Als sie an den Schalter traten, nahm Nettlinger die Zigarre aus dem Mund und nickte Schrella ermunternd zu; der Schalter wurde von innen hochgeschoben, ein Aufseher mit einer Liste beugte sich vor und fragte: „Sind Sie der Häftling Schrella?“
„Ja“, sagte Schrella.
Der Aufseher rief die Gegenstände, so wie er sie aus einem Karton nahm, auf, legte sie auf die Theke.
„Eine Taschenuhr, Nickel, ohne Kette.“
„Eine Geldbörse, schwarzes Leder, mit Inhalt: fünf englische Schillinge, dreißig belgische Franken, zehn deutsche Mark und achtzig Pfennig.“
„Eine Krawatte, Farbe grün.“
„Ein Kugelschreiber, ohne Marke, Farbe: grau.“
„Zwei Taschentücher, weiß.“
„Ein Mantel, Trenchcoat.“
„Ein Hut, Farbe: schwarz.“
„Ein Rasierapparat, Marke: Gilette.“
„Sechs Zigaretten, Marke: Belga.“
„Hemd, Unterwäsche, Seife und Zahnbürste hatten Sie behalten, nicht wahr? Bitte unterschreiben Sie hier und bestätigen mit Ihrer Unterschrift, dass nichts von Ihrem Privateigentum fehlt.“
Schrella zog seinen Mantel an, steckte seine Habseligkeiten in die Tasche, unterschrieb die Liste: 6. September 1958, 15.3o Uhr.
„Gut“, sagte der Aufseher und zog den Schalter herunter. Nettlinger steckte die Zigarre wieder in den Mund, berührte Schrellas Schulter: „Komm“, sagte er, „hier geht’s raus, oder möchtest du wieder ins Kittchen rein? Vielleicht bindest du die Krawatte besser schon um.“
Schrella steckte sich eine Zigarette in den Mund, rückte seine Brille zurecht, klappte den Hemdkragen hoch und legte die Krawatte ein; er erschrak, als Nettlinger ihm plötzlich das Feuerzeug vor die Nase hielt.
„Ja“, sagte Nettlinger, „das ist bei allen Häftlingen gleich, ob hohe oder niedrige, ob schuldige oder unschuldige, arme oder reiche, politische oder kriminelle; zuerst die Zigarette.“
Schrella zog den Zigarettenhauch tief ein, blickte über die Brillengläser hinweg Nettlinger an, während er seine Krawatte band, den Hemdkragen wieder herunterklappte.
„Du hast Erfahrung in solchen Dingen, wie?“
„Du nicht?“ fragte Nettlinger. „Komm, den Abschied vom Direktor kann ich dir leider nicht ersparen.“
Schrella setzte seinen Hut auf, nahm die Zigarette aus dem Mund und folgte Nettlinger, der ihm die Tür zum Hof aufhielt; der Direktor stand vor der Menschenschlange am Schalter, wo die Erlaubnisscheine für den Sonntagsbesuch ausgegeben wurden; der Direktor war groß, nicht zu elegant, aber solide gekleidet, seine Arm- und Beinbewegungen wirkten betont zivil, als er auf Nettlinger und Schrella zukam.
„Ich hoffe“, sagte er zu Nettlinger, „es ist alles zu deiner Zufriedenheit abgelaufen, schnell und korrekt.“
„Danke“, sagte Nettlinger, „es ging wirklich rasch.“
„Schön“, sagte der Direktor, wandte sich Schrella zu: „Sie werden mir verzeihen, wenn ich Ihnen zum Abschied einige Worte sage, obwohl Sie nur einen einzigen Tag zu meinen“ – er lachte – „Schützlingen gehörten, und obwohl Sie irrtümlich anstatt in die Untersuchungs- in die Strafabteilung geraten sind. Sehen Sie“, sagte er und deutete auf das innere Gefängnistor, „jenseits dieses Tores erwartet Sie ein zweites Tor, und jenseits dieses zweiten Tores erwartet Sie etwas Großartiges, das unser aller höchstes Gut ist: die Freiheit. Mag der Verdacht, der auf Ihnen ruhte, berechtigt oder unberechtigt gewesen sein, Sie haben“ – er lachte wieder – „in meinen gastlichen Mauern das Gegenteil von Freiheit kennen gelernt. Nutzen Sie Ihre Freiheit. Wir sind zwar alle nur Gefangene, Gefangene unseres Leibes, bis zu dem Tage, da unsere Seele frei wird und sich zu ihrem Schöpfer erhebt, aber die Gefangenschaft innerhalb meiner gastlichen Mauern ist nicht nur eine symbolische. Ich entlasse Sie zur Freiheit, Herr Schrella…“
Schrella streckte verlegen seine Hand hin, zog sie aber rasch zurück, da er am Gesicht des Direktors bemerkte, dass ein Händedruck hier offenbar nicht zu den Formalitäten gehörte; Schrella schwieg verlegen, nahm seine Zigarette aus der rechten in die linke Hand und blinzelte Nettlinger an.
Die Mauern dieses Hofes, den Himmel darüber, hatten Ferdis Augen als letztes von dieser Erde gesehen, vielleicht war die Stimme des Direktors die letzte menschliche Stimme gewesen, die er hörte, auf diesem Hof, der eng genug war, um von Nettlingers Zigarrenaroma ganz erfüllt zu sein; die schnuppernde Nase des Direktors sagte: Mein Gott, von Zigarren hast du immer was verstanden, das muss man dir lassen.
Nettlinger nahm die Zigarre nicht aus dem Mund. „Du hättest dir die Abschiedsrede sparen können. Also Dank und auf Wiedersehen.“
Er fasste Schrella bei den Schultern, schob ihn auf das innere Tor zu, das sich vor ihnen öffnete; langsam schob Nettlinger Schrella auf das äußere Tor zu; Schrella blieb stehen, gab dem Beamten seine Papiere; der verglich sie genau, nickte und öffnete das Tor.
„Da ist sie also“, sagte Nettlinger lachend, „die Freiheit. Drüben steht mein Auto, sag mir nur, wohin ich dich bringen soll.“
Schrella überquerte an Nettlingers Seite die Straße, zögerte, als ihm der Chauffeur die Autotür aufhielt.
„Los“, sagte Nettlinger, „steig doch ein.“ – Schrella nahm den Hut ab, stieg ins Auto, setzte sich, lehnte sich zurück und blickte Nettlinger an, der nach ihm einstieg und in seine Nähe rückte.
„Wohin möchtest du gebracht werden?“
„Zum Bahnhof“, sagte Schrella.
„Hast du Gepäck dort?“
„Nein.“
„Willst du diese gastliche Stadt etwa schon wieder verlassen?“ fragte Nettlinger. Er beugte sich vor, rief dem Chauffeur zu: „Zum Hauptbahnhof.“
„Nein“, sagte Schrella, „ich will diese gastliche Stadt noch nicht verlassen. Du hast Robert nicht erreicht?“
„Nein“, sagte Nettlinger, „der macht sich rar. Den ganzen Tag hab ich versucht, ihn zu erreichen, er hat sich aber gedrückt, und als ich ihn im Hotel Prinz Heinrich fast erwischt hatte, ist er durch einen Nebenausgang verschwunden; ich habe seinetwegen höchst peinliche Dinge erleben müssen.“
„Du hast ihn auch vorher nie getroffen?“
„Nein“, sagte Nettlinger, „nicht ein einziges Mal; er lebt ganz zurückgezogen.“
Das Auto hielt vor einer Verkehrsampel. Schrella nahm seine Brille ab, wischte sie mit seinem Taschentuch und neigte sich nahe ans Fenster.
„Es muss dir doch merkwürdig vorkommen“, sagte Nettlinger, „nach so langer Zeit und unter solchen Umständen wieder in Deutschland zu sein; du wirst es nicht wiedererkennen.“
„Ich erkenne es sogar wieder“, sagte Schrella, „ungefähr, wie man eine Frau wiedererkennt, die man als Mädchen geliebt hat und zwanzig Jahre später wiedersieht; nun, sie ist ein bisschen fett geworden; talgige Drüsen; offenbar hat sie einen nicht nur reichen, sondern auch fleißigen Mann geheiratet; Villa am Stadtrand, Auto, Ringe an den Fingern, die frühere Liebe wird unter solchen Umständen unvermeidlicherweise zu Ironie.“
„Natürlich sind solche Bilder ziemlich schief“, sagte Nettlinger.
„Es sind Bilder“, sagte Schrella, „und wenn du dreitausend davon hättest, sähst du vielleicht ein Zipfelchen von der Wahrheit.“
„Es scheint mir auch zweifelhaft, ob deine Optik die richtige ist: vierundzwanzig Stunden erst im Lande, davon dreiundzwanzig im Gefängnis.“
„Du glaubst gar nicht, wieviel man im Gefängnis über ein Land erfahren kann; das häufigste Delikt in euren Gefängnissen ist Betrug; Selbstbetrug wird ja leider nicht als kriminell geahndet; vielleicht weißt du noch nicht, dass ich von den letzten zweiundzwanzig Jahren vier im Gefängnis verbracht habe?“
Das Auto fuhr langsam in einer langen Schlange los, die sich hinter der Ampel gebildet hatte.
„Nein“, sagte Nettlinger, „das wusste ich nicht. In Holland?“
„Ja“, sagte Schrella, „und in England.“
„Für welches Vergehen?“
„Affekthandlungen aus Liebeskummer, aber keineswegs aus Idealismus, sondern weil ich etwas Wirkliches bekämpfte.“
„Darf man Genaueres wissen?“ fragte Nettlinger.
„Nein“, sagte Schrella, „du würdest es nicht verstehen und es wie ein Kompliment annehmen. Ich bedrohte einen holländischen Politiker, weil er gesagt hatte, man müsste alle Deutschen umbringen, einen sehr beliebten Politiker; dann ließen die Deutschen mich frei, als sie Holland besetzten, und glaubten, ich sei eine Art Märtyrer für Deutschland, fanden aber dann meinen Namen auf der Fahndungsliste, und ich floh vor ihrer Liebe nach England; dort bedrohte ich einen englischen Politiker, weil er sagte, man müsste alle Deutschen umbringen, nur ihre Kunstwerke retten, einen sehr beliebten Politiker; aber sie amnestierten mich bald, weil sie glaubten, meine Gefühle respektieren zu müssen, Gefühle, die ich gar nicht gehabt hatte, als ich den Politiker bedrohte – so wird man aus Missverständnis eingesperrt und aus Missverständnis freigelassen.“
Nettlinger lachte: „Wenn du schon Bilder sammelst, darf ich deiner Sammlung eins hinzufügen. Wie ist es mit dem: rücksichtsloser politischer Hass zwischen Schulkameraden; Verfolgung, Verhör, Flucht, Hass bis aufs Blut – aber zweiundzwanzig Jahre später ist es ausgerechnet der Verfolger, der Schreckliche, der den heimkehrenden Flüchtling aus dem Gefängnis befreit? Ist das nicht auch ein Bild, würdig in deine Sammlung aufgenommen zu werden?“
„Es ist kein Bild“, sagte Schrella, „sondern eine Geschichte, die den Nachteil hat, auch noch wahr zu sein – aber wenn ich die Geschichte ins Bildhaft – Abstrakte übersetze und dir dann interpretiere, wird wenig Schmeichelhaftes für dich herauskommen.“
„Es ist gewiss merkwürdig“, sagte Nettlinger leise, und nahm seine Zigarre aus dem Mund, „wenn ich hier um Verständnis bitte, aber glaube mir: als ich deinen Namen auf der Fahndungsliste las und die Meldung kontrollierte und erfuhr, dass sie dich wirklich an der Grenze verhaftet hatten, habe ich nicht einen Augenblick gezögert, alles für deine Freilassung in die Wege zu leiten.“
„Es würde mir leid tun“, sagte Schrella, „wenn du glaubtest, dass ich die Echtheit deiner Motive und Gefühle bezweifle. Nicht einmal deine Reue ziehe ich in Zweifel, aber Bilder – und du hast mich gebeten, die Geschichte als Bild in meine Sammlung aufzunehmen —, Bilder bedeuten eine Abstraktion, und das ist die Rolle, die du damals gespielt hast und heute spielst; die Rollen sind – verzeih – die gleichen, denn damals bedeutete mich unschädlich zu machen, mich einzusperren, heute bedeutet mich unschädlich zu machen, mich freizulassen; ich fürchte, dass Robert, der viel abstrakter denkt als ich, aus diesem Grund keinen Wert darauf legt, dich zu treffen. Ich hoffe, du verstehst mich – auch damals habe ich an der Echtheit deiner persönlichen Motive und Gefühle nie gezweifelt; du kannst mich nicht verstehen, versuche es gar nicht, denn du hast die Rollen nicht bewusst gespielt – sonst wärst du ein Zyniker oder ein Verbrecher – beides bist du nicht.“
„Ich weiß jetzt wirklich nicht, ob du mir Komplimente machst oder das Gegenteil.“
„Von beidem etwas“, sagte Schrella lachend.
„Vielleicht weißt du nicht, was ich für deine Schwester getan habe.“
„Hast du Edith geschützt?“
„Ja. Wakiera wollte sie verhaften lassen; immer wieder setzte er sie auf die Liste, und ich habe ihren Namen immer wieder gestrichen.“
„Eure Wohltaten“, sagte Schrella leise, „sind fast schrecklicher als eure Missetaten.“
„Und ihr seid unbarmherziger als Gott, der die bereuten Sünden verzeiht.“
„Wir sind nicht Gott und können uns seine Allwissenheit so wenig anmaßen wie seine Barmherzigkeit.“
Nettlinger lehnte sich kopfschüttelnd zurück; Schrella nahm eine Zigarette aus der Tasche, steckte sie in den Mund und erschrak wieder, als Nettlingers Feuerzeug so plötzlich vor seiner Nase klickte und die hellblaue, saubere Flamme ihm fast die Wimpern versengte. ‚Und deine Höflichkeit‘, dachte er, ‚ist schlimmer als deine Unhöflichkeit je war. Deine Beflissenheit ist die gleiche geblieben, es ist die, mit der du mir den Schlagball ins Gesicht geworfen hast und mit der du mir jetzt auf eine lästige Weise Feuer für meine Zigarette gibst.‘
„Wann wird Robert erreichbar sein?“ fragte er.
„Wahrscheinlich erst am Montag, ich konnte nicht rauskriegen, wohin er übers Wochenende gefahren ist; auch sein Vater, seine Tochter, alle sind weg; vielleicht kannst du’s heute abend in seiner Wohnung versuchen, oder morgen früh um halb zehn im Hotel Prinz Heinrich; dort spielt er zwischen halb zehn und elf immer Billard. Sie sind im Gefängnis hoffentlich nicht grob zu dir gewesen?“
„Nein“, sagte Schrella, „korrekt.“
„Sag mir, wenn du Geld brauchst. Mit dem, was du hast, wirst du nicht weit kommen.“
„Ich denke, bis Montag wird es reichen; ab Montag werde ich Geld haben.“
Zum Bahnhof hin wurde die Autoschlange länger und breiter. Schrella versuchte, das Fenster zu öffnen, kam aber nicht mit den Handgriffen zurecht, und Nettlinger beugte sich über ihn, drehte das Fenster herunter.
„Ich fürchte“, sagte er, „die Luft, die da hereinkommt, ist nicht besser als die, die wir drinhaben.“
„Danke“, sagte Schrella; er sah Nettlinger an, nahm seine Zigarette von der linken in die rechte, von der rechten in die linke Hand. „Hör mal“, sagte er, „der Ball, den Robert damals schlug, ist er eigentlich je gefunden worden – du erinnerst dich?“
„Ja“, sagte Nettlinger, „natürlich erinnere ich mich gut, weil später soviel darüber geredet wurde; sie haben den Ball nie gefunden; sie suchten an diesem Abend bis spät in die Nacht, sogar am nächsten Tag, obwohl es ein Sonntag war; es ließ ihnen keine Ruhe; jemand behauptete später, es sei nur ein Trick von Robert gewesen, er habe den Ball gar nicht geschlagen, sondern nur das Geräusch des Schlagens nachgeahmt und den Ball dann verschwinden lassen.“
„Aber sie haben doch alle den Ball gesehen, oder nicht – wie er flog?“
„Natürlich, niemand hat dieses Gerücht geglaubt; andere sagten, er sei in den Brauereihof gefallen, auf einen Bierwagen, der dort wartete, vielleicht erinnerst du dich, dass kurz darauf ein Wagen ausfuhr.“
„Es war vorher, lange bevor Robert schlug“, sagte Schrella.
„Ich glaube, du irrst“, sagte Nettlinger.
„Nein, nein“, sagte Schrella, „ich stand dort und wartete und beobachtete alles genau; der Wagen fuhr aus, bevor Robert schlug.“
„Na, gut“, sagte Nettlinger – ; „jedenfalls wurde der Ball nie gefunden. Wir sind am Bahnhof – willst du dir wirklich nicht helfen lassen?“
„Nein, danke, ich brauche nichts.“
„Darf ich dich wenigstens zum Essen einladen?“
„Gut“, sagte Schrella, „gehen wir essen.“
Der Chauffeur hielt die Tür auf, Schrella stieg als erster aus, wartete mit den Händen in der Tasche auf Nettlinger, der seine Aktentasche vom Sitz nahm, seinen Mantel zuknöpfte und zum Chauffeur sagte: „Bitte, holen Sie mich gegen halb sechs am Hotel Prinz Heinrich ab.“ Der Chauffeur legte die Hand an die Mütze, stieg ein und setzte sich ans Steuer.
Schrellas Brille, die abfallenden Schultern, der merkwürdig lächelnde Mund, das blonde Haar, ungelichtet, nur mit einem leichten silbernen Schimmer, immer noch nach hinten gekämmt; die Bewegung, mit der er sich den Schweiß abwischte, dann das Taschentuch wieder in die Tasche steckte: Schrella schien unverändert, kaum um ein paar Jahre gealtert.
„Warum bist du zurückgekommen?“ fragte Nettlinger leise.
Schrella blickte ihn an, blinzelnd, wie er es immer getan hatte, mit den Zähnen an der Unterlippe nagend; in der rechten Hand die Zigarette, in der linken den Hut; er blickte Nettlinger lange an und wartete, wartete immer noch vergebens auf das, wonach er sich seit mehr als zwanzig Jahren sehnte: Hass; nach dem handgreiflichen, den er sich immer gewünscht hatte; jemand ins Gesicht schlagen oder in den Hintern treten, dabei rufen: ‚Du Schwein, du elendes Schwein!‘ Er hatte immer die Menschen beneidet, die zu solch einfachen Gefühlen fähig waren, aber er konnte in dieses runde, verlegen lächelnde Gesicht nicht hineinschlagen und nicht in diesen Hintern treten; auf der Schultreppe das Bein gestellt, so dass er hinstürzte, sich ihm die Bügel der Brille ins Ohrläppchen bohrten; auf dem Heimweg überfallen, in Hauseingänge geschleppt und verprügelt; mit der Stacheldrahtpeitsche geschlagen, Robert und ihn; verhört; schuld an Ferdis Tod – und Edith geschont, Robert freigelassen.
Er blickte von Nettlinger weg auf den Bahnhofsvorplatz, wo es von Menschen wimmelte; Sonne, Wochenende, wartende Taxis und Eisverkäufer, Hotelboys in violetten Uniformen schleppten Koffer hinter Gästen her; die graue hoheitsvolle Fassade von Sankt Severin, Hotel Prinz Heinrich, Cafe Kroner; er erschrak, als Nettlinger plötzlich davonlief, sich in die Menschenmenge stürzte, mit den Armen fuchtelnd, rufend: „Hallo, Fräulein Ruth…“, dann kam er zurück, schüttelte den Kopf.
„Hast du das Mädchen gesehen?“ fragte er, „die mit der grünen Mütze und dem rosaroten Pullover; sie ist auffallend hübsch – es war Roberts Tochter. Ich habe sie nicht mehr erwischt; sie hätte uns sagen können, wo wir ihn finden. Schade – hast du sie gesehen?“
„Nein“, sagte Schrella leise, „Ediths Tochter.“
„Natürlich“, sagte Nettlinger, „deine Nichte. Verflucht – nun, gehen wir essen.“
Er ging über den Bahnhofsvorplatz, überquerte die Straße; Schrella folgte ihm zum Hotel Prinz Heinrich; ein Boy in violetter Uniform hielt die Tür auf, die hinter ihnen in die Filzfugen zurückpendelte.
„Fensterplatz?“ fragte Jochen. „Aber gern. Nicht zuviel Sonne? Also Ostseite. Hugo, du sorgst mir dafür, dass die Herren einen Fensterplatz an der Ostseite bekommen. Keine Ursache.“ – Trinkgelder werden hier gern angenommen. Eine Mark ist eine ehrliche runde Münze, und Trinkgeld ist die Seele des Berufs, und ich habe doch gesiegt, mein Bester, du hast ihn nicht zu Gesicht bekommen. Wie bitte, ob Herr Dr. Fähmel auch sonntags hier Billard spielt? Schrella? Um Gottes willen! Da brauch ich nicht mal auf die rote Karte zu sehen. „Mein Gott, Sie werden einem alten Mann zu dieser stillen Stunde hier wohl eine außerdienstliche Bemerkung verzeihen, Herr Schrella! Ich habe ja Ihren Vater gut gekannt, gut; der hat doch ein Jahr bei uns gearbeitet – damals in dem Jahr, als das Deutsche Turn- und Sportfest war; Sie erinnern sich sogar daran? Natürlich, Sie müssen damals schon so an die zehn, elf gewesen sein; hier, meine Hand, ich würde mich freuen, wenn Sie sie drückten; mein Gott, Sie werden mir hier ein paar Gefühle verzeihen, die sozusagen nicht zu meinem Dienst gehören; ich bin alt genug, mir das leisten zu können; Ihr Vater war ein ernster Mann, und würdig! Mein Gott, der ließ sich keine Frechheiten gefallen und war zu denen, die nicht frech waren, wie ein Lamm; ich habe oft an Ihren Vater gedacht – verzeihen Sie mir, wenn ich da an alte Wunden rühre; um Gottes willen – ich hab ja ganz vergessen, mein Gott; ein Glück, dass diese Schweine nichts mehr zu sagen haben; aber Vorsicht, Herr Schrella, Vorsicht; manchmal mein ich: die haben doch gesiegt. Vorsicht. Trauen Sie dem Frieden nicht – und verzeihen Sie einem alten Mann ein paar außerdienstliche Gefühle und Bemerkungen. Hugo, den allerbesten Platz an der Ostseite für die Herren, den allerbesten. Nein, Herr Schrella, sonntags kommt Herr Dr. Fähmel nicht zum Billardspiel, nein, sonntags nicht; der wird sich freuen, Sie sind doch Jugendfreunde und Gesinnungsgenossen gewesen, nicht wahr? Glauben Sie nicht, dass alle Menschen vergesslich sind. Sollte er aus irgendeinem Grund hier auftauchen, so würde ich Ihnen Nachricht geben, falls Sie mir Ihre Adresse hinterlassen; ich schicke Ihnen einen Boten, ein Telegramm, ich rufe an, wenn Sie wollen. Für unsere Kunden tun wir doch alles.“
Hugo verzog keine Miene; Erkennen wird nur auf Wunsch der Gäste vollzogen; im Billardsaal gebrüllt? Diskretion; Stacheldrahtpeitsche? Nein; unangebrachte Vertraulichkeiten und Kombinationen müssen vermieden werden; Diskretion ist das Banner des Berufs. Die Karte? Hier bitte, die Herren. Ist der Platz den Herren genehm? Ostseite, Fensterplatz, nicht zuviel Sonne? Blick auf das Ostchor von Sankt Severin: frühromanisch, elftes oder zwölftes Jahrhundert; Erbauer: der heilige Herzog Heinrich, der Wilde. Jawohl, mein Herr, den ganzen Tag über warme Küche; alle Speisen, die Sie auf der Karte finden, von zwölf bis vierundzwanzig Uhr servierbar. Das beste Menü? Sie haben ein „Wiedersehensfest“ zu feiern; leicht vertrauliches Lächeln, wie es bei einer solch vertraulichen Mitteilung angebracht ist; nur nicht denken; Schrella, Nettlinger, Fähmel; keine Kombinationen; Narben auf dem Rücken? Ja, der Ober wird gleich kommen und Ihre Bestellung entgegennehmen.
„Trinkst du auch einen Martini?“ fragte Nettlinger.
„Ja, bitte“, sagte Schrella. Er gab dem Jungen seinen Mantel, seinen Hut, fuhr sich durchs Haar und setzte sich; im Saal saßen nur wenige Gäste, in der Ecke hinten, murmelten leise miteinander; sanftes Lachen wurde von mildem Gläserklirren untermalt; Sekt.
Schrella nahm den Martini vom Tablett, das der Kellner ihm hinhielt, wartete, bis auch Nettlinger seinen genommen hatte, hob das Glas, nickte Nettlinger zu und trank; Nettlinger schien auf eine unangemessene Weise gealtert; Schrella hatte den strahlenden blonden Jungen in Erinnerung, dessen brutaler Mund immer einen gutmütigen Zug behalten hatte; der mit Leichtigkeit einssiebenundsechzig hoch gesprungen, die hundert Meter in 11,5 gelaufen war; Sieger, brutal, gutmütig, aber offenbar, dachte Schrella, sind sie nicht einmal ihrer Siege froh geworden; schlechte Erziehung, schlechte Ernährung und keinen Stil; frisst wahrscheinlich zuviel; schon halb kahl, schon Alterssentimentalität im feuchten Auge. Nettlinger beugte sich mit fachmännisch verzogenem Mund über die Speisekarte, seine weiße Manschette rutschte hoch, eine goldene Armbanduhr wurde sichtbar, der Trauring am Ringfinger; mein Gott, dachte Schrella, selbst wenn er das alles nicht getan hätte, würde Robert wohl keine Lust haben, mit ihm Bier zu trinken oder seine Kinder zu familienverbindendem Badmintonspiel in Nettlingers Vorstadtvilla zu führen.
„Darf ich dir etwas vorschlagen?“ fragte Nettlinger.
„Bitte“, sagte Schrella, „schlag mir was vor.“
„Also hier“, sagte Nettlinger, „da gäbe es als Vorspeise einen ausgezeichneten Räucherlachs, dann Hühnchen mit Pommes frites und Salat, und ich würde meinen, dass wir uns nachher erst entschließen, welchen Nachtisch wir nehmen; weißt du, für mich ergibt sich der Appetit auf den Nachtisch erst während des Essens, ich vertraue da meinem Instinkt – ob ich nachher Käse, Kuchen, Eis oder ein Omelette nehmen werde; nur über eins bin ich mir vorher schon sicher; über den Kaffee.“ Nettlingers Stimme klang, als hätte er an einem Kursus ‚Wie werde ich Feinschmecker?‘ teilgenommen; noch wollte er seine einstudierte Litanei, auf die er stolz zu sein schien, nicht abbrechen, murmelte Schrella zu: „Entrechte a deux – Forelle blau – Kalbsmedaillon.“
Schrella beobachtete Nettlingers Finger, der andächtig an der Liste der Speisen herunterwanderte, an bestimmten Speisen hielt – Schnalzen, Kopfschütteln, Unentschlossenheit – „Wenn ich Poularde lese, werde ich immer schwach.“ Schrella steckte sich eine Zigarette an, war glücklich, dass er diesmal Nettlingers Feuerzeug entging; er nippte an seinem Martini, folgte mit den Augen Nettlingers Zeigefinger, der nun bei den Nachspeisen angekommen war. ‚Ihre verfluchte Gründlichkeit‘, dachte er, ‚verdirbt einem sogar den Appetit auf so was Vernünftiges und Gutes wie gebratenes Huhn; sie müssen einfach alles besser machen und sind offenbar auf dem besten Wege, sogar in der Zelebrierung des Fressens die Italiener und Franzosen noch zu übertrumpfen.‘
„Bitte“, sagte er, „ich bleibe bei Hühnchen.“
„Und Räucherlachs?“
„Nein, danke.“
„Du lässt dir da etwas ganz Köstliches entgehen; du musst doch einen Mordshunger haben.“
„Den habe ich“, sagte Schrella, „aber ich werde mich an den Nachtisch halten.“
„Wie du willst.“
Der Ober brachte noch zwei Martinis, auf einem Tablett, das sicher mehr gekostet hatte als ein Schlafzimmer; Nettlinger nahm ein Glas vom Tablett, reichte es Schrella, nahm seins, beugte sich vor und sagte: „Dies auf dein Wohl, auf dein spezielles.“
„Danke“, sagte Schrella, nickte und trank.
„Eins ist mir noch unklar“, sagte er, „wie kam es, dass sie mich an der Grenze schon verhafteten.“
„Es ist ein verdammter Zufall, dass dein Name noch auf der Fahndungsliste stand; Mordversuch verjährt nach zwanzig Jahren, und du hättest schon vor zwei Jahren gestrichen werden müssen.“
„Mordversuch?“ fragte Schrella.
„Ja, was ihr damals mit Wakiera gemacht habt, lief unter dieser Bezeichnung.“
„Du weißt wohl nicht, dass ich gar nicht daran beteiligt war; ich habe diese Sache nicht einmal gebilligt.“
„Nun“, sagte Nettlinger, „desto besser; dann wird es keine Schwierigkeiten machen, deinen Namen endgültig von der Fahndungsliste zu streichen; ich konnte mich nur für dich verbürgen und deine vorläufige Freilassung erwirken; die Eintragung konnte ich nicht annullieren; jetzt wird alles weitere nur eine Formsache sein. Du gestattest, dass ich mit meiner Suppe schon anfange?“
„Bitte“, sagte Schrella.
Er wandte sich ab, dem Bahnhof zu, während Nettlinger seine Suppe aus dem Silberbecher löffelte; gewiss waren die blaßgelben Klößchen in der Suppe vom Mark der edelsten Rinder, die je auf deutschen Wiesen geweidet hatten; golden schimmerte auf dem Tablett der Räucherlachs zwischen dem frischen Grün der Salatblätter; sanft gebräunt war der Toast, silbrige Wassertropfen bedeckten die Butterklümpchen; beim Anblick des essenden Nettlinger musste Schrella gegen ein elendes Gefühl der Rührung ankämpfen; er hatte Essen immer als einen hohen Akt der Brüderlichkeit empfunden; Liebesmahl in elenden Hotels und in guten; allein essen zu müssen war ihm immer wie eine Verdammung erschienen, und den Anblick allein essender Männer in Wartesälen und Frühstückszimmern, in den unzähligen Pensionen, die er bewohnt hatte, war für ihn immer der Anblick von Verdammten gewesen; er hatte immer Gesellschaft beim Essen gesucht, sich am liebsten zu einer Frau gesetzt; ein paar Worte gewechselt, während er Brot zerbröckelte, ein Lächeln über den Suppenteller hin, ein paar Handreichungen machten den rein biologischen Vorgang erst erträglich und zum Genuss; Männer wie Nettlinger, deren er unzählige beobachtet hatte, erinnerten ihn an Verurteilte; ihre Mahlzeiten kamen ihm wie Henkersmahlzeiten vor; sie aßen, obwohl sie die Tischsitten beherrschten und beobachteten, ohne Zeremonie, mit tödlichem Ernst, der Erbsensuppe und Poularde tötete; waren außerdem gezwungen, mit jedem Bissen, den sie aßen, den Preis zu würdigen. Er wandte sich von Nettlinger ab, dem Bahnhof wieder zu, las das große Transparent, das über dem Eingang hing: Herzlich willkommen unsere Heimkehrer.
„Hör mal“, sagte er, „würdest du mich als Heimkehrer bezeichnen?“ Mit einem Lidaufschlag, als tauchte er aus Abgründen der Trauer auf, blickte Nettlinger von der Toastschnitte hoch, die er gerade mit Butter bestrich.
„Das kommt darauf an“, sagte er, „bist du eigentlich noch deutscher Staatsbürger?“
„Nein“, sagte Schrella, „ich bin Staatenloser.“
„Schade“, sagte Nettlinger, neigte sich wieder über seine Toastschnitte, spießte ein Stück Räucherlachs von der Platte, zerlegte es – „wenn es dir gelingen könnte zu beweisen, dass du nicht aus kriminellen, sondern aus politischen Gründen fliehen musstest, würdest du eine ganz hübsche Entschädigung bekommen können. Liegt dir daran, dass ich die Rechtslage kläre?“
„Nein“, sagte Schrella. Er beugte sich vor, als Nettlinger die Lachsplatte zurückschob – „willst du etwa den herrlichen Lachs zurückgehen lassen?“
„Natürlich“, sagte Nettlinger, „aber du kannst doch nicht…“
Er blickte erschrocken um sich, als Schrella sich eine Scheibe Toast vom Teller, den Lachs mit den Fingern von der Silberplatte nahm und auf den Toast legte – „du kannst doch nicht…“
„Du glaubst gar nicht, was man in einem so vornehmen Hotel alles kann; mein Vater ist Kellner gewesen, sogar in diesen heiligen Hallen; die verzögen keine Miene, wenn du Erbsensuppe mit den Fingern essen würdest, obwohl das unnatürlich und unpraktisch wäre; aber gerade das Unnatürliche und Unpraktische wird hier am wenigsten Aufsehen erregen, deshalb die hohen Preise; das ist der Preis für Kellner, die keine Miene verziehen; aber Brot mit den Fingern essen und Fisch mit den Fingern drauflegen – das ist weder unnatürlich noch unpraktisch.“
Er nahm lächelnd die letzte Lachsscheibe vom Tablett, öffnete die Toastschnitten noch einmal und klemmte den Fisch dazwischen. Nettlinger sah ihn böse an.
„Wahrscheinlich“, sagte Schrella, „würdest du mich jetzt am liebsten umbringen, aus anderen Motiven als damals, das muss ich zugeben, aber das Ziel wäre das gleiche; höre, was der Sohn eines Kellners dir zu verkünden hat: ein wirklich feiner Mann unterwirft sich nie der Tyrannei der Kellner, unter denen es natürlich welche gibt, die wie feine Leute denken.“
Er aß seine Schnitte, während der Kellner, von einem Boy assistiert, für den Hauptgang deckte; komplizierte Warmhaltevorrichtungen wurden auf kleinen Tischen aufgebaut, Bestecke und Teller verteilt, die benutzten wurden weggeräumt, für Nettlinger wurde Wein, für Schrella Bier gebracht. Nettlinger kostete den Wein. „Ein ganz klein wenig zu warm“, sagte er.
Schrella ließ sich Huhn vorlegen, Kartoffeln und Salat, prostete Nettlinger mit seinem Bierglas zu und beobachtete, wie der Kellner Nettlinger tiefbraune schwere Sauce über das Lendenstück goss.
„Lebt eigentlich Wakiera noch?“
„Natürlich“, sagte Nettlinger, „er ist erst achtundfünfzig, und – du wirst das Wort aus meinem Munde bestimmt komisch finden: er ist einer von den Unbelehrbaren.“
„Ach“, fragte Schrella, „wie soll ich das verstehen; ob es das wirklich geben kann: unbelehrbare Deutsche?“
„Nun, er pflegt dieselben Traditionen, die er im Jahre 1935 zu pflegen beliebte.“
„Hindenburg und so? Anständig, anständig, Treue, Ehre – wie?“
„Genau. Hindenburg wäre das Stichwort für ihn.“
„Und das Stichwort für dich?“
Nettlinger blickte von seinem Teller auf, hielt die Gabel in einem Fleischstück fest, das er gerade abgeschnitten hatte.
„Wenn du mich doch verstehen würdest“, sagte er, „ich bin Demokrat, ich bin es aus Überzeugung.“
Er senkte seinen Kopf wieder über die Lendenschnitte, hob die Gabel mit dem aufgespießten Fleischstück hoch, schob es in den Mund, wischte sich den Mund mit der Serviette, griff kopfschüttelnd nach seinem Weinglas.
„Was ist aus Trischler geworden?“ fragte Schrella.
„Trischler? Ich entsinne mich nicht.“
„Der alte Trischler, der am unteren Hafen wohnte, wo später der Schiffsfriedhof war! Erinnerst du dich auch nicht an Alois, der in unserer Klasse gewesen ist?“
„Ach“, sagte Nettlinger, nahm sich Selleriesalat auf den Teller, „jetzt erinnere ich mich; den Alois haben wir wochenlang gesucht und nicht gefunden, und den alten Trischler hat Wakiera selbst verhört, aber er hat nichts, nichts aus ihm herausbekommen, auch aus der Frau nicht.“
„Du weißt nicht, ob sie noch leben?“
„Nein. Aber die Gegend da unten ist oft bombardiert worden. Wenn du willst, lass ich dich rausbringen. Mein Gott“, sagte er leise, „was ist denn los, was hast du vor?“
„Ich möchte gehen“, sagte Schrella, „entschuldige, aber ich muss jetzt hier raus.“
Er stand auf, trank im Stehen sein Bier aus, winkte dem Kellner, und als dieser leise herankam, deutete Schrella auf die Silberplatte, wo noch drei Stücke gebratenen Huhns im leise brutzelnden Fett auf dem Warmhalter schmorten.
„Bitte“, sagte Schrella, „würden Sie mir das so einpacken lassen, dass kein Fett nach außen dringt?“
„Aber gern“, sagte der Kellner, nahm die Platte vom Halter, beugte sich, schon zum Gehen gewendet, noch einmal zurück und fragte: „Auch die Kartoffeln, der Herr – und vielleicht etwas Salat?“
„Nein, danke“, sagte Schrella lächelnd, „die Pommes frites werden weich, und der Salat schmeckt später nicht mehr.“ Er suchte in dem gepflegten Gesicht des grauhaarigen Kellners vergebens nach einer Spur von Ironie.
Nettlinger blickte böse von seinem Teller hoch. „Gut“, sagte er, „du willst dich an mir rächen, ich kann das verstehen, aber dass du es auf diese Weise machen musst.“
„Wäre es dir lieber, wenn ich dich umbrächte?“
Nettlinger schwieg.
„Es ist übrigens keine Rache“, sagte Schrella, „ich muss einfach hier raus, ich halte es nicht mehr aus, und ich hätte mir mein Leben lang Vorwürfe gemacht, wenn ich das Hühnchen hätte zurückgehen lassen; vielleicht kannst du dich entschließen, diesen Akt wirklich meiner ökonomischen Veranlagung zuzuschreiben; wenn ich sicher wäre, dass sie den Kellnern und Pikkolos erlaubten, die Reste aufzuessen, würde ich es liegenlassen – aber ich weiß, dass sie das hier nicht gestatten.“
Er dankte dem Boy, der seinen Mantel gebracht und ihm hineingeholfen hatte, nahm seinen Hut, setzte sich noch einmal hin und fragte: „Du kennst Herrn Fähmel?“
„Ja“, sagte Hugo.
„Kennst du auch seine Telefonnummer?“
„Ja.“
„Würdest du mir einen Gefallen tun und jede halbe Stunde bei ihm anrufen; wenn er sich meldet, ihm sagen, dass ein gewisser Herr Schrella ihn sehen möchte?“
„Ja.“
„Ich bin nicht sicher, dass dort, wo ich hin muss, Telefonzellen sind, sonst würde ich es selbst tun. Hast du meinen Namen verstanden?“
„Schrella“, sagte Hugo.
„Ja.“
„Ich melde mich gegen halb sieben und frage nach dir. Wie heißt du?“
„Hugo.“
„Vielen Dank, Hugo.“
Er stand auf, blickte auf Nettlinger hinunter, der noch eine Lendenscheibe vom Tablett nahm. „Es tut mir leid“, sagte Schrella, „dass du eine so harmlose Handlung als Racheakt empfinden kannst. Ich habe nicht einen Augenblick an Rache gedacht, aber vielleicht verstehst du, dass ich jetzt gehen möchte; sehr lange möchte ich nämlich nicht in dieser gastlichen Stadt bleiben, und ich habe noch einiges zu erledigen. Vielleicht darf ich dich noch einmal an die Fahndungsliste erinnern?“
„Selbstverständlich bin ich jederzeit für dich zu sprechen, privat oder im Amt, wie du willst.“
Schrella nahm aus den Händen des Kellners den sauber verpackten weißen Karton, gab dem Kellner ein Trinkgeld.
„Es wird kein Fett nach außen dringen, mein Herr“, sagte der Kellner, „es ist alles in Cellophan verpackt in unserem Spezial-Picknick-karton.“
„Auf Wiedersehen“, sagte Schrella.
Nettlinger hob den Kopf ein wenig und sagte: „Auf Wiedersehen.“
„Ja“, sagte Jochen gerade, „gerne, und dann sehen Sie schon das Schild: Zu den römischen Kindergräbern, es ist bis acht geöffnet und nach Einbruch der Dunkelheit beleuchtet, gnädige Frau. Keine Ursache, vielen Dank.“ Er kam hinter der Theke herausgehumpelt, auf Schrella zu, dem der Boy schon die Tür aufhielt.
„Herr Schrella“, sagte er leise, „ich werde alles tun, um herauszubekommen, wo Herr Dr. Fähmel zu erreichen ist, eins habe ich inzwischen im Cafe Kroner schon erfahren können: um sieben findet dort eine Familienfeier statt, zu Ehren des alten Herrn Fähmel; dort werden Sie ihn also bestimmt treffen.“
„Danke“, sagte Schrella, „herzlichen Dank“, und er wusste, dass hier kein Trinkgeld angebracht war; er lächelte dem alten Mann zu, ging durch die Tür, die hinter ihm leise in ihre Filzfugen zurückpendelte.