Der gelb-schwarze Bus hielt am Dorfeingang, schwenkte in Richtung Dodringen von der Landstraße ab, und Robert sah in der Staubwolke, die der Bus hinterließ, seinen Vater auftauchen; wie aus Nebelschwaden stieg der Alte ins Licht, immer noch elastisch, kaum von der Schwüle des Nachmittags angegriffen; er bog in die Hauptstraße ein, ging am ‚Schwan‘ vorüber; gelangweilte Dorfburschen musterten ihn von der Freitreppe herab, fünfzehnjährige, sechzehnjährige; wahrscheinlich waren sie es gewesen, die Hugo aufgelauert hatten, wenn er aus der Schule kam; in dumpfen Nebengassen, in dunklen Ställen hatten sie ihn geschlagen und ihn Lamm Gottes gerufen.
Der Alte ging am Bürgermeisteramt vorüber, am Kriegerdenkmal, wo müder Buchsbaum den Toten dreier Kriege aus saurer Erde seine Blätter zum Gedächtnis bot; an der Friedhofsmauer blieb der Alte stehen, zog ein Taschentuch heraus, trocknete sich die Stirn, faltete sein Taschentuch wieder, zog den Rock glatt, ging weiter, und bei jedem Schritt sah Robert die kokette Kurve, die das rechte Hosenbein beschrieb; nur für einen Augenblick wurde das dunkelblaue Stoßband sichtbar, bevor der Fuß den Boden wieder berührte, sich zu koketter Kurve wieder hob; Robert blickte auf die Bahnhofsuhr: zwanzig vor vier, erst um zehn nach vier würde der Zug kommen; eine halbe Stunde, so lange war er, soweit er sich erinnern konnte, noch nie mit seinem Vater allein gewesen; er hatte gehofft, dessen Besuch würde länger dauern und er der Notwendigkeit des Vater-Sohn-Gesprächs enthoben sein. Die Gaststube des Denklinger Bahnhofs war der am wenigsten geeignete Ort für diese Begegnung, auf die der Vater vielleicht seit zwanzig oder dreißig Jahren gehofft hatte; Gespräch mit dem gereiften Sohn, der nicht mehr Kind war, nicht mehr an der Hand zu nehmen, mit auf die Reise ins Seebad, zu Kuchen und Eis einzuladen: Gutenachtkuss, Morgenkuss, Frage nach den Schularbeiten, ein paar Lebensweisheiten: Ehrlich währt am längsten; Gott, trügt nicht; Taschengeldempfänger; lächelnder Stolz über Siegerurkunden und gute Schulzeugnisse; verlegenes Gespräch über Architektur; Ausflüge nach Sankt Anton; kein Wort, als er verschwand, keins, als er wiederkam; beklemmende Mahlzeiten in Ottos Gegenwart, die sogar ein Gespräch übers Wetter unmöglich machte; Fleisch, mit Silbermessern geschnitten, Sauce mit Silberlöffeln genommen; Mutter starr wie das Kaninchen vor der Schlange, der Alte blickte zum Fenster hinaus, während er Brot zerkrümelte, gedankenlos einen Löffel zum Mund führte, Ediths Hände zitterten, während Otto sich verächtlich die größten Brocken Fleisch nahm, als einziger die Ingredienzien der Mahlzeit würdigte; Vaters Liebling, immer zu Ausflügen und Reisen, Extravaganzen bereit gewesen, fröhlicher Knabe mit fröhlicher Zukunft, geeignet, um auf Kirmesplätzen dem Vater das Gefühl eines erfüllten Lebens zu geben; heiter sagte er hin und wieder: ‚Ihr könnt mich ja rauswerfen‘; keiner antwortete. Robert ging nach den Mahlzeiten mit Vater ins Atelier hinüber, saß nur da, zeichnete, spielte mit Formeln in dem leeren großen Raum, wo noch die Zeichentische von fünf Architekten standen; leer; während der Alte müde seinen Kittel überzog, dann zwischen Zeichenrollen kramte, immer wieder vor dem Plan von Sankt Anton stehenblieb, später wegging, spazieren, Kaffee trinken, alte Kollegen, alte Feinde besuchen; Eiszeit brach in den Häusern aus, wo er schon seit vierzig Jahren gern gesehener Gast war; in manchen Häusern des einen, in manchen des anderen Sohnes wegen; und er war doch fröhlich angelegt, der Alte, dazu geschaffen, ein munteres Leben zu führen, Wein und Kaffee zu trinken, zu reisen und die hübschen Mädchen, die er auf der Straße, in Eisenbahnzügen sah, alle als respektive Schwiegertöchter zu betrachten; oft ging er stundenlang spazieren, mit Edith, die den Kinderwagen schob; er hatte wenig zu tun, war glücklich, wenn er an Krankenhäusern, die er gebaut hatte, kleine Umbauten planen, beaufsichtigen konnte, nach Sankt Anton fahren, die Reparatur einer Mauer veranlassen konnte; er glaubte, Robert grollte ihm, und Robert glaubte, der Alte grollte ihm.
Aber jetzt war er gereift, selbst Vater erwachsener Kinder, Mann, vom Schicksal geschlagen durch den Tod der Frau; emigriert gewesen, heimgekehrt; im Krieg; verraten und gefoltert; selbständig, mit einem klar erkennbaren Platz: ‚Dr. Robert Fähmel, Büro für statische Berechnungen, Nachmittags geschlossen‘; endlich zum Gesprächspartner geworden.
„Noch ein Bier, der Herr?“ fragte der Wirt von der Theke her, wischte Bierschaum vom Nickelblech, entnahm der Kühlvitrine zwei Teller mit Frikadellen und Senf, brachte sie dem Pärchen, das in der Ecke saß, vom Landspaziergang erhitzt, in müder Glückseligkeit.
„Ja, bitte“, sagte Robert, „noch ein Bier“, schob den Vorhang beiseite; der Vater bog nach rechts ab, ging am Friedhofseingang vorüber, überquerte die Straße, blieb am Gärtchen des Bahnhofsvorstehers stehen, blickte auf die violetten, eben erblühten Astern; offenbar zögerte er.
„Nein“, sagte Robert zur Theke hin, „bitte zwei Bier und zehn Virginia-Zigaretten.“
Wo jetzt das Pärchen saß, hatte der amerikanische Offizier am Tisch gesessen; blondes, kurzgeschnittenes Haar erhöhte den Eindruck der Jugendlichkeit; die blauen Augen strahlten Vertrauen aus, Vertrauen in die Zukunft, in der alles erklärbar sein würde; sie war in Planquadrate eingeteilt; nur die Frage des Maßstabs war noch zu klären; 1 : 1 oder 1 : 3.000.000? Auf dem Tisch, wo die Finger des Offiziers mit einem schlanken Stift spielten, lag das Messtischblatt der Gemarkung Kisslingen.
Der Tisch hatte sich in den dreizehn Jahren nicht verändert; rechts an dem Tischbein, wo die staubigen Sandalen des jungen Mannes jetzt Halt suchten, immer noch die Initialen, von einem gelangweilten Fahrschüler eingeschnitten: J. D.; wahrscheinlich hatte er Joseph Dodringer geheißen; auch die Tischtücher unverändert; rot-weiß kariert; die Stühle hatten zwei Weltkriege überdauert, astreines Buchenholz zu stabiler Sitzgelegenheit verarbeitet; seit siebzig Jahren dienten sie wartenden Bauernärschen; neu war nur die Kühlvitrine auf der Theke, wo krustige Frikadellen, kalte Koteletts und russische Eier auf Hungrige oder Gelangweilte warteten.
„Bitte, der Herr, zwei Bier und zehn Zigaretten.“
„Danke sehr!“
Nicht einmal die Bilder an der Wand waren ausgewechselt; eine Luftansicht der Abtei Sankt Anton, noch mit der biederen Platte und dem schwarzen Tuch fotografiert, offenbar vom Kosakenhügel herunter; Kreuzgang und Refektorium, die gewaltige Kirche, Wirtschaftsgebäude; daneben hing ein verblasster Farbdruck: Liebespaar am Feldrain; Ähren, Kornblumen, ein lehmig gelber, von Sonne ausgetrockneter Weg; neckisch kitzelte die Dorfschöne ihren Liebhaber, dessen Kopf in ihrem Schoß ruhte, mit einem Halm hinterm Ohr.
‚Sie missverstehen mich, Herr Hauptmann; wir würden so gerne wissen, warum Sie das getan haben; hören Sie? Wir kennen natürlich den Verbrannte-Erde-Befehl – Hinterlasst dem Feind nur Trümmer und Leichen, nicht wahr? Aber ich glaube nicht, dass Sie es getan haben, um diesen Befehl zu befolgen; Sie sind – verzeihen Sie – zu intelligent, um das zu tun. Aber warum, warum haben Sie dann die Abtei gesprengt? Sie war in ihrer Art ein kulturgeschichtliches Denkmal ersten Ranges; jetzt, wo die Kampfhandlungen hier vorüber sind, und Sie unser Gefangener, der wohl kaum Gelegenheit haben wird, von unseren Rücksichten drüben zu erzählen – jetzt kann ich Ihnen gestehen, dass unser Kommandeur eher eine Verzögerung des Vormarsches um zwei, drei Tage in Kauf genommen hätte, als die Abtei auch nur anzutasten. Warum haben Sie die Abtei in die Luft gejagt, obwohl es doch taktisch und strategisch so offensichtlich keinen Sinn hatte? Sie haben unseren Vormarsch nicht etwa behindert, sondern beschleunigt. Rauchen Sie?‘
‚Ja, danke.‘
Die Zigarette schmeckte, Virginia, würzig-kräftig.
‚Ich hoffe, Sie verstehen, was ich meine. Bitte, sagen Sie doch etwas; ich sehe, dass wir fast gleichaltrig sind; Sie sind neunundzwanzig, ich siebenundzwanzig. Können Sie nicht begreifen, dass ich Sie verstehen möchte? Oder fürchten Sie die Folgen einer Aussage – Folgen bei uns oder bei Ihren Landsleuten?‘
Aber wenn er es aussprechen würde, stimmte es nicht mehr; aktenkundig gemacht wäre es am wenigsten wahr: dass er auf diesen Augenblick fünfeinhalb Kriegsjahre gewartet hatte, auf den Augenblick, da die Abtei wie ein Gottesgeschenk als seine Beute dalag; ein Denkmal aus Staub und Trümmern wollte er denen setzen, die keine kulturgeschichtlichen Denkmäler gewesen waren und die man nicht hatte schonen müssen: Edith, von einem Bombensplitter getötet; Ferdi, ein Attentäter, rechtskräftig verurteilt; der Junge, der die winzigen Papiere mit seinen Botschaften in den Briefkasten geworfen hatte; Schrellas Vater, der verschwunden war; Schrella selbst, der so fern von dem Land leben musste, in dem Hölderlin gelebt hatte; Groll, der Kellner im Anker, und die vielen, die hinausgezogen waren, singend: Es zittern die morschen Knochen; niemand würde für sie um Rechenschaft gefragt werden, niemand hatte sie etwas Besseres gelehrt; Dynamit, ein paar Formeln, das war seine Möglichkeit, Denkmäler zu setzen; und einen Sprengtrupp hatte er, der seiner Präzisionsarbeit wegen berühmt war: Schrit, Hochbret, Kanders. ‚Wir wissen genau, dass Sie Ihren Vorgesetzten, General Otto Kösters, nicht ernst nehmen konnten; unsere Heerespsychiater haben einmütig – und wenn Sie wüssten, wie schwer es ist, unter amerikanischen Heerespsychiatern Einmütigkeit herzustellen —, sie haben ihn einmütig für verrückt, für seine Taten nicht verantwortlich erklärt, und so fällt die Verantwortung auf Sie, Herr Hauptmann, da Sie eindeutig nicht verrückt und – ich will Ihnen das verraten – durch die Aussagen Ihrer Kameraden stark belastet sind. Ich will Ihnen gar nicht die Frage nach Ihrer politischen Anschauung stellen: die Unschuldsbeteuerungen sind mir schon zu geläufig und offen gestanden auch zu langweilig. Ich habe schon zu meinen Kameraden gesagt, wir werden in diesem schönen Land nur fünf oder sechs, wenn’s hochkommt neun Schuldige finden und uns fragen müssen, gegen wen wir diesen Krieg geführt haben: gegen lauter einsichtige, nette, intelligente, sogar kultivierte Menschen – bitte, beantworten Sie doch meine Frage! Warum, warum haben Sie es getan?‘
Auf dem Platz des amerikanischen Offiziers saß jetzt das junge Mädchen, aß seine Frikadelle, nippte am Bier, kicherte; am Horizont konnte er den dunkelgrauen, schlanken Turm von Sankt Severin sehen, unversehrt.
Sollte er sagen, dass er den Respekt vor kulturgeschichtlichen Denkmälern so rührend fände wie den Irrtum, anstatt lauter netten, einsichtigen Leuten Bestien zu erwarten? Ein Denkmal für Edith und Ferdi, für Schrella und dessen Vater, für Groll und den Jungen, der seine Papierchen in den Briefkasten geworfen, für den Polen Anton, der gegen Wakiera die Hand erhoben hatte und deshalb ermordet worden war, und für die vielen, die Es zittern die morschen Knochen gesungen hatten, nichts Besseres war ihnen beigebracht worden; ein Denkmal für die Lämmer, die niemand geweidet hatte.
Wenn sie den Zug noch erwischen wollte, musste seine Tochter Ruth jetzt am Portal von Sankt Severin vorbei zum Bahnhof laufen; mit ihrer grünen Mütze auf dem dunklen Haar, in ihrem rosaroten Pullover, erhitzt, glücklich, Vater, Bruder und Großvater zu treffen; Nachmittagskaffee in Sankt Anton vor der großen Geburtstagsfeier am Abend.
Vater stand draußen im Schatten vor der Tafel und studierte die Abfahrtszeiten; gerötet das schmale Gesicht, liebenswürdig der alte, großzügig und freundlich, der hatte nie vom Sakrament des Büffels gekostet, war mit dem Altern nicht bitter geworden; wusste er alles? Oder würde er es noch erfahren? Und sein Sohn Joseph, wie würde er es dem je erklären können? Schweigen war besser, als die Gedanken und Gefühle aktenkundig zu machen und den Psychologen auszuliefern.
Er hatte es auch dem freundlichen jungen Mann nicht erklären können, der ihn kopfschüttelnd ansah, ihm die angebrochene Zigarettenschachtel über den Tisch zuschob; er nahm die Zigarettenpackung, sagte Dank, steckte sie in die Tasche, nahm sein Eisernes Kreuz von der Brust, schob es dem jungen Mann über den Tisch zu; das rot-weiß karierte Tischtuch beulte sich, er zog es wieder glatt, während der junge Mann errötete.
‚Nein, nein‘, sagte Robert, ‚verzeihen Sie mir meine Ungeschicklichkeit; ich wollte Sie nicht kränken, aber ich habe das Bedürfnis, Ihnen dies als Andenken zu schenken, Andenken an den, der die Abtei Sankt Anton gesprengt hat und diesen Orden dafür bekam; der sie gesprengt hat, obwohl er wusste, dass der General verrückt war, obwohl er wusste, dass die Sprengung weder taktisch noch strategisch einen Sinn hatte. Ich behalte Ihre Zigaretten gern – darf ich Sie bitten, zu glauben, dass wir nur als Gleichaltrige Geschenke gewechselt haben?‘
Vielleicht hatte er es getan, weil ein halbes Dutzend Mönche damals zur Sonnwendfeier den Kosakenhügel hinaufgezogen waren und oben, als das Feuer aufloderte: Es zittern die morschen Knochen angestimmt hatten; Otto zündete das Feuer an, und er selber stand dabei, mit seinem kleinen Sohn auf dem Arm, Joseph, dem blondgelockten, der vor Freude über das lodernde Feuer in die Hände klatschte; Edith, neben ihm, presste seine rechte Hand; vielleicht auch, weil Otto ihm nicht einmal fremd gewesen war in einer Welt, in der eine Handbewegung das Leben kostete; rings ums Sonnwendfeuer die Dorfjugend aus Dodringen, Schaklingen, Kisslingen und Denklingen: die erhitzten Gesichter der jungen Männer und Mädchen leuchteten wild im Sonnwendfeuer, das Otto hatte entzünden dürfen, und alle sangen, was der biedere Mönch, der dem biederen Ackerpferd die Sporen in die Flanken bohrte, anstimmte: Es zittern die morschen Knochen. Gröhlend, mit Fackeln in der Hand, zogen sie den Berg hinunter; sollte er dem jungen Mann sagen, dass er es tat, weil sie die Weisung Weide meine Lämmer nicht befolgt hatten; und dass er nicht eine Andeutung von Reue spüre; er sagte laut:
‚Vielleicht war es nur ein Spaß, ein Spiel.‘
‚Komische Späße, komische Spiele treibt ihr hier. Sie sind doch Architekt.‘
‚Nein, Statiker.‘
‚Nun ja, meinetwegen, das ist doch kaum ein Unterschied.‘
‚Sprengen‘, sagte er, ‚ist nur die Umkehrung der Statik. Sozusagen ihr Reziprok.‘
‚Verzeihen Sie‘, sagte der junge Mann, ‚in Mathematik war ich immer schwach.‘
‚Und mir war sie immer ein reines Vergnügen.‘
‚Ihr Fall beginnt, mich privat zu interessieren. Soll der Hinweis auf Ihre Liebe zur Mathematik bedeuten, dass bei der Sprengung ein gewisses berufliches Interesse vorlag?‘
‚Vielleicht. Für einen Statiker ist es natürlich von hohem Interesse, zu wissen, welche Kräfte notwendig sind, die statischen Gesetze auszulöschen. Sie werden zugeben, dass es eine perfekte Sprengung war.‘
‚Aber wollen Sie im Ernst behaupten, dass dieses sozusagen abstrakte Interesse eine Rolle gespielt haben könnte?‘
‚Ja.‘
‚Ich glaube, ich kann auf die politische Vernehmung nun doch nicht verzichten. Ich mache Sie darauf aufmerksam, dass falsche Angaben zu machen sinnlos wäre; wir besitzen alle erforderlichen Unterlagen, um Ihre Aussage zu prüfen.‘
Es fiel ihm ein, in diesem Augenblick erst, dass Vater die Abtei vor fünfunddreißig Jahren gebaut hatte; sie hatten es so oft gehört und bestätigt bekommen, dass es schon nicht mehr wahr war, und er hatte Angst, der junge Mann würde es herausbekommen und glauben, die Erklärung gefunden zu haben: Vaterkomplex; vielleicht wäre es doch besser, dem jungen Mann zu sagen: weil sie die Lämmer nicht geweidet haben, und ihm damit einen handfesten Grund zu geben, ihn für verrückt zu halten; aber er blickte nur durchs Fenster auf den schlanken Turm von Sankt Severin wie auf eine Beute, die ihm entgangen war, während der junge Mann ihm Fragen stellte, die er alle, ohne nachzudenken, mit Nein beantworten konnte.
Das Mädchen schob den leergewordenen Teller von sich weg, nahm den des jungen Mannes, hielt die beiden Gabeln einen Augenblick in der rechten Hand, während sie mit der linken den Teller des jungen Mannes auf den ihren setzte, legte dann die beiden Gabeln auf den oberen Teller, die freigewordene Rechte auf den Unterarm des Jünglings und blickte ihm lächelnd in die Augen.
‚Sie haben also keiner Organisation angehört? Lesen Hölderlin? Gut. Ich muss Sie vielleicht morgen noch einmal holen lassen.‘
Mitleidend bleibt das ewige Herz doch fest.
Als sein Vater in den Gastraum trat, errötete er, ging auf den Alten zu, nahm ihm den schweren Hut aus der Hand und sagte: „Ich habe vergessen, dir zum Geburtstag zu gratulieren, Vater. Verzeih. Bier habe ich schon für dich bestellt, ich hoffe, es ist noch frisch genug, sonst…?“
„Danke“, sagte der Vater, „Dank für die Glückwünsche, und lass das Bier nur, ich mag es gar nicht gern kalt.“ Der Vater legte ihm die Hand auf den Oberarm, Robert errötete und dachte an die intime Geste, die sie in der Allee vor der Heilanstalt getauscht hatten; dort hatte er plötzlich das Bedürfnis gespürt, seinem Vater den Arm auf die Schulter zu legen, und der Vater hatte diese Geste erwidert, während sie die Verabredung trafen, sich im Denklinger Bahnhof zu treffen.
„Komm“, sagte Robert, „setzen wir uns, wir haben noch fünfundzwanzig Minuten Zeit.“
Sie hoben ihre Gläser, nickten einander zu und tranken.
„Eine Zigarre, Vater?“
„Nein, danke. Weißt du übrigens, dass sich die Abfahrtszeiten der Züge in fünfzig Jahren kaum geändert haben? Sogar die Emailleschildchen mit den Uhrzeiten drauf sind noch die gleichen; an manchen ist nur das Emaille ein wenig abgesplittert.“
„Die Stühle, die Tische, die Bilder an der Wand“, sagte Robert, „alles noch wie früher, wenn wir an schönen Sommerabenden zu Fuß von Kisslingen herüberkamen und hier auf den Zug warteten.“
„Ja“, sagte der Vater, „nichts ist verändert. Hast du Ruth angerufen; wird sie kommen? Ich habe sie so lange nicht gesehen.“
„Ja, sie kommt; ich nehme an, sie sitzt schon im Zug.“
„Wir können schon kurz nach halb fünf in Kisslingen sein, dort Kaffee trinken und bequem bis sieben wieder zu Hause. Ihr kommt zur Feier?“
„Selbstverständlich, Vater, hast du daran gezweifelt?“
„Nein, aber ich dachte daran, sie ausfallen zu lassen, sie abzusagen – vielleicht ist es der Kinder wegen besser, das nicht zu tun, und ich habe so vieles vorbereitet für diesen Tag.“
Der Alte senkte die Augen auf das rot-weiß karierte Tischtuch, zog dort Kreise mit seinem Bierglas; Robert bewunderte die glatte Haut an den Händen; Kinderhände, die ihre Unschuld behalten hatten; der Vater hob die Augen, blickte Robert ins Gesicht.
„Ich dachte an Ruth und Joseph; du weißt doch, dass Joseph ein Mädchen hat?“
„Nein.“
Der Alte senkte den Blick wieder, ließ wieder das Bierglas kreisen.
„Ich hatte immer gehofft, dass meine beiden Güter hier draußen so etwas wie eure zweite Heimat werden würden, aber ihr habt alle immer lieber in der Stadt gewohnt, sogar Edith – bei Joseph erst scheint sich mein Traum zu erfüllen; merkwürdig, dass ihr alle immer glaubt, dass er Edith gleicht und nichts von uns hat – und doch gleicht er Heinrich so sehr, dass ich manchmal erschrecke, wenn ich deinen Jungen sehe; Heinrich, wie der geworden wäre – erinnerst du dich an ihn?“
Brom hieß unser Hund; und ich hielt die Zügel der Kutsche, sie waren aus schwarzem Leder; sie waren brüchig; muss haben ein Gewehr, muss haben ein Gewehr; Hindenburg.
„Ja, ich erinnere mich an ihn.“
„Er gab mir den Bauernhof, den ich ihm schenkte, zurück; wem soll ich ihn nun schenken? Joseph oder Ruth? Dir? Möchtest du ihn haben? Besitzer von Kühen und Wiesen, Zentrifugen und Rübenschnitzelmaschinen sein? Traktoren und Heuwendern? Soll ich’s dem Kloster übermachen? Von meinem ersten Honorar kaufte ich die beiden Bauernhöfe! Ich war neunundzwanzig, als ich die Abtei baute, und ihr könnt euch gar nicht vorstellen, was es für einen jungen Architekten bedeutet, einen solchen Auftrag zu bekommen. Skandal. Sensation. Nicht nur deswegen fahre ich so oft hin, um mich an die Zukunft zu erinnern, die inzwischen längst Vergangenheit geworden ist. Ich hatte immer gedacht, im Alter so etwas wie ein Bauer zu werden. Ich bin es nicht geworden, nur ein alter Narr, der mit seiner Frau Blindekuh spielt; wir halten uns abwechselnd die Augen zu, wechseln die Zeiten wie die Scheiben in den Apparaten, mit denen man Bilder an die Wand wirft: bitte: das Jahr 1928 – zwei hübsche Söhne an der Hand der Mutter; der eine dreizehn Jahre, der andere elf; der Vater mit der Zigarre im Mund daneben, lächelnd; im Hintergrund der Eiffelturm – oder ist es die Engelsburg, vielleicht das Brandenburger Tor? – such dir die Kulisse aus; vielleicht auch die Brandung in Ostende oder der Turm von Sankt Severin, die Limonadenbude im Blessenfelder Park? Nein, es ist natürlich die Abtei Sankt Anton: du findest sie im Fotoalbum zu allen Jahreszeiten: nur die Mode, die wir tragen, wechselt: deine Mutter mit großem, mit kleinem Hut, mit kurzem, mit langem Haar, mit weitem, mit engem Rock, und ihre Kinder drei und fünf, fünf und sieben Jahre alt; dann taucht eine Fremde auf: blond, jung, trägt ein Kind auf dem Arm, hält das andere an der Hand; ein Jahr, drei Jahre sind die Kinder alt; weißt du, dass ich Edith geliebt habe, wie ich eine Tochter nicht hätte lieben können; ich konnte nie glauben, dass sie wirklich einen Vater, eine Mutter gehabt hat – einen Bruder. Sie war eine Botin des Königs; als sie bei uns lebte, konnte ich seinen Namen wieder denken, ohne zu erröten, konnte den Namen beten – welche Botschaft hat sie dir gebracht, dir übergeben? Rache für die Lämmer? Ich hoffe, du hast den Auftrag getreulich ausgeführt, keine falschen Rücksichten genommen, wie ich sie immer nahm, nicht in den Eisschränken der Ironie das Gefühl der Überlegenheit frisch erhalten, wie ich es immer tat. Hat sie diesen Bruder wirklich gehabt? Lebt er? Gibt es ihn?“
Er zog Kreise mit seinem Bierglas, starrte auf die rot-weiß karierte Tischdecke, hob den Kopf nur ein wenig.
„Sag doch: gibt es ihn wirklich? Er war doch dein Freund; ich habe ihn einmal gesehen; ich stand am Schlafzimmerfenster und sah ihn über den Hof auf dein Zimmer gehen; ich habe ihn nie vergessen, oft an ihn gedacht, obwohl ich ihn kaum zehn oder zwanzig Sekunden lang gesehen haben kann; ich hatte Angst vor ihm wie vor einem dunklen Engel. Gibt es ihn wirklich?“
„Ja.“
„Er lebt?“
„Ja. Angst hast du vor ihm?“
„Ja. Vor dir auch. Wusstest du es nicht? Ich will nicht wissen, welche Botschaft Edith dir gab; nur: hast du sie ausgeführt?“
„Ja.“
„Gut. Du bist erstaunt, dass ich Angst vor dir hatte – ein wenig noch habe. Ich lachte über eure kindlichen Konspirationen, aber das Lachen blieb mir im Halse stecken, als ich las, dass sie den Jungen getötet hatten; er hätte Ediths Bruder sein können, aber später wusste ich, dass es fast noch human gewesen war, einen Jungen zu töten, der immerhin eine Bombe geworfen und die Füße eines Turnlehrers versengt hatte; der Junge, der deine Zettelchen in unseren Briefkasten warf, der Pole, der gegen den Turnlehrer seine Hand hob – ein unangebrachtes Wimperzucken, Haarwuchs und Nasenform genügten, und nicht einmal das brauchten sie mehr: nur den Geburtsschein des Vaters oder der Großmutter; ich hatte mich jahrelang von meinem Lachen ernährt, aber diese Nahrung fiel aus, kein Nachschub mehr, Robert, und ich öffnete den Eisschrank, ließ die Ironie sauer werden und schüttete sie weg wie einen ekligen Rest von etwas, das einmal wertvoll gewesen sein mochte; ich hatte geglaubt, deine Mutter zu lieben und zu verstehen – aber jetzt erst verstand ich sie und liebte sie, verstand auch euch und liebte euch; später erst begriff ich es ganz; ich war obenauf, als der Krieg zu Ende war, wurde Baubeauftragter für den ganzen Bezirk; Frieden, dachte ich, es ist vorbei, neues Leben – als sich eines Tages der englische Kommandant sozusagen bei mir entschuldigte, dass sie die Honoriuskirche bombardiert und die Kreuzigungsgruppe aus dem zwölften Jahrhundert zerstört hatten; er entschuldigte sich nicht wegen Edith, nur wegen einer Kreuzigungsgruppe aus dem zwölften Jahrhundert; sorry; ich lachte zum ersten Mal wieder seit zehn Jahren, aber es war kein gutes Lachen, Robert – und ich legte mein Amt nieder; Baubeauftragter? Wozu? wo ich doch sämtliche Kreuzigungsgruppen aus sämtlichen Jahrhunderten darum gegeben hätte, Ediths Lächeln noch einmal zu sehen, ihre Hand auf meinem Arm zu spüren; was bedeuteten mir die Bilder des Königs gegen das wirkliche Lächeln seiner Botin? Und für den Jungen, der deine Zettelchen brachte – ich habe ihn nie zu Gesicht bekommen, nie seinen Namen erfahren – hätte ich Sankt Severin hergegeben und gewusst, dass es ein lächerlicher Preis gewesen wäre, wie wenn man einem Lebensretter eine Medaille gibt; hast du Ediths Lächeln je wieder gesehen, oder das Lächeln des Tischlerlehrlings? Nur einen Abglanz davon? Robert! Robert!“
Er ließ das Bierglas los, legte die Arme auf den Tisch.
„Hast du es je gesehen?“ fragte er murmelnd unter seinen Armen heraus.
„Ich habe es gesehen“, sagte Robert, „auf dem Gesicht eines Hotelboys, der Hugo heißt – ich werde ihn dir zeigen.“
„Ich werde diesem Jungen den Gutshof schenken, den Heinrich nicht wollte; schreib mir seinen Namen und seine Adresse auf den Bierdeckel; auf Bierdeckeln werden die wichtigsten Botschaften überbracht; und sag mir Bescheid, wenn du etwas von Ediths Bruder hörst. Lebt er?“
„Ja. Hast du immer noch Angst vor ihm?“
„Ja. Das Schreckliche an ihm war, dass er nichts Rührendes hatte; als ich ihn über den Hof gehen sah, wusste ich, dass er stark war, und dass er alles, was er tat, nicht aus Gründen tat, die für andere Menschen gelten konnten: dass er arm war oder reich, hässlich oder schön; dass seine Mutter ihn geschlagen oder nicht geschlagen hatte; lauter Gründe, aus denen irgendeiner irgend etwas tut: entweder Kirchen baut oder Frauen mordet, ein guter Lehrer wird oder ein schlechter Organist; bei ihm wusste ich: keiner dieser Gründe würde irgend etwas erklären; damals war die Zeit, in der ich noch lachen konnte, aber bei ihm fand ich keinen Spalt, wo ich mein Lachen hätte ansetzen können; das machte mir Angst, als wäre ein dunkler Engel über unseren Hof gegangen, ein Gerichtsvollzieher Gottes, der dich pfändete; er hat es getan, hat dich gepfändet; er hatte nichts Rührendes; selbst als ich hörte, dass sie ihn geschlagen hatten und umbringen wollten, war ich nicht gerührt…“
„Herr Rat, ich habe Sie jetzt erst erkannt; ich freue mich, Sie wohl zu sehen; es müssen Jahre her sein, dass Sie zuletzt hier waren.“
„Ach, Mull, Sie sind’s? Lebt Ihre Mutter noch?“
„Nein, Herr Rat, wir haben sie unter die Erde bringen müssen. Es war ein riesiges Begräbnis. Sie hat ein volles Leben gehabt: sieben Kinder und sechsunddreißig Enkel, elf Urenkel; ein volles Leben. Tun die Herren mir die Ehre an, auf das Wohl meiner verstorbenen Mutter zu trinken?“
„Mit Freuden, lieber Mull – sie war eine großartige Frau.“
Der Alte stand auf, auch Robert erhob sich, während der Wirt zur Theke ging, die Biergläser vollaufen ließ; die Bahnhofsuhr zeigte erst zehn nach vier; zwei Bauern warteten an der Theke, schoben gelangweilt mit Senf beschmierte Frikadellen in ihre Münder, tranken mit wohligem Seufzen ihr Bier; mit rotem Gesicht, feuchten Augen kam der Wirt an den Tisch zurück, stellte die Biergläser vom Tablett auf den Tisch, nahm seins in die Hand.
„Auf das Wohl Ihrer Mutter, Mull“, sagte der alte Fähmel.
Sie hoben ihre Gläser, tranken einander zu, setzten die Gläser ab.
„Wissen Sie eigentlich“, sagte der Alte, „dass Ihre Mutter mir vor fünfzig Jahren Kredit gab, wenn ich durstig und hungrig von Kisslingen herüberkam; damals wurde die Bahnstrecke repariert, und es machte mir noch nichts aus, vier Kilometer zu laufen; auf Ihr Wohl, Mull, und das Ihrer Mutter. Dies ist mein Sohn, Sie kennen ihn noch nicht?“
„ Fähmel – angenehm.“
„Mull – angenehm.“
„Sie kennt hier jedes Kind, Herr Rat, jedermann weiß, dass Sie unsere Abtei gebaut haben, und manche Großmutter weiß noch Geschichten von Ihnen zu erzählen; wie Sie ganze Wagenladungen Bier für die Maurer bestellten und beim Richtfest ein Solo getanzt haben. Diesen Schluck auf Ihr Wohl, Herr Rat.“
Sie tranken im Stehen die Gläser aus; Robert, mit dem leeren Glas in der Hand, starrte dem Wirt nach, der zur Theke zurückging, die leeren Teller des Pärchens in die Durchreiche schob, dann mit dem jungen Mann abrechnete. Sein Vater zog ihn am Rock.
„Komm“, sagte der Alte, „setz dich doch, wir haben noch zehn Minuten Zeit. Das sind prächtige Leute, die haben das Herz auf dem rechten Fleck.“
„Und du hast keine Angst vor ihnen, nicht wahr, Vater?“
Der Alte blickte seinen Sohn voll an; sein schmales noch glattes Gesicht lächelte nicht.
„Diese Leute waren es“, sagte Robert, „die Hugo quälten – vielleicht war auch einer von ihnen Ferdis Henker!“
„Während du weg warst und wir auf Nachricht von dir warteten, hatte ich Angst vor jedem Menschen – aber vor Mull Angst haben? Hast du Angst vor ihm?“
„Ich frage mich bei jedem Menschen, ob ich ihm ausgeliefert sein möchte, und es gibt nicht viele, bei denen ich sagen würde: ja.“
„Und Ediths Bruder warst du ausgeliefert?“
„Nein. Wir bewohnten in Holland ein Zimmer gemeinsam, teilten alles, was wir hatten, spielten den halben Tag Billard, studierten die andere Hälfte des Tages; er Deutsch, ich Mathematik; ich war ihm nicht ausgeliefert, würde mich ihm aber jederzeit ausliefern – auch dir, Vater.“ – Robert nahm die Zigarette aus dem Mund. – „Ich würde dir gern zu deinem achtzigsten Geburtstag etwas schenken, Vater – dir beweisen, nun, vielleicht weißt du, was ich dir beweisen möchte?“
„Ich weiß es“, sagte der Alte, legte die Hand auf den Arm seines Sohnes, „du brauchst es nicht auszusprechen.“
Ein paar Reuetränen würde ich dir gern schenken, aber ich kann sie nicht erzwingen, ich blicke immer noch auf den Turm von Sankt Severin wie auf eine Beute, die mir entgangen ist; schade, dass es dein Jugendwerk sein musste, das große Los, das erste große Spiel; und gut gebaut, solides Mauerwerk, statisch vorzüglich; zwei Lastwagen voll Sprengstoff musste ich anfordern und ging rund, zeichnete mit Kreide meine Formeln und Zeichen an die Wände, an die Säulen, an Gewölbestützen, zeichnete sie an das große Abendmahlsbild, zwischen Sankt Johanns und Sankt Peters Fuß; ich kannte die Abtei so gut; du hattest es mir als Kind, als Junge, als Jüngling so oft erklärt – ich zeichnete meine Zeichen an die Wand, während der Abt, der als einziger dort geblieben war, neben mir herrannte, an meine Vernunft appellierte, an meine Religion; zum Glück war’s ein neuer Abt, der mich nicht kannte. Er appellierte an mein Gewissen, vergebens; er kannte mich nicht als Forellen essenden Wochenendbesucher, als naturreinen Honig essenden, Butter aufs Landbrot schmierenden Sohn des Baumeisters, und während er mich anblickte, als wäre ich wahnsinnig, flüsterte ich es ihm zu: Es zittern die morschen Knochen; neunundzwanzig war ich, genauso alt wie du, als du die Abtei gebaut hast, und lauerte schon auf die Beute, die sich hinten am Horizont grau und schlank abzeichnete: Sankt Severin; aber ich wurde gefangengenommen, und der junge Mann verhörte mich, hier im Bahnhof von Denklingen, drüben am Tisch, der jetzt leer ist.
„Woran denkst du“, fragte der Alte.
„An Sankt Anton, ich bin so lange nicht dort gewesen.“
„Freust du dich?“
„Ich freue mich auf Joseph, ich habe ihn so lange nicht gesehen.“
„Ich bin ein wenig stolz auf ihn“, sagte der Alte, „er ist so frei und frisch und wird einmal ein tüchtiger Architekt werden; ein bisschen zu streng mit den Handwerkern, zu ungeduldig, aber ich erwarte von einem Zweiundzwanzigjährigen nicht Geduld – nun steht er unter Termindruck; die Mönche würden so gern die Adventsliturgie schon in der neuen Kirche singen; natürlich werden wir alle zur Einweihung eingeladen.“
„Ist der Abt noch da?“
„Welcher?“
„Gregor.“
„Nein, er ist siebenundvierzig gestorben; er hat’s nicht verwinden können, dass die Abtei zerstört wurde.“
„Und du, hast du es verwinden können?“
„Als ich die Nachricht bekam, dass sie zerstört war, hat es mich sehr getroffen, aber als ich dann hinfuhr und die Trümmer sah, und die Mönche aufgeregt waren und eine Kommission gründen wollten, um den Schuldigen herauszufinden, habe ich abgeraten; ich wollte keine Rache für ein Bauwerk, und ich hatte Angst, sie würden den Schuldigen finden, und er würde sich bei mir entschuldigen; das Sorry des Engländers klang mir noch zu schrecklich im Ohr; und schließlich kann man Gebäude wieder aufbauen. Ja, Robert, ich hab’s verwunden. Du wirst es nicht glauben, aber ich habe an den Gebäuden, die ich entworfen, deren Bau ich geleitet habe, nie gehangen; auf dem Papier gefielen sie mir, ich war mit einer gewissen Leidenschaft am Werk, aber ich war nie ein Künstler, verstehst du, wusste auch, dass ich keiner war; ich hatte ja meine Pläne noch, als sie mir den Wiederaufbau antrugen; für deinen Jungen ist es eine großartige Gelegenheit, sich praktisch zu üben, Koordinierung zu lernen und seine Ungeduld ein wenig zu verschleißen – müssen wir nicht zum Zug?“
„Noch vier Minuten, Vater. Wir könnten schon auf den Bahnsteig hinausgehen.“
Robert stand auf, winkte zur Theke hin, griff nach seiner Brieftasche, aber der Wirt kam hinter der Theke hervor, ging an Robert vorüber, legte dem Alten lächelnd die Hand auf die Schulter und sagte: „Nein, nein, Herr Rat – Sie sind meine Gäste gewesen, das lasse ich mir nicht nehmen, um des Andenkens meiner Mutter willen.“ – Es war noch warm draußen; die weißen Rauchfahnen des Zuges waren schon über Dodringen zu sehen.
„Hast du Fahrkarten?“ fragte der Alte.
„Ja“, sagte Robert, er blickte dem Zug entgegen, der über die Steigung hinter Dodringen wie aus dem hellblauen Himmel heraus auf sie zukam; schwarz, alt und rührend war der Zug; der Bahnhofsvorsteher trat aus dem Dienstraum, mit seinem Wochenendlächeln auf dem Gesicht.
„Hierher, Vater, hierher“, rief Ruth; ihre grüne Mütze, ihre winkenden Arme, der rosarote Flaum ihres Pullovers; sie hielt ihrem Großvater die Hände entgegen, half ihm auf die Plattform hinauf, umarmte ihn, schob ihn vorsichtig in die offene Abteiltür, zog ihren Vater hoch, küsste ihn auf die Wange.
„Ich freue mich schrecklich“, sagte sie, „wirklich schrecklich auf Sankt Anton und auf heute abend.“
Der Bahnhofsvorsteher pfiff und winkte dem Zug zur Abfahrt.