Книга: Billard um halb Zehn / Бильярд в половине десятого. Книга для чтения на немецком языке
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Kapitel VIII

Die Autobahn war in ihrer ganzen Breite durch massive Schilder gesperrt; die Brücke, die hier über den Fluss geführt hatte, war zerstört, sauber an den Rampen weggesprengt; rostige Drahtseile hingen zerfasert von den Pylonen herunter; drei Meter hohe Schilder verkündeten, was hinter ihnen lauerte: Tod; gekreuztes Gebein, ums Zehnfache drohend vergrößerte Totenschädel, grellweiß auf tiefschwarz gemalt, verkündeten es bildhaft für die, denen das Wort nicht genügte.

Auf diesem toten Arm übten fleißige Adepten von Fahrschulen sich im Schalten, gewöhnten sich an Geschwindigkeit, quälten die Gangschaltung, um rückwärts nach links, rückwärts nach rechts zu drehen, sich ans Wenden zu gewöhnen; auf diesem Damm, der am Golfplatz vorbei zwischen Schrebergärten hinführte, ergingen sich auch sauber gekleidete Männer und Frauen, mit ihren Feierabendgesichtern strebten sie auf die Rampe, den drohenden Schildern zu, hinter denen verborgen biedere Baubuden dem Tod zu spotten schienen; blauer Qualm stieg hinter Tod aus Ofen, auf denen Nachtwächter ihren Henkelmann wärmten, Brot rösteten und mit Fidibussen ihre Pfeifen ansteckten. Bombastische Treppen waren der Zerstörung nicht anheimgefallen, dienten jetzt in abendlicher Sommerwärme müden Spaziergängern als Sitzgelegenheit; aus zwanzig Metern Höhe konnten sie von hier aus den Fortgang der Arbeiten beobachten: Taucher in gelben Anzügen glitten in die Fluten hinab, führten die Schlingen der Krane an Eisenteile, an Betonbrocken heran, und die Krane zogen ihre triefende Beute herauf, luden sie auf Lastkähne. Auf hohen Gerüsten und schwankenden Stegen, in Mastkörben hoch an den Pylonen schweißten Arbeiter mit bläulich blitzenden Schweißapparaten angerissene Stahlteile ab, verbogene Nieten, zerschnitten zerfranste Drahtseilreste; die Strompfeiler mit ihren Querstützen standen wie leere Riesentore im Strom, rahmten einen Hektar blauen Nichts ein; Sirenen gaben Signal: Fahrrinne frei, Fahrrinne besetzt; rote Lichter, grüne; Schleppzüge brachten Kohle und Holz von hier nach dort, von dort nach hier. Grüner Fluss, Heiterkeit, sanfte Ufer mit Weidengebüsch, bunte Schiffe, blaue Blitze aus Schweißapparaten; drahtige Männer, drahtige Frauen, ernsten Gesichts, die Schläger geschultert, gingen über makellosen Rasen hinter Golfbällen her; achtzehn Löcher; Rauch stieg aus Gärten hoch, Bohnenlaub, Erbsenlaub, ausgewechselte Zaunpfähle verwandelten sich in Rauch, bildeten liebliche Schwaden am Himmel, die Jugendstil-Elfen glichen, sich barock zusammenballten, sich dann hellgrau am Nachmittagshimmel zu zerquälten Figuren verzerrten, bevor eine Windströmung oben sie zerfetzte und auf den Horizont zujagte; rollerfahrende Kinder fielen sich auf dem grob belegten Parkstreifen Arme und Knie wund, zeigten erschrockenen Müttern schürfige Wunden und erpressten Limonadeversprechen, Eisversprechen; Liebespaare, die Hände verschlungen, strebten den Weidenbüschen zu, wo die Hochwasserspur längst gebleicht war: Schilfrohr, Korken, Flaschen und Schuhcremedosen; Schiffer stiegen über schwankende Stege an Land, Frauen mit Einkaufskörben am Arm und Zuversicht in den Augen; Wäsche flatterte auf blitzsauberen Kähnen im Abendwind; grüne Hosen, rote Blusen, schneeweiße Bettücher über dem tiefen Schwarz des frischen Teers, der wie japanischer Lack glänzte; schlammbedeckt, tangbedeckt tauchten Brückenteile auf; hinten die graue schlanke Silhouette von Sankt Severin, und im Cafe Bellevue verkündete die erschöpfte Kellnerin: „Der Sahnekuchen ist alle“, wischte sich den Schweiß vom groben Gesicht, wühlte in der Ledertasche nach Wechselgeld. „Nur noch Sandkuchen – nein, auch das Eis ist alle.“

Joseph ließ sich das Wechselgeld in die offene Hand zählen, steckte die Münzen in die Hosentasche, den Schein in die Tasche seines Hemds, drehte sich Marianne zu und kämmte ihr mit der gespreizten Hand die Schilfreste aus dem dunklen Haar, klopfte Sand aus ihrem grünen Pullover.

„Du hast dich doch so auf die Feier gefreut“, sagte sie, „was ist denn los?“

„Es ist nichts los“, sagte er.

„Ich spüre es doch; es ist etwas anders!“

„Ja.“

„Willst du es mir nicht sagen?“

„Später“, sagte er, „vielleicht erst in Jahren, vielleicht auch bald. Ich weiß nicht.“

„Hat es mit uns beiden zu tun?“

„Nein.“

„Bestimmt nicht?“

„Nein.“

„Mit dir?“

„Ja.“

„Also doch mit uns beiden.“

Joseph lächelte. „Natürlich, da ich ja mit dir zu tun habe.“

„Ist es etwas Schlimmes.“

„Ja.“

„Hat es mit deiner Arbeit zu tun?“

„Ja. Gib mir deinen Kamm, aber dreh dich nicht um; die feinen Sandkörner krieg ich mit den Händen nicht raus.“

Sie nahm den Kamm aus ihrer Handtasche und reichte ihn über die Schulter; er hielt ihre Hand einen Augenblick fest.

„Ich hab doch immer gesehen, wie du abends, wenn die Arbeiter weg waren, an dem großen Haufen nagelneuer Steine entlanggegangen bist und sie berührt hast; nur angefasst – und ich hab gesehen, dass du es gestern und vorgestern nicht getan hast; ich kenn doch deine Hände; und heute morgen bist du so früh weggefahren.“

„Ich habe für meinen Großvater ein Geschenk besorgt.“

„Du bist nicht wegen des Geschenks weggefahren; wo bist du gewesen?“

„Ich war in der Stadt“, sagte er, „der Rahmen für das Bild war immer noch nicht fertig, und ich habe darauf gewartet; du kennst doch das Foto, wo mich meine Mutter an der Hand hält, Ruth auf ihrem Arm, und Großvater steht hinter uns? Ich habe es vergrößern lassen, und ich weiß, dass er sich darüber freuen wird.“



Und dann bin ich in die Modestgasse gegangen und habe gewartet, bis mein Vater aus dem Büro kam, groß, ungebeugt, und ich bin hinter ihm hergegangen bis zum Hotel; ich habe eine halbe Stunde vor dem Hotel gewartet, aber er kam nicht heraus, und hineingehen und nach ihm fragen mochte ich nicht; ich wollte ihn nur sehen, und ich habe ihn gesehen; ein gepflegter Herr in den besten Jahren.

Er ließ Marianne los, steckte den Kamm in seine Hosentasche, legte Marianne die Hände auf die Schultern und sagte: „Bitte, dreh dich nicht um, so kann man besser miteinander reden.“

„Besser lügen“, sagte sie.

„Vielleicht“, sagte er, „oder besser: verschweigen.“ An ihrem Ohr vorbei konnte er über die Brüstung der Cafehausterrasse mitten auf den Fluss sehen, und er beneidete den Arbeiter, der fast sechzig Meter hoch oben am Pylon in einem Korb hing und mit dem Schweißapparat blaue Blitze in die Luft zeichnete; Sirenen tuteten, ein Eisverkäufer ging unterhalb des Cafes an der Böschung entlang, rief ‚Eis, Eis‘, schwieg dann und spachtelte Eis in bröcklige Waffeln; hinten die graue Silhouette von Sankt Severin.

„Es muss etwas sehr Schlimmes sein“, sagte Marianne.

„Ja“, sagte er, „es ist ziemlich schlimm – vielleicht auch nicht; das ist noch nicht entschieden.“

„Innen oder außen?“ fragte sie.

„Innen“, sagte er. „Jedenfalls hab ich heute mittag Klubringer gekündigt; dreh dich nicht um, sonst sag ich kein Wort mehr.“

Er nahm die Hände von ihren Schultern, legte sie um ihren Kopf und hielt ihn in Richtung zur Brücke hin fest.

„Was wird dein Großvater dazu sagen, dass du gekündigt hast? Er war so stolz auf dich, jedes lobende Wort, das Klubringer über dich sagte, ging ihm wie Honig ein; und er hängt doch so an der Abtei; du darfst es ihm heute noch nicht sagen.“

„Sie werden es ihm schon gesagt haben, bevor er uns trifft; du weißt doch, dass er mit Vater nach Sankt Anton kommt; Nachmittagskaffee vor der großen Geburtstagsfeier.“

„Ja“, sagte sie.

„Es tut mir leid um Großvater; du weißt, dass ich ihn mag; er kommt bestimmt heute nachmittag raus, wenn er Großmutter besucht hat; jedenfalls: ich kann vorläufig keine Steine mehr sehen und keinen Mörtel mehr riechen.“

„Vorläufig nur?“

„Ja.“

„Und was wird dein Vater sagen?“

„Oh“, sagte er rasch, „ihm wird es nur um Großvaters willen leid tun; für die schöpferische Seite der Architektur hat er sich nie interessiert, nur für die Formeln; halt, dreh dich nicht um.“

„Es hat also mit deinem Vater zu tun, ich spür’s doch; ich bin ja so gespannt drauf, ihn endlich zu sehen; am Telefon mit ihm gesprochen hab ich schon ein paar Mal; ich glaube, dass er mir gefallen wird.“

„Er wird dir gefallen. Spätestens heute abend wirst du ihn sehen.“

„Muss ich mit zur Geburtstagsfeier?“

„Unbedingt. Du kannst dir nicht vorstellen, wie Großvater sich freuen wird – und er hat dich ja ausdrücklich eingeladen.“

Sie versuchte ihren Kopf zu befreien, aber er lachte, hielt sie fest und sagte: „Lass doch, so kann man viel besser miteinander sprechen.“

„Und lügen.“

„Verschweigen“, sagte er.

„Liebst du deinen Vater?“

„Ja. Besonders seitdem ich weiß, wie jung er noch ist.“

„Du hast nicht gewusst, wie alt er ist?“

„Nein. Ich habe ihn immer für fünfzig, fünfundfünfzig gehalten – komisch, nicht wahr, ich habe mich nie für sein genaues Alter interessiert, und ich war richtig erschrocken, als ich vorgestern meine Geburtsurkunde bekam und erfuhr, dass Vater erst dreiundvierzig ist; jung, nicht wahr?“

„Ja“, sagte sie, „und du bist zweiundzwanzig.“

„Ja, und ich habe bis zu meinem zweiten Lebensjahr nicht Fähmel geheißen, sondern Schrella; merkwürdiger Name, wie?“

„Bist du deshalb böse auf ihn?“

„Ich bin nicht böse auf ihn.“

„Was hat er denn getan, dass du plötzlich die Lust am Bauen verloren hast?“

„Ich verstehe nicht, was du meinst.“

„Schön – aber warum hat er dich nie in Sankt Anton besucht?“

„Er macht sich offenbar nichts aus Baustellen, und vielleicht sind sie als Kinder zu oft in Sankt Anton gewesen, verstehst du, Sonntagspaziergänge, die man mit den Eltern gemacht hat – die wiederholt man als Erwachsener nur, wenn man unbedingt die Grundschule der Melancholie noch einmal durchmachen will.“

„Hast du denn je mit deinen Eltern Sonntagsspaziergänge gemacht?“

„Nicht viele, meistens mit meiner Mutter und den Großeltern, aber wenn mein Vater in Urlaub kam, ging er mit spazieren.“

„Nach Sankt Anton.“

„Auch dahin.“

„Nun, ich verstehe nicht, dass er dich nie besucht hat.“

„Er mag Baustellen einfach nicht; vielleicht ist er ein bisschen komisch; manchmal, wenn ich überraschend nach Hause komme, sitzt er im Wohnzimmer am Schreibtisch und kritzelt Formeln auf die Ränder fotokopierter Zeichnungen – er hat eine große Sammlung davon —, aber ich glaube, du wirst ihn mögen.“

„Du hast mir nie ein Bild von ihm gezeigt.“

„Ich habe kein neues; er hat so etwas rührend Altmodisches, in seinen Kleidern und seinem Benehmen; korrekt, liebenswürdig – viel altmodischer als Großvater!“

„Ich bin so gespannt auf ihn. Darf ich mich jetzt umdrehen?“

„Ja.“

Er ließ ihren Kopf los, versuchte zu lächeln, als sie sich plötzlich umdrehte, aber ihre runden hellgrauen Augen löschten sein gewaltsames Lächeln aus.

„Warum sagst du es mir nicht?“

„Weil ich es selber noch nicht verstehe. Sobald ich’s verstanden habe, werde ich es dir sagen; aber das kann lange dauern; fahren wir?“

„Ja“, sagte sie, „fahren wir; dein Großvater wird bald da sein; lass ihn nicht warten; wenn sie es ihm sagen, bevor er dich sieht – das wird schlimm für ihn sein, und bitte, versprich mir, dass du nicht wieder auf das schreckliche Schild zufährst und erst im letzten Augenblick stoppst.“

„Eben“, sagte er, „habe ich mir vorgestellt, dass ich durchfahre, die Baubuden wegrasiere und über die kahle Rampe hinweg wie von einer Schanze herunter ins Wasser springe mit dem Auto…“

„Du magst mich also nicht.“

„Ach, Gott“, sagte er, „es ist ja nur ein Spiel.“

Er zog Marianne hoch; sie gingen die Treppe hinunter, die ans Flussufer führte.

„Es tut mir wirklich leid“, sagte Joseph auf der Treppe, „dass Großvater es ausgerechnet heute erfahren muss, an seinem achtzigsten Geburtstag.“

„Kannst du es ihm nicht ersparen?“ – Die Tatsache nicht – aber die Mitteilung ja, wenn sie es ihm noch nicht gesagt haben.“

Er schloss das Auto auf, stieg ein, öffnete von innen die Tür für Marianne, legte den Arm um ihre Schultern, als sie neben ihm saß.

„Nun hör doch mal zu“, sagte er, „es ist ja ganz einfach; die Strecke ist genau viereinhalb Kilometer lang; dreihundert Meter brauche ich, um auf hundertzwanzig zu kommen – wieder dreihundert zum Bremsen, und das ist sehr großzügig gerechnet; es bleiben also knapp vier Kilometer, für die ich genau zwei Minuten brauche; du musst nur auf die Uhr sehen, mir sagen, wann die zwei Minuten um sind und ich anfangen muss zu bremsen; verstehst du denn nicht? Ich möchte ja nur einmal rauskriegen, was in der Karre wirklich drin steckt.“

„Es ist ein schreckliches Spiel“, sagte sie.

„Wenn ich wirklich auf hundertachtzig kommen könnte, brauchte ich nur zwanzig Sekunden – aber dann würde auch der Bremsweg länger.“

„Bitte hör auf, bitte.“

„Hast du Angst?“

„Ja.“

„Gut, dann lass ich’s. Darf ich dann wenigstens mal mit achtzig draufzufahren?“

„Meinetwegen, wenn dir soviel daran liegt.“

„Du brauchst dabei gar nicht auf die Uhr zu sehen, ich kann auf Sicht fahren und den Bremsweg nachher abfahren, verstehst du, ich möchte einfach mal wissen, ob sie uns mit den Tachometern nicht beschummeln.“

Er schaltete, fuhr langsam durch die schmalen Gassen des Ausflugsortes, schnell am Zaun des Golfplatzes vorbei und hielt an der Auffahrt zur Autobahn.

„Hör“, sagte er, „mit achtzig brauch ich genau drei Minuten, es ist wirklich ganz ungefährlich, wenn du Angst hast, steig hier aus und warte auf mich.“

„Nein, allein lass ich dich auf keinen Fall fahren.“

„Es ist ja das letzte Mal“, sagte er, „vielleicht werde ich schon morgen nicht mehr hier sein, und anderswo gibt es solche Gelegenheiten nicht.“

„Aber auf einer freien Strecke könntest du es doch viel besser ausprobieren.“

„Nein, es ist ja gerade die Notwendigkeit, vor dem Schild halten zu müssen, die mich reizt.“ Er küsste sie auf die Wange. „Weißt du, was ich tun werde?“

„Nein.“

„Ich werde vierzig fahren.“

Sie lächelte, als er losfuhr, blickte aber auf den Tachometer.

„Pass auf“, sagte er, als sie den Kilometerstein 5 passierten, „guck jetzt mal auf die Uhr und miss die Zeit ab, die wir bis zum Kilometerstein 9 brauchen; ich fahre genau vierzig.“



Weit vorne, wie Riegel vor die riesigen Tore geschoben, sah sie die Schilder, erst nur wie Hürden, sie wurden größer, wuchsen mit erdrückender Stetigkeit: was wie eine schwarze Spinne ausgesehen hatte, klärte sich zu gekreuztem Gebein, was wie ein merkwürdiger Knopf ausgesehen hatte, wurde zum Totenschädel, stieg, wie das Wort stieg, an sie heranflog, fast schon die Kühlerhaube zu berühren schien: das O von Tod wie ein offener Mund, der einen drohenden Laut zu bilden schien; die zitternde Tachometernadel zwischen 90 und 100, rollerfahrende Kinder, Männer und Frauen, deren Gesichter nichts Feierabendliches mehr hatten, flogen vorüber, mit warnend erhobenen Armen, schrillen Stimmen wirkten sie wie dunkle Todesvögel.

„Du“, sagte sie leise, „bist du überhaupt noch da?“

„Natürlich“, sagte er lächelnd, „und ich weiß genau, wo ich bin“, er blickte starr auf das O von Tod: „Reg dich nicht auf.“

Kurz vor Feierabend holte der Vorarbeiter der Abbruchfirma ihn ins Refektorium, wo ein Schuttberg in der Ecke auf ein Band geschaufelt, vom Band auf den Lastwagen transportiert wurde; Nässe, die sich im Schutt gesammelt, aus Steinresten, Mörtelresten und undefinierbarem Dreck klebrige Klumpen gebildet hatte; Nässe wurde an den Wänden, je kleiner der Schuttberg wurde, erst in dunklem, dann in hellem Ausschlag sichtbar; hinter dem Ausschlag rote, blaue und goldene Töne, Spuren von Wandmalereien, die der Vorarbeiter für kostbar hielt, eine Abendmahlsszene, vom Ausschlag überwuchert: das Gold des Kelchs, das Weiß der Hostie, Christi Gesicht, hellhäutig mit dunklem Bart, Sankt Johannes’ braunes Haar und: ‚Hier, sehen Sie doch Herr Fähmel, hier das dunkle Leder von Judas’ Geldbeutel; vorsichtig wischte der Vorarbeiter mit einem trockenen Lappen den weißen Ausschlag weg, legte ehrfürchtig das Bild frei: Brokattischtuch, zwölf Jünger; Füße wurden sichtbar, Tischtuchränder, der fliesenbelegte Boden des Abendmahlsaales; lächelnd dem Vorarbeiter die Hand auf die Schulter gelegt: ‚Gut, dass Sie mich gerufen haben; natürlich muss das Fresko erhalten bleiben; lassen Sie’s ganz freischaufeln und austrocknen, bevor etwas damit geschieht; er wollte gehen, schon stand der Tee auf dem Tisch, Brot, Butter und Heringe, Freitagabend, am Fisch erkennbar, schon war Marianne von Stehlingers Grotte aus unterwegs, ihn zum Spaziergang abzuholen; da sah er, kurz bevor er sich endgültig abwenden wollte, unten in die Ecke des Bildes geschrieben XYZX, und er hatte doch hunderte Male, wenn er ihm bei den Mathematikaufgaben half, Vaters X, sein Y, sein Z gesehen, sah es hier wieder, oberhalb des Loches, das in die Kellerdecke gesprengt war, zwischen Sankt Johannes und Sankt Peters Fuß; die Säule des Refektoriums auseinandergerissen, das tragende Gewölbe zerstört; nur der Mauerrest mit dem Abendmahlsbild; XYZX. ‚Was Besonderes los, Herr Fähmel‘, fragte der Vorarbeiter, legte ihm die Hand auf die Schulter, ‚Sie sind ja ganz blaß geworden – oder ist es nur die Liebe?‘ ‚Nur die Liebe‘, sagte er, ‚nur die Liebe, kein Grund zur Aufregung, und vielen Dank, dass Sie mich gerufen haben.‘ Ihm schmeckte der Tee nicht, nicht das Brot, die Butter und die Heringe; Freitag, am Fisch erkennbar; nicht einmal die Zigarette schmeckte ihm; er ging durch alle Gebäude und um die Abteikirche, ins Pilgerhaus, suchte überall dort, wo statisch gewichtige Punkte gewesen sein mussten, fand nur noch eins, ein einziges kleines X im Keller des Gästehauses, so unverkennbar seine Handschrift, wie sein Gesicht, sein Gang unverkennbar waren, sein Lächeln und die strenge Liebenswürdigkeit seiner Bewegungen, wenn er Wein einschenkte, Brot über den Tisch reichte; sein kleines X; Dr. Robert Fähmel: Büro für statische Berechnungen.



„Bitte, bitte“, sagte Marianne, „komm doch zu dir.“

„Ich bin bei mir“, sagte er, ließ den Gashebel los, setzte den linken Fuß auf die Kupplung, den rechten auf die Bremse, drückte; knirschend, hin und her rutschend, schob sich das Auto aufs große O von Tod zu, wirbelte Staub auf, die Bremsen schrieen, aufgeregte Spaziergänger kamen mit fuchtelnd erhobenen Armen, ein müder Nachtwächter mit dem Kaffeetopf in der Hand wurde sichtbar, zwischen Tod und gekreuztem Schultergebein.

„O Gott“, sagte Marianne, „warum musst du mich so erschrecken.“

„Verzeih“, sagte er leise, „bitte, verzeih, es ist einfach mit mir durchgegangen.“ Er wendete rasch, fuhr los, bevor die Spaziergänger sich ums Auto sammeln konnten, vier Kilometer, mit der linken Hand steuernd, die rechte um Marianne gelegt, in friedlichem Tempo am Golfplatz vorbei, wo drahtige Frauen neben drahtigen Männern dem sechzehnten, siebzehnten, achtzehnten Loch zustrebten.

„Verzeih“, sagte er, „ich tu’s wirklich nicht wieder“, schwenkte von der Autobahn ab, fuhr zwischen lieblichen Feldern, an stillen Waldrändern entlang.

XYZ, es waren dieselben Zeichen, die er auf den präzisen, doppeltpostkartengroßen Fotokopien entdeckte, mit denen sein Vater abends wie mit Spielkarten spielte; Haus für einen Verleger am Waldrand – XXX; Erweiterungsbau für die ‚Societas, die Gemeinnützigste der Gemeinnützigen‘ – YXY; Haus für einen Lehrer am Flussufer – nur Y; zwischen Sankt Johanns und Sankt Peters Fuß. Langsam fuhr er zwischen Feldern dahin, wo sich die dicken Rüben schon unter gewaltigen grünen Blättern herausdrängten; Stoppelfelder, Wiesen, hinter denen schon der Kosakenhügel sichtbar wurde.

„Warum willst du es mir nicht sagen“, fragte Marianne.

„Weil ich es selbst noch nicht verstehe, weil ich es noch gar nicht für wahr halte; vielleicht ist es nur ein absurder Traum; vielleicht kann ich’s dir später erklären, vielleicht auch nie.“

„Aber Architekt willst du nicht werden?“

„Nein“, sagte er.

„Bist du deswegen so auf das Schild zugefahren?“

„Vielleicht“, sagte er.

„Immer habe ich Menschen gehasst, die nicht wissen, was Geld ist“, sagte Marianne, „die unsinnig schnell mit Autos durch die Gegend fahren, auf Schilder zu, auf denen Tod steht; die ohne jeden Grund die Leute in Unruhe versetzen, die ihren wohlverdienten Feierabendspaziergang machen.“

„Ich hatte schon einen Grund, schnell auf das Schild zuzufahren.“

Er fuhr langsamer, hielt auf einem sandigen Weg am Rand des Kosakenhügels, parkte das Auto unter herabhängenden Kiefernzweigen.

„Was willst du hier?“ fragte sie.

„Komm“, sagte er, „wir gehen noch ein bisschen spazieren.“

„Es wird zu spät“, sagte sie, „dein Großvater wird sicher mit dem Halb-fünf-Uhr-Zug kommen; es ist schon zehn vor halb.“

Joseph stieg aus, lief ein paar Schritte den Hügel hinauf, hielt sich die Hand vor die Augen und blickte in Richtung Denklingen.

„Ja“, rief er, „ich sehe den Zug schon von Dodringen kommen, immer noch die alte Puff-Puff wie in meiner Kindheit, und immer noch um die gleiche Zeit. Komm, sie werden wohl eine Viertelstunde warten können.“

Er lief zum Auto zurück, zog Marianne vom Sitz, am Arm hinter sich her den Sandweg hinauf; sie setzten sich in eine Lichtung; Joseph deutete in die Ebene, verfolgte mit seinem Finger den Zug, der sich durch Rübenäcker, zwischen Wiesen und Stoppelfeldern hin auf Kisslingen zu bewegte.

„Du kannst dir gar nicht vorstellen“, sagte er, „wie gut ich diese Dörfer kenne; wie oft wir mit diesem Zug hinausgekommen sind; nach Mutters Tod sind wir fast immer in Stehlingen oder Görlingen gewesen, und ich bin in Kisslingen in die Schule gegangen; abends liefen wir zum Zug, mit dem Großvater aus der Stadt kam, zu dem Zug da, siehst du, jetzt fährt er gerade in Denklingen ab; merkwürdig, und ich hatte immer das Gefühl, wir wären arm; solange meine Mutter noch lebte und Großmutter bei uns war, bekamen wir weniger zu essen als die Kinder, die wir kannten, und ich durfte nie gute Kleider tragen; nur umgearbeitete Sachen – und wir mussten zusehen, wie sie das gute Zeug an fremde Leute verschenkte, Brot, Butter und Honig, aus dem Kloster und von den Gütern; wir mussten Kunsthonig essen.“

„Du hast sie nicht gehasst, deine Großmutter?“

„Nein, und ich weiß selbst nicht, warum ich sie wegen dieses Unsinns nicht hasste; vielleicht weil Großvater uns mit in sein Atelier nahm, uns heimlich gute Sachen gab; er nahm uns auch mit ins Cafe Kroner und stopfte uns voll; er sagte immer: ‚Was Mutter und Großmutter tun, ist groß, sehr groß – aber ich weiß nicht, ob ihr schon groß genug für diese Größe seid.‘“

„Hat er das wirklich gesagt?“

„Ja“, Joseph lachte, „als Mutter tot war und Großmutter weggebracht wurde, waren wir mit Großvater allein, und wir hatten genug zu essen; die letzten Kriegsjahre waren wir fast immer in Stehlingen; ich hörte, wie sie in der Nacht die Abtei sprengten, wir hockten in Stehlingen in der Küche, und die Bauern aus der Nachbarschaft fluchten auf den deutschen General, der den Sprengbefehl gegeben hatte, und sie murmelten vor sich hin: wozuwozuwozu; ein paar Tage später besuchte mein Vater mich, er kam in einem amerikanischen Auto, von einem amerikanischen Offizier begleitet, und durfte drei Stunden bei uns bleiben; er brachte uns Schokolade mit, und wir waren erschrocken vor dem klebrigen, dunkelbraunen Zeug, das wir noch nie gegessen hatten, aßen es erst, als auch Frau Kloschgrabe, die Frau des Verwalters, davon aß; Vater brachte Frau Kloschgrabe Kaffee mit, und sie sagte zu ihm: ‚Sie brauchen keine Angst zu haben, Herr Doktor, wir geben auf die Kinder acht, als ob es unsere eigenen wären‘, und sie sagte: ‚Ist es nicht eine Schande, dass sie die Abtei noch so kurz vor Schluss in die Luft gejagt haben?‘, und er sagte: ‚Ja, es ist eine Schande, aber vielleicht war es der Wille Gottes‘, und Frau Kloschgrabe sagte: ‚Es gibt auch solche, die den Willen des Teufels tun‘; Vater lachte, und auch der amerikanische Offizier lachte; Vater war lieb zu uns, und ich sah ihn zum ersten Mal weinen, als er wieder wegmusste; ich hatte nicht geglaubt, dass er weinen könnte; er war immer still gewesen und hatte keine Gefühle gezeigt; auch, wenn er aus dem Urlaub zurückfahren musste und wir ihn zum Bahnhof brachten, weinte er nie; wir weinten alle, Mutter und Großmutter, Großvater und wir, aber er nicht – da“, sagte Joseph, und zeigte auf die Rauchfahne des Zuges, „eben sind sie in Kisslingen angekommen.“

„Jetzt wird er ins Kloster hinübergehen und erfahren, was du ihm eigentlich selbst sagen müsstest.“

Ich wusch die Kreidezeichen ab zwischen Sankt Johanns und Peters Fuß und das kleine x im Keller des Gästehauses; er wird es nicht finden, nie entdecken, von mir nicht erfahren.

„Drei Tage lang“, sagte er, „verlief die Front zwischen Denklingen und der Stadt, und wir beteten abends mit Frau Kloschgrabe um Großvaters Gesundheit; dann kam er abends aus der Stadt, er war blaß und traurig, wie ich ihn noch nie gesehen hatte, er ging mit uns durch die Trümmer der Abtei, murmelte, was auch die Bauern gemurmelt, was Großmutter immer im Luftschutzkeller gemurmelt hatte: wozuwozuwozu.“

„Wie glücklich muss er da sein, dass du beim Aufbau der Abtei hilfst.“

„Ja“, sagte Joseph, „ich kann ihm dieses Glück nicht erhalten; frag nicht, warum, ich kann nicht.“

Er küsste sie, strich ihr die Haare hinters Ohr, kämmte mit gespreizten Fingern Fichtennadeln und Sandkörner heraus.

„Vater kam früh aus der Gefangenschaft und holte uns in die Stadt, obwohl Großvater protestierte und sagte, es wäre besser für uns, nicht in den Trümmern aufzuwachsen, aber Vater sagte: ‚Ich kann auf dem Land nicht leben, und ich will jetzt die Kinder bei mir haben, ich kenne sie ja kaum.‘ Wir kannten ihn auch nicht und hatten zuerst Angst vor ihm, und wir spürten, dass auch Großvater Angst vor ihm hatte. Wir wohnten damals alle in Großvaters Atelier, weil unser Haus nicht bewohnbar war, und an der Wand im Atelier hing ein riesiger Stadtplan; alles, was zerstört war, war mit dicker schwarzer Kreide gekennzeichnet, und wir hörten oft zu, wenn wir an Großvaters Zeichentisch Schularbeiten machten und Vater mit Großvater und anderen Männern vor der Karte stand. Es gab oft Streit, denn Vater sagte immer: ‚Weg damit – sprengen‘, und zeichnete ein X neben einen schwarzen Klecks, und die anderen sagten immer: ‚Um Gottes willen, das können wir doch nicht tun‘, und Vater sagte: ‚Tun Sie’s, bevor die Leute in die Stadt zurückkommen. – Jetzt ist noch alles unbewohnt und Sie brauchen keine Rücksichten zu nehmen; rasieren Sie das alles weg.‘ Und die anderen sagten: ‚Da ist doch noch der Rest eines Fenstersturzes aus dem sechzehnten Jahrhundert, und da noch der Teil einer Kapelle aus dem zwölftem; und Vater warf die schwarze Kreide hin und sagte: ‚Gut, machen Sie, was Sie wollen, aber ich sag Ihnen, Sie werden’s bereuen – machen Sie, was Sie wollen, aber dann ohne mich‘, und sie sagten: ‚Aber lieber Herr Fähmel, Sie sind unser bester Sprengspezialist, Sie können uns doch nicht im Stich lassen‘; Vater sagte: ‚Aber ich lasse Sie im Stich, wenn ich auf jeden Hühnerstall aus der Römerzeit Rücksicht nehmen muss; Mauern sind für mich Mauern, und glauben Sie mir, es gibt darunter gute und schlechte Mauern; weg mit dem Mist. Sprengen Sie und schaffen Sie Luft.‘ Großvater lachte, als sie gegangen waren, und sagte: ‚Mein Gott, du musst doch ihre Gefühle verstehen‘; und Vater lachte: ‚Ich verstehe ihre Gefühle sogar, aber ich respektiere sie nicht‘; und dann sagte er: ‚Kommt, Kinder, wir gehen Schokolade kaufen‘, und er ging mit uns auf den Schwarzmarkt, kaufte sich Zigaretten und uns Schokolade, und wir krochen mit ihm in dunkle, halb zerstörte Hauseingänge hinein, stiegen Treppen hinauf, weil er auch noch für Großvater Zigarren kaufen wollte; er kaufte immer, verkaufte aber nie; wenn wir von Stehlingen oder Görlingen Brot oder Butter bekamen, mussten wir seinen Teil mit in die Schule nehmen, und er überließ es uns, wem wir’s schenken wollten, und einmal kauften wir Butter, die wir verschenkt hatten, auf dem Schwarzmarkt zurück, es lag noch der Zettel von Frau Kloschgrabe dabei, sie hatte geschrieben: ‚Diese Woche leider nur ein Kilo.‘ Aber Vater lachte nur und sagte: ‚Na ja, die Leute brauchen ja auch Geld für Zigaretten.‘ Der Bürgermeister kam wieder, und Vater sagte zu ihm: ‚In den Trümmern des Franziskanerklosters habe ich Nageldreck aus dem vierzehnten Jahrhundert gefunden: lachen Sie nicht; nachweislich vierzehntes Jahrhundert, denn er ist mit einer Faser untermischt, mit Resten eines Wollgespinsts, das nachweislich nur im vierzehnten Jahrhundert in unserer Stadt hergestellt wurde; ein kulturgeschichtliches Rarissimum allerersten Ranges, Herr Bürgermeister‘, und der sagte: ‚Das geht denn doch zu weit, Herr Fähmel‘, und Vater sagte: ‚Ich werde noch weiter gehen, Herr Bürgermeister.‘ Ruth lachte, sie saß neben mir und krakelte ihre Rechenaufgaben ins Schulheft; sie lachte laut, und Vater kam auf sie zu, küsste sie auf die Stirn und sagte: ‚Ja, das ist auch zum Lachen, Kind‘, und ich war eifersüchtig, weil er mich noch nie auf die Stirn geküsst hatte; wir liebten ihn, Marianne, aber wir hatten immer noch ein wenig Angst vor ihm, wenn er da mit seiner schwarzen Kreide vor dem Plan stand und sagte: ‚Sprengen – weg damit.‘ Aber er war immer streng, wenn es um meine Schulaufgaben ging; er sagte immer zu mir: ‚Es gibt nur zwei Möglichkeiten: entweder nichts wissen oder alles; deine Mutter wusste nichts, ich glaube, sie hat nicht einmal alle Volksschulklassen durchgemacht, und doch hätte ich nie eine andere als sie geheiratet, entscheide dich also.‘ Wir liebten ihn, Marianne, und wenn ich mir ausrechne, dass er damals nicht sehr viel über dreißig gewesen sein kann, so kann ich’s nicht glauben, denn ich hielt ihn immer für viel älter, obwohl er gar nicht alt aussah; er war manchmal sogar lustig, was er heute gar nicht mehr ist: wenn wir morgens alle aus unseren Betten krochen, stand er schon am Fenster, rasierte sich und rief uns zu: ‚Der Krieg ist aus, Kinder‘ – obwohl der Krieg doch schon vier oder fünf Jahre aus war.“

„Wir müssen jetzt gehen“, sagte Marianne, „wir wollen sie doch nicht so lange warten lassen.“

„Lass sie ruhig warten“, sagte er. „Ich muss noch wissen, was sie mit dir alles gemacht haben, Lämmchen. Ich weiß ja kaum etwas von dir.“

„Lämmchen“, sagte sie, „wie kommst du darauf?“

„Es fiel mir gerade ein“, sagte er, „sag mir doch, was haben sie mit dir alles gemacht; ich muss immer lachen, wenn ich den Dodringer Akzent in deiner Stimme erkenne: er passt nicht zu dir, und ich weiß nur, dass du da zur Schule gegangen, aber nicht da geboren bist, und dass du Frau Kloschgrabe beim Backen, beim Kochen und beim Bügeln hilfst.“

Sie zog seinen Kopf in ihren Schoß herunter, hielt ihm die Augen zu und sagte: „Mit mir? Was sie mit mir gemacht haben, willst du es wirklich wissen? Sie haben mit Bomben auf mich geworfen und mich nicht getroffen, obwohl die Bomben so groß waren und ich so klein; die Leute im Luftschutzkeller steckten mir Leckerbissen in den Mund; und die Bomben fielen und trafen mich nicht, ich hörte nur, wie sie explodierten und die Splitter durch die Nacht rauscht en wie flatternde Vögel, und jemand sang im Luftschutzkeller Wildgänse rauschen durch die Nacht. Mein Vater war groß, sehr dunkel und schön, er trug eine braune Uniform mit viel Gold daran, eine Art Schwert am Gürtel, das silbern glänzte; er schoss sich eine Kugel in den Mund, und ich weiß nicht, ob du schon mal einen gesehen hast, der sich eine Kugel in den Mund geschossen hat? Nein, nicht wahr; dann danke Gott, dass dir der Anblick erspart geblieben ist. Er lag da auf dem Teppich, Blut floss über die türkischen Farben, übers Smyrnamuster – echt Smyrna, mein Lieber; meine Mutter aber war blond und groß und trug eine blaue Uniform, und einen hübschen schnittigen Hut trug sie, kein Schwert an der Hüfte; und ich hatte einen kleinen Bruder, er war viel kleiner als ich und blond, und der kleine Bruder hing über der Tür mit einer Hanfschlinge um den Hals, baumelte, und ich lachte, lachte noch, als meine Mutter auch mir eine Hanfschlinge um den Hals legte und vor sich hinmurmelte: Er hat es befohlen, aber da kam ein Mann herein, ohne Uniform, ohne Goldborte und ohne Schwert, er hatte nur eine Pistole in der Hand, die richtete er auf meine Mutter, riss mich aus ihrer Hand, und ich weinte, weil ich doch die Hanfschlinge schon um den Hals hatte und das Spiel spielen wollte, das mein kleiner Bruder da oben spielen durfte, das Spiel: Er hat es befohlen, doch der Mann hielt mir den Mund zu, trug mich die Treppe hinunter, nahm mir die Schlinge vom Hals, hob mich auf einen Lastwagen… “

Joseph versuchte, ihre Hände von seinen Augen zu nehmen, aber sie hielt sie fest und fragte: „Willst du nicht weiterhören?“

„Ja“, sagte er.

„Dann musst du dir die Augen zuhalten lassen, und eine Zigarette kannst du mir geben.“

„Hier im Wald?“

„Ja, hier im Wald.“

„Nimm sie aus meiner Hemdtasche.“

Er spürte, wie sie seine Hemdtasche aufknöpfte, Zigaretten und Streichhölzer herausnahm, während sie mit der rechten Hand seine Augen fest zuhielt.

„Ich steck dir auch eine an“, sagte sie, „hier im Wald.

„Ich war um diese Zeit genau fünf Jahre alt und so süß, dass sie mich sogar auf dem Lastwagen verwöhnten, sie steckten mir Leckerbissen in den Mund, wuschen mich mit Seife, wenn der Wagen hielt; und man schoss mit Kanonen auf uns und mit Maschinengewehren und traf uns nicht; wir fuhren lange, ich weiß nicht genau, wie lange, doch sicher zwei Wochen, und wenn wir hielten, nahm der Mann, der das Spiel Er hat es befohlen verhindert hatte, mich zu sich, hüllte mich in eine Decke, legte mich neben sich, ins Heu, ins Stroh, und manchmal ins Bett und sagte: ‚Sag mal Vater zu mir‘, ich konnte nicht Vater sagen, hatte zu dem Mann in der schönen Uniform immer nur Pappi gesagt, aber ich lernte es sagen: ‚Vater‘, ich sagte es dreizehn Jahre lang zu dem Mann, der das Spiel verhindert hatte; ich bekam ein Bett, eine Decke und eine Mutter, die war streng und liebte mich, und ich wohnte neun Jahre lang in einem sauberen Haus; als ich in die Schule kam, da sagte der Pfarrer: ‚Sieh mal einer an, was wir da haben, da haben wir ja ein ganz unverfälschtes, waschechtes Heidenkindchen‘, und die anderen Kinder, die alle keine Heidenkinder waren, lachten, und der Pfarrer sagte: ‚Da wollen wir aber aus unserem Heidenkind mal rasch ein Christenkindchen machen, aus unserem braven Lämmchen‘; und sie machten aus mir ein Christenkindchen. Und das Lämmchen war brav und glücklich, spielte Ringelreihen und Hüpfen, dann spielte es Völkerball und Seilchenspringen und liebte seine Eltern sehr; und es kam der Tag, da wurden in der Schule ein paar Tränen geweint, ein paar Reden gehalten, wurde ein paarmal was von Lebensabschnitt gesagt, und Lämmchen kam in die Lehre zu einer Schneiderin, es lernte Nadel und Faden gut gebrauchen, lernte bei seiner Mutter putzen und backen und kochen, und alle Leute im Dorf sagten: ‚Die wird noch einmal einen Prinzen heiraten, unter einem Prinzen tut die’s nicht‘ – aber es kam eines Tages ein sehr großes, sehr schwarzes Auto ins Dorf gefahren, und ein bärtiger Mann, der das Auto steuerte, hielt auf dem Dorfplatz und fragte aus dem Auto heraus die Leute: ‚Bitte, können Sie mir sagen, wo hier die Schmitzens wohnen?‘, und die Leute sagten: ‚Schmitzens gibt es hier eine ganze Menge, welche meinen Sie‘, und der Mann sagte: ‚Die das angenommene Kind haben‘, und die Leute sagten: ‚Ja, die, das sind die Eduard Schmitzens, die wohnen da hinten, sehen Sie da, gleich hinter der Schmiede, das Haus mit dem Buchsbaum davor.‘ Und der Mann sagte: ‚Danke‘, das Auto fuhr weiter, aber alle Leute folgten ihm, denn es war vom Dorfplatz bis zu den Eduard Schmitzens höchstens fünfzig Schritte zu laufen; ich saß in der Küche und putzte Salat, das tat ich so gern: die Blätter aufschneiden, das schlechte weg und das gute ins Sieb werfen, wo es so grün und sauber lag, und meine Mutter sagte gerade zu mir: ‚Du musst darüber nicht traurig sein, Marianne, da können die Jungens nichts dafür; wenn sie dreizehn, vierzehn werden – bei manchen fängt’s schon mit zwölf an – , da machen sie solche Sachen; es ist die Natur, und es ist nicht leicht, mit der Natur fertig zu werden‘; und ich sagte: ‚Darüber bin ich gar nicht traurig.‘ ‚Worüber denn?‘ fragte meine Mutter. Ich sagte: ‚Ich denke an meinen Bruder, wie er so da hing, und ich habe gelacht und gar nicht gewusst, wie schrecklich es war – und er war doch nicht getauft.‘ Und bevor meine Mutter mir etwas antworten konnte, ging die Tür auf – und wir hatten kein Klopfen gehört – , und ich erkannte sie sofort: Immer noch war sie blond und groß und trug einen schnittigen Hut, nur die blaue Uniform trug sie nicht mehr; sie kam sofort auf mich zu, breitete ihre Arme aus und sagte: ‚Du musst meine Marianne sein – spricht die Stimme des Blutes nicht zu dir?‘ Ich hielt das Messer einen Augenblick still, schnitt dann das nächste Salatblatt sauber und sagte: ‚Nein, die Stimme des Blutes spricht nicht zu mir.‘ ‚Ich bin deine Mutter‘, sagte sie. ‚Nein‘, sagte ich, ‚die da ist meine Mutter. Ich heiße Marianne Schmitz‘, und ich schwieg einen Augenblick und sagte: ‚Er hat es befohlen – und Sie haben mir die Schlinge um den Hals gelegt, gnädige Frau.‘ Das hatte ich bei der Schneiderin gelernt, dass man zu solchen Frauen ‚gnädige Frau‘ sagen muss.

Sie schrie und weinte, und sie versuchte mich zu umarmen, aber ich hielt das Messer, mit der Spitze nach vorne, vor meine Brust; sie sprach von Schulen und von Studieren, schrie und weinte, aber ich lief zum Hintereingang hinaus, in den Garten übers Feld zum Pfarrer und erzählte ihm alles. Er sagte: ‚Sie ist deine Mutter, Naturrecht ist Naturrecht, und bis du großjährig wirst, hat sie ein Recht auf dich; das ist eine schlimme Sache.‘ Und ich sagte: ‚Hat sie nicht dieses Recht verwirkt, als sie das Spiel spielte: Er hat es befohlen?‘ und er sagte: ‚Du bist aber ein schlaues Ding; merk dir das Argument gut.‘ Ich merkte es mir und brachte es immer wieder vor, wenn sie von der Stimme des Blutes sprachen, und ich sagte immer: ‚Ich höre die Stimme des Blutes nicht, ich höre sie einfach nicht.‘ Sie sagten: ‚Das gibt es doch gar nicht, ein solcher Zynismus ist wider die Natur‘; ‚Ja‘, sagte ich: ‚Er hat es befohlen – das war wider die Natur.‘ Sie sagten: ‚Aber das ist doch mehr als zehn Jahre her, und sie bereut es‘; und ich sagte: ‚Es gibt Dinge, die man nicht bereuen kann.‘ ‚Willst du‘, fragte sie mich, ‚härter sein als Gott in seinem Gericht?‘ ‚Nein‘, sagte ich, ‚ich bin nicht Gott, also kann ich nicht so milde sein wie er.‘ Ich blieb bei meinen Eltern. Aber eins konnte ich nicht verhindern: ich hieß nicht mehr Marianne Schmitz, sondern Marianne Droste, und ich kam mir vor wie jemand, dem sie was wegoperiert haben. – „Immer noch“, sagte sie leise, „denke ich an meinen kleinen Bruder, der das Spiel Er hat es befohlen hat spielen müssen – und glaubst du immer noch, dass es etwas Schlimmeres gibt, schlimm genug, dass du es mir nicht erzählen kannst?“

„Nein, nein“, sagte er, „Marianne Schmitz, ich will’s dir erzählen.“

Sie nahm die Hand von seinen Augen, er richtete sich auf, blickte sie an; sie versuchte nicht zu lächeln.

„So etwas Schlimmes kann dein Vater gar nicht getan haben“, sagte sie.

„Nein“, sagte er, „so schlimm war es nicht, aber schlimm genug.“

„Komm“, sagte sie, „erzähl’s mir im Auto, es ist bald fünf, und sie werden schon warten; wenn ich einen Großvater hätte, ich würde ihn nicht warten lassen, und wenn ich einen hätte wie du, ich würde alles für ihn tun.“

„Und für meinen Vater?“ fragte er.

„Ich kenne ihn noch nicht“, sagte sie, „komm. Und drück dich nicht, sag’s ihm, sobald du Gelegenheit dazu hast. Komm.“

Sie zog ihn hoch, und er legte den Arm um ihre Schulter, als sie zum Auto zurückgingen.

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