Während meines letzten Semesters am Konservatorium lernte ich den Sänger Muoth kennen, der in der Stadt einen gewissen ehrenvollen Ruf besaß. Er war seit vier Jahren mit seinen Studien fertig und sogleich an der Hofoper angestellt worden, wo er zwar einstweilen noch mit mittleren Rollen auftrat und neben beliebten älteren Kollegen nicht recht zu Glanze kam, aber bei vielen für einen zukünftigen Stern galt, den der nächste Schritt zum Ruhm führen müsse. Mir war er von der Bühne her aus einigen Rollen bekannt und hatte mir immer einen starken Eindruck gemacht, wenn schon keinen reinen.
Unsere Bekanntschafft entstand so. Ich hatte nach meiner Rückkehr zur Schule jenem Lehrer, der mir so freundliche Teilnahme gezeigt hatte, meine Violinsonate und zwei von mir komponierte Lieder gebracht. Er versprach, die Arbeiten durchzusehen und mir seine Meinung darüber zu sagen. Nun dauerte es lange, bis er es tat, und ich konnte ihm eine gewisse Verlegenheit anmerken, so oft ich ihm begegnete. Endlich rief er mich eines Tages zu sich und gab mir meine Noten zurück.
»Da sind Ihre Arbeiten wieder«, sagte er etwas befangen. »Hoffentlich haben Sie sich nicht gar zu große Hoffnungen gemacht! Es ist etwas daran, ohne Zweifel, und es kann etwas aus Ihnen werden. Aber offen gesagt, ich hatte Sie schon für reifer und ruhiger gehalten, überhaupt Ihrer Natur nicht so viel Leidenschafft zugetraut. Ich hatte etwas Stilleres und Gefälligeres erwartet, was technisch sicherer wäre und was sich technisch beurteilen ließe. Nun ist aber Ihre Arbeit technisch missglückt, so dass ich wenig dazu sagen kann, und ist dafür ein kecker Versuch, den ich nicht bewerten kann, aber als Ihr Lehrer nicht loben möchte. Sie haben weniger und mehr gegeben, als ich erwartet hatte, und mich damit in Verlegenheit gebracht. Ich bin zu sehr Schulmeister, um die Stilsünden übersehen zu können, und ob sie durch die Originalität aufgewogen werden, mag ich erst nicht entscheiden. Ich will also warten, bis ich wieder etwas von Ihnen sehe, und wünsche Glück dazu. Weiterkomponieren werden Sie ja doch, soviel habe ich bemerkt.«
Damit war ich abgezogen und hatte nicht gewusst, was mit dem Bescheid anfangen, der keiner war. Mir hatte es geschienen, man müsse einer Arbeit ohne weiteres ansehen, ob sie aus Spielerei und zum Zeitvertreib oder ob sie aus Bedürfnis und aus dem Herzen entstanden sei. Ich legte die Noten weg und nahm mir vor, das alles einstweilen zu vergessen, um in diesen letzten Lernmonaten recht fleißig zu sein.
Da war ich einmal von einer Familie eingeladen, wo viel Musik getrieben wurde, und wo ich, als bei Bekannten meiner Eltern, ein oder zweimal im Jahr meinen Besuch zu machen pflegte. Es war ein Gesellschafftsabend wie alle, nur dass ein paar Berühmtheiten von der Oper dabei waren, die ich vom Sehen alle kannte. Auch der Sänger Muoth war da, der mich von allen am meisten interessierte, und ich sah ihn zum erstenmal so nahe. Er war groß und schön, ein imponierender dunkler Mann mit sichern und vielleicht schon etwas verwöhnten Manieren, man sah ihm an, dass er den Frauen gefiel. Doch sah er, von den Gebärden abgesehen, weder stolz noch vergnügt aus, sondern hatte in Blick und Mienen viel Suchendes und Unbefriedigtes. Als ich ihm vorgestellt wurde, grüßte er mit einem kurzen steifen Kompliment, ohne mit mir zu sprechen. Nach einer Weile kam er aber plötzlich zu mir her und sagte: »Heißen Sie nicht Kuhn? – Dann kenne ich Sie schon ein wenig. Der Professor S. hat mir Ihre Arbeiten gezeigt. Sie dürfen es ihm nicht übelnehmen, er ist nicht indiskret. Aber ich kam gerade dazu, und weil ein Lied dabei war, sah ich mir’s mit seiner Eraubnis an.«
Ich war erstaunt und verlegen. »Warum sprechen Sie davon?« fragte ich. »Es hat dem Professor nicht gefallen, glaube ich.«
»Tut Ihnen das weh? Nun, mir hat das Lied sehr gefallen; ich könnte es singen, wenn ich nur die Begleitung hätte. Die möchte ich mir von Ihnen erbitten.«
»Es hat Ihnen gefallen? Ja, kann man es denn singen?«
»Das kann man schon, freilich nicht in jedem Konzert. Ich möchte es aber gern für mich haben, für den Hausgebrauch.«
»Ich will es Ihnen abschreiben. Aber warum wollen Sie es haben?«
»Weil es mich interessiert. Es ist ja wirklich Musik, das Lied, das wissen Sie doch selber!« Es sah mich an, und mich plagte seine Art, Leute anzusehen. Er blickte mir ganz gerade ins Gesicht, völlig unbekümmert studierend, und seine Augen waren voll Neugierde.
»Sie sind jünger, als ich gedacht hätte. Sie müssen doch schon viel Schmerz erfahren haben.«
»Ja«, sagte ich, »aber ich kann nicht davon sprechen.«
»Das sollen Sie auch nicht, ich will Sie doch nicht ausfragen.«
Sein Blick verwirrte mich, auch war er eine Art von Berühmtheit und ich noch ein Schüler, so dass ich mich nur schwach und schüchtern zur Wehr setzen konnte, obgleich mir seine Art zu fragen gar nicht gefiel. Hochmütig war er nicht, aber irgendwie verletzte er mir das Schamgefühl, ohne dass ich mich mehr als leise abwehren konnte, denn es kam doch auch kein rechter Widerwille in mir auf. Ich hatte das Gefühl, er sei unglücklich und habe eine ungewollt gewaltsame Art, die Menschen anzufassen, als wolle er ihnen etwas entreißen, was ihn trösten könne. Sein dunkel forschendes Auge war so frech wie traurig, und sein Gesicht viel älter, als er sein konnte.
Bald darauf, während mir seine Anrede noch die Gedanken beschäftigte, sah ich ihn höflich und lustig mit einer Tochter des Hauses plaudern, die ihm entzückt zuhörte und ihn wie ein Meerwunder anschaute.
Ich lebte seit meinem Ungeschick so einsam, dass diese Begegnung mir noch tagelang nachklang und mich störte. Ich war meiner selbst nicht sicher genug, um den überlegenen Mann nicht zu fürchten, und doch zu einsam und bedürftig, um nicht von seiner Annäherung geschmeichelt zu sein. Schließlich dachte ich, er habe mich und seine Laune von jenem Abend vergessen. Da erschien er zu meiner Verwirrung in meiner Wohnung.
Das war an einem Dezemberabend, schon bei voller Dunkelheit. Der Sänger klopfte an und trat herein, als sei nichts Merkwürdiges an seinem Besuch, und sprang sogleich, ohne alle Einleitung und Höflichkeiten, mitten in das Gespräch. Ich musste ihm das Lied geben, und da er mein Mietklavier im Zimmer sah, wollte er es sogleich singen. Ich musste hinsitzen und begleiten, und so hörte ich zum erstenmal mein Lied richtig gesungen. Es war traurig und ergriff mich wider meinen Willen, denn er sang es nicht sängermäßig, sondern leise und wie für sich allein. Der Text, den ich im vorigen Jahr in einer Zeitschrift gelesen und mir abgeschrieben hatte, hieß so:
Dass bei jedem Föhn
Vom Berg die Lawine rollt
Mit Sausen und Todesgetön,
Hat das Gott gewollt?
Dass ich ohne Gruß
Durch der Menschen Land
Fremd wandern muss,
Kommt das von Gottes Hand?
Sieht er in Herzensnot
Und Qual mich schweben?
Ach, Gott ist tot!
– Und ich soll leben?
Wie ich’s ihn singen hörte, begriff ich, dass das Lied ihm gefallen hatte.
Wir waren eine kleine Weile still, dann fragte ich ihn, ob er mir nicht Fehler sagen und Korrekturen vorschlagen könne.
Muoth sah mich mit seinem dunklen, starren Blick an und schüttelte den Kopf.
»Da ist nichts zu korrigieren«, sagte er. »Ich weiß nicht, ob die Komposition gut ist, ich verstehe davon gar nichts. Es ist Erlebnis und Herz in dem Lied, und weil ich selber nicht dichte und nicht komponiere, freut es mich, wenn ich einmal etwas finde, das mir wie eigen vorkommt und das ich mir selber vorsingen mag.«
»Der Text ist aber nicht von mir«, warf ich ein.
»Nicht? Nun, einerlei, der Text ist auch Nebensache. Sie müssen ihn doch erlebt haben, sonst hätten Sie das nicht komponiert.«
Ich bot ihm nun die Abschrift an, die ich schon seit Tagen bereit hatte. Er nahm die Blätter an sich, rollte sie ein und zwängte sie in die Manteltasche.
»Kommen Sie auch einmal zu mir, wenn Sie mögen«, sagte er und gab mir die Hand. »Sie leben einsam, das will ich Ihnen verderben. Aber hie und da sieht man doch gern einem anständigen Menschen ins Gesicht.«
Da er fortging, blieb sein letztes Wort und Lächeln bei mir zurück, erklang mit dem Lied zusammen, das er gesungen hatte, und mit allem, was ich bis jetzt von dem Manne wusste. Und je länger ich das alles bei mir trug und betrachtete, desto deutlicher wurde es, und am Ende verstand ich diesen Menschen. Ich verstand, warum er zu mir gekommen war, warum mein Lied ihm gefiel, warum er so fast unbescheiden in mich drang und mir halb scheu, halb frech erschienen war. Er litt, er trug einen schweren Schmerz, und er war von Einsamkeit ausgehungert wie ein Wolf. Dieser Leidende hatte es mit dem Stolz und dem Alleinsein versucht und es nicht ausgehalten, er lag auf der Lauer nach Menschen, nach einem guten Blick und einem Hauch von Verständnis, und war bereit, sich wegzuwerfen dafür. So dachte ich es mir damals.
Mein Gefühl gegen Heinrich Muoth war nicht klar. Ich fühlte wohl sein Verlangen und seine Not, doch hatte ich Furcht vor ihm als einem überlegenen und grausamen Menschen, der mich verbrauchen und liegenlassen könnte. Ich war zu jung und hatte zuwenig Menschliches erlebt, um das zu verstehen und zu billigen, wie er sich gleichsam nackt hingab und kaum die Scham des Schmerzes zu kennen schien. Doch sah ich auch, dass hier ein glühender und inniger Mensch litt und verlassen war. Es fielen mir ungesucht die Gerüchte ein, die ich über Muoth gehört hatte, undeutliches ängstliches Schülergerede, dessen Farbe und Ton aber mein Gedächtnis wohl bewahrt hatte. Man erzählte von ihm tolle Frauengeschichten und Abenteuer, und ohne dass mir das einzelne erinnerlich gewesen wäre, glaubte ich doch noch irgend etwas Blutiges zu wissen, als sei er in die Geschichte eines Mordes oder Selbstmordes verwickelt gewesen.
Als ich bald darauf meine Scheu bezwang und einen Kameraden darüber fragte, zeigte sich die Sache harmloser, als sie mir erschienen war. Muoth hatte, wie es hieß, ein Liebesverhältnis mit einer jungen Dame aus der guten Gesellschafft unterhalten, und diese hatte sich allerdings vor zwei Jahren das Leben genommen, doch ohne dass man von einer Verwicklung des Sängers in diese Geschichte mehr als in vorsichtigen Andeutungen zu reden wagen durfte. Vermutlich hatte meine eigene Phantasie, durch die Begegnung mit dem eigenartigen und mir leise unheimlichen Menschen erregt, jenen Duft von Schrecken um ihn geschaffen. Doch musste er immerhin mit jener Liebe Böses erlebt haben.
Ich hatte nicht den Mut, zu ihm zu gehen. Wohl konnte ich mir nicht verbergen, dass Heinrich Muoth ein leidender und vielleicht verzweifelnder Mensch sei, der nach mir griffe und begehre, und manchmal schien mir, ich müsse dem Rufe folgen und wäre ein Schelm, wenn ich es nicht täte. Dennoch ging ich nicht hin, ein anderes Gefühl hinderte mich. Was Muoth bei mir suchte, konnte ich ihm nicht geben, ich war ein ganz anderer Mensch als er, und wenn ich auch in mancher Hinsicht einsam und nicht recht verstanden unter den Leuten stand, wenn ich auch vielleicht anders war als jedermann, durch Schicksal und durch Veranlagung von den meisten getrennt, so wollte ich doch davon kein Aufhebens machen. Mochte der Sänger ein dämonischer Mensch sein, ich war keiner, und mich hielt ein inneres Bedürfnis vom Auffallenden und Besonderen ab. Ich hatte eine Abneigung und einen Widerwillen gegen Muoths heftige Gebärde, er war ein Mann der Bühne und der Abenteuer, schien mir, und vielleicht dazu bestimmt, ein tragisches und weithin sichtbares Schicksal zu leben. Ich hingegen wollte in der Stille bleiben, mir standen Gebärden und kühne Worte nicht an, ich war zur Resignation bestimmt. So rätselte ich hin und wider, im Bedürfnis nach Beruhigung. Es hatte ein Mensch an meiner Tür geklopft, der mir leid tat und den ich vielleicht gerechterweise über mich stellen musste, aber ich wollte Ruhe haben und ihn nicht einlassen. Eifrig warf ich mich auf die Arbeit und ward die plagende Vorstellung nicht los, es stehe hinter mir einer, der nach mir greife.
Da ich nicht kam, nahm Muoth die Sache wieder selber in die Hand. Ich erhielt ein Brieflein von ihm, das war in großen stolzen Zügen geschrieben und lautete:
»Lieber Herr! Am elften Januar pflege ich mit einigen Freunden meinen Geburtstag zu feiern. Darf ich Sie dazu einladen? Schön wäre es, wenn wir bei diesem Anlass Ihre Violinsonate hören könnten. Was meinen Sie dazu? Haben Sie einen Kollegen, mit dem Sie sie spielen können, oder soll ich Ihnen jemand schicken? Stefan Kranzl wäre bereit. Sie würden eine Freude machen Ihrem
Heinrich Muoth.«
Das hatte ich nicht erwartet. Ich sollte meine Musik, um die noch niemand wusste, vor Kennern spielen, und ich sollte mit Kranzl zusammen geigen! Beschämt und dankbar sagte ich zu und wurde schon nach zwei Tagen von Kranzl aufgefordert, ihm die Noten zu schicken. Und wieder nach ein paar Tagen lud er mich ein. Der beliebte Geiger war noch jung, ein Mann vom Virtuosen-zuschnitt, sehr schmal und schlank und blass.
»So«, sagte er gleich bei meinem Eintreten, »Sie sind also der Freund von Muoth. Ja, da wollen wir gleich anfangen. Wenn wir aufpassen, wird’s nach zwei, dreimal schon gehen.«
Damit setzte er mir einen Stuhl hin, legte mir die zweite Geigenstimme vor, markierte den Takt und fing an, mit seinem leicht empfindlichen Strich, dass ich daneben ganz zusammensank.
»Nur nicht so schüchtern!«, rief er mir zu, ohne das Spiel zu unterbrechen, und wir spielten das Ganze durch.
»So, es geht ja!«, sagte er, »Schad, dass Sie keine bessere Geigen haben. Tut aber nichts. Das Allegro nehmen wir dann aber ein bissel schneller, dass man’s nicht für einen Trauermarsch anschaut. Los!«
Und da spielte ich nun neben dem Virtuosen ganz zutraulich meine Noten herunter, meine einfache Geige klang mit seiner kostbaren zusammen, als müsse es so sein, und ich war erstaunt, den apart aussehenden Herrn so zwanglos, ja naiv zu finden. Als ich warm geworden und etwas zu Mut gekommen war, fragte ich ihn zögernd nach seinem Urteil über meine Komposition.
»Da müssens ein andern fragen, lieber Herr, ich versteh nit viel davon. Ein bissel sonderbar ist’s schon, aber das haben die Leut ja gern. Wann’s dem Muoth gefällt, könnens sich schon was einbilden, der frisst nicht alles.«
Er gab mir Ratschläge wegen des Spiels und zeigte mir einige Stellen, denen Änderungen not taten. Dann wurde auf morgen eine weitere Probe verabredet, und ich konnte gehen.
Es war mir ein Trost, diesen Geigenmann so einfach und bieder zu finden. Wenn der zu Muoths Freunden gehörte, konnte ich dort zur Not auch bestehen. Freilich war er ein fertiger Künstler und ich ein Anfänger ohne große Aussichten. Leid tat mir nur, dass niemand sich so offen über meine Arbeit äußern wollte. Das härteste Urteil wäre mir lieber gewesen als diese gutmütigen Sprüche, die nichts sagten.
Es war in jenen Tagen bitter kalt, man konnte es kaum erheizen. Meine Kameraden liefen eifrig Schlittschuh. Es jährte sich seit unserem Ausflug mit Liddy. Für mich war das keine gute Zeit, und ich freute mich auf den Abend bei Muoth, ohne mir sonst viel davon zu versprechen, nur weil ich solang keine Freunde und keine Fröhlichkeit mehr gesehen hatte. In der Nacht vor dem elften Januar erwachte ich an einem ungewohnten Geräusch und einer fast erschreckenden Wärme der Luft. Ich stand auf und ging ans Fenster, verwundert, dass es nimmer kalt war. Da war plötzlich der Südwind gekommen, es wehte gewaltig feucht und lau, in der Höhe schob der Sturm große schwerfällige Wolkenzüge vor sich über den Himmel, an dem in schmalen Lücken einzelne Sterne sonderbar groß und blendend strahlten. Die Dächer hatten schon schwarze Flecken, und am Morgen, als ich ausging, war aller Schnee vergangen. Die Straßen und Gesichter sahen seltsam verändert aus, und über allem schwamm ein verfrühter Hauch von Frühling.
Ich ging an jenem Tage in einem leisen fieberhaften Rausch umher, teils wegen des Südwindes und der gärenden Luft, teils in großer Erregung und Erwartung des Abends. Oftmals nahm ich meine Sonate vor und spielte Stücke daraus, und warf sie wieder weg. Bald fand ich sie wahrhaft schön und hatte meine stolze Freude an ihr, bald kam sie mir plötzlich kleinlich, zerrissen und unklar vor. Ich hätte diese Aufregung und Bangigkeit nicht lange ertragen. Schließlich wusste ich nimmer, ob ich mich auf den herankommenden Abend freue oder fürchte.
Er kam dennoch, ich zog den Gehrock an, nahm meinen Geigenkasten mit und suchte Muoths Wohnung auf. Weit in der Vorstadt in einer unbekannten und unbegangenen Straße fand ich in der Dunkelheit mit Mühe das Haus, es lag allein in einem großen Garten, der verfallen und ungepflegt erschien, hinter der unverschlossenen Gartentür fiel ein großer Hund mich an, der von einem Fenster her zurückgepfiffen wurde und murrend mich zum Eingang begleitete. Hier empfing mich eine alte kleine Frau mit ängstlichen Augen, nahm mir den Mantel ab und führte mich durch einen hell erleuchteten Korridor hinein.
Der Geigenspieler Kranzl wohnte sehr nobel, und ich hatte erwartet, es auch bei Muoth, der für reich galt, ziemlich glänzend zu finden. Nun sah ich zwar große, weite Räume, viel zu groß für einen Junggesellen, der wenig zu Hause ist, sonst aber alles sehr einfach, oder eigentlich nicht einfach, sondern zufällig und ungeordnet. Die Möbel waren zum Teil alt und schienen zum Hause zu gehören, dazwischen standen neue Sachen, wahllos gekauft und ohne Sorgfalt aufgestellt. Glänzend war nur die Beleuchtung. Es brannte kein Gas, statt dessen eine große Menge weißer Kerzen in einfachen, schönen Zinnleuchtern, im Hauptraume auch eine Art Kronleuchter, ein schlichter Messingring mit vielen Kerzen besteckt. Hier stand als Hauptstück ein sehr schöner Flügel.
In dem Zimmer, in das ich geführt wurde, standen einige Herren im Gespräch beisammen. Ich stellte meinen Kasten ab und grüßte, einige nickten und wandten sich wieder zueinander, ich stand fremd da. Nun kam Kranzl, der bei ihnen war und mich nicht gleich beachtet hatte, zu mir, gab mir die Hand, stellte mich seinen Bekannten vor und sagte: »Das ist unser neuer Geiger. Haben Sie auch die Geigen mitgebracht?« Dann rief er ins Nebenzimmer hinüber: »Du, Muoth, der mit der Sonaten ist da.«
Jetzt kam Heinrich Muoth herein, begrüßte mich sehr freundlich und nahm mich mit ins Flügelzimmer, wo es festlich und warm aussah und eine schöne Frau im weißen Kleid mir ein Glas Sherry einschenkte. Es war eine Schauspielerin vom Hoftheater, übrigens sah ich zu meinem Erstaunen sonst keinen Kollegen des Hausherrn eingeladen, auch war sie die einzige Dame.
Als ich mein Gläschen halb in Verlegenheit, halb in unwillkürlichem Wärmebedürfnis nach dem feuchten Nachtgang rasch ausgetrunken hatte, schenkte sie mir wieder ein und ließ meine Abwehr nicht gelten: »Nehmen Sie nur, es kann nichts schaden. Wir kriegen nämlich erst nach der Musik etwas zu essen. Sie haben doch die Geige mitgebracht und die Sonate?«
Ich gab spröde Antwort und war befangen, wusste auch nicht, in welchem Verhältnis sie zu Muoth stehe. Sie schien die Hausfrau zu machen und war übrigens eine Augenweide, wie ich denn auch in der Folge meinen neuen Freund stets nur mit exemplarisch schönen Frauen Umgang pflegen sah.
Indessen sammelten sich alle im Musikzimmer, Muoth stellte ein Notenpult aus, man setzte sich, und bald war ich mit Kranzl mitten in der Musik. Ich spielte, ohne es zu fühlen, es kam mir miserabel vor, und nur wie jagendes Wetterleuchten überflog mich zwischenein je und je für Sekunden das Bewusstsein, dass ich hier mit Kranzl spiele, und dass das der zag erwartete große Abend sei, und dass da eine kleine Gesellschafft von Kennern und verwöhnten Musikern sitze, denen wir meine Sonate vorspielten. Erst während des Rondos begann ich zu hören, dass Kranzl herrlich spielte, doch war ich immer noch so befangen und außerhalb der Musik, dass ich ununterbrochen an anderes dachte und mir plötzlich einfiel, dass ich Muoth noch gar nicht zum Geburtstag gratuliert habe.
Nun war die Sonate ausgespielt, die schöne Dame erhob sich, gab mir und Kranzl die Hand und öffnete die Tür zu einem kleineren Zimmer, wo uns ein gedeckter Tisch mit Blumen und Weinflaschen erwartete.
»Endlich!« rief einer von den Herren. »Ich bin schier verhungert.«
Die Dame meinte: »Sie sind doch ein Scheusal. Was soll der Komponist denken?«
»Welcher Komponist, ist er denn da?«
Sie zeigte auf mich. »Da sitzt er.«
Er sah mich an und lachte. »Das hättet ihr mir auch vorher sagen können. Übrigens, die Musik war recht schön. Nur, wenn man Hunger hat – «
Wir begannen zu essen, und kaum war die Suppe weg und der weiße Wein eingeschenkt, da tat Kranzl einen Trinkspruch auf den Hausherrn und dessen Geburtstag. Muoth erhob sich gleich nach dem Anstoßen: »Lieber Kranzl, wenn du gedacht hast, ich würde jetzt eine Rede auf dich halten, hast du dich getäuscht. Wir wollen überhaupt keine Reden mehr halten, ich bitte drum. Die einzige, die vielleicht nötig ist, nehme ich hiermit auf mich. Ich danke unserem jungen Freund für seine Sonate, die ich famos finde. Vielleicht wird unser Kranzl einmal froh sein, wenn er Sachen von ihm zu spielen kriegt, was er übrigens nur tun soll, denn er hat die Sonate wirklich kapiert. Ich trinke auf den Komponisten und auf gute Freundschafft mit ihm.«
Man stieß an, lachte, zog mich ein wenig auf, und bald kam eine von gutem Wein erhöhte Tafelfröhlichkeit zustande, der ich mich erlöst hingab. Ich war lange nimmer auf diese Weise vergnügt und entlastet gewesen, eigentlich seit einem Jahr nicht mehr. Jetzt tat mir Gelächter und Wein, Gläsergeläut, Stimmenwirrnis und der Anblick einer schönen fröhlichen Frau verschüttete Tore zur Freude auf, und ich glitt weich hinüber in die losgebundene Heiterkeit leichter und lebhafter Gespräche und lachender Mienen.
Früh stand man von der Tafel auf und kehrte ins Musikzimmer zurück, wo sich das Gelage mit Wein und Zigaretten in alle Ecken verteilte. Ein stiller Herr, der wenig geredet hatte und dessen Namen ich nicht wusste, kam zu mir und sagte mir freundliche Worte über die Sonate, die ich ganz vergessen hatte. Dann zog mich die Schauspielerin ins Gespräch, und zu uns setzte sich Muoth. Wir tranken abermals auf gute Freundschafft, und plötzlich sagte er funkelnd mit seinen düster lachenden Augen: »Ich weiß jetzt Ihre Geschichte.« Und zu der Schönen: »Er hat sich beim Rodeln die Knochen gebrochen, einem hübschen Mädel zu lieb.« Und wieder zu mir: »Das ist schön. Im Augenblick, wo die Liebe am schönsten ist und noch keinen Fleck hat, kopfüber den Berg hinunter. Das ist schon ein gesundes Bein wert.« Lachend leerte er sein Glas und sah wieder dunkel und grübelnd aus, als er sagte: »Wie sind Sie zum Komponieren gekommen?«
Ich erzählte, von der Knabenzeit her, wie es mir mit der Musik gegangen war, und erzählte vom vergangenen Sommer, von meiner Flucht in die Berge und von dem Lied und der Sonate.
»Ja«, sagte er langsam. »Aber warum macht Ihnen das nun Freude? Man kann einen Schmerz doch nicht aufs Papier schreiben und damit los sein.«
»Das will ich auch nicht«, meinte ich. »Ich möchte gar nichts hergeben und los sein als die Schwäche und Unfreiheit. Ich möchte empfinden, dass der Schmerz und die Freude aus der gleichen Quelle kommen und Bewegungen derselben Kraft und Takte derselben Musik sind, jedes schön und notwendig.«
»Mann«, rief er heftig. »Sie haben doch ein Bein verloren! Können Sie denn das über der Musik vergessen?«
»Nein, warum? Anders machen kann ich es doch nimmer.«
»Und macht Sie das nicht verzweifelt?«
»Es freut mich nicht, das können Sie mir glauben, aber ich hoffe, zum Verzweifeln bringt es mich nimmer.«
»Dann sind Sie glücklich. Ich gäbe zwar kein Bein her um so ein Glück. Also so ist das mit Ihrer Musik? Sieh, Marion, das ist der Zauber der Kunst, von dem soviel in Büchern steht.«
Zornig rief ich ihn an: »Reden Sie doch nicht so! Sie selber singen doch auch nicht bloß um Ihre Gage, sondern haben ein Freude und einen Trost daran! Warum verspotten Sie mich und sich selber? Ich finde das roh.«
»Still, still!« machte Marion, »sonst wird er bös.«
Muoth sah mich an. »Ich werde nicht böse. Er hat ja ganz recht. Aber das mit dem Bein kann nicht so schlimm sein, sonst würden Sie das Musikmachen nicht darüber trösten. Sie sind ein zufriedener Mensch, denen kann passieren was will, und Sie bleiben doch zufrieden. Aber ich habe nicht daran geglaubt.«
Und er sprang auf, ganz zornig. »Und es ist auch nicht wahr! Sie haben ja das Lawinenlied komponiert, das ist kein Trost und keine Zufriedenheit, sondern Verzweiflung. Hören Sie!«
Er war plötzlich am Flügel, es wurde stiller im Zimmer. Er fing zu spielen an, verwirrte sich, ließ dann die Einleitung weg und sang das Lied. Er sang es jetzt anders als damals bei mir, und ich konnte sehen, dass er es seither manchmal vorgehabt habe. Auch sang er diesmal mit voller Stimme, mit seinem hohen Bariton, den ich von der Bühne kannte, und dessen Kraft und strömende Leidenschafft die ungeklärte Härte seines Gesangs vergessen machte.
»Das hat dieser Mann, wie er sagt, rein zum Vergnügen geschrieben, er weiß nichts von Verzweiflung und ist mit seinem Los unendlich zufrieden!« rief er und zeigte auf mich, und ich hatte Tränen der Scham und des Zorns in den Augen, sah alles in Schleiern wanken und stand auf, um ein Ende zu machen und fortzugehen.
Da hielt mich eine feine, doch kräftige Hand und drückte mich in den Sessel zurück, und strich mir leise und zärtlich über das Haar, dass mich feine heiße Wellen bespülten, dass ich die Augen schloss und die Tränen verbiss. Aufschauend sah ich alsdann Heinrich Muoth vor mir stehen, die andern schienen meine Bewegung und die ganze Szene nicht beachtet zu haben, sie tranken Wein und lachten durcheinander.
»Sie Kind!« sagte Muoth leise. »Wenn man solche Lieder geschrieben hat, ist man doch über so etwas hinaus. Aber es tut mir leid. Da hat man einen Menschen gern, und kaum ist man mit ihn zusammen, so fängt man Händel mit ihm an.«
»Es ist gut«, sagte ich befangen. »Aber ich möchte jetzt heimgehen, das Schönste von heute haben wir doch gehabt.«
»Gut, ich will Sie nicht nötigen. Wir andern betrinken uns jetzt noch, denke ich. Dann seien Sie so gut und nehmen Sie die Marion mit heim, gelt? Sie wohnt am Innern Graben, das ist für Sie kein Umweg.«
Die schöne Frau sah ihn einen Augenblick prüfend an. »Ja, wollen Sie?« Sagte sie dann zu mir, und ich stand auf. Wir nahmen nur von Muoth Abschied, im Vorzimmer half uns ein Lohndiener in die Mäntel, dann erschien verschlafen auch die kleine Alte und leuchtete mit einer großen Laterne durch den Garten zur Pforte. Der Wind ging immer noch weich und laulich, trieb lange schwarze Wolkenzüge dahin und wühlte in kahlen Baumkronen.
Ich wagte nicht, der Marion den Arm zu geben, sie aber hängte ungefragt bei mir ein, sog Nachtluft mit zurückgeworfenem Kopfe ein und sah dann aus solcher Höhe fragend und vertraulich auf mich herab. Mir war, ich fühle immer noch ihre leichte Hand auf meinen Haaren, sie ging langsam und schien mich führen zu wollen.
»Dort stehen Droschken«, sagte ich, denn es war mir peinlich, dass sie sich meinem lahmen Schritt anbequemen sollte, und ich litt darunter, neben der warmen, kraftvoll schlanken Frau einherzuhinken.
»Nein«, meinte sie, »wir wollen noch eine Straße weit gehen.« Und sie gab sich Mühe, recht langsam zu gehen, und wenn es nur auf mein Verlangen angekommen wäre, ich hätte sie noch enger an mich gezogen. So aber zerriss ich Qual und Zorn, ich machte ihren Arm aus meinem los, und als sie mich erstaunt ansah, sagte ich: »Es geht nicht gut so, ich muss allein gehen, verzeihen Sie.« Und sie ging sorgsam und mitleidig neben mir, und mir fehlte nichts als ein aufrechter Gang und das Bewusstsein der körperlichen Sicherheit, so hätte ich von allem, was ich tat und sagte, das Gegenteil gesagt und getan. Ich wurde still und schroff, es war nicht anders zu machen, sonst hätte ich wieder Tränen in die Augen bekommen und mich danach gesehnt, ihre Hand auf meinem Kopf zu fühlen. Am liebsten wäre ich in die nächste Seitengasse entflohen. Ich wollte nicht, dass sie langsam ging, dass sie mich schonte, dass sie Mitleid mit mir hatte.
»Sind Sie ihm böse?« fing sie schließlich an.
»Nein. Es war dumm von mir. Ich kannte ihn ja noch kaum.«
»Es tut mir leid, wenn er so ist. Er hat Tage, wo man ihn fürchten muss.«
»Sie auch?«
»Ich am meisten. Dabei tut er niemand weher als sich selber. Er hasst sich manchmal.«
»Ach, er macht sich interessant!«
»Was sagen Sie?« rief sie erschrocken.
»Dass er ein Komödiant ist. Was braucht er sich und andere zu verhöhnen? Was braucht er die Erlebnisse und Geheimnisse eines Fremden hervorzuziehen und lächerlich zu machen, das Lästermaul!«
Mein Zorn von vorher kehrte mir im Reden wieder, ich war gewillt, den Mann zu beschimpfen und herabzuziehen, der mir weh getan hatte und den ich leider beneidete. Auch war meine Achtung vor der Dame gesunken, da sie ihn in Schutz nahm und sich offen vor mir zu ihm bekannte. War es nicht schon schlimm, dass sie es auf sich genommen hatte, bei diesem weinfrohen Junggesellenabend die einzige Frau zu sein? In diesen Dingen war ich wenig Freiheit gewöhnt, und da ich mich schämte, nach dieser schönen Frau trotzdem Sehnsucht zu haben, fing ich in meiner Hitze lieber Streit an, als dass ich länger ihr Mitleid spürte. Mochte sie mich roh finden und mir davonlaufen, es war mir besser, als dass sie bei mir blieb und freundlich war.
Sie legte mir aber die Hand auf den Arm. »Halt«, rief sie warm, dass ihre Stimme mir trotz allem ins Herz ging, »reden Sie nicht weiter! Was tun Sie denn? Sie sind durch zwei Worte von Muoth verletzt, weil sie nicht geschickt oder mutig genug waren, sie zu parieren, und jetzt, wo Sie fort sind, fallen Sie vor mir mit hässlichen Worten über ihn her! Ich sollte gehen und Sie allein lassen.«
»Bitte. Ich habe nur gesagt, was ich meine.«
»Lügen Sie doch nicht! Sie sind seiner Einladung gefolgt, Sie haben bei ihm musiziert, Sie haben gesehen, wie er Ihre Musik liebt, und haben sich darüber gefreut und daran aufgerichtet, und jetzt, wo Sie ärgerlich sind und ein Wort von ihm nicht ertragen können, fangen Sie zu schimpfen an. Das dürfen Sie nicht, und ich will es dem Wein zugute halten.«
Mir schien, sie merkte plötzlich, wie es mit mir stand und dass nicht der Wein mich plagte; sie änderte ihren Ton, ohne dass ich den mindesten Versuch einer Rechtfertigung gemacht hatte. Ich war wehrlos.
»Sie kennen Muoth noch nicht«, fuhr sie fort. »Haben Sie ihn denn nicht singen hören? So ist er, gewalttätig und grausam, aber am meisten gegen sich selber. Er ist ein armer, stürmender Mensch, der lauter Kräfte und keine Ziele hat. In jedem Augenblick möchte er die ganze Welt austrinken, und was er hat, und was er tut, ist immer nur ein Tropfen. Er trinkt und ist nie betrunken, er hat Frauen und ist nie glücklich, er singt so herrlich und will doch kein Künstler sein. Er hat jemand lieb und tut ihm weh, er stellt sich, als verachte er alle Zufriedenen, aber es ist Hass gegen sich selber, weil er nicht zufrieden sein kann. So ist er. Und Ihnen hat er Freundlichkeit gezeigt, so gut er es eben kann.«
Ich schwieg hartnäckig.
»Sie brauchen ihn vielleicht nicht«, fing sie nochmals an, »Sie haben andere Freunde. Aber wenn wir jemand sehen, der leidet und im Leiden ungebärdig ist, so sollen wir ihn schonen und ihm etwas zugute halten.«
Ja, dachte ich, das sollte man, und allmählich, wie das Gehen in der Nacht mich kühlte, lag zwar die eigene Wunde noch offen und rief nach Hilfe, aber mehr und mehr musste ich den Worten der Marion und meinen Dummheiten von heut abend nachdenken, mich als einen traurigen Hund erkennen und in der Stille Abbitte tun. Es ergriff mich, da der Weinmut verflogen war, eine unangenehme Rührung, mit der ich abwehrend kämpfte, ohne mehr viel zu der schönen Frau zu sagen, die nun selber erregt und ungewissen Herzens neben mir durch die halbdunklen Straßen lief, wo da und dort in der toten, schwarzen Fläche plötzlich ein Laternenspiegel aus dem nassen Boden aufblickte. Ich dachte daran, dass ich meine Geige bei Muoth hatte liegenlassen; und zwischenein erwachte ich wieder zum Erstaunen und Schrecken über alles. Da war diesen Abend so vieles anders geworden. Dieser Heinrich Muoth und der Violinist Kranzl, und wieder die herrliche Marion, die Königinnen spielte, die waren alle von ihren Sockeln herabgestiegen. An ihren olympischen Tischen saßen nicht Götter und Selige, sondern arme Menschen, der eine klein und komisch, der andere bedrückt und eitel, Muoth elend und fieberhaft in törichter Selbstquälerei, die hohe Frau klein und arm als Geliebte eines stürmenden Genießers ohne Heiterkeit, dabei still und gütig und des Leidens kundig. Ich selber schien mir verändert, war nicht mehr ein einfacher Mensch, sondern war allen verwandt, hatte an jedem brüderliche und an jedem feindliche Züge gesehen, konnte hier nicht lieben und dort nicht verabscheuen, sondern schämte mich meines wenigen Verstehens und spürte zum erstenmal in meiner leichten Jugend so deutlich, dass man durchs Leben und durch die Menschen nicht so einfach gehen könne, da mit Hass und da mit Liebe, da mit Verehrung und dort mit Verachtung, sondern dass alles durcheinander und beieinander wohne, kaum getrennt und in Augenblicken kaum unterschiedbar. Ich sah die Frau an, die an meiner Seite ging und nun auch ganz still geworden war, als fände sie im Herzen nun doch auch manches anders beschaffen, als sie es gemeint und gesagt hatte.
Am Ende kamen wir vor ihr Haus, sie streckte mir die Hand her, die ich leise nahm und küsste. »Schlafen Sie gut!« sagte sie freundlich, aber ohne Lächeln.
Das tat ich auch, ich kam nach Hause und ins Bett, ich weiß nicht wie, und schlief sofort und schlief noch ein ungewohntes Stück in den Morgen hinein. Dann stand ich auf wie das Männlein aus der Schachtel, machte meine Turnübung, wusch mich und griff nach den Kleidern; und erst wie ich am Stuhl den Gehrock hängen sah und meinen Geigenkasten vermisste, fiel mir gestern wieder ein. Ich war indes ausgeschlafen und anderen Sinnes als in der Nacht, und konnte an die Gedanken der Nacht nicht anknüpfen; es blieb mir nur die Erinnerung an sonderbar kleine, nur nach innen wirksame Erlebnisse und ein Erstaunen darüber, dass ich nun doch unverwandelt und derselbe wie immer dastand.
Ich wollte arbeiten, aber meine Geige war nicht da. So ging ich aus, anfangs noch unentschlossen, dann entschieden in der gestrigen Richtung, und kam an Muoths Wohnung. Schon vom Gartentor aus hörte ich ihn singen, der Hund fiel mich an und ward von der alten Frau, die schnell herauskam, mit Mühe zurückgeführt. Mich ließ sie eintreten, ich sagte ihr, ich wollte nur meine Geige holen und den Herrn nicht stören. Im Vorzimmer stand mein Geigenkasten, und die Geige lag darin, auch die Noten waren dazugelegt. Das musste Muoth getan haben, er hatte an mich gedacht. Nebenher sang er laut, ich hörte ihn weich wie auf Filzsohlen hin und wider gehen, zuweilen Töne am Flügel anschlagend. Seine Stimme klang frisch und hell, beherrschter, als ich sie oft auf der Bühne gehört hatte, er sang eine mir unbekannte Rolle, wiederholte häufig und ging rasch im Zimmer auf und ab.
Ich hatte meine Sachen an mich genommen und wollte gehen. Ich war ruhig und fühlte mich von der Erinnerung an gestern kaum berührt. Doch war ich neugierig, ihn zu sehen, ob er sich verändert habe, und trat näher, und ohne es ganz zu wollen, hatte ich auf einmal den Türgriff in der Hand, und hatte darauf gedrückt, und stand in der offenen Tür.
Muoth drehte sich im Singen um. Er war im Hemde, in einem sehr langen, weißen, feinen Hemd, und sah frisch aus, als habe er eben gebadet. Ich erschrak nun, zu spät, dass ich ihn so überrascht habe. Er schien jedoch weder verwundert, dass ich ohne Klopfen eingetreten war, noch schien er zu wissen, dass er keine Kleider anhatte. Als wäre alles, wie es sein müsse, bot er mir die Hand und fragte: »Haben Sie schon gefrühstückt?« Dann, da ich ja gesagt hatte, nahm er am Flügel Platz.
»Die Rolle soll ich singen! Da hören Sie die Arie! Das ist ein Gemüse! Wird in der königlichen Hofoper aufgeführt, mit Büttner und der Duelli! Aber das interessiert Sie nicht, und mich eigentlich auch nicht. Wie geht’s denn? Haben Sie ausgeruht? Sie haben kaputt ausgesehen, als Sie gestern gingen. Und bös waren Sie mir auch. Nun ja. Wir wollen die Dummheiten nicht gleich wieder anfangen.«
Und gleich darauf, ohne dass ich etwas dazwischen sagen konnte: »Wissen Sie, der Kranzl ist ein Langeweiler. Er will ihre Sonate nicht spielen.«
»Er hat sie doch gestern gespielt!«
»Im Konzert, meine ich. Ich wollte sie ihm aufhängen, aber er mag nicht. Es wäre gut gewesen, wenn sie nächsten Winter in so eine Matinee gekommen wäre. Der Kranzl ist nicht so dumm, wissen Sie, aber faul. Er spielt immerzu diese polakischen Musiken von insky und owsky, was Neues lernt er nicht gern.«
»Ich glaube nicht«, fing ich nun an, »dass die Sonate in ein Konzert passt, das habe ich mir auch nie eingebildet. Sie ist technisch noch gar nicht sauber.«
»Das ist doch Wurst! Ihr mit eurem Künstlergewissen! Wir sind doch keine Schulmeister, und es werden ohne Zweifel schlechtere Sachen gespielt, gerade von Kranzl. Aber ich weiß was anderes. Das Lied müssen Sie mir geben, und machen Sie doch bald noch mehr! Ich gehe im Frühjahr hier weg, ich habe gekündigt, und mache lange Ferien. In der Zeit möchte ich ein paar Konzerte geben, aber was Neues, nicht mit Schubert und Wolf und Löwe und dem, was man alle Abend hört, sondern neue und unbekannte Sachen, ein paar wenigstens, solche wie das Lawinenlied. Was meinen Sie?«
Für mich war die Aussicht, meine Lieder von Muoth öffentlich gesungen zu sehen, ein Tor in die Zukunft, durch dessen Spalt ich lauter Herrlichkeiten sah. Eben deswegen wollte ich vorsichtig sein und weder Muoths Freundlichkeit missbrauchen, noch mich ihm allzusehr verpflichten. Es schien mir, er wolle mich gar zu gewaltsam an sich ziehen, blenden und vielleicht irgendwie vergewaltigen. Darum ging ich kaum darauf ein.
»Ich will sehen«, sagte ich. »Sie sind sehr gütig mit mir, das sehe ich, aber ich kann nichts versprechen. Ich bin am Ende meiner Studien und muss jetzt an gute Zeugnisse denken. Ob ich einmal als Komponist auftreten kann, ist ungewiss, einstweilen bin ich Geiger und muss sehen, wie ich beizeiten zu einer Stellung komme.«
»Ach ja, das alles können Sie ja tun. Darum kann Ihnen doch wieder ein neues Lied einfallen, das Sie mir dann geben, nicht?«
»Ja, das wohl. Ich weiß freilich nicht, warum Sie sich meiner so annehmen.«
»Haben Sie Angst vor mir? Mir gefällt einfach Ihre Musik, ich möchte Sachen von Ihnen singen und verspreche mir davon etwas; es ist reiner Eigennutz.«
»Wohl, aber warum reden Sie so mit mir, so wie gestern, meine ich?«
»Ach, Sie sind noch beleidigt? Was habe ich denn eigentlich gesagt? Ich weiß es rein nimmer. Jedenfalls wollte ich Sie nicht schlecht behandeln, wie ich es scheint’s getan habe. Sie können sich ja wehren! Es redet und ist jeder, wie er ist und sein muss, und man muss einander gelten lassen.«
»Das meine ich auch, aber Sie tun das Gegenteil, Sie reizen mich und lassen nichts gelten, was ich sagen. Sie ziehen das, woran ich selber ungern denke und was mein Geheimnis ist, hervor und werfen es mir hin wie einen Vorwurf. Sie spotten sogar über mein steifes Bein!«
Heinrich Muoth sagte langsam: »Ja, ja, ja. Die Leute sind eben verschieden. Den einen macht es wild, wenn man Wahrheiten sagt, und der andere kann keine Phrase vertragen. Sie hat es geärgert, dass ich Sie nicht wie einen Intendanten behandle, und mich hat es geärgert, dass Sie sich vor mir verstecken und mir die Sprüche über den Trost der Kunst anhängen wollten.«
»Das war gemein, wie ich es sagte; ich bin nur nicht gewohnt, über die Sachen zu reden. Und über das andere will ich eben nicht reden. Wie es in mir aussieht, und ob ich traurig bin oder verzweifelt, und wie mein Bein mir vorkommt und meine Krüppelschafft, das will ich für mich behalten und mir von niemand herausdrohen und herausspotten lassen.«
Er stand auf.
»Ich habe ja noch gar nichts an, ich will das schnell besorgen. Sie sind ein anständiger Mensch, das bin ich leider nicht. Wir wollen darüber nimmer so viel reden. Haben Sie denn gar nichts davon gemerkt, dass ich Sie gern habe? Warten Sie ein wenig, setzen Sie sich ans Klavier, bis ich angezogen bin. Singen Sie nicht? – Nicht? Nun, es dauert nur sechs Minuten.«
Wirklich kam er sehr bald angekleidet aus dem Nebenzimmer zurück.
»Jetzt gehen wir in die Stadt und essen miteinander«, sagte er behaglich. Er fragte nicht, ob es mir auch passe; er sagte: »Wir gehen«, und wir gingen. Denn so empfindlich seine Art mich ärgerte, sie imponierte mir doch, er war der Stärkere. Daneben zeigte er im Gespräch und Benehmen eine launenhafte Kindlichkeit, die oft entzückend war und ganz mit ihm versöhnte.
Von da an sah ich Muoth oft, er sandte mir häufig Billette für die Oper, bat mich manchmal, bei ihm zu geigen, und wenn mir nicht alles an ihm gefiel, so ließ er sich doch auch von mir nicht wenig gefallen. Es entstand eine Freundschafft, damals meine einzige, und ich begann mich beinahe auf die Zeit zu fürchten, wo er nicht mehr da sein würde. Er hatte wirklich gekündigt und ließ sich, trotz einiger Bemühungen und Zugeständnisse, nicht halten. Zuweilen deutete er an, er werde im Herbst vielleicht einen Ruf an eine große Bühne haben, doch blieb das vorläufig unbesprochen. Inzwischen kam der Frühling heran.
Eines Tages fand ich mich zum letzten Herrenabend bei Muoth ein, wir stießen auf Wiedersehen und Zukunft an, es war diesmal keine Frau dabei. Muoth begleitete uns in der Morgenfrühe an die Gartenpforte, winkte uns nach und kehrte fröstelnd im Morgennebel in seine schon halb ausgeräumte Wohnung zurück, von dem springenden und bellenden Hund begleitet. Mir aber schien ein Stück Leben und Erfahrung nun abgetan; ich glaube Muoth genug zu kennen, um sicher zu sein, dass er uns alle bald vergessen werde, und erst jetzt fühlte ich ganz klar und unbeirrt, dass ich den dunklen, launischen, herrischen Mann doch richtig lieb hatte.
Indessen kam auch für mich der Abschied. Ich tat meine letzten Gänge nach Orten und Menschen, die ich in gutem Gedächtnis zu behalten gesonnen war; ich ging auch noch einmal auf den Höhenweg hinauf und schaute den Hang hinunter, den ich ohnehin nicht vergessen hätte.
Und ich reiste ab, nach Hause, einer unbekannten und wahrscheinlich langweiligen Zukunft entgegen. Eine Stellung hatte ich nicht, selbstständig Konzerte geben konnte ich nicht, in der Heimat erwarteten mich nur, zu meinem Schrecken, einige Schüler, denen ich Violinstunden geben sollte. Wohl erwarteten mich auch die Eltern, und sie waren reich genug, dass ich ohne Sorgen sein konnte, auch fein und gütig genug, dass sie mich nicht drängten und fragten, was nun aus mir werden solle. Aber dass ich es hier nicht lange aushalten würde, wusste ich von Anfang an.
Von den zehn Monaten, in denen ich nun zu Hause saß, drei Schülern Stunden gab und trotz allem gar nicht unglücklich war, weiß ich nichts zu erzählen. Es lebten auch hier Menschen, es geschah auch hier täglich irgend etwas, aber mein Verhältnis zu alledem bestand nur in einer freundlich höflichen Gleichgültigkeit. Nichts ging mir ans Herz, nichts nahm mich mit. Dagegen lebte ich in aller Stille entrückte, seltsame Stunden der Musik, wo mein ganzes Leben erstarrt und mir entfremdet schien und nur ein Hunger nach Musik übrigblieb, der mich während der Violinstunden oft unerträglich peinigte und gewiss zu einem bösen Lehrer machte. Nachher aber, wenn meine Pflicht getan war oder ich mit List und Lüge mich um meine Stunden gedrückt hatte, sank ich tief in herrlich unwirkliche Träume, baute nachtwandlerisch an kühnen Tongebäuden, trieb freche Türme in die Lüfte, wölbte tiefschattende Kuppeln und ließ spielende Ornamente leicht und genussvoll wie Seifenblasen steigen.
Während ich in einer Betäubung und Fremdheit herumging, die meine früheren Bekannten vertrieb und meinen Eltern Sorge machte, ging noch weit heftiger und reicher als vor einem Jahr in den Bergen der verschüttete Born in mir wieder auf; die Früchte verträumter, verarbeiteter, scheinbar verlorener Jahre, unsichtbar gereift, fielen still und sachte, eine um die andere, und hatten Duft und Glanz und umgaben mich mit einem fast schmerzlichen Reichtum, den ich nur zögernd und mit Misstrauen an mich nahm. Es begann mit einem Liede, dem folgte eine Geigenphantasie, der folgte ein Streichquartett, und als in wenigen Monaten noch einige Lieder und manche Entwürfe zu symphonischen Sachen dazugekommen waren, empfand ich das alles nur als einen Anfang und Versuch, und im Herzen dachte ich an eine große Symphonie, in den frechsten Stunden auch schon an eine Oper! Zwischenein schrieb ich von Zeit zu Zeit demütige Briefe an Kapellmeister und Theater, legte die Empfehlungen meiner Lehrer bei und brachte mich bescheiden für die nächste bessere Geigerstelle in Erinnerung, die frei werde. Es kamen dann kurze höfliche Antworten, die mit »Sehr geehrter Herr« begannen, manchmal auch keine, aber eine Anstellung kam nicht. Dann war ich einen Tag oder zwei klein und kroch zusammen, gab sorgfältigen Unterricht und schrieb neue demütige Briefe. Allein gleich darauf fiel mir wieder ein, dass ich noch einen Kopf voll Musik aufzuschreiben habe, und kaum hatte ich wieder begonnen, so sanken die Briefe und die Theater und Orchester, die Kapellmeister und sehr geehrte Herren auf Nichtmehrsehen hinab, und ich fand mich allein, vollauf beschäftigt und begnügt.
Nun, das sind Erinnerungen, die man nicht erzählen kann wie die meisten. Was ein Mensch für sich ist und erlebt, wie er wird und wächst und krankt und stirbt, das alles ist unerzählbar. Das Leben arbeitender Menschen ist langweilig, interessant sind die Lebensführungen und Schicksale der Taugenichtse. So reich mir jene Zeit im Gedächtnis liegt, ich kann nichts über sie sagen, denn ich stand außerhalb des menschlichen und geselligen Lebens. Nur einmal kam ich für Augenblicke wieder einem Menschen nahe, den ich nicht vergessen darf. Das war der Präzeptor Lohe.
Ich ging einmal, schon im Spätherbst, spazieren. Es war im Süden der Stadt ein bescheidenes Villenviertel entstanden, wo keine reichen Leute wohnten, sondern kleine Sparer und Rentenverzehrer kleine wohlfeile Häuslein mit einfachen Gärten bewohnten. Ein geschickter junger Baumeister hatte hier viel Hübsches gebaut, was ich mir nun auch einmal ansehen wollte.
Es war ein warmer Nachmittag, da und dort wurden späte Nussbäume geleert, die Gärten und kleinen neuen Häuser lagen fröhlich in der Sonne. Die hübschen einfachen Bauten gefielen mir, ich beschaute sie mit dem oberflächlich behaglichen Interesse, das junge Leute für so etwas haben, welchen der Gedanke an Haus und Heim und Familie, Rast und Feierabend noch im Weiten liegt. Die friedliche Gartenstraße machte einen lieben, behaglichen Eindruck, ich spazierte langsam dahin, und im Gehen verfiel ich darauf, die Namen der Hausbesitzer auf den kleinen, blanken Messingschildchen an den Gartentoren zu lesen.
Auf einem dieser Schildchen stand »Konrad Lohe«, und im Lesen wollte der Name mir bekannt vorkommen. Ich blieb stehen und besann mich, und es fiel mir ein, dass einer meiner Lehrer in der Lateinschule so geheißen hatte. Und für Sekunden stieg die alte Zeit herauf, sah mich verwundert an und wälzte auf flüchtiger Welle einen Schwarm von Gesichtern herauf, von Lehrern und Kameraden, Spitznamen und Geschichten. Und während ich stand und auf das Messingtäfelchen sah und lächelte, erhob sich hinterm nächsten Johannisbeerstrauch, wo er gebückt gearbeitet hatte, ein Mann, trat dicht heran und sah mir ins Gesicht.
»Wollen Sie zu mir?« fragte er, und es war Lohe, der Präzeptor Lohe, den wir Lohengrin geheißen hatten.
»Eigentlich nicht«, sagte ich und zog den Hut. »Ich wusste nicht, dass Sie hier wohnen. Ich bin einmal Ihr Schüler gewesen.«
Er blickte schärfer, sah an mir hinab bis zum Stock, besann sich und nannte meinen Namen. Er hatte mich nicht am Gesicht erkannt, sondern am steifen Bein, da er natürlich von meinem Unfall wusste. Nun ließ er mich eintreten.
Er war in Hemdärmeln und hatte eine grüne Gartenschürze vorgebunden, er schien gar nicht älter geworden und sah prächtig blühend aus. Wir schritten in dem kleinen sauberen Garten hin und her, dann führte er mich an eine offene Veranda, wo wir uns setzten.
»Ja, ich hätte Sie nimmer gekannt«, sagte er aufrichtig. »Hoffentlich haben Sie mich in guter Erinnerung von früher her.«
»Nicht ganz«, sagte ich lächelnd. »Sie haben mich einmal für etwas bestraft, was ich nicht getan hatte, und haben meine Beteuerungen für Lügen erklärt. Es war in der vierten Klasse.«
Bekümmert schaute er auf. »Das dürfen Sie mir nimmer übelnehmen, es tut mir auch leid. Lehrern passiert es beim besten Willen immer wieder, dass etwas nicht stimmt, und eine Ungerechtigkeit ist bald angerichtet. Ich weiß schlimmere Fälle. Zum Teil deswegen bin ich denn auch gegangen.«
»So, Sie sind nimmer im Amt?«
»Schon lange nicht mehr. Ich wurde krank, und als ich wieder geheilt war, hatten sich meine Ansichten so sehr geändert, dass ich den Abschied nahm. Ich hatte mir Mühe gegeben, ein guter Lehrer zu sein, aber ich war keiner, dazu muss man geboren sein. So gab ich es auf, und seither ist mir wohl.«
Das konnte man ihm ansehen. Ich fragte weiter, doch wollte er nun meine Geschichte hören, die bald erzählt war. Dass ich Musiker geworden sei, gefiel ihm nicht ganz, dagegen hatte er für mein Pech ein freundliches und zartes Mitleid, das mir nicht wehtat. Vorsichtig suchte er zu erforschen, wie es mir gelinge, mich zu trösten, und war von meinen halb ausweichenden Antworten nicht befriedigt. Unter geheimnisvollen Gebärden gab er zögernd und doch ungeduldig mit schüchternen Umschweifen kund, er wisse einen Trost, eine vollkommene Weisheit, die jedem ernstlich Suchenden offenstehe.
»Ich weiß schon«, sagte ich, »Sie meinen die Bibel.«
Herr Lohe lächelte schlau. »Die Bibel ist gut, sie ist ein Weg zum Wissen. Aber sie ist nicht das Wissen selbst.«
»Und wo ist das Wissen selbst?«
»Das werden Sie leicht finden, wenn Sie wollen. Ich gebe Ihnen etwas zum Lesen mit, das gibt Ihnen die Elemente. Haben Sie schon von der Lehre vom Karma gehört?«
»Vom Karma? Nein, was ist das?«
»Das werden Sie sehen, warten Sie!« Er lief weg und blieb eine Weile aus, während ich erstaunt in ungewisser Erwartung saß und in den Garten hinuntersah, wo Zwergobstbäume in tadellosen Reihen standen. Bald kam Lohe wieder gelaufen. Strahlend sah er mich an und streckte mir ein Büchlein entgegen, das trug inmitten einer geheimnisvollen Linienkunst die Aufschrift: »Theosophischer Katechismus für Anfänger«.
»Nehmen Sie das mit!« bat er. »Sie können es behalten, und wenn Sie weiterstudieren wollen, kann ich Ihnen noch mehr leihen. Das hier ist nur zur Einführung. Ich verdanke dieser Lehre alles. Ich bin durch sie gesund geworden an Leib und Seele und hoffe, es wird auch Ihnen so gehen.«
Ich nahm das kleine Buch hin und steckte es ein. Der Mann begleitete mich durch den Garten zur Straße hinab, nahm freundlich Abschied und bat mich bald wiederzukommen. Ich sah ihm ins Gesicht, das war gut und froh, und mir schien, es könne nicht schaden, den Weg zu solchem Glück einmal zu versuchen. So ging ich heim, das Büchlein in der Tasche, neugierig auf die ersten Schritte dieses Pfades zur Glückseligkeit.
Doch beschritt ich ihn erst nach einigen Tagen. Bei der Heimkehr zogen die Noten mich wieder heftig an sich, ich stürzte mich darein und schwamm in Musik, schrieb und spielte, bis der Sturm für diesmal verrauscht war und ich ernüchtert ins Tagesleben zurückkehrte. Da empfand ich alsbald das Bedürfnis, die neue Lehre zu studieren, und setzte mich hinter das kleine Buch, das ich bald erschöpfen zu können glaubte.
Es ging aber nicht so leicht. Das kleine Büchlein schwoll mir unter den Händen und zeigte sich am Ende unüberwindlich. Es begann mit einer hübschen und anziehenden Einleitung über die vielen Wege zur Weisheit, deren jeder seine Geltung habe, und über die theosophische Brüderschafft derer, die in Freiheit nach Wissen und innerer Vollkommenheit streben wollen, denen jeder Glaube heilig und jeder Pfad zum Lichte willkommen ist. Alsdann kam eine Kosmogonie, die ich nicht verstand, eine Einteilung der Welt in verschiedene »Ebenen« und der Geschichte in merkwürdige, mir unbekannte Zeitalter, wobei auch das versunkene Land Atlantis eine Rolle spielte. Ich ließ dieses einstweilen auf sich beruhen und machte mich an die anderen Kapitel, wo die Lehre von der Wiedergeburt dargestellt war, die ich besser verstand. Doch wurde mir nicht recht klar, ob das alles eine Mythologie und poetische Fabel oder wörtliche Wahrheit zu sein begehre. Es schien das letztere der Fall zu sein, was mir nicht eingehen wollte. Nun kam die Lehre vom Karma. Sie zeigte sich mir als eine religiöse Verehrung des Kausalitätsgesetzes, die mir nicht übel gefiel. Und so ging es weiter. Ich sah bald gar wohl ein, dass diese ganze Lehre nur für den ein Trost und ein Schatz sein könne, der sie möglichst wörtlich und tatsächlich hinnehme und innig glaube. Wem sie, wie mir, ein zum Teil schönes, zum Teil krauses Sinnbild, der Versuch einer mythologischen Welterklärung war, der konnte zwar von ihr lernen und ihr Achtung gönnen, nicht aber Leben und Kraft von ihr haben. Man konnte vielleicht Theosoph sein mit Geist und Würde, aber jener endgültige Trost winkte nur denen, die es ohne viel Geist in einfältigem Glauben waren. Das war einstweilen nichts für mich.
Doch ging ich noch mehrmals zu dem Präzeptor hin, der vor zwölf Jahren mich und sich mit dem Griechischen geplagt hatte und nun auf so andere Weise, und doch ebenso erfolglos, mein Lehrer und Führer zu sein strebte. Freunde wurden wir nicht, aber ich kam gerne zu ihm, er war einige Zeit hindurch der einzige Mensch, mit dem ich über wichtige Fragen meines Lebens redete. Dabei machte ich zwar die Erfahrung, dass dieses Reden keinen Wert hat und im besten Fall zu gescheiten Sprüchen führt; doch war mir dieser gläubige Mann, den Kirche und Wissenschafft kühl gelassen hatten und der nun in der späteren Hälfte des Lebens im naiven Glauben an eine merkwürdig ausgeklügelte Lehre den Frieden und die Herrlichkeit der Religion erlebte, rührend und beinahe ehrwürdig.
Mir ist, bei allem Bemühen, dieser Weg bis heute unzugänglich geblieben, und ich habe zu frommen und in irgendeinem Glauben befestigten und befriedigten Menschen eine bewundernde Hinneigung, die sie mir nicht erwidern können.