenen Abend, da ich mit ihr durch die Föhnluft gegangen war, an ihrem Arm, und sie sich so tapfer zu ihrem Geliebten bekannt hatte. Hatte er die auch geschlagen? Und lief auch die ihm noch nach?

»Warum sind Sie denn zu mir gekommen?« fragte ich.

»Ich weiß nicht, ich musste doch etwas tun. Glauben Sie nicht, dass er noch an mich denkt? Sie sind ein guter Mensch Sie helfen mir! Sie könnten es doch versuchen, ihn einmal zu fragen, einmal von mir reden…«

»Nein, das kann ich nicht. Wenn er Sie noch liebt, wird er von selber wieder zu Ihnen kommen. Und wenn nicht, dann «

»Was dann?«

»Dann sollten Sie ihn eben laufen lassen, er verdient es nicht, dass Sie sich so weit demütigen.«

Da lächelte sie plötzlich.

»Oh, Sie! Was wissen Sie von der Liebe!«

Sie hat recht, dachte ich, aber es tat mir doch weh. Wenn schon die Liebe nicht zu mir kommen wollte, wenn ich schon nebendraußen stand, warum sollte ich den Vertrauten und Helfer machen bei anderen? Ich hatte Mitleid mit der Frau, aber ich verachtete sie noch mehr. Wenn das die Liebe ist, Grausamkeit hier und Erniedrigung dort, dann ließ sich ohne Liebe besser leben.

»Ich will nicht streiten«, sagte ich kühl. »Ich verstehe diese Art von Liebe nicht.«

Lotte band ihren Schleier wieder um.

»Ja, ich gehe schon.«

Nun tat sie mir wieder leid, doch mochte ich die törichte Szene nicht von vorn anfangen lassen, darum schwieg ich und öffnete ihr die Tür, auf die sie zuschritt. Ich begleitete sie, an der neugierigen Wirtin vorbei, bis zur Treppe; da verbeugte ich mich, und sie ging, ohne mehr etwas zu sagen oder mich anzusehen.

Traurig sah ich ihr nach und ward den Anblick lange Zeit nicht los. War ich wirklich ein ganz anderer Mensch als diese alle, als Marion, als Lotte, als Muoth? War das wirklich die Liebe? Ich sah sie alle, diese Menschen der Leidenschafft, wie von Stürmen getrieben taumeln und ins Ungewisse wehen, den Mann von Verlangen heute, von Überdruss morgen gepeinigt, düster liebend und brutal abbrechend, keiner Neigung sicher und keiner Liebe froh, und die Frauen hingerissen, Beleidigungen, Schläge tragend, endlich verstoßen und doch an ihm hängend, von Eifersucht und verschmähter Liebe entwürdigt, hundetreu. An jenem Tage geschah es seit sehr langer Zeit zum erstenmal, dass ich weinte. Ich weinte unwillige, zornige Tränen um diese Menschen, um meinen Freund Muoth, um das Leben und die Liebe, und stillere, heimliche Tränen um mich selber, der ich zwischen all dem lebte, wie auf einem anderen Sterne, der das Leben nicht begriff, der nach Liebe verschmachtete und sie doch fürchten musste.

Zu Heinrich Muoth ging ich lange nicht mehr. Er feierte in dieser Zeit Triumphe als Wagnersänger und begann für einen »Stern« zu gelten. Zugleich trat auch ich bescheidentlich an die Öffentlichkeit. Es erschienen meine Lieder im Druck und fanden freundliche Aufnahme, und zwei meiner Sachen für Kammermusik wurden in Konzerten aufgeführt. Es war noch eine stille, ermunternde Anerkennung unter Freunden, die Kritik hielt sich abwartend still oder ließ mich zunächst als einen Anfänger schonend gelten.

Ich war viel mit dem Geiger Teiser zusammen, er hatte mich gern und lobte meine Arbeiten in kameradschafftlicher Freude, prophezeite mir große Erfolge und war immer bereit, mit mir zu musizieren. Dennoch fehlte mir etwas. Es zog mich zu Muoth, doch mied ich ihn immer noch. Von Lotte hörte ich nichts mehr. Warum war ich nicht zufrieden? Ich schalt mich selber, dass ich bei dem treuen, prächtigen Teiser nicht mein Genügen fand. Aber auch bei ihm fehlte mir etwas. Er war mir zu heiter, zu sonnig, zu sehr zufrieden, er schien keine Abgründe zu kennen. Auf Muoth war er nicht gut zu sprechen. Manchmal im Theater, wenn Muoth sang, sah er mich an und flüsterte: »Da, wie er wieder pfuscht! Das ist schon ein ganz Verwöhnter! Mozart singt er keinen, er weiß warum.« Ich musste ihm recht geben und tat es doch nicht mit dem Herzen, ich hing an Muoth und mochte ihn doch nicht verteidigen. Muoth hatte etwas, was Teiser nicht hatte und nicht kannte und was mich mit ihm verband. Das war das ewige Begehren, die Sehnsucht und Ungenüge. Die trieben mich zu Studium und Arbeit, die ließen mich nach Menschen greifen, die mir entglitten, gerade wie Muoth, den dieselbe Ungenüge auf andere Weise stachelte und peinigte. Musik würde ich immer machen, das wusste ich, aber mich verlangte danach, auch einmal aus Glück und Überfluss und ungebrochener Freude zu schaffen, statt immer aus Sehnsucht und Mangel des Herzens. Ach, warum wurde ich nicht durch das glücklich, was ich zu eigen hatte, durch meine Musik? Und warum wurde Muoth es nicht durch das, was er besaß, durch seine wilde Lebenskraft und seine Frauen?

Teiser war glücklich, ihn quälte kein Verlangen nach Unerreichbarem. Er hatte seine zarte, selbstlose Freude an der Kunst, von der er nicht mehr verlangte, als sie ihm gab, und außerhalb der Kunst war er noch genügsamer, da brauchte er nur ein paar freundliche Menschen, gelegentlich ein gutes Glas Wein und an freien Tagen einen Ausflug in die Landschafft, denn er war ein Wanderer und Luftfreund. Wenn an der Lehre der Theosophen etwas war, dann musste dieser Mann schon nahezu ein Vollendeter sein, so gut war sein Wesen und so wenig ließ er Leidenschafft und Unzufriedenheit in sein Herz kommen. Dennoch wünschte ich, wenn ich es auch vielleicht mir versagte, nicht zu sein wie er. Ich wollte kein anderer sein, ich wollte in meiner Haut bleiben, die mir doch oft zu eng war. Ich begann Macht in mir zu spüren, seit meine Arbeiten leise zu wirken anfingen, und ich war schon im Begriff, stolz zu werden. Irgendeine Brücke zu den Menschen musste ich finden, ich musste auf irgendeine Weise mit ihnen leben können, ohne stets der Unterliegende zu sein. Gab es nun keinen anderen Weg, so führte vielleicht doch meine Musik dahin. Wenn sie mich nicht lieben wollten, so würden sie mein Werk lieben müssen.

Solche törichte Gedanken ward ich nicht los. Und doch war ich bereit, mich hinzugeben und zum Opfer zu bringen, wenn nur jemand mich wollte, wenn nur jemand mich wirklich verstünde. War nicht Musik das geheime Gesetz der Welt, gingen nicht die Erden und Sterne harmonisch im Reigen? Und ich sollte allein bleiben und die Menschen nicht finden, deren Wesen mit meinem rein und schön zusammenklang?

Ein Jahr war mir in der fremden Stadt vergangen. Außer mit Muoth, Teiser und unserm Kapellmeister Rößler hatte ich zu Anfang sehr wenig Umgang gehabt, in letzter Zeit aber war ich in eine größere Geselligkeit hineingeraten, die mir nicht lieb und nicht leid war. Durch die Aufführung meiner Stücke für Kammermusik war ich mit den Musikern der Stadt auch außerhalb des Theaters bekannt geworden, ich trug jetzt eine leichte, angenehme Bürde eines sachte ansetzenden Ruhmes im kleinen Kreise, ich merkte, dass man mich kannte und beobachtete. Von allem Ruhm ist das der süßeste, der noch nicht auf große Erfolge blickt, noch keinen Neid erregen kann, noch nicht absondert. Man geht umher mit dem Gefühl, da und dort beachtet, genannt, belobt zu werden, man begegnet freundlichen Gesichtern, sieht Anerkannte wohlwollend nicken und Jüngere mit Achtung grüßen, und immer trägt man das heimliche Gefühl, dass das Beste noch komme, wie es ja aller Jugend geht, bis sie sieht, das Beste liegt schon dahinten. Beeinträchtigt wurde mein Wohlgefühl am meisten dadurch, dass ich immer etwas Mitleid in der Anerkennung fühlte. Oft kam es mir sogar vor, man schone mich und sei so freundlich, weil ich eben ein armer Kerl und Krüppel sei, dem man gern etwas Tröstliches gönne.

Nach einem Konzert, in dem ein Geigenduo von mir gespielt worden war, machte ich die Bekanntschafft des reichen Fabrikanten Imthor, der für einen eifrigen Musikfreund und Gönner junger Talente galt. Es war ein ziemlich kleiner, ruhiger Mann mit grau werdenden Haaren, dem man weder seinen Reichtum noch sein inniges Verhältnis zur Kunst ansah. Aus dem, was er mir sagte, konnte ich aber wohl merken, wieviel er von Musik verstand: er lobte nicht in den Tag hinein, sondern gab einen ruhigen, sachlichen Beifall, der mehr wert war. Er erzählte mir, was ich von der andern Seite längst wusste, dass in seinem Hause manchen Abend Musik gemacht werde, alte und neue. Er lud mich ein und sagte zum Schluss: »Ihre Lieder liegen auch bei uns, wir haben sie gern. Auch meine Tochter wird sich freuen.«

Noch ehe ich kam, ihm einen Besuch zu machen, erhielt ich eine Einladung. Herr Imthor bat um die Erlaubnis, mein Trio in Es-Dur in seinem Hause aufführen zu lassen. Ein Geiger und ein Cellist, tüchtige Dilettanten, stünden zur Verfügung, und die erste Geige sei mir vorbehalten, falls ich Lust hätte mitzuspielen. Ich wusste, dass Imthor die Berufsmusiker, die bei ihm spielten, stets gut honorierte. Das hätte ich ungern angenommen, und doch wusste ich nicht, wie die Einladung gemeint war. Schließlich nahm ich doch an, die beiden Mitspieler fanden sich bei mir ein und holten ihre Stimmen, wir hatte einige Proben. Inzwischen machte ich meinen Besuch bei Imthor, traf aber niemand an. So kam der bestimmte Abend.

Imthor war Witwer, er wohnte in einem der alten, einfachen stattlichen Bürgerhäuser, einem der wenigen, die noch mitten in der groß gewordenen Stadt ihre alten Gärten unverkürzt um sich hatten. Vom Garten sah ich wenig, als ich abends kam, nur eine kurze Allee von hohen Platanen, deren Stämme im Laternenlicht die hellen Flecken zeigten, und dazwischen ein paar alte, dunkel gewordene Steinbilder. Hinter den großen Bäumen lag bescheiden das alte, breit und nieder gebaute Haus, in dem von der Eingangstür weg durch die Korridore, Treppen und alle Räume hindurch die Wände dicht voll alter Bilder hingen, Mengen von Familienbildnissen und schwarz gewordenen Landschafften, altmodische Veduten und Tierstücke. Ich kam gleichzeitig mit anderen Gästen an, wir wurden von einer Hausdame empfangen und eingeführt.

Die Gesellschafft war nicht gar groß, doch drängte sie sich in den mäßigen Räumen etwas eng, bis die Türen zum Musikraum geöffnet wurden. Hier war es weit, und alles sah neu aus, der Flügel, die Notenschränke, die Lampen, die Stühle, nur die Bilder an den Wänden waren auch hier alle alt.

Meine Mitspieler waren schon da, wir stellten unsere Pulte auf, schauten nach den Lichtern und begannen zu stimmen. Da ging zuhinterst im Saal eine Tür, und es kam durch den erst halb erleuchteten Raum eine hellgekleidete Dame geschritten. Die beiden Herren begrüßten sie mit Auszeichnung, ich sah, dass es die Tochter Imthors sei. Sie sah mich einen Augenblick fragend an, dann bot sie mir, ehe ich noch vorgestellt war, die Hand und sagte: »Ich kenne Sie schon, Sie sind Herr Kuhn? Willkommen!«

Das schöne Mädchen hatte mir gleich bei ihrem Eintritt Eindruck gemacht, nun klang ihre Stimme so hell und gut, dass ich die dargebotene Hand herzhaft drückte und dem Fräulein vergnügt in die Augen sah, die mich lieb und freundschafftlich begrüßten.

»Ich freue mich auf das Trio«, sagte sie lächelnd, als habe sie mich so erwartet, wie ich nun war, und sei befriedigt.

»Ich auch«, erwiderte ich, ohne zu wissen, was ich sagte, und sah sie wieder an, und sie nickte. Dann ging sie weiter und aus dem Saal, und ich sah ihr nach. Bald darauf kam sie wieder, an der Hand ihres Vaters und hinter ihnen die Gesellschafft. Wir drei saßen schon an den Pulten und waren bereit. Die Leute nahmen Platz, einige Bekannte nickten mir zu, der Hausherr gab mir die Hand, und als alle saßen, erloschen die elektrischen Lichter und brannten nur die hohen Kerzen über unseren Noten weiter.

Ich hatte meine Musik beinahe vergessen. Ich suchte hinten im Saal das Fräulein Gertrud, das an ein Büchergestell gelehnt in der Dämmerung saß. Ihr dunkelblondes Haar sah beinahe schwarz aus, ihre Augen sah ich nicht. Nun zählte ich leise den Takt und nickte, und wir stimmten mit breitem Strich das Andante an.

Jetzt während des Spielens ward mir wohl und innig, ich wiegte mich im Takte mit und schwebte frei im Zusammenklang der Tonströme, die mir alle völlig neu und wie in diesem Augenblick erfunden vorkamen. Mein Gedanken an die Musik und meine Gedanken an Gertrud Imthor flossen rein und ohne Störung zusammen, ich zog meinen Geigenbogen und gab mit den Augen meine Anweisungen, schön und stetig floss die Musik dahin und nahm mich mit, einen goldenen Weg zu Gertrud hin, die ich nicht mehr sehen konnte und jetzt auch gar nicht mehr zu sehen begehrte. Ich gab ihr meine Musik und meinen Atem, meinen Gedanken und meinen Herzschlag hin, wie sich ein Morgenwanderer dem lichten Blau und klaren Wiesenglanz der Frühe hingibt, ungefragt und ohne sich selbst zu verlieren. Zugleich mit dem Wohlgefühl und wachsenden Schwall der Töne trug und erhob mich ein verwundertes Glück darüber, dass ich nun so plötzlich wisse, was Liebe sei. Es war kein neues Gefühl, nur eine Klärung und Entscheidung uralter Ahnungen, Rückkehr in ein altes Vaterland.

Der erste Satz war zu Ende; ich gönnte nur eine Minute Pause. Leise klang das Stimmen der Saiten in mildem Durcheinander, über gespannte und zunickende Gesichter hinweg konnte ich einen Augenblick den dunkelblonden Kopf sehen, die zarte helle Stirn und den hellroten strengen Mund, dann klopfte ich sacht auf mein Pult, und wir strichen den zweiten Satz, der sich wohl hören lassen darf. Die Spieler wurden warm, die ansteigende Sehnsucht des Liedes hob unruhige Schwingen, kreiste in unbefriedigten Flügeln empor, suchte und verlor sich in klagender Bangigkeit. Tief und warm übernahm das Cello die Melodie, hob sie stark und dringlich heraus, trug sie verklingend in die neue, dunklere Tonart hinüber und löste sie verzweifelnd im halb zornigen Basse auf.

Dieser zweite Satz war meine Beichte, ein Bekenntnis meiner Sehnsucht und meines Unbefriedigtseins. Der dritte sollte die Erlösung und Erfüllung sein. Ich wusste aber seit diesem Abend, dass er nichts war, und ich spielte ihn sorglos hin als eine Sache, die hinter mir lag. Denn ich meinte jetzt genau zu wissen, wie die Befriedigung hätte klingen sollen, wie aus dem stürmischen Stimmenbrausen, der Glanz und Friede brechen müsse, Licht aus schwerem Gewölk. Das war in meinem dritten Satz nicht, er war nur ein linderndes Auflösen der angewachsenen Dissonanzen und ein Versuch, die alte Grundmelodie ein wenig zu läutern und zu steigern. Von dem, was in mir selber jetzt glänzte und sang, war kein Ton und Strahl darin, und ich wunderte mich, dass niemand es merkte.

Mein Trio war aus. Ich nickte den Spielern zu und legte meine Geige weg. Die Lichter flammten wieder auf, die Gesellschafft kam in Bewegung, manche kamen mit den gewohnten Artigkeiten, Lobsprüchen und Kritiken zu mir, um sich als Kenner auszuweisen. Den Hauptmangel der Arbeit warf keiner mir vor.

Man verteilte sich in mehrere Zimmer, es gab Tee, Wein und Gebäck, im Herrenzimmer wurde geraucht. Eine Stunde verging und noch eine. Da geschah es endlich, von mir kaum mehr erwartet, dass Gertrud bei mir stand und mir die Hand gab.

»Hat es Ihnen gefallen?« fragte ich.

»Ja, es war schön«, sagte sie nickend. Ich sah aber, dass sie mehr wusste. Darum sagte ich: »Sie meinen den zweiten Satz. Das andere ist ja nichts.«

Da schaute sie mir wieder neugierig in die Augen, mit einer gütigen Klugheit wie eine reife Frau, und sagte ganz fein: »Sie wissen es also selber. Der erste Satz, nicht wahr, ist gute Musik. Der zweite wird groß und weit und verlangt vom dritten zuviel. Man hat es Ihnen auch beim Spielen angesehen, wo Sie wirklich drin waren und wo nicht.«

Mir war es lieb zu hören, dass ihre klaren, guten Augen mich betrachtet hatten, ohne dass ich es wusste. Und ich dachte schon an diesem ersten Abend unserer Bekanntschafft, es müsste gut und selig sein, ein ganzes Leben unter dem Blick dieser schönen und aufrichtigen Augen hinzubringen, und es müsste dann unmöglich sein, jemals Schlechtes zu tun oder zu denken. Und von jenem Abend an wusste ich, dass irgendwo mein Verlangen nach Einheit und zartester Harmonie Stillung zu finden wäre und dass jemand auf der Erde lebe, auf dessen Blick und Stimme jeder Puls und jeder Atemzug in mir rein und innig Antwort gab.

Auch sie spürte unverweilt in mir den freundschafftlich reinen Widerklang ihres Wesens und hatte von der ersten Stunde an das ruhige Verlangen, sie mir zu eröffnen und unverstellt zeigen zu können, und weder Missverständnis noch Vertrauensbruch fürchten zu müssen. Sie war mir sogleich nah befreundet, wie es in solcher Schnelle und Selbstverständlichkeit nur jungen und wenig verdorbenen Menschen möglich ist. Bis dahin war ich zwar schon je und je verliebt gewesen, doch stets – und namentlich seit meiner Entstellung – mit einem scheuen, begehrlichen und unsicheren Gefühl. Nun war statt der Verliebtheit die Liebe gekommen, und mir schien, es sei ein feiner, grauer Schleier von meinen Augen gefallen, und die Welt liege für mich im ursprünglich göttlichen Lichte da, wie sie vor Kindern und wie sie vor den Augen unsrer Paradiesträume liegt.

Gertrud war damals kaum über zwanzig Jahre alt, schlank und gesund wie ein junger Baum, und war aus dem Kram und Schwindel des üblichen Jungmädchentums unberührt hervorgegangen, ihrem eigenen noblen Wesen folgend wie eine sicher schreitende Melodie. Mir war im Herzen wohl, dass ich ein solches Geschöpf in der unvollkommenen Welt lebendig wusste, und ich konnte nicht daran denken, sie etwa einzufangen und für mich allein wegzunehmen. Ich war froh, an ihrer schönen Jugend ein wenig teilhaben zu dürfen und mich von Anfang an unter ihren guten Freunden zu wissen.

In den Nacht nach diesem Abend schlief ich lange nicht ein. Es plagte mich aber kein Fieber und keine Unruhe, sondern ich wachte und suchte den Schlaf nicht, weil ich in meinen Frühling gekommen und mein Herz nach langen, sehnlichen Irrfahrten und Winterzeiten auf dem rechten Wege wusste. In meine Stube floss blasser Nachtschimmer; alle Ziele des Lebens und der Kunst lagen klar und nahe wie föhn-helle Höhen, ich spürte den oft so ganz verlorenen Klang und geheimen Takt meines Lebens lückenlos bis in die sagenhaften Kinderjahre zurück. Und wenn ich diese traumhafte Klarheit und gedrängte Fülle des Gefühls halten und verdichten und mit Namen nennen wollte, so nannte ich den Namen Gertrud. Mit ihm schlief ich ein, schon gegen den Morgen und stand beim Tagen frisch und erquickt wieder auf, wie nach einem langen, langen Schlaf.

Da fielen die missmutigen Gedanken der letzten Zeit, und auch die hochmütigen, mir wieder ein, und ich sah, woran es mir gefehlt hatte. Heute quälte und verstimmte und ärgerte mich nichts mehr, ich hatte wieder die große Harmonie im Ohr und träumte wieder meinen Jugendtraum vom Zusammenklang der Sphären. Ich tat wieder meine Schritte und Gedanken und Atemzüge nach einer geheimen Melodie, das Leben hatte wieder einen Sinn, und die Ferne war morgengolden. Niemand bemerkte die Veränderung, es stand mir keiner nah genug. Nur Teiser, das Kind, stieß mich bei der Probe im Theater lustig an und sagte: »Sie haben gut geschlafen heut Nacht, gelt?« Ich besann mich, womit ich ihn erfreuen könnte, und fragte in der nächsten Pause: »Teiser, wo gehen Sie diesen Sommer hin?« Da lachte er verschämt und wurde rot wie eine Braut, die man nach dem Hochzeitstag fragt, und meinte: »Lieber Gott, bis dahin ist’s noch lang! Aber schauen Sie, da drin hab ich schon die Karten.« Er schlug auf seine Brusttasche. »Diesmal geht’s vom Bodensee aus: Rheintal, Fürstentum Lichtenstein, Chur, Albula, Oberengadin, Maloja, Bergell, Comersee. Den Rückweg weiß ich noch nicht.«

Er hob die Geige wieder und blickte mich noch schnell mit List und Wonne aus seinen graublauen Kinderaugen an, die nie etwas vom Schmutz und vom Leid der Welt gesehen zu haben schienen. Und ich fühlte mich ihm verbrüdert, und wie er sich auf seine große, wochenlange Fußwanderung freute, auf die Freiheit und den sorglosen Umgang mit Sonne, Luft und Erde, so freute ich mich von neuem auf alle Wege meines Lebens, die wie in einer jungen nagelneuen Sonne vor mir lagen, und die ich aufrecht mit hellen Augen und reinem Herzen zu gehen gesonnen war.

Heute, wenn ich dahin zurückdenke, liegt alles schon ferngeworden und weit auf der Morgenseite, aber etwas vom damaligen Licht ist noch jetzt auf meinen Wegen, wennschon es nimmer so jung und lachend glänzt, und heute wie damals ist es mein Trost und tut es mir in bedrückten Stunden wohl und nimmt den Staub von meiner Seele, wenn ich mir den Namen Gertrud vorsage und an sie denke, wie sie damals mir im Musiksaal ihres Alten entgegenkam, leicht wie ein Vogel und zutraulich wie ein Freund.

Nun ging ich auch wieder zu Muoth, den ich seit jener peinlichen Beichte der schönen Lotte möglichst vermieden hatte. Er hatte es bemerkt und war, wie ich wusste, zu stolz und auch zu gleichgültig, sich um mich zu bemühen. So waren wir seit Monaten nicht mehr allein beisammen gewesen. Jetzt, da ich voll neuen Vertrauens zum Leben und voll guter Absichten war, schien es mir vor allem notwendig, mich dem vernachlässigten Freund wieder zu nähern. Den Anlass dazu gab mir ein neues Lied, das ich gesetzt hatte; ich beschloss, es ihm zu widmen. Es war dem Lawinenlied ähnlich, das er gern hatte, und der Text hieß:

 

Ich habe meine Kerzen ausgelöscht;

Zum offnen Fenster strömt die Nacht herein,

Umarmt mich sanft und lässt mich ihren Freund

Und ihren Bruder sein.

Wir beide sind am selben Heimweh krank;

Wir senden ahnungsvolle Träume aus

Und reden flüsternd von der alten Zeit

In unsres Vaters Haus.

 

Ich machte eine saubere Abschrift und schrieb darüber: »Meinem Freunde Heinrich Muoth gewidmet.«

Damit ging ich zu ihm, zu einer Zeit, wo ich ihn sicher zu Hause wusste. Richtig klang mir sein Singen entgegen, er schritt in den stattlichen Zimmern seiner Wohnung auf und ab und übte. Er empfing mich gelassen.

»Schau her, der Herr Kuhn! Ich dachte schon, Sie kämen gar nimmer.«

»Doch«, sagte ich, »da bin ich. Wie geht’s?«

»Immer gleich. Nett, dass Sie sich wieder einmal zu mir wagen.«

»Ja, ich war in der letzten Zeit untreu…«

»Sogar sehr deutlich. Ich weiß auch warum.«

»Das glaube ich kaum.«

»Ich weiß es. Die Lotte ist einmal bei Ihnen gewesen, nicht?«

»Ja, ich wollte nicht davon reden.«

»Ist auch nicht nötig. Also da sind Sie wieder.«

»Und ich habe etwas mitgebracht.«

Ich gab ihm die Noten.

»Oh, ein neues Lied! Das ist recht, ich hatte schon Angst für Sie, Sie möchten in der langweiligen Streichmusik steckenbleiben. Und da steht ja eine Widmung! Für mich? Ist das Ihr Ernst?«

Ich wunderte mich, dass es ihn so zu freuen schien, ich hatte eher einen Scherz über die Dedikation erwartet.

»Gewiss freut mich das«, sagte er aufrichtig. »Es freut mich immer, wenn anständige Menschen mich gelten lassen, und bei Ihnen besonders. Ich hatte Sie im stillen schon auf die Totenliste gesetzt.«

»Führen Sie solche Listen?«

»O ja, wenn man so viele Freunde hat, oder gehabt hat, wie ich … Es gäbe einen schönen Katalog. Die moralischen habe ich immer am höchsten geschätzt, und gerade diese kneifen mir alle aus. Unter Lumpen findet man jeden Tag Freunde, aber unter Idealisten und Normalbürgern hält es schwer, wenn man anrüchig ist. Sie sind zur Zeit beinah der einzige. Und wie es geht – was man am schwersten haben kann, hat man am liebsten. Geht es Ihnen nicht auch so? Mir ist immer nur an Freunden gelegen, statt dessen laufen mir bloß Weiber zu.«

»Daran sind Sie zum Teil selber schuld, Herr Muoth.«

»Warum denn?«

»Sie behandeln alle Leute gern so, wie Sie die Weiber behandeln. Bei Freunden geht das nicht, darum laufen sie Ihnen draus. Sie sind ein Egoist.«

»Gott sei Dank bin ich das. Übrigens Sie nicht minder. Als die furchtbare Lotte Ihnen ihr Leid klagte, da haben Sie ihr keineswegs geholfen. Sie haben auch nicht den Anlass benützt, mich zu bekehren, wofür ich Ihnen dankbar bin. Sie haben vor der Affäre ein Grausen gespürt und sind weggeblieben.«

»Nun, da bin ich wieder. Sie haben recht, ich hätte mich der Lotte annehmen sollen. Aber ich verstehe mich auf diese Sache nicht. Sie hat mich selber ausgelacht und mir gesagt, von der Liebe verstünde ich gar nichts.«

»Nun, dann halten Sie sich brav an die Freundschafft! Es ist auch ein schönes Feld. Und jetzt sitzen Sie hier und spielen Sie die Begleitung, wir wollen das Lied einmal studieren. Ach, wissen Sie noch, Ihr erstes damals? Sie sind ja allmählich ein berühmter Herr, scheint mir.«

»Es geht an, neben Ihnen jedenfalls komme ich nie auf.«

»Dummes Zeug. Sie sind ein Komponist, ein Schöpfer, ein kleiner Herrgott. Was geht Sie der Ruhm an? Unsereins muss pressieren, wenn er zu etwas kommen will. Wir Sänger und Seiltänzer haben es wie die Weiber, wir müssen das Fell zu Markt bringen, solang es schön glatt ist. Ruhm, soviel es geben will, und Geld und Weiber und Champagner! Photographien in den Zeitschriften, Lorbeerkränze! Denn siehe, wenn ich heute den Ekel kriege, oder es braucht bloß eine kleine Lungenentzündung zu sein, so bin ich morgen erledigt, und mit dem Ruhm und Lorbeer und dem ganzen Betrieb hat es gepfiffen.«

»Nun, Sie können es abwarten.«

»Ach, wissen Sie, im Grunde bin ich verdammt neugierig auf das Altwerden. Es ist ein Schwindel mit der Jugend, ein richtiger Zeitungs- und Lesebuchschwindel! Die schönste Zeit des Lebens! Hat sich was, alte Leute machen mir immer einen viel zufriedenern Eindruck. Die Jugend ist die schwerste Zeit im Leben. Zum Beispiel Selbstmorde kommen in höheren Jahren fast gar nie vor.«

Ich begann zu spielen, und er wandte sich zu dem Lied, fasste rasch die Melodie und gab mir an einer Stelle, wo sie bedeutungsvoll von Moll in Dur zurücklenkte, einen anerkennenden Stoß mit dem Ellbogen.

Abends fand ich zu Hause, wie ich gefürchtet hatte, ein Kuvert von Herrn Imthor, das ein paar freundliche Worte und ein mehr als anständiges Honorar enthielt. Ich sandte das Geld zurück und schrieb dazu, ich sei wohlhabend genug, auch zöge ich es vor, in seinem Hause als Freund verkehren zu dürfen. Als ich ihn wiedersah, lud er mich ein, bald wiederzukommen, und sagte: »Ich dachte mir schon, dass es so gehen werde. Gertrud meinte, ich dürfe Ihnen nichts schicken, aber versuchen wollte ich’s doch.«

Von da an war ich im Hause Imthor ein sehr häufiger Gast. Ich übernahm bei vielen Hauskonzerten die erste Geige, ich brachte alle neue Musik, eigene und fremde, dorthin, und die meisten meiner kleinen Arbeiten wurden nun zuerst dort aufgeführt.

An einem Nachmittag im Frühling fand ich Gertrud allein mit einer Freundin zu Hause. Es regnete, und ich war auf der Vortreppe ausgeglitten, nun wollte sie mich nicht wieder fortlassen. Wir sprachen von Musik, und es geschah fast ungewollt, dass ich zu erzählen anfing und namentlich von der Graubündener Zeit sprach, in der ich meine ersten Lieder komponiert hatte. Dann ward ich verlegen und wusste nicht, ob es richtig gewesen sei, vor diesem Mädchen zu beichten. Da sagte Gertrud beinah zaghaft: »Ich muss Ihnen etwas bekennen, was Sie mir nicht übelnehmen dürfen. Ich habe zwei von Ihren Liedern für mich umgeschrieben und gelernt.«

»Ja, singen Sie denn?« rief ich überrascht. Zugleich fiel mir komischerweise das Erlebnis mit meiner allerersten Jugendliebe ein, wie ich sie so schlecht hatte singen hören.

Gertrud lächelte vergnügt und nickte: »O ja, ich singe, wenn auch nur für mich und ein paar Freunde. Ich will Ihnen die Lieder singen, wenn Sie begleiten wollen.«

Wir gingen zum Flügel, und sie gab mir die Noten, zierlich von ihrer feinen Frauenhand umgeschrieben. Leise begann ich mit der Begleitung, um sie recht gut zu hören. Und sie sang das Lied, und dann das zweite, und ich saß und horchte und hörte meine Musik verwandelt und verzaubert. Sie sang mit einer hohen, vogelleichten, köstlich schwebenden Stimme, und es war das Schönste, was ich in meinem Leben gehört habe. In mich aber drang die Stimme wie der Südsturm in ein beschneites Tal, und jeder Ton zog eine Hülle von meinem Herzen, und während ich selig war und zu schweben meinte, musste ich kämpfen und mich hart machen, denn die Tränen standen mir in den Augen und wollten mir die Noten verlöschen.

Wohl hatte ich gemeint zu wissen, was Liebe sei, und war mir damit weise vorgekommen, hatte getröstet aus neuen Augen in die Welt geschaut und einen näheren und tieferen Anteil an allem Leben gefühlt. Nun war es anders, nun war es nicht mehr Klarheit, Trost und Heiterkeit, sondern Sturm und Flamme, nun warf mein Herz sich jauchzend und zitternd weg, wollte nichts mehr vom Leben wissen und nur in seiner Flamme verbrennen. Wenn jetzt mich einer gefragt hätte, was denn die Liebe sei, da hätte ich es wohl zu wissen geglaubt und hätte es sagen können, und es hätte dunkel und lodernd geklungen.

Indessen schwang sich hoch darüber Gertruds leichte, selige Stimme, schien mir heiter zuzurufen und nur meine Freude zu wollen, und flog doch in fernen Höhen mir davon, unerreichbar und fast fremd.

Ach, ich wusste nun, wie es stand. Sie mochte singen, sie mochte freundlich sein, sie mochte es gut mit mir meinen, das alles war nicht, was ich begehrte. Wenn sie nicht ganz und für immer mir zu eigen wurde, mir allein, dann war mein Leben vergebens, und alles Gute und Zarte und Eigenste in mir hatte keinen Sinn.

Nun fühlte ich eine Hand auf meiner Schulter, erschrak und wandte mich um, und sah in ihr Gesicht. Die hellen Augen waren ernst, und nur langsam, da ich sie anstarrte, fing sie an, zart zu lächeln und zu erröten.

Ich konnte nur Dank sagen. Sie wusste nicht, was mit mir war, sie fühlte nur und verstand, dass ich ergriffen war, und fand schonend einen Weg zur vorigen Heiterkeit und Freiheit des Plauderns zurück. Dann ging ich bald.

Ich ging nicht nach Hause, und ich wusste nicht, ob es noch regnete. Ich ging an meinem Stock durch die Straßen, doch war es kein Gehen, und die Straßen waren keine Straßen, ich fuhr auf Sturmwolken durch flatternde, brausende Himmel, ich redete mit dem Sturm und war selbst der Sturm, und ich hörte aus unendlicher Ferne herüber etwas Betörendes klingen, das war eine helle, hohe, vogelleicht schwebende Frauenstimme und sie schien ganz rein von menschlichen Gedanken und Stürmen, und schien doch im Kern alle wilde Süßigkeit der Leidenschafft zu haben.

Den Abend saß ich ohne Licht in meinem Zimmer. Als ich es nicht mehr aushielt, es war schon spät, ging ich zu Muoth hinaus, fand aber seine Fenster dunkel und kehrte wieder um. Lange lief ich in der Nacht umher und fand mich endlich müde, aus Träumen erwachend, vor dem Imthorschen Garten. Da rauschten die alten Bäume feierlich um das verborgene Haus, von dem kein Ton und Strahl herüberdrang, und zwischen den Wolken kamen und verschwanden hier und dort schwachglänzende Sterne.

Ich wartete einige Tage, ehe ich wieder zu Gertrud zu gehen wagte. In dieser Zeit kam ein Schreiben von jenem Dichter, dessen Lieder ich komponiert hatte. Seit zwei Jahren waren wir in einer losen Verbindung, es kamen je und je merkwürdige Briefe von ihm, ich schickte ihm meine Arbeiten und er mir seine Gedichte. Nun schrieb er:

»Werter Herr! Sie haben länger nichts von mir gehört. Ich war fleißig. Seit ich Ihre Musik habe und verstehe, hat mir immer ein Text für Sie vorgeschwebt, wollte aber nicht heraus. Jetzt ist er da, so gut wie fertig, es ist ein Operntext, und Sie müssen ihn komponieren. – Sie können kein sehr glücklicher Mensch sein, das steht in Ihrer Musik. Von mir will ich nicht reden; aber da ist ein Text für Sie. Da uns doch sonst nichts Erfreuliches blüht, wollen wir den Leuten ein paar hübsche Sachen vorspielen, bei denen den Dickhäutern für Augenblicke klar wird, dass das Leben nicht bloß eine Oberfläche hat. Denn da wir doch mit uns selber nichts Rechtes anzufangen wissen, plagt es uns, die unnütze Kraft andere spüren zu lassen.

Ihr Hans H.«

Das fiel wie ein Funke in mein Pulver. Ich schrieb um den Text und war so ungeduldig, dass ich den Brief wieder zerriss und telegraphierte. Nach einer Woche kam das Manuskript, ein kleines, glühendes Liebesspiel in Versen, noch mit Lücken, aber für mich einstweilen genug. Ich las und ging mit den Versen im Kopf umher, da sang sie und geigte sie bei Tag und Nacht, und bald lief ich zu Gertrud.

»Sie müssen mir helfen«, rief ich. »Ich mache eine Oper. Da sind drei Stücke, für Ihre Stimme gesetzt. Wollen Sie sie ansehen? Und mir dann einmal singen?«

Sie freute sich, ließ sich erzählen, blätterte in den Noten und versprach, sie bald zu lernen. Es kam eine glühende, übervolle Zeit; trunken von Liebe und Musik ging ich einher, zu nichts anderm tauglich, und Gertrud war die einzige, die mein Geheimnis wusste. Ich brachte ihr Noten, die sie lernte und mir sang; ich fragte sie, spielte ihr alles vor und sie glühte mit mir, studierte und sang, riet und half, und hatte an dem Geheimnis und an dem entstehenden Werk, das uns beiden gehörte, ihre blühende Lust. Keine Andeutung, kein Vorschlag, den sie nicht sofort verstand und aufnahm, schließlich begann sie selber, mit ihrer feinen Schrift, mir beim Abschreiben und Umschreiben zu helfen. Im Theater hatte ich Krankenurlaub genommen.

Es kam zwischen Gertrud und mir keine Verlegenheit auf, wir trieben im selben Strom, arbeiteten am selben Werk, es war für sie wie mich ein Aufblühen reifgewordener Jugendkräfte, ein Glück und Zauber, in dem meine Leidenschafft ungesehen mitbrannte. Sie unterschied nicht zwischen meinem Werk und mir, sie liebte uns und war unser, und auch für mich war Liebe und Arbeit, Musik und Leben nicht mehr zu trennen, Manchmal sah ich das schöne Mädchen erstaunt und bewundernd an, und sie erwiderte meinen Blick, und wenn ich kam oder ging, drückte sie mir die Hand wärmer und stärker, als ich ihre zu drücken wagte. Und wenn ich in diesen lauen Frühlingstagen durch den Garten her kam und das alte Haus betrat, wusste ich nicht: War es mein Werk oder meine Liebe, was mich trieb und erhob?

Solche Zeiten dauern nicht lange. Es ging schon gegen das Ende, und meine Flamme flackerte ungeteilt in blinden Liebeswünschen, da saß ich an ihrem Flügel und sie sang den letzten Akt meiner Oper, deren Sopranrolle fertig war. Sie sang so wunderbar, und ich dachte dieser glühenden Tage, deren Glanz ich schon erblassen fühlte, während Gertrud noch auf ihrer Höhe schwebte, und ich fühlte unabwendbar andere und kühle Tage kommen. Da lächelte sie mir zu und neigte sich zu mir herab, den Noten wegen, und bemerkte die Trauer in meinem Blick, und sah mich fragend an. Ich schwieg und stand auf und nahm ihr Gesicht vorsichtig in beide Hände, küsste ihre Stirn und ihren Mund und setzte mich wieder. Sie ließ alles still und fast feierlich geschehen, ohne Befremdung und Unwillen, und da sie Tränen in meinen Augen sah, strich sie mir mit ihrer lichten Hand beruhigend über Haar und Stirn und Schulter.

Dann spielte ich weiter, und sie sang, und der Kuss und diese merkwürdige Stunde blieb unbesprochen, doch unvergessen zwischen uns, als unser letztes Geheimnis.

Denn das andere konnte nicht lange mehr zwischen uns bleiben; die Oper brauchte nun andre Mitwisser und Helfer. Der erste musste Muoth sein, denn an ihn hatte ich bei der Hauptrolle gedacht, deren Ungestüm und bittere Leidenschafft ganz seinem Gesang und ganz seinem Wesen verwandt waren. Nur zögerte ich noch eine kleine Zeit. Noch war mein Werk im Bündnis zwischen mir und Gertrud, gehörte ihr und mir, schuf uns Sorge und Lust, war ein Garten, von dem niemand wusste, oder ein Schiff, auf dem wir beide allein das große Meer befuhren.

Sie fragte selbst danach, als sie fühlte und merkte, dass sie mir nimmer weiter helfen konnte.

»Wer singt die große Rolle?« fragte sie.

»Heinrich Muoth.«

Sie schien erstaunt. »Oh«, sagte sie, »ist das Ernst? Ich hab ihn nicht gern.«

»Er ist mein Freund, Fräulein Gertrud. Und die Rolle passt für ihn.«

»Ja.«

Nun war schon ein Fremder dazwischen.

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