Книга: Billard um halb Zehn / Бильярд в половине десятого. Книга для чтения на немецком языке
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Kapitel IX

Der junge Bankbeamte blickte mitleidig auf, als Schrella seine fünf englischen Schillinge und dreißig belgischen Franken über die Marmortheke schob.

„Ist das alles?“

„Ja“, sagte Schrella, „das ist alles.“

Der junge Beamte setzte seine Rechenmaschine in Bewegung, drehte missmutig die Kurbel – die geringe Anzahl der Umdrehungen drückte schon Verachtung aus – , schrieb flüchtig ein paar Zahlen auf einen Zettel, schob Schrella ein Fünfmarkstück, vier Groschenmünzen und drei Pfennige über die Theke.

„Der Nächste, bitte.“

„Nach Blessenfeld“, fragte Schrella leise, „können Sie mir sagen, ob dorthin immer noch die Elf fährt?“

„Ob die Elf nach Blessenfeld fährt? Ich bin nicht die Straßenbahnauskunft“, sagte der junge Beamte, „und außerdem weiß ich es wirklich nicht.“

„Danke“, sagte Schrella, ließ das Geld in seine Tasche gleiten, machte den Platz am Schalter frei für einen Mann, der einen Packen Schweizer Frankenscheine über die Theke schob; Schrella hörte noch, wie sich die Kurbel der Rechenmaschine respektvoll zu vielen Drehungen in Bewegung setzte.

‚Höflichkeit ist doch die sicherste Form der Verachtung‘, dachte er. Bahnhofshalle. Sommer. Sonne. Heiterkeit. Wochenende. Hotelpagen schleppten Koffer auf Bahnsteige; eine junge Frau hielt ein Schild hoch: ‚Reisende nach Lourdes hier sammeln.‘ Zeitungsverkäufer, Blumenstände. Jugendliche mit bunten Badetüchern unterm Arm.

Schrella ging über den Vorplatz, blieb auf der Verkehrsinsel stehen und studierte die Abfahrtstafel; die Elf fuhr immer noch nach Blessenfeld; dort stand sie, am roten Verkehrslicht zwischen Hotel Prinz Heinrich und dem Chor von Sankt Severin, fuhr an, hielt, leerte sich, und Schrella reihte sich der Schlange der Wartenden ein, die vorn an der Schleuse zu zahlen hatten; er setzte sich, nahm den Hut ab, wischte den Schweiß von den Augenbrauen, trocknete die Brillengläser und wartete, als die Bahn abfuhr, vergeblich auf Gefühle; nichts; als Schuljunge viertausendmal mit der Elf hin- und zurückgefahren; tintenfleckige Finger, das alberne Geschwätz der mitfahrenden Schüler, das ihm immer auf eine schreckliche Weise peinlich gewesen war; Kugelschnitte, Plusquamperfekt, Irrealis, Barbarossas Bart, der immer noch durch den Tisch wuchs; Kabale und Liebe, Livius, Ovid, in grüngraue Pappe gebunden, und je weiter sich die Bahn aus der Stadt entfernte, auf Blessenfeld zu, desto kleinlauter wurde das Geschwätz; schon am Rand der Altstadt stiegen die aus, die ihren Stimmen das sicherste Bildungstimbre zu geben wussten, verteilten sich in breite, dunkle Straßen, in denen solide Häuser standen; am Rande der Neustadt stiegen die aus, deren Stimmen das nächstniedrige Bildungstimbre hatten, verteilten sich in engere Straßen, wo weniger solide Häuser standen; es blieben nur noch zwei oder drei, die bis Blessenfeld mitfuhren, wo die am wenigsten soliden Häuser standen; das Gespräch normalisierte sich, während die Bahn an Schrebergärten und Kiesgruben vorüber auf Blessenfeld zuschaukelte. ‚Streikt dein Vater auch? Bei Gressigmann geben sie jetzt schon viereinhalb Prozent Rabatt; die Margarine ist um fünf Pfennig billiger geworden.‘ Der Park, wo das sommerliche Grün längst zertrampelt war, wo ums Planschbecken herum der sandige Boden von Tausenden von Kinderfüßen aufgewühlt war, mit Dreck, Papier und Flaschenscherben vermengt; die Gruffelstraße, wo die Lager der Altwarenhändler sich immer mit Blech und Lumpen, Papier und Flaschen auffüllten, sich in kümmerlicher Armut eine Limonadenbude auftat, in der ein magerer Arbeitsloser sich als Händler versuchte, binnen kurzem fett wurde, sein Bude mit Glas und Chrom auftakelte, blitzende Automaten aufstellte; fraß sich an Pfennigen dick, wurde herrisch und hatte doch vor ein paar Monaten noch untertänig den Preis für eine Limonade notfalls um zwei Pfennig gesenkt, ängstlich flüsternd: ‚Sag’s nur nicht weiter.‘ Die Gefühle kamen nicht, während er in der Elf durch die Altstadt, die Neustadt, an Schrebergärten und Kiesgruben vorbei auf Blessenfeld zuschaukelte: viertausendmal gehört die Namen der Stationen: Boissereestraße, Nordpark, Blessischer Bahnhof, Innerer Ring; sie klangen fremd, die Namen, wie aus Träumen, die andere geträumt hatten und vergebens mitzuteilen versuchten, klangen wie Hilferufe aus tiefen Nebelschichten, während die Bahn, fast leer, durch den sonnigen Sommernachmittag auf die Endstation zufuhr.

Dort, Ecke Parklinie und Innerer Ring, hatte die Bude gestanden, in der seine Mutter sich als Fischbraterin versuchte, aber am mitleidigen Herzen gescheitert war: ‚Wie kann ich denn hungrigen Kindern ein Stück gebratenen Fisch verweigern, wenn sie mir beim Braten zuschauen? Wie kann ich das?‘ Und Vater sagte: ‚Natürlich kannst du’s nicht, aber wir müssen die Bude aufgeben, kein Kredit mehr, Pleite, die Händler liefern nicht.‘ Panierte Fischfilets wurden in heißem Öl gar, während Mutter ein, zwei, drei Löffel Kartoffelsalat auf Pappteller häufte; Mutters Herz war mitleidend nicht fest geblieben; Tränen rannen aus den blauen Augen, Nachbarinnen flüsterten sich zu: die weint sich die Seele aus; aß nicht mehr, trank nicht mehr, ihre durchblutete Rundheit wandelte sich in blutarme Magerkeit; nichts mehr von der hübschen Kaltmamsell, die am Bahnhofsbüfett so beliebt gewesen war; flüsterte nur noch Herr, Herr, blätterte in zerfransten Sektierergebetbüchern, die das Ende der Welt verkündeten, während auf der Straße rote Fahnen im staubigen Wind flatterten, andere Hindenburgs Kopf auf Plakaten durch die Straßen trugen; Geschrei, Prügelei, Schüsse; Schalmeien und Trommeln. Als sie starb, sah Mutter aus wie ein Mädchen, blutarm, mager; Reihengrab mit Astern drauf, ein dünnes Holzkreuz: Edith Schrella 1896 – 1932; die Seele ausgeweint, der Leib der Erde des Nordfriedhofes beigemischt.

„Endstation, mein Herr“, verkündete der Schaffner, stieg aus seiner Schleuse, zündete den Zigarettenstummel an, kam nach vorn: „Weiter fahren wir leider nicht.“

„Danke.“ Viertausendmal eingestiegen, ausgestiegen; Endstation der Elf; zwischen Baggerlöchern und Baracken verloren sich rostige Schienen, die vor dreißig Jahren einmal der Weiterführung der Bahn hatten dienen sollen; Limonadenbude: Chrom, Glasballons, blitzende Automaten; korrekt sortierte Schokoladentafeln.

„Bitte, eine Limonade.“

Das grüne Zeug in einem makellosen Glas schmeckte nach Waldmeister.

„Bitte, der Herr, wenn es Ihnen nichts ausmacht, das Abfallpapier in den Korb. Schmeckt es?“

„Danke.“ Die beiden Hühnerschenkel waren noch warm, lockeres Brustfleisch, knusprig in allerbestem Fett gebraten, der Cellophanbeutel mit Spezial-Picknick-Warmhalte-Nadeln zugeknipst.

„Das riecht nicht schlecht. Noch eine Limonade dazu?“

„Danke, nein, aber bitte sechs Zigaretten.“

In der fetten Budenbesitzerin war noch das zarte hübsche Mädchen zu erkennen, das sie einmal gewesen war: blaue Kinderaugen hatten beim Erstkommunionsunterricht den schwärmerischen Kaplan zu Attributen wie ‚engelgleich‘ und ‚unschuldig‘ hingerissen, waren jetzt zu händlerischer Härte versteinert.

„Macht zusammen neunzig, bitte.“ – „Danke.“

Eben klingelte die Elf, mit der er gekommen war, zur Abfahrt; er zögerte zu lange, sah sich für zwölf Minuten in Blessenfeld gefangen; er rauchte, trank langsam den Rest der Limonade und suchte hinter dem steinern rosigen Gesicht nach dem Namen des Mädchens, das sie einmal gewesen war; blond, raste mit wehendem Haar durch den Park, schrie, sang und lockte in dunklen Fluren, als längst schon die Engelgleichheit dahingegangen war; erzwang heisere Liebesversprechen aus erregten Knabenkehlen, während der Bruder, blond wie sie, engelgleich wie sie, die Knaben der Straße vergebens zu edler Tat aufrief; Tischlerlehrling, Hundertmeterläufer, im Morgengrauen um einer Torheit willen geköpft.

„Bitte“, sagte Schrella, „doch noch eine Limonade.“

Er blickte auf den makellosen Scheitel der jungen Frau, die sich vorneigte, um das Glas unter den Ballon zu halten; ihr Bruder war Ferdi, der engelgleiche, ihr Name wurde später von rauhen Jungenkehlen weitergeflüstert, von Mund zu Mund gegeben wie ein Losungswort, das zum Eintritt ins Paradies berechtigte: Erika Progulske, Erlöserin aus dunklen Qualen, und nimmt nichts dafür, weil sie es gern tut.

„Kennen wir uns?“ Lächelnd stellte sie das Limonadenglas auf die Theke.

„Nein“, sagte er lächelnd, „ich glaube nicht.“

Nur nicht die Erinnerung aus ihrer Erfrierung auftauen, die Eisblumen würden wie flaues schmuddliges Wasser herunterrinnen; nur nichts heraufbeschwören, die Strenge kindlicher Gefühle aus aufgeweichten Erwachsenenseelen zurückerwarten, erfahren, dass sie jetzt etwas dafür nahm; Vorsicht, nur nicht die Sprache in Bewegung setzen.

„Ja, dreißig Pfennig. Danke.“ Ferdi Progulskes Schwester blickte ihn mit routinierter Freundlichkeit an. Auch mich hast du erlöst und nichts dafür genommen, nicht einmal den Riegel Schokolade, der in meiner Tasche weich geworden war, und es sollte doch nicht Bezahlung sein, sondern ein Geschenk, aber du nahmst es nicht; erlöst mit dem Mitleid deines Mundes und deiner Hände; ich hoffe, du hast es Ferdi nie erzählt, zum Mitleid gehört Diskretion; in Sprache verwandelte Geheimnisse können tödlich werden; ich hoffe, er hat es nicht gewusst, als er an jenem Julimorgen den Himmel zum letzten Mal sah; ich war der einzige, in der Gruffelstraße, den er zu edler Tat bereit fand; Edith zählte damals noch nicht, sie war erst zwölf, die Weisheit ihres Herzens war noch nicht zu entziffern.

„Kennen wir uns wirklich nicht?“ – „Nein, ich bin sicher.“

Heute würdest du mein Geschenk nehmen, dein Herz ist fest, doch nicht mitleidend geblieben; wenige Wochen später schon hattest du die Unschuld kindlicher Lasterhaftigkeit verloren, hattest schon entschieden, dass es besser sei, das Mitleid abzuwerfen, und warst dir klar darüber, dass du dir nicht als weinerliche blonde Schlampe die Seele ausweinen würdest; nein, wir kennen uns nicht, wirklich nicht; wir wollen die Eisblumen nicht auftauen. Danke, auf Wiedersehen.

Drüben immer noch das ‚Blesseneck‘, wo Vater gekellnert hat; Bier, Schnaps, Frikadellen, Bier, Schnaps, Frikadellen; alles serviert mit diesem Gesicht, in dem Milde und Verbissenheit sich zu etwas Einmaligem mischten; Gesicht eines Träumers, dem es gleichgültig war, ob er im Blesseneck Bier, Schnaps und Frikadellen servierte oder im Prinz Heinrich Hummer und Sekt oder am oberen Hafen übernächtigen Huren Frühstück: Bier, Kotelett, Schokolade und Cherry Brandy; Vater brachte Spuren dieser klebrigen Frühstücke an seinen Manschetten mit, brachte gute Trinkgelder mit, Schokolade und Zigaretten, brachte nicht mit, was andere Väter mitbrachten: Feierabendheiterkeit, die sich in Gebrüll und Zank, in Liebesbeteuerungen und Versöhnungstränen ausmünzen lassen konnte; immer diese verbissene Milde im Gesicht, verirrter Engel, der Ferdi unterm Schanktisch verbarg, wo die Hilfspolizei ihn zwischen Bierleitungen herausholte; der immer noch, schon in Todesgewissheit, lächelte; klebriges Zeug wurde aus Manschetten gewaschen, Stärke angerührt, damit das weiße Kellnerhemd steif werde und leuchte; sie holten ihn erst am anderen Morgen, als er mit seinen Butterbroten und den schwarzen Lackschuhen unterm Arm zum Dienst fahren wollte; er bestieg ihr Auto und ward nicht mehr gesehen; kein weißes Kreuz, keine Astern, der Kellner Alfred Schrella. Nicht einmal auf der Flucht erschossen – ward einfach nicht mehr gesehen.

Edith rührte Stärke an, wichste die schwarzen Reserveschuhe, reinigte weiße Krawatten, während ich lernte, spielend lernte, Ovid und Kegelschnitte, Heinrichs des Ersten, Heinrichs des Zweiten Pläne und Taten und Tacitus’ und Wilhelms des Ersten, Wilhelms des Zweiten Pläne und Taten; Kleist und sphärische Trigonometrie; begabt, begabt, ganz außerordentlich begabt; Arbeiterkind, hatte das gleiche wie die anderen gegen vieltausendfache Widerstände anzulernen, war außerdem zu edler Tat verschworen und leistete mir sogar noch ein Privatvergnügen: Hölderlin.

Sieben Minuten noch bis zur Abfahrt der nächsten Elf. Gruffelstraße Numero siebzehn, das Haus neuverputzt, ein parkendes Auto davor: grün; ein Fahrrad: rot; zwei Roller: schmutzig. Achtzehntausendmal auf die Klingel gedrückt, auf den gelblich blassen Messingknopf, der seinem Daumen noch vertraut war; wo früher Schrella gestanden hatte, stand jetzt Tressel; wo früher Schmitz gestanden hatte, stand jetzt Humann; neue Namen, nur einer war geblieben: Fruhl – eine Tasse Zucker geliehen, eine Tasse Mehl, eine Tasse Essig, einen Eierbecher voll Salatöl – wieviel Tassen, wieviel Eierbecher, und zu welch hohem Zinssatz?; Frau Fruhl füllte die Tassen und Eierbecher immer nur halb und machte einen Strich an den Türrahmen, wo sie M, Z, E und Ö stehen hatte, radierte mit dem Daumen die Striche erst aus, wenn sie volle Tassen, volle Eierbecher zurückbekam, flüsterte es durch den Hausflur, in Läden und bei Treffen mit Freundinnen, wo bei Eierlikör und Kartoffelsalat Populärgynäkologie getrieben wurde, flüsterte es: ‚Mein Gott sind die doof‘; sie hatte früh schon vom Sakrament des Büffels gegessen, ihren Mann und ihre Tochter gezwungen, es einzunehmen, sang es im Flur: Es zittern die morschen Knochen. Nichts, kein Gefühl, nur die Daumenhaut, die auf dem blaßgelben Messingknopf ruhte, empfand etwas wie Rührung.

„Suchen Sie jemand?“

„Ja“, sagte er, „Schrellas, wohnen die nicht mehr hier?“

„Nein“, sagte das Mädchen, „das wüsste ich, wenn die hier wohnten.“ Es war rotwangig, lieblich, turnte auf schwankendem Roller, hielt sich an der Hausmauer fest.

„Nein, die haben hier nie gewohnt.“ Rannte los, strampelte wild über den Gehsteig, durch die Gosse und schrie: „Kennt hier jemand Schrellas?“ Er zitterte, es könnte jemand Ja rufen und er würde hingehen, begrüßen, Erinnerungen austauschen müssen; ja, den Ferdi, den haben sie – deinen Vater, den haben sie – und die Edith, die hat ja fein geheiratet – aber das rotwangige Mädchen rannte ohne Erfolg umher, drehte mit seinem schmutzigen Roller kühne Kurven, von Gruppe zu Gruppe, schrie es in die offenen Fenster hinauf: „Kennt hier jemand Schrellas?“ Sie kam mit erhitztem Gesicht zurück, zog eine elegante Schleife, blieb vor ihm stehen: „Nein, Herr, die kennt hier niemand.“

„Danke“, sagte er lächelnd, „magst du einen Groschen?“

„Ja.“ Strahlend sauste sie in Richtung Limonadenbude davon.

„Ich habe gesündigt, habe schwer gesündigt“, murmelte er lächelnd, während er zur Endstation zurückging, „ich habe zum Huhn aus dem Hotel Prinz Heinrich Waldmeisterlimonade aus der Gruffelstraße getrunken; ich habe die Erinnerung ruhen lassen, die Eisblumen nicht aufgetaut; in Erika Progulskes Augen wollte ich kein Erkennen aufblitzen sehen, aus ihrem Mund den Namen Ferdi nicht hören; nur die Haut meines Daumens hat Erinnerung zelebriert, hat den Klingelknopf aus blaßgelbem Messing erkannt.“ Es war wie Spießrutenlaufen zwischen Augenpaaren, die vom Straßenrand, aus Fenstern und Hauseingängen, in sommerlicher Sonne, den Feierabend genießend, ihn genau beobachteten; war keiner darunter, der seine Brille, seinen Gang, das Zusammenkneifen der Augen erkennen würde, unter dem ausländischen Mantel den vielverspotteten Hölderlinleser, dem sie das Spottlied nachgerufen hatten: ‚Der Schrella, der Schrella, der Schrella liest Gedichte?‘

Er wischte sich angstvoll den Schweiß ab, nahm den Hut vom Kopf, blieb stehen und blickte von der Ecke aus in die Gruffelstraße zurück; niemand war ihm gefolgt; junge Burschen saßen auf Motorrädern, halb nach vorn gebeugt, flüsterten jungen Mädchen Liebesversprechen zu; Bierflaschen auf Fensterbänken fingen Nachmittagssonne ein; dort drüben das Haus, in dem der Engel geboren worden war und gewohnt hatte; vielleicht war der Messingknopf noch da, auf dem Ferdis Daumen fünfzehntausendmal geruht hatte; grüne Hausfassade, flimmernde Drogerieauslagen, Zahnpastareklame gleich unterhalb des Fensters, in dem Ferdi so oft gelegen hatte.

Der Parkweg, von dem weg Robert Edith ins Gebüsch gezogen hatte, an einem Juliabend vor dreiundzwanzig Jahren; jetzt hockten Rentner dort auf Bänken, tauschten Witze aus, schnüffelten an Tabaksorten, beklagten die Unerzogenheit spielender Kinder; gereizte Mütter riefen ein bitteres Schicksal auf ihre ungehorsame Brut herab, beschworen schreckliche Zukunft: Dass dich der Atom hole; Jungen, mit Gebetbüchern unterm Arm, kamen von der Beichte, noch unschlüssig, ob sie den Zustand der Gnade schon jetzt oder erst morgen verlassen sollten.

Immer noch eine Minute bis zur Abfahrt der nächsten Elf; schon seit dreißig Jahren liefen die rostigen Schienen in eine leere Zukunft; Ferdis Schwester füllte jetzt grüne Limonade in ein sauberes Glas; der Straßenbahnführer klingelte zum Sammeln; müde Schaffner köpften ihre Zigaretten, rückten ihre Geldtaschen zurecht, stiegen in ihre Schleuse, klingelten Alarm, weil weit hinten, wo die rostigen Schienen endeten, eine alte Frau zum Laufen ansetzte.

„Zum Hauptbahnhof“, sagte Schrella, „mit Umsteigen zum Hafen.“

„Fünfundvierzig.“

Wenig solide Häuser, solidere Häuser, sehr solide Häuser. Umsteigen, ja, es ist immer noch die Sechzehn, die zum Hafen fährt. Baustoffhandlung, Kohlenlager, Verladerampen, und er konnte es von der Balustrade des alten Wiegehauses aus lesen: ‚Michaelis, Kohlen, Koks, Briketts.‘

Nur noch umwenden, zwei Minuten Weg, und er würde Erinnerung vollziehen können; Frau Trischlers Hände würden der Zeit standgehalten haben, wie die Augen des Alten und Alois’ Foto an der Wand; Bierflaschen, Zwiebelbündel, Tomaten, Brot und Tabak; ankernde Schiffe, schwankende Stege, über die Segeltuchrollen getragen wurden: riesige Schmetterlingspuppen würden rheinabwärts fahren, den Nebeln der Nordsee zu. Stille herrschte hier; frisch war der Kohlenhaufen hinter Michaelis’ Zaun, Berge hellroter Ziegel im Baustofflager, schlurfende Nachtwächterschritte hinter Zäunen und Werkbuden machten die Stille noch größer.

Schrella lächelte, lehnte sich übers rostige Geländer, drehte sich um und erschrak: er hatte von der neuen Brücke nichts gewusst, auch Nettlinger hatte nichts davon gesagt ; sie schob sich breit übers alte Hafenbecken hinüber, die dunkelgrünen Pfeiler standen genau dort, wo Trischlers Haus gewesen war; Brückenschatten bedeckte den Kai vorn, wo das Treidlerhaus gestanden hatte, im Strom rahmten riesige leere Stahltore blaues Nichts ein.

In Trischlers Kneipe hatte Vater am liebsten gearbeitet, Schiffer und ihre Frauen bedient, die im Garten auf den roten Stühlen saßen, an langen Sommerabenden, während Alois, Edith und er im alten Hafenbecken angelten. Ewigkeit kindlicher Zeitrechnung, Unendlichkeit, wie er sie nur noch aus Verszeilen kennen gelernt hatte; drüben läuteten die Glocken von Sankt Severin, läuteten Frieden und Zuversicht in den Abend, während Edith mit ihren unruhigen Händen den Rhythmus des hüpfenden Schwimmers in die Luft zeichnete, ihre Hüften, ihre Arme der ganze Körper tanzte im Rhythmus des hüpfenden Schwimmers; und nicht einmal hatte ein Fisch angebissen.

Vater servierte gelbes Bier mit weißem Schaum, mehr Milde als Verbissenheit strahlte sein Gesicht aus, und fröhlich lächelnd lehnte er Trinkgeld ab, weil alle Menschen Brüder sind. ‚Brüder, Brüder‘, rief er es laut in den Sommerabend; bedächtige Schiffergesichter lächelten, hübsche Frauen mit Zuversicht in den Augen schüttelten über soviel kindliches Pathos den Kopf und klatschten doch Beifall, Brüder und Schwestern.

Schrella stieg langsam die Balustrade hinunter, ging am Hafenbecken vorbei, wo rostige Pontons und Boote auf Schrotthändler warteten; er tauchte tief unter den grünen Schatten der Brücke, sah in der Mitte des Stromes die eifrigen Krane, die Brückenteile auf Lastkähne luden, wo stöhnender Schrott vom Gewicht des Hinzukommenden zusammengedrückt wurde; er fand den pompösen Aufgang, spürte, wie die breiten Stufen den Schritt zur Feierlichkeit zwangen; in gespenstischer Zuversicht hob sich die leere, saubere Autobahn zum Fluss hin, auf die Brücke zu, wo Schilder mit gekreuztem Gebein, riesige Totenschädel, weiß auf schwarz die Zuversicht bremsten; Schilder mit Tod Tod hemmten den Marsch nach Westen, während die leere Straße ostwärts in eine Unendlichkeit flimmernden Rübenlaubs führte. Schrella ging weiter, drückte sich zwischen Tod und gekreuztem Gebein hindurch, an der Baubude vorbei, beschwichtigte einen Nachtwächter, der schon die Arme zu aufgeregtem Fuchteln erhoben hatte, sie aber sinken ließ, von Schrellas Lächeln beruhigt; Schrella ging weiter bis an den Rand; rostige Moniereisen, an denen Betonbrocken baumelten, bewiesen hier durch fünfzehn Jahre währendes ungebrochenes Standhalten die Qualität deutschen Stahls; jenseits des Stromes, hinter den leeren Stahltoren führte die Bahn am Golfplatz vorbei wieder in die Unendlichkeit flimmernden Rübenlaubs.

Cafe Bellevue. Uferallee. Rechts die Sportwiesen, Schlagball, Schlagball. Der Ball, den Robert schlug, und die Bälle, die sie in der holländischen Kneipe mit dem Queue anstießen, rot über grün, weiß über grün, die monotone Musik der Bälle, klang fast wie Gregorianik; die Figuren, die die Bälle bildeten, wie strenge Poesie, die drei hoch unendlich aus grünem Filz zauberte; nie vom Sakrament des Büffels gekostet, blindlings Wunden empfangen, Weide meine Lämmer auf Vorstadtwiesen, wo Schlagball gespielt wird, in Gruffelstraßen und in Modestgassen, in englischen Vorstadtstraßen und hinter Gefängnismauern; Weide meine Lämmer, wo du sie triffst, auch wenn sie nichts Besseres zu tun wissen als Hölderlin zu lesen und Trakl, nichts Besseres als fünfzehn Jahre lang: ‚Ich binde, ich band, ich habe gebunden, ich werde binden, ich hatte gebunden, ich werde gebunden haben‘ an Tafeln zu schreiben, während Nettlingers Kinder auf gepflegtem Rasen – das können die Engländer doch am besten – Federball spielten, während seine hübsche Frau, gepflegt, gepflegt, sehr gepflegt, ihm, der im hübschen Liegestuhl lag, von der Terrasse aus zurief: ‚Magst du ’ne Spur Gin in die Zitronenlimonade?‘ und er zurückrief: ‚Ja, aber ’ne deutliche Spur!‘; und seine Frau, Kichern im Hals, von soviel Witz entzückt, tat ihm ’ne deutliche Spur Gin in die Limonade, ging nach draußen, setzte sich neben ihn, in den zweiten Liegestuhl, der so hübsch war wie der erste, begutachtete die Bewegungen ihrer ältesten Tochter; vielleicht ein ganz klein bisschen zu mager, ein bisschen zu knochig, und das hübsche Gesicht ein bisschen zu ernsthaft; jetzt legte sie erschöpft den Schläger aus der Hand, setzte sich zu Vatis, zu Muttis Füßen an den Rasenrand – ‚ aber, Liebes, erkälte dich nur nicht‘ – und fragte, ach, immer so ernsthaft: ‚Vati, wie ist das nun, was ist das genau: Demokratie?‘, und das war für Vati der rechte Augenblick, feierlich zu werden, er setzte sein Limonadenglas ab, nahm die Zigarre aus dem Mund – das ist schon die fünfte heute, Ernst-Rudolf – und erklärte es ihr: Demokratie…‘

Nein, nein, ich werde dich weder privat noch amtlich bitten, meine Rechtslage zu klären; ich nehme nichts dafür, ich habe den kindlichen Schwur im Cafe Zons geschworen, geschworen, den Adel der Wehrlosigkeit zu hüten; meine Rechtslage bleibt ungeklärt; vielleicht hat auch Robert sie geklärt, mit Dynamit; ob er inzwischen das Lachen gelernt hat, oder wenigstens das Lächeln? Er war immer ernst, kam nicht über Ferdis Tod hinweg, ließ seine Rachegedanken zu Formeln gefrieren, als sehr leichtes Gepäck trug er sie im Hirn, genaue Formeln, trug sie durch Feldwebel- und Offiziersquartiere, sechs Jahre lang, ohne zu lachen, wo Ferdi doch noch, als sie ihn verhafteten, gelächelt hatte, der Engel aus der Vorstadt, aus dem Mistbeet der Gruffelstraße; nur die drei Quadratzentimeter Daumenhaut hatten Erinnerung vollzogen; angesengte Turnlehrerfüße und das letzte Lamm von einem Bombensplitter getötet; Vater ward nicht mehr gesehen, nicht einmal auf der Flucht erschossen. Und niemals eine Spur gefunden von dem Ball, den Robert schlug.



Schrella warf den Zigarettenstummel in den Abgrund, stand auf, schlenderte langsam zurück, zwängte sich zwischen Tod und gekreuztem Gebein wieder hindurch, nickte dem aufgescheuchten Nachtwächter zu, warf noch einen Blick zurück aufs Cafe Bellevue, ging die saubere leere Autobahn hinunter auf den Horizont zu, wo Rübenlaub im Sommerlicht flimmerte; irgendwo musste diese Straße die Linie Sechzehn kreuzen. Umsteigen zum Bahnhof, fünfundvierzig Pfennig; er sehnte sich nach einem Hotelzimmer, er liebte das Zufällige solchen Zu-Hause-Seins, die Anonymität dieser schäbigen Zimmer, die auswechselbar waren; Eisblumen der Erinnerung tauten in diesen Zimmern nicht auf; staatenlos, heimatlos, und am Morgen ein liebloses Frühstück von einem verschlafenen Kellner serviert, dessen Manschetten nicht ganz sauber waren, dessen Hemdbrust nicht mit Inbrunst, wie Mutter es getan hatte, gestärkt worden war; vielleicht konnte man eine Frage riskieren, falls der Kellner über sechzig war? ‚Haben Sie einen Kollegen gekannt, der Schrella hieß?‘

Weiter in die leere saubere Straße hinein, in den Himmel aus flimmerndem Rübenlaub, als Gepäck nur die Hände in den Taschen, und das Kleingeld an den Weg gestreut, für Hansel und Gretel. Postkarten waren der einzig erträgliche Kontakt mit dem Leben, das nach Ediths, nach Vaters, Ferdis Tod weiterging. ‚Mir geht es gut, lieber Robert: ich hoffe von dir das gleiche; grüße meine mir unbekannte Nichte, meinen Neffen und deinen Vater‘, zweiundzwanzig Worte, zuviel Worte; zusammenstreichen den Text: ‚Mir geht’s gut, hoffe, dir auch, grüße Ruth, Joseph, deinen Vater; elf Worte; mit der Hälfte ließ sich das gleiche sagen; wozu herreisen, Händedrücken, eine Woche lang nicht: ich binde, ich band, ich habe gebunden konjugieren; Nettlinger unverändert finden, die Gruffelstraße unverändert; Frau Trischlers Hände fehlten.

Himmel aus Rübenlaub, wie mit grünsilbernem Gefieder bewachsen; unten schaukelte die Sechzehn durch eine Unterführung. Fünfundvierzig Pfennig; alles ist teurer geworden. Gewiss war Nettlinger mit seiner Erläuterung der Demokratie noch nicht zu Ende; Spätnachmittagslicht; seine Stimme wurde weich; und seine Tochter holte aus dem Wohnzimmer die Couchdecke – jugoslawisch, dänisch oder finnisch, jedenfalls herrliche Farben – , legte sie dem Vater über die Schultern, kniete sich zu andächtigem Lauschen wieder hin, während die Mutter in der Küche …‚ bleibt ihr nur draußen, Kinder, bitte, es ist ein so herrlicher Nachmittag und so harmonisch‘ – würzig schmackhafte Schnittchen zurechtmachte, bunte Salate mischte.

Die Vorstellung von Nettlinger ergab ein genaueres Bild als die Begegnung mit ihm; wie er die Lendenschnitte in sich hineinbefördert hatte, den besten, besten, allerbesten Wein dazu trinkend, schon in Nachdenken versunken, ob Käse, Eis, Kuchen oder ein Omelett dieses Mahl am würdigsten krönen würde. ‚Eins, meine Herren‘, hatte der ehemalige Botschaftsrat gesagt, der den Kursus ‚Wie werde ich Feinschmecker?‘ abhielt – ‚Eins, meine Herren, müssen Sie nun selbst dem Gelernten hinzufügen, einen Hauch, nur einen Hauch von Originalität.‘

Er hatte es in England an die Tafel geschrieben: ‚er hätte getötet werden müssen‘; fünfzehn Jahre lang das Xylophon der Sprache bedient: ich lebe, ich lebte, ich habe gelebt, ich hatte gelebt, ich werde leben. Werde ich leben? Er hatte nie begriffen, dass es Menschen gab, die sich über der Grammatik langweilen konnten. Er wird umgebracht, er wurde umgebracht, er ist umgebracht worden, er wird umgebracht werden; wer wird ihn umbringen? Mein ist die Rache, hat der Herr gesagt.

„Endstation, der Herr, Hauptbahnhof.“

Das Gedränge war nicht geringer geworden: wer war hier Ankommender, wer Abfahrender? Warum blieben sie nicht alle zu Hause? Wann fuhr der Zug nach Ostende; oder vielleicht auch Italien, Frankreich; irgend jemand würde auch dort zu lernen begehren: ich lebe, ich lebte, ich habe gelebt; er wird getötet werden; wer wird ihn töten?

Hotelzimmer? Welche Preislage? Billig? Spürbar ließ die Freundlichkeit der jungen Dame nach, die den hübschen Finger an der Liste entlangführte; offenbar galt es in diesem Lande als Sünde, nach dem Preis zu fragen. Immer das Beste – das Teuerste ist das Billigste; Irrtum, hübsches Kind, das Billige ist das Billigere, tatsächlich, lass nur deinen hübschen Finger bis auf die unterste Stufe der Liste gleiten. ‚Pension Modern.‘ Sieben Mark. Ohne Frühstück. Nein danke, ich kenne den Weg zur Modestgasse, wirklich, ich kenne ihn, Numero Sechzehn, das ist gleich neben dem Tor.

Als er um die Ecke bog, lief er fast gegen den Keiler, schrak vor der Masse des dunkelgrauen Tieres zurück und wäre fast an Roberts Haus vorbeigegangen; hier war die Erinnerung nicht in Gefahr: nur einmal war er hier gewesen; Modestgasse 8; er blieb vor dem blanken Messingschild stehen, las: ‚Dr. Robert Fähmel, Büro für statische Berechnungen, nachmittags geschlossen‘; er zitterte, als er auf den Klingelknopf drückte: wovon er nicht Zeuge gewesen, was nicht mit Requisiten gespielt worden war, die er kannte, traf ihn heftiger: hinter dieser Tür war Edith gestorben, in diesem Haus waren ihre Kinder geboren, wohnte Robert; am Geräusch der drinnen ertönenden Klingel erkannte er schon, dass niemand öffnen würde, das Geräusch der Klingel drinnen mischte sich mit dem des Telefons, der Boy im Hotel Prinz Heinrich hat sein Wort gehalten; ich werde ihm ein gutes Trinkgeld geben, wenn wir dort Billard spielen.

Nur vier Häuser weiter die Pension Modern. Endlich daheim; zum Glück kein Essensgeruch in der winzigen Diele. Frische Bettwäsche für ein müdes Haupt. „Ja, danke, ich finde es schon.“ „Im zweiten Stock die dritte Tür links, Vorsicht beim Treppensteigen, der Herr, die Teppichstangen sind an einigen Stellen lose, es gibt so wüste Gäste; Sie wollen nicht geweckt werden? Und noch eine Kleinigkeit, bitte; würden Sie im voraus zahlen, oder kommt noch Gepäck? Nein? Also bitte, achtmarkundfünf, einschließlich Bedienung; leider bin ich zu solchen Vorsichtsmaßregeln gezwungen, mein Herr; Sie glauben gar nicht, wieviel Gesindel es auf der Welt gibt; anständigen Menschen muss man dann misstrauisch kommen, so geht es; und manche bringen es fertig, sich noch die Bettwäsche um den Leib zu binden, sich aus den Kopfkissenbezügen Taschentücher zurechtzuschneiden; wenn Sie wüssten, was man so alles erlebt; keine Quittung? Desto besser, die Steuer frisst einem sowieso die Haare vom Kopf. Sie erwarten doch sicher Besuch, Ihre Frau, nicht wahr; ich werde sie nach oben schicken, keine Sorge…“

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