Книга: Billard um halb Zehn / Бильярд в половине десятого. Книга для чтения на немецком языке
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Kapitel V

Blauer Himmel, getünchte Wand, an der die Pappeln als Leiterstufen hinaufführten und hinab auf den Vorplatz, wo ein Wärter Laub in das Kompostbecken schaufelte; die Wand war zu hoch, die Abstände der Stufen waren zu weit; vier, fünf Schritte brauchte er, die Zwischenräume zu überwinden; Vorsicht!, warum muss der gelbe Bus so hoch an der Wand entlang fahren, kriechen wie ein Käfer, er hatte heute nur einen Menschen gebracht: ihn. War er’s? Wer? Wenn er doch, sich von Sprosse zu Sprosse anklammernd, klettern würde! Aber nein: immer aufrecht und ungebeugt, sich nicht erniedrigen; nur wenn er sich auf Kirchenbänke kniete oder in Startlöcher, gab er die aufrechte Haltung preis. War er’s? Wer?

An den Bäumen im Garten, im Blessenfelder Park die korrekt gemalten Schilder: 25, 50, 75, 100; er kniete sich ins Startloch, murmelte sich selbst zu: ‚Auf die Plätze, fertig, los‘, lief los, verlangsamte sein Tempo, kehrte zurück; las von der Stoppuhr die Zeit ab, trug sie in das marmorierte Heft ein, das auf dem steinernen Gartentisch lag; kniete sich wieder ins Startloch, murmelte sich das Kommando zu, lief los, steigerte die erprobte Strecke nur um ein geringes; oft dauerte es lange, ehe er über die 25 hinauslief, länger noch, bis er die 50 erreichte, einmal dann zum Schluss lief er die ganze Strecke bis zur 100, trug die erreichte Zeit ins Heft ein: 11,2. Das war wie eine Fuge, präzis, erregend, und doch waren Strecken großer Langeweile darin, gähnende Ewigkeit an Sommernachmittagen, im Garten oder im Blessenfelder Park; Start, Rückkehr, Start, geringe Steigerung, Rückkehr; auch seine Erläuterungen, wenn er sich neben sie setzte, die Zahlen im Heft auswertete und kommentierte, das System pries, waren beides: erregend und langweilig; seine Übungen rochen nach Fanatismus; dieser kräftige schlanke Jungenkörper roch nach dem ernsthaften Schweiß derer, die die Liebe noch nicht kennen; ihre Brüder Bruno und Friedrich hatten so gerochen, wenn sie von ihren Hochrädern stiegen, Kilometerzahlen und Zeiten im Kopf, fanatische Beinmuskeln dann im Garten durch fanatische Ausgleichsübungen zu erlösen suchten; Vater roch so, wenn er bei Gesangsübungen die Brust ernsthaft wölbte, Atmen zum Sport wurde, Singen kein Vergnügen war, sondern Bürgerernst, von Schnurrbärten eingerahmt; sie sangen im Ernst, fuhren im Ernst Rad, ernsthafte Beinmuskeln, Brustmuskeln, Mundmuskeln; Krämpfe zeichneten ekelhafte violette Blitze in die Beinhaut und Wangenhaut; stundenlang standen sie in kalten Herbstnächten, um Hasen zu schießen, die hinter Kohlstrünken sich verbargen, endlich im Morgengrauen Erbarmen mit den angestrengten Muskeln zeigten, sich zu deren Erlösung entschlossen und im Zick-Zack durch den Schrotregen liefen; wozuwozuwozu? war er, der das heimliche Lachen in sich trug, verborgene Feder im verborgenen Uhrwerk, die den unerträglichen Druck milderte, Entspannung herbeiführte; er, der einzige, der nicht vom Sakrament des Büffels gegessen hatte? Lachen hinter der Pergola, Kabale und Liebe; sie beugte sich übers Geländer, sah ihn aus dem Druckereitor kommen; mit leichtem Schritt ging er aufs Cafe Kroner zu; er trug das heimliche Lachen in sich wie eine Feder; war er ihre Beute oder sie die seine?



Vorsicht, Vorsicht! Warum immer so aufrecht, so ungebeugt? Ein Fehltritt nur und du fällst in die blaue Unendlichkeit hinunter, zerschellst hier unten an der Betonmauer des Komposthaufens; die welken Blätter werden den Aufprall nicht mildern, die Treppeneinfassung aus Granit ist nicht Polster genug; war er’s? Wer? Demütig stand der Wärter Huperts in der Tür: Tee, Kaffee, Bier, Wein oder Cognac für den Besucher? Augenblick bitte; Friedrich wäre zu Pferde gekommen, niemals hätte er den gelben Bus bestiegen, der wie ein Käfer oben an der Mauer zurückkroch; und Bruno nie ohne Stock, er schlug die Zeit damit tot, zerhackte sie; schlug sie mit dem Stock klein oder zerschnitt sie mit Spielkarten, die er ihr wie Klingen entgegenwarf, nächtelang, tagelang, Friedrich wäre zu Pferde gekommen und Bruno nie ohne Stock; weder Cognac für Friedrich noch Wein für Bruno; sie waren tot, törichte Ulanen ritten bei Erby-le-Huette ins Maschinengewehrfeuer; hatten geglaubt, sich der Bürgertugenden durch Bürgerlaster entledigen zu können, Frömmigkeitsübungen durch Zoten auszulöschen; unbekleidete Ballettratten auf Clubhaustischen kränkten die würdigen Ahnen nicht, da diese nicht so würdig gewesen waren, wie die Galerie sie zeigte; Cognac und Wein für immer von der Getränkekarte gestrichen, lieber Huperts. Vielleicht Bier? Ottos Schritt war nicht so elastisch, war Marschschritt, der Feindschaft, Feindschaft auf die Fliesen des Flurs trommelte, Feindschaft aufs Pflaster, die ganze Modestgasse hinunter; der hatte schon früh vom Sakrament des Büffels gegessen; oder ob der sterbende Bruder den Namen an Otto weitergab: Hindenburg? Vierzehn Tage nach Heinrichs Tod ist Otto geboren; gefallen bei Kiew; ich will mir nichts mehr vormachen, Huperts; Bruno und Friedrich, Otto und Edith, Johanna und Heinrich: alle tot.

Auch nicht Kaffee; es ist nicht der, dessen heimliches Lachen ich aus jedem seiner Schritte heraushörte; er ist älter; für diesen hier Tee, Huperts, frisch, stark, mit Milch, aber ohne Zucker, für meinen Sohn Robert, den Ungebeugten, Aufrechten, der sich immer von Geheimnissen nährte; auch jetzt eins in der Brust trägt; sie haben ihn geschlagen, pflügten seinen Rücken auf, aber er beugte sich nicht, gab sein Geheimnis nicht preis, verriet nicht meinen Vetter Georg, der ihm in der ‚Hunnen-apotheke‘ das Schwarzpulver gemischt hatte; hangelt sich da zwischen den beiden Leitern herunter, schwebt wie Ikarus mit ausgebreiteten Armen auf den Eingang zu, wird nicht im Kompostbecken landen, nicht am Granit zerschellen. Tee, lieber Huperts, frisch und stark, mit Milch, aber ohne Zucker; und Zigaretten, bitte, für meinen Erzengel: der bringt mir dunkle Botschaften, die nach Blut schmecken, nach Aufruhr und Rache: sie haben den blonden Jungen getötet; der lief die hundert Meter in 10,9; der lachte, sooft ich ihn sah, und ich sah ihn nur dreimal; der reparierte mir mit seinen geschickten Händen das winzige Schloss an der Schmuckkassette, an dem sich Tischler und Schlosser vierzig Jahre lang vergeblich versucht hatten; er fasste es nur an, und es ging wieder; er war kein Erzengel, nur ein Engel, hieß Ferdi und war blond, ein Tor, der glaubte, er komme mit Knallbonbons gegen die an, die vom Sakrament des Büffels gegessen hatten; der trank weder Tee noch Wein, nicht Bier, Kaffee oder Cognac, der hielt einfach seinen Mund an den Wasserhahn und lachte; er würde mir, wenn er noch lebte, ein Gewehr besorgen; oder der andere, dunkle, ein Engel, dem das Lachen verboten war, Ediths Bruder; sie nannten ihn Schrella; das war so einer, den man nie beim Vornamen nennt; Ferdi würde es tun, er würde das Lösegeld zahlen, mich aus diesem Schloss, in das ich verwünscht bin, herausholen, mit einem Gewehr; so aber bleibe ich verwünscht; nur durch riesige Leitern ist die Welt erreichbar; mein Sohn steigt zu mir herunter.

„Guten Tag, Robert, du magst doch Tee? Zuck nicht zusammen, wenn ich dich auf die Wange küsse; du siehst aus wie ein Mann, ein Vierziger, hast graue Haare an den Schläfen, enge Hosen an und eine himmelblaue Weste; ist das nicht zu auffällig? Vielleicht ist’s gut, so als Herr in den mittleren Jahren getarnt zu sein; du siehst aus wie ein Chef, den man gern mal husten hören würde, der aber zu fein ist, sich so etwas wie einen Husten zu leisten; verzeih, wenn ich lache; wie geschickt die Friseure heutzutage sind; das graue Haar sieht echt aus, die Bartstoppeln wirken wie die eines Mannes, der sich zweimal am Tag rasieren müsste, es aber nur einmal tut; geschickt; nur die rote Narbe ist unverändert; daran werden sie dich natürlich erkennen; ob es nicht auch dafür ein Mittel gibt?

Nein, du brauchst keine Angst zu haben; sie haben mich nicht angerührt, ließen die Peitsche an der Wand hängen, fragten nur: ‚Wann haben Sie ihn zuletzt gesehen?‘, und ich sagte die Wahrheit: ‚Morgens, als er zur Straßenbahn ging, um in die Schule zu fahren.‘

‚Aber in der Schule ist er nie angekommen.‘ – Ich schwieg.

‚Hat er keine Verbindung mit Ihnen aufgenommen?‘

Wieder die Wahrheit: ‚Nein.‘

Du hattest deine Spur zu auffällig gemacht, Robert; eine Frau aus der Barackensiedlung am Baggerloch brachte mir ein Buch mit deinem Namen und unserer Adresse drin: Ovid, grüngraue Pappe; Hühnerdreck drauf – fünf Kilometer davon entfernt wurde dein Lesebuch gefunden, in dem ein Blatt fehlte; die Kassiererin eines Kinos brachte es mir; sie kam ins Büro, gab sich als Klientin aus, und Joseph brachte sie zu mir rauf.

Eine Woche später fragten sie mich wieder: ‚Verbindung mit Ihnen aufgenommen?‘, und ich sagte: ‚Nein.‘ Später kam der eine hinzu, Nettlinger, der so oft meine Gastfreundschaft genossen hatte; er sagte: ‚In Ihrem eigenen Interesse, sagen Sie die Wahrheit.‘ Aber die hatte ich ja gesagt; nur wusste ich jetzt, dass du ihnen entwischt warst.

Monatelang nichts, Junge; dann kam Edith und sagte: ‚Ich erwarte ein Kind.‘ Ich war erschrocken, als sie sagte: ‚Der Herr hat mich gesegnet.‘ Ihre Stimme flößte mir Angst ein; verzeih, aber ich habe Sektierer nie gemocht; schwanger war das Mädchen und allein; der Vater verhaftet, der Bruder verschwunden, du weg – und sie hatten sie vierzehn Tage lang gefangengehalten und verhört; nein, sie haben sie nicht angerührt; wie leicht waren die paar Lämmer zerstreut worden, nur ein Lamm war übriggeblieben: Edith; ich nahm sie zu mir. Kinder, eure Torheit ist Gott gewiss wohlgefällig, aber ihr hättet ihn wenigstens umbringen sollen; jetzt ist er Polizeipräsident geworden; Gott schütze uns vor den überlebenden Märtyrern; Turnlehrer, Polizeipräsident, reitet auf seinem weißen Ross durch die Stadt, leitet eigenhändig die Bettlerrazzien; warum habt ihr ihn nicht wenigstens umgebracht; mit Pappe und Pulver allein? Knallbonbons töten nicht, Junge; ihr hättet mich fragen sollen: der Tod ist aus Metall; eine Kupferkartusche, Blei, Gußeisen, Metallsplitter bringen den Tod, sie sausen und surren, regnen nachts aufs Dach, prasseln gegen die Pergola; flattern wie wilde Vögel: Wildgänse rauschen durch die Nacht, stürzen sich auf die Lämmer; Edith ist tot; ich hatte sie für verrückt erklären lassen; drei Kapazitäten schrieben mit elegant unleserlicher Schrift auf weiße Bögen mit gewichtigen Briefköpfen; das hat Edith gerettet. Verzeih, dass ich lache: so ein Lamm; mit siebzehn das erste, mit neunzehn das zweite Kind und immer solche Sprüche im Mund: Der Herr hat dies getan, der Herr hat das getan, der Herr hat es gegeben, der Herr hat es genommen; der Herr, der Herr! Sie wusste nicht, dass der Herr unser Bruder ist: mit Brüdern kannst du getrost einmal lachen, mit Herren nicht immer; ich wusste gar nicht, dass Wildgänse Lämmer reißen, hielt sie immer für friedliche pflanzenfressende Vögel; Edith lag da, als wäre unser Familienwappen lebendig geworden: ein Lamm, dem der Blutstrahl aus der Brust bricht – aber es standen nicht Märtyrer und Kardinale, Eremiten und Ritter, Heilige um sie herum, sie anzubeten; nur ich; tot. Junge, versuche zu lächeln; ich versuchte es, aber es gelang mir nicht, am wenigsten bei Heinrich; er spielte mit dir, hängte dir Säbel um, setzte dir Helme auf, verwandelte dich in Franzos und Russ und Englishman, dieser stille Junge; und sang: muss haben ein Gewehr, muss haben ein Gewehr, und als er starb, flüsterte er mir das schreckliche Losungswort zu, den Namen des geheiligten Büffels: ‚Hindenburg‘. Er wollte das Gedicht auswendig lernen, war so korrekt und pflichtbewusst, aber ich zerriss den Zettel, streute die Schnippel wie Schneeflocken in die Modestgasse hinunter.

Trink doch, Robert, der Tee wird kalt, hier sind Zigaretten, und komm näher, ich muss ganz leise sprechen; niemand darf uns hören; am wenigsten Vater; er ist ein Kind, weiß nicht, wie böse die Welt ist, wie wenig reine Herzen es gibt; er hat eins; still, keinen Flecken auf dieses reine Herz; hör, du kannst mich erlösen: Ich muss haben ein Gewehr, muss haben ein Gewehr, und du musst es mir besorgen; vom Dachgarten aus könnte ich ihn gut erschießen; die Pergola hat dreihundertundfünfzig Löcher; wenn er auf seinem weißen Ross daherkommt, am Hotel Prinz Heinrich um die Ecke biegt, kann ich lange und ruhig zielen; tief einatmen muss man dabei; ich hab gelesen, zielen, Druckpunkt nehmen; ich habe es ausprobiert mit Brunos Spazierstock: wenn er um die Ecke biegt, habe ich zweieinhalb Minuten Zeit, aber ob ich den anderen noch erschießen kann, weiß ich nicht; es wird Verwirrung geben, wenn er vom Pferd fällt, und ich werde nicht ein zweites Mal ruhig atmen, zielen und Druckpunkt nehmen können; ich muss mich entscheiden: den Turnlehrer oder diesen Nettlinger; der hat mein Brot gegessen, meinen Tee getrunken, und Vater nannte ihn immer ‚einen frischen Jungen‘. Sieh nur, wie frisch dieser Junge ist; hat die Lämmer gerissen, dich und Schrella mit der Stacheldrahtpeitsche geschlagen; Ferdi hat einen zu hohen Preis gezahlt für diesen geringen Nutzen: angesengte Turnlehrerfüße, ein zerbrochener Garderobenspiegel; nicht Pulver und Pappe, Junge; Pulver und Metall…

Hier, Junge, trink doch endlich den Tee; schmeckt er dir nicht? Sind dir die Zigaretten zu trocken? Verzeih, ich hab nie was davon verstanden; hübsch siehst du aus, so als Vierziger mit grauen Schläfen, wie zum Notar geboren; ich muss lachen, wenn ich mir vorstelle, dass du wirklich einmal so aussehen könntest; wie geschickt die Friseure heutzutage doch sind.

Sei nicht so ernst; es wird vorübergehen, wir werden wieder Ausflüge machen, nach Kisslingen; Großeltern, Kinder, Enkelkinder, die ganze Sippe, dein Sohn wird mit den Händen Forellen zu fangen versuchen; wir werden das herrliche Brot der Mönche essen, ihren Wein trinken, die Vesper hören: Rorate coeli desuper et nubes pluant justum; Advent; Schnee in den Bergen, Eis auf den Bächen – such dir die Jahreszeit aus, Junge – Advent wird Edith am besten gefallen; sie riecht nach Advent, hat noch nicht begriffen, dass der Herr inzwischen als Bruder angekommen ist; der Gesang der Mönche wird ihr adventistisches Herz erfreuen und die dunkle Kirche, die dein Vater erbaut hat: Sankt Anton im Kissatal, zwischen den Weilern Stehlingers Grotte und Görlingers Stuhl.

Ich war noch nicht zweiundzwanzig, als die Abtei eingeweiht wurde, hatte noch nicht lange Kabale und Liebe zu Ende gelesen, ein Rest Backfischlachen steckte mir noch im Hals; in meinem grünen Samtkleid, bei Hermine Horuschka gekauft, sah ich aus wie eine, die eben ihre Tanzstunde absolviert hat; nicht mehr Mädchen, noch nicht ganz Frau, sah nicht aus, wie eine, die geheiratet, sondern wie eine, die verführt worden ist; weißer Kragen, schwarzer Hut, ich war schon schwanger und immer den Tränen nahe; der Kardinal flüsterte mir zu: ‚Sie hätten daheim bleiben sollen, gnädige Frau, ich hoffe, Sie stehen es durch.‘ Ich stand es durch, ich wollte dabeisein; als sie die Kirchentür öffneten, als die Kirchweihzeremonie begann, hatte ich Angst; er wurde ganz blaß, mein kleiner David, und ich dachte: jetzt ist sein Lachen dahin; sie töten es mit all ihrer Feierlichkeit; er ist zu klein und zu jung dafür, hat zu wenig Männerernst in seinen Muskeln; ich wusste, dass ich süß aussah, mit meinem grünen Kleid, den dunklen Augen und dem schneeweißen Kragen; ich hatte mir vorgenommen, nie zu vergessen, dass alles nur Spiel war. Ich musste noch lachen, wenn ich daran dachte, wie der Deutschlehrer gesagt hatte: ‚Ich prüfe Sie auf eine Eins hin‘, aber ich schaffte die Eins nicht, dachte die ganze Zeit nur an ihn, nannte ihn David, den Kleinen mit der Schleuder, den traurigen Augen und dem Lachen tief drinnen verborgen; ich liebte ihn, wartete jeden Tag auf die Minute, wenn er im großen Atelierfenster sichtbar wurde, blickte ihm nach, wenn er das Druckereitor verließ; ich schlich mich in die Chorprobe des Sängerbundes, beobachtete ihn, ob auch seine Brust sich zu ernsthaftem Männersport hebe und senke, und sah’s seinem Gesicht an: er gehörte nicht zu ihnen; ich ließ mich von Bruno einschmuggeln, wenn sich der Club der Reserveoffiziere im Prinz Heinrich zum Billardspiel traf, sah ihm zu, wie er die Arme anwinkelte, abwinkelte, weiß über grün, rot über grün stieß, und entdeckte es: das Lachen, tief drinnen verborgen; nein, er hatte nie vom Sakrament des Büffels gekostet, und ich hatte Angst, ob er die letzte, allerletzte und schwierigste Probe bestehen würde: Die Uniformprobe, am Geburtstag des Narren, im Januar, Marsch zum Denkmal an der Brücke, Parade vor dem Hotel, wo der General auf dem Balkon stand; wie würde es aussehen, wenn er da unten vorbeimarschierte, vollgepumpt mit Geschichte und Schicksalsträchtigkeit, während die Pauken und Trommeln dröhnten, die Hörner Attacke bliesen. Ich hatte Angst und fürchtete, er werde komisch aussehen; komisch wollte ich ihn nicht; sie sollten nie über ihn lachen, aber er immer über sie; und ich sah ihn, im Paradeschritt; mein Gott, du hättest ihn sehen sollen: als ginge er mit jedem Schritt über den Kopf eines Kaisers hinweg.

Später sah ich ihn oft in Uniform; die Zeit wurde an Beförderungen ablesbar; zwei Jahre: Oberleutnant, zwei Jahre: Hauptmann; ich nahm mir seinen Degen und erniedrigte ihn, kratzte damit den Dreck hinter den Lamperien heraus, den Rost von eisernen Gartenbänken, grub damit Löcher für meine Pflänzchen; zum Kartoffelschälen war er zu unhandlich.

Degen muss man ablegen und mit den Füßen treten, wie alle Privilegien, Junge; dazu allein sind sie da, sind Bestechungen: Voll ist ihre Rechte von Geschenken. Iss, was alle essen; lies, was alle lesen; trage Kleider, die alle tragen; dann kommst du der Wahrheit am nächsten; Adel verpflichtet, verpflichtet dich dazu, Sägemehl zu essen, wenn alle anderen es essen, den patriotischen Mist in den Lokalzeitungen zu lesen, nicht in den Blättern für Gebildete: Dehmel und so; nein, nimm es nicht an, Robert, Gretzens Pasteten, die Butter des Abts, Honig, Goldstücke und Hasenpfeffer: wozuwozuwozu, wenn die anderen es nicht haben; die Nichtprivilegierten dürfen getrost Honig und Butter essen, es verdirbt ihnen nicht Magen und Gehirn, aber du nicht, Robert, du musst dieses Dreckbrot essen: die Augen werden dir übergehen vor Wahrheit, und du musst diese schäbigen Kleiderstoffe tragen, dann wirst du frei sein.

Ich habe nur einmal ein Privileg genutzt, ein einziges Mal, du musst mir verzeihen; ich konnte es nicht mehr ertragen; ich musste zu Dröscher gehen, um für dich Amnestie zu erwirken; wir hielten es nicht mehr aus: Vater, ich, Edith, dein Sohn war schon geboren; wir fanden deine Botschaften im Briefkasten, sie waren winzig, so groß nur wie die Schnippel, die an Hustenbonbons herausragten; der erste kam vier Monate, nachdem du verschwunden warst: ‚Macht euch keine Sorgen, ich studiere fleißig in Amsterdam. Kuss für Mutter, Robert.‘ Sieben Tage später kam der zweite: ‚Ich brauche Geld, gebt’s, in Zeitungspapier gewickelt, einem Mann, der Groll heißt, Kellner im ,Anker’ am oberen Hafen. Kuss für Mutter, Robert.‘

Wir brachten das Geld hin; stumm servierte der Kellner, der Groll hieß, uns Bier und Limonade, nahm stumm das Paket entgegen, lehnte stumm Trinkgeld ab, schien uns gar nicht zu sehen, unsere Fragen gar nicht zu hören.

Wir klebten deine winzigen Botschaften in ein Notizbuch; lange kam keine, dann kamen sie öfter. ‚Geld immer erhalten: 2., 4. und 6. Kuss für Mutter, Robert.‘ Und Otto war auf einmal nicht mehr Otto: ein schreckliches Wunder war geschehen: er war Otto und war’s nicht mehr, er brachte Nettlinger und den Turnlehrer mit ins Haus; Otto – ich begriff, was es heißt, wenn sie sagen, dass von einem Menschen nur noch die Hülle übrigbleibt; Otto war nur noch Ottos Hülle, die rasch einen anderen Inhalt bekam; er hatte vom Sakrament des Büffels nicht nur gekostet, er war damit geimpft worden; sie hatten ihm sein altes Blut herausgesogen und ihm neues eingefüllt: Mord war in seinem Blick, und ich verbarg ängstlich die Zettel.

Monatelang kam kein Zettel; ich kroch im Flur über die Fliesen, suchte jede Ritze ab, jeden Fingerbreit des kalten Bodens, nahm die Lamperien weg, kratzte den Dreck heraus, weil ich fürchtete, die Kügelchen könnten hinter die Lamperie gerutscht, geblasen worden sein; ich schraubte den Briefkasten ab, nahm ihn auseinander, nachts, und Otto kam, drückte mich mit der Tür gegen die Wand, trat mir auf die Finger, lachte: monatelang fand ich nichts; die ganze Nacht stand ich hinter dem Vorhang im Schlafzimmer, wartete auf das Morgengrauen, bewachte die Straße und die Haustür, rannte hinunter, wenn ich den Zeitungsboten kommen sah; nichts; ich suchte die Brötchentüten ab, goss die Milch vorsichtig in die Kasserolle, löste das Etikett: nichts. Und wir gingen abends in den Anker, drückten uns an Uniformen vorbei, in die hintere Ecke, wo Groll bediente; aber der blieb stumm, schien uns nicht zu kennen; erst nach Wochen, nachdem wir Abend für Abend da gesessen und gewartet hatten, schrieb er auf den Rand des Bierdeckels: ‚Vorsicht! Ich weiß nichts!‘, schüttete Bier um, verwischte alles zu einem großen Tintenstiftklecks, brachte neues Bier, das er nicht bezahlt haben wollte; Groll, der Kellner im Anker; er war jung, hatte ein schmales Gesicht.

Und wir wussten natürlich nicht, dass der Junge, der die Zettelchen in unseren Briefkasten geworfen hatte, längst verhaftet war; dass wir bespitzelt wurden und Groll nur deshalb noch nicht verhaftet, weil sie hofften, er werde nun doch mit uns zu sprechen anfangen; wer kennt schon diese höhere Mathematik der Mörder; Groll, der Junge mit den Zettelchen, verschwunden beide, Robert – und du gibst mir kein Gewehr, erlöst mich nicht aus diesem verwunschenen Schloss.

Wir gaben die Besuche im Anker auf, fünf Monate nichts gehört; ich konnte nicht mehr, nahm zum ersten Mal Privilegien an, ging zu Dröscher, Dr. Emil, Regierungspräsident; ich war mit seiner Schwester zur Schule gegangen, mit ihm in die Tanzstunde; wir hatten Landpartien gemacht, Bierfässer auf Kutschen geladen, Schinkenbrote am Waldrand ausgepackt, hatten auf frischgemähten Wiesen Ländler getanzt, und mein Vater hatte dafür gesorgt, dass sein Vater, obwohl er nicht Akademiker war, in den Akademikerbund aufgenommen wurde; Quatsch, Robert – glaub nicht an so was, wenn’s um ernste Dinge geht; ich hatte Dröscher ‚Em‘ genannt, das war eine Abkürzung für Emil, die damals als schick galt, und ließ mich nun, dreißig Jahre danach, bei ihm melden, hatte mein graues Kostüm angezogen, den violetten Schleier am grauen Hut, schwarze Schnürschuhe an; er holte mich selbst aus dem Vorzimmer, küsste mir die Hand, sagte: ‚Ach, Johanna, sag doch noch mal Em zu mir‘, und ich sagte: ‚Em, ich muss wissen, wo der Junge ist. Ihr wisst es doch!‘ Das war, als wenn die Eiszeit ausgebrochen wäre, Robert. Ich sah ihm gleich an, dass er alles wusste, spürte auch, wie er förmlich wurde, ganz spitz; da wurden die wulstigen Rotweintrinkerlippen ganz dünn vor Angst; und er blickte sich um, schüttelte den Kopf, flüsterte mir zu: ‚Das war nicht nur verwerflich, was dein Junge getan hat, es war auch politisch sehr unvernünftig.‘ Und ich sagte: ‚Wohin politische Vernunft führt, das sehe ich an dir.‘ Ich wollte gehen, aber er hielt mich zurück und sagte: ‚Mein Gott, sollen wir uns denn alle aufhängen?‘, und ich sagte: ‚Ja, ihr ja.‘ ‚Sei doch vernünftig‘, sagte er, ‚solche Angelegenheiten sind Sache des Polizeipräsidenten, und du weißt ja, was er dem getan hat.‘ ‚Ja‘, sagte ich, ‚ich weiß, was er dem getan hat: nichts. Leider nichts. Er hat ihm nur fünf Jahre lang sämtliche Schlagballspiele gewonnen.‘ Da biss sich der Feigling auf die Lippen und sagte: ‚Sport – mit Sport ist immer was zu machen.‘

Wir hatten ja damals noch keine Ahnung, Robert, dass eine Handbewegung das Leben kosten kann; Wakiera ließ einen polnischen Kriegsgefangenen zum Tode verurteilen, weil er die Hand gegen ihn erhoben hatte; nur die Hand erhoben, nicht mal zugeschlagen hatte der Gefangene.

Und dann fand ich eines Morgens auf meinem Frühstücksteller einen Zettel von Otto: ‚Ich brauche auch Geld – 12 – ihr könnt es mir bar übergeben.‘ Und ich ging ins Atelier hinüber, nahm zwölftausend Mark aus dem Geldschrank – sie lagen da bereit für den Fall, dass mehr Zettel von dir kämen – und warf Otto den Packen auf den Frühstückstisch; ich wollte schon nach Amsterdam kommen und dir sagen, du solltest keine Zettel mehr schicken: sie kosten jemand das Leben. Aber nun bist du ja hier; ich wäre verrückt geworden, wenn sie dich nicht amnestiert hätten, bleib hier; ist es nicht gleichgültig, wo du lebst, in einer Welt, wo eine Handbewegung dich das Leben kosten kann? Du kennst die Bedingungen, die Dröscher für dich ausgehandelt hat: keine politische Betätigung und nach dem Examen sofort zum Militär; das Abitur nachholen, das hab ich schon vorbereitet, und Klähm, der Statiker will dich prüfen und dir so viele Semester erlassen, wie er eben kann; musst du unbedingt studieren? Gut, wie du willst – und Statik? Warum? Gut, wie du willst; Edith freut sich. Geh doch zu ihr rauf! Geh doch! Rasch, willst du deinen Sohn nicht sehen? Ich habe ihr dein Zimmer gegeben; sie wartet oben; nun geh doch.“

Er stieg die Treppen hinauf, an braunen Schränken vorüber, streifte schweigsame Flure, stieg bis unters Dach, wo eine Diele als Vorraum zum Speicher diente; hier roch es nach heimlich gerauchten Wärterzigaretten, nach feuchter Bettwäsche, die auf dem Speicher zum Trocknen hing; erdrückend war die Stille, die durchs Treppenhaus hochstieg wie durch einen Kamin. Er blickte durchs Dachfenster in die Pappelallee, die zur Bushaltestelle führte; saubere Beete, das Treibhaus, der marmorne Springbrunnen, rechts an der Mauer die Kapelle; sah wie ein Idyll aus, war’s und roch so; Kühe weideten hinter elektrisch geladenen Zäunen, in Abfällen wühlten Schweine, die selbst wieder Abfälle werden würden, blubbernde Kübel mit fettiger Brühe wurden von einem Wärter in Tröge entleert; die Landstraße draußen hinter der Anstaltsmauer schien in eine Unendlichkeit der Stille hineinzuführen.

Wie oft hatte er hier schon gestanden, auf dieser Station, auf die sie ihn immer wieder schickte, um ihre Erinnerung präzis nachzuvollziehen? Er stand hier als der zweiundzwanzigjährige Robert, heimgekehrt, zum Schweigen entschlossen; musste Edith begrüßen und seinen Sohn Joseph; Edith und Joseph waren die Stichworte für die Station; sie waren ihm beide fremd, die Mutter und der Sohn, und sie waren beide verlegen, als er ins Zimmer kam, Edith noch mehr als er; hatten sie sich überhaupt geduzt?

Sie tischte das Essen auf, als sie nach dem Schlagballspiel zu Schrellas kamen: Kartoffeln mit einer undefinierbaren Soße und grünen Salat, schüttete später dünnen Tee auf, und er hasste damals dünnen Tee, hatte so seine Vorstellungen: die Frau, die er heiraten würde, musste Tee aufschütten können; sie konnte es offenbar nicht, und er wusste doch, als sie die Kartoffeln auf den Tisch stellte, dass er sie ins Gebüsch ziehen würde, wenn sie vom Cafe Zons aus auf dem Heimweg durch den Blessenfelder Park kämen; sie war blond, sah aus wie sechzehn und hatte kein Backfischlachen im Hals; keine falsche Erwartung von Glück in den Augen, die mich sofort aufnahmen; sie sprach das Tischgebet: Herr, Herr!, und er dachte: wir hätten mit den Fingern essen sollen, die Gabel in seiner Hand kam ihm dumm vor, der Löffel fremd, und er begriff zum ersten Mal, was essen ist: gesegnet, den Hunger zu stillen, sonst nichts; nur Könige und Arme essen mit den Fingern. Sie sprachen auch nicht miteinander, als sie durch die Gruffelstraße, durch Blessenfeld, den Park ins Cafe Zons gingen, und er hatte Angst, als er ihr in die Hand schwor, nie vom Sakrament des Büffels zu essen; Torheit; er hatte Angst wie bei einer Weihe, und als sie durch den Park wieder zurückgingen, nahm er Ediths Hand, hielt sie zurück, ließ Schrella vorgehen, sah dessen dunkelgraue Silhouette im Abendhimmel verschwinden, als er Edith ins Gebüsch zog; sie wehrte sich nicht und lachte nicht, und ein uraltes Wissen, wie man es machen muss, stieg in seine Hände, füllte seinen Mund und seine Arme; er behielt in Erinnerung nur ihr blondes Haar, das vom Sommerregen glänzte, den Kranz silberner Tropfen an ihren Brauen, wie das Skelett eines zarten Meerestieres, auf rostfarbenem Strand gefunden, die Linien ihres Mundes, zu unzähligen Wölkchen gleichen Ausmaßes vervielfältigt, während sie gegen seine Brust flüsterte: ‚Sie werden dich töten!‘ Also hatten sie sich doch geduzt, im Gebüsch, da im Park und am Nachmittag darauf in dem billigen Absteigequartier; er zerrte Edith am Handgelenk neben sich her, ging durch die Stadt wie ein Blinder, folgte einer Wünschelrute, fand instinktiv das richtige Haus, er hatte das Pulver in einem Paket unterm Arm, für Ferdi, den er abends treffen wollte. Er entdeckte, dass sie sogar lächeln konnte, in den Spiegel hinein, den billigsten, den die Kuppelmutter im Einheitspreisladen hatte auftreiben können, lächeln, als auch sie ihr uraltes Wissen entdeckte; und er wusste bereits, dass das kleine Paket mit Pulver auf der Fensterbank da eine Torheit enthielt, die getan werden musste; Vernunft führte zu nichts in dieser Welt, in der eine Handbewegung das Leben kosten konnte; Ediths Lächeln wirkte auf diesem des Lächelns ungewohnten Gesicht wie ein Wunder, und als sie die Treppe hinunter ins Zimmer der Wirtin gegangen waren, war er erstaunt darüber, wie billig das Zimmer berechnet wurde; er zahlte eins fünfzig, und die Wirtin lehnte die fünfzig Pfennig, die er draufgeben wollte, ab! ‚Nein, mein Herr, ich nehme kein Trinkgeld, ich bin eine unabhängige Frau.‘

Er hatte sie also doch geduzt, die da mit dem Kind auf dem Schoß in seinem Zimmer saß; Joseph, er nahm ihn ihr vom Schoß, hielt ihn eine Minute ungeschickt, legte das Kind aufs Bett, und das uralte Wissen füllte ihn wieder, seine Hände, seinen Mund, seine Arme. Sie lernte nie, Tee aufzuschütten, auch später nicht, als sie in einer eigenen Wohnung wohnten; Puppenmöbel, wenn er von der Universität kam, oder in Urlaub: Unteroffizier bei den Pionieren; ließ sich als Sprengspezialist ausbilden, bildete später selbst Sprengtrupps aus, säte Formeln, die genau das enthielten, was er wünschte: Staub und Trümmer, Rache für Ferdi Progulske, für den Kellner, der Groll hieß, den Jungen, der seine Zettel in den Briefkasten geworfen hatte. Edith mit dem Einkaufsnetz, mit dem Rabattmarkenbuch, Edith, im Kochbuch blätternd; gab dem Jungen die Flasche, legte Ruth an die Brust; junger Vater, junge Mutter; sie kam mit dem Kinderwagen ans Kasernentor, um ihn abzuholen, sie wanderten am Flussufer entlang, über Schlagballwiesen, Fußballwiesen, bei Hoch- und bei Niedrigwasser, saßen auf Kribben, während Joseph im Flusssand spielte, Ruth erste Gehversuche machte; zwei Jahre lang das Spiel gespielt: Ehe; er kam sich nie wie ein Ehemann vor, wenn er auch mehr als siebenhundertmal seine Mütze, seinen Mantel an die Garderobe hängte, den Rock auszog, sich an den Tisch setzte; Joseph auf dem Schoß, während Edith das Tischgebet sprach: Herr, Herr!; nur keine Privilegien, keine Extravaganzen; Feldwebel bei den Pionieren, Dr. Robert Fähmel, mathematisch begabt; Erbsensuppe essen, während die Nachbarn aus dem Radioapparat das Sakrament des Büffels empfingen; Urlaub bis zum Wecken; mit der ersten Straßenbahn in die Kaserne zurück, Ediths Kuss an der Tür, und das merkwürdige Gefühl, sie wieder einmal geschändet zu haben, die kleine Blonde da im roten Morgenrock; Joseph an der Hand, Ruth im Kinderwagen; keine politische Betätigung; hatte er sich je politisch betätigt? Amnestiert war die Jugendtorheit, verziehen; einer der begabtesten Offiziersanwärter; vom Stumpfsinn fasziniert, weil er Formelhaftes enthielt; säte Staub und Trümmer, paukte Sprengformeln in Hirne. ‚Keine Post von Alfred?‘ – Er wusste nie, wen sie meinte, vergaß, dass auch sie Schrella geheißen hatte. Zeit an Beförderungen ablesbar: ein halbes Jahr: Gefreiter; ein halbes Jahr: Unteroffizier; ein halbes Jahr: Feldwebel, und noch ein halbes Jahr: Leutnant; dann zog die stumpfe graue, völlig freudlose Masse zum Bahnhof hinaus: keine Blumen, kein Lachen am Wegesrand, kein Kaiserlächeln über ihnen, nicht der Übermut zu lange angestauten Friedens; gereizte Masse, und doch dumpf ergeben; verlassen die Puppenstube, in der sie Ehe gespielt hatten, und am Bahnhof den Schwur erneuert, nie vom Sakrament des Büffels zu kosten.

War es die feuchte Bettwäsche, oder die Feuchtigkeit der Mauern, die ihn frieren machte? Er durfte die Station verlassen, auf die sie ihn postiert hatte. Stichworte: Edith, Joseph. Er trat seine Zigarette am Boden aus, ging die Treppe wieder hinunter, drückte zögernd die Klinke herunter, sah seine Mutter am Telefon stehen; sie winkte ihm lächelnd Schweigen zu, während sie in den Hörer hinein sagte: „Ich bin ja so froh, Herr Pastor, dass Sie die beiden am Sonntag trauen können; wir haben die Papiere beisammen, die standesamtliche Trauung findet morgen statt.“ Hörte er wirklich die Pfarrerstimme antworten, oder war es nur im Traum: „Ja, liebe Frau Fähmel, ich bin ja so froh, wenn dieses Ärgernis endlich beseitigt wird.“

Edith trug kein weißes Kleid, weigerte sich, Joseph zu Hause zu lassen, hielt ihn auf dem Arm, während der Pfarrer die beiden Jas forderte, die Orgel spielte; und er trug nicht Schwarz; überflüssig, sich umzuziehen; weg; kein Sekt; Vater hasste Sekt, und der Vater der Braut, den er nur einmal gesehen hatte, spurlos verschwunden, vom Schwager noch kein Lebenszeichen; gesucht wegen Mordversuchs, obwohl er das Pulverpaket verachtet, den Anschlag hatte verhindern wollen.

Sie hängte den Hörer ein, kam auf ihn zu, legte ihm die Hände auf die Schultern, fragte: „Ist er nicht süß, dein kleiner Junge? Du musst ihn sofort nach der Hochzeit adoptieren, und ich habe mein Testament zu seinen Gunsten gemacht. Hier, nimm noch Tee; in Holland trinken sie doch guten Tee; hab keine Angst: Edith wird eine gute Frau sein, du wirst rasch dein Examen machen; ich werde euch eine Wohnung einrichten, und vergiss nicht, heimlich zu lächeln, wenn du zum Militär musst; halte dich still und denk daran: in einer Welt, in der Handbewegungen das Leben kosten können, kommt es auf solche Gefühle nicht mehr an; ich werde euch eine Wohnung einrichten; Vater wird sich freuen; er ist nach Sankt Anton hinausgefahren – als ob er dort Trost finden würde. Es zittern die morschen Knochen, mein Junge – sie haben Vaters heimliches Lachen getötet, die Feder ist gesprungen: für diesen Druck war sie nicht geschaffen; da nützt dir das hübsche Wort Tyrannen nichts mehr; Vater hält es nicht aus, im Atelier drüben zu hocken, und Ottos Hülle flößt ihm Schrecken ein; du solltest versuchen, dich mit Otto zu versöhnen, bitte, versuche doch; bitte, geh.“



Versöhnungsversuche mit Otto; er hatte schon viele vollzogen, war Treppen hinaufgestiegen, hatte an Zimmertüren geklopft; dieser untersetzte Junge da war ihm nicht einmal fremd, die Augen blickten ihn nicht einmal wie einen Fremden an; hinter dieser breiten, blassen Stirn war die Macht in ihrer einfachsten Formel wirksam, war Macht über furchtsame Schulkameraden, über Passanten, die die Fahne nicht grüssten; Macht, die rührend hätte sein können, wäre sie nur in Vorstadtsporthallen wirksam geworden, oder an Straßenecken, hätte es sich um drei Mark für einen gewonnenen Boxkampf oder um buntgekleidete Mädchen gehandelt, die der Sieger ins Kino führen, in Hauseingängen küssen durfte; aber an Otto war nichts Rührendes, wie er es manchmal an Nettlinger entdeckte; dieser Macht ging es nicht um gewonnene Boxkämpfe, um buntgekleidete Mädchen; sogar in diesem Hirn war die Macht schon Formel geworden, der Nützlichkeit entkleidet, von Instinkten befreit, war fast ohne Hass, vollzog sich automatisch: Schlag auf Schlag.

Bruder, ein großes Wort, Hölderlinwort, gewaltig, das aber nicht einmal der Tod zu füllen schien, wenn es Ottos Tod war; nicht einmal die Todesnachricht hatte Versöhnung gebracht: Gefallen bei Kiew! Das hätte doch klingen können: nach Tragik, Größe, Brüderlichkeit, hätte verbunden mit dem Lebensalter rührend sein können wie auf Grabsteinen: fünfundzwanzig Jahre alt, gefallen bei Kiew; aber es klang nicht, und er bemühte sich vergebens, die Versöhnungsversuche nachzuvollziehen; ihr seid doch Brüder; sie waren es, laut Standesamtsregister, laut Aussage der Hebamme; vielleicht hätte er Rührung und Größe fühlen können, wenn sie einander wirklich fremd gewesen wären, aber sie waren es nicht; er sah ihn essen, trinken: Tee, Kaffee, Bier; aber Otto aß nicht das Brot, das er aß, trank nicht die Milch und den Kaffee, den er trank; und es war noch schlimmer mit Worten, die sie wechselten: wenn Otto Brot sagte, klang es weniger vertraut in den Ohren wie das Wort ‚pain‘, als er es zum ersten Mal hörte und noch gar nicht wusste, dass es Brot bedeutete; einer Mutter und eines Vaters Söhne, in einem Haus geboren und aufgewachsen, gegessen, getrunken, geweint, dieselbe Luft geatmet, denselben Schulweg gehabt; und zusammen gelacht, gespielt, und er hatte zu Otto ‚Brüderchen‘ gesagt und den Arm des Bruders um seinen Hals gespürt, seine Angst vor der Mathematik erfahren, ihm geholfen, tagelang mit ihm gepaukt, um ihm die Angst zu nehmen, und hatte es fertiggebracht, ihm die Angst wirklich zu nehmen, dem Brüderchen – und nun plötzlich, nach den zwei Jahren, die er weg gewesen war: nur noch Ottos Hülle; nicht einmal mehr fremd; nicht einmal das Pathos dieses Wortes; es zog nicht, stimmte und klang nicht, wenn er an Otto dachte, und er begriff zum ersten Mal, was es wirklich bedeutete, Ediths Wort, vom Sakrament des Büffels essen; der hätte seine Mutter dem Henker ausgeliefert, wenn die Henker sie hätten haben wollen.

Und wenn er zu einem der Versöhnungsversuche wirklich hinaufgestiegen war, Ottos Tür geöffnet hatte, eingetreten war, drehte Otto sich um und fragte: ‚Was soll’s?‘ Otto hatte recht: was sollte es. Wir waren einander nicht einmal fremd, kannten einander genau, wussten voneinander, dass der eine Apfelsinen nicht mochte, der andere lieber Bier als Milch trank, statt Zigaretten lieber Zigarillos rauchte, und wie der eine sein Lesezeichen im Schott zurechtlegte.

Er wunderte sich nicht, dass er Ben Wackes und Nettlinger in Ottos Zimmer hinaufgehen sah, ihnen im Flur begegnete, und er erschrak über die Erkenntnis, dass die beiden ihm weniger unverständlich waren als sein Bruder; sogar Mörder waren nicht immer Mörder, waren es nicht zu jeder Stunde des Tags wie der Nacht, es gab den Feierabend des Mörders, wie es den Feierabend des Eisenbahners gab; jovial waren die beiden, klopften ihm auf die Schulter; Nettlinger sagte: ‚Na, war ich’s nicht, der dich laufen ließ?‘ Sie hatten Ferdi dem Tod überliefert, Groll und Schrellas Vater, den Jungen, der die Botschaften überbrachte, dorthin geschickt, wo man spurlos verschwindet, aber nun: Schwamm drüber. Man ist doch kein Spielverderber. Nichts für ungut. Feldwebel bei den Pionieren; Sprengspezialist, verheiratet, mit Wohnung, Rabattsparbuch und zwei Kindern. ‚Um deine Frau brauchst du dich nie zu sorgen, der wird nie was passieren, solange ich noch da bin.‘

„Nun? Hast du mit Otto gesprochen? Ohne Erfolg? Ich habe es gewusst, aber man muss es immer wieder versuchen, immer wieder; komm näher, leise, ich muss dir was sagen! Ich glaube, er ist verflucht, behext, wenn dir das besser gefällt, und es gibt nur einen Weg, ihn zu befreien: ich muss haben ein Gewehr, muss haben ein Gewehr; der Herr spricht: ‚Mein ist die Rache‘, aber warum soll ich nicht des Herrn Werkzeug sein?“

Sie ging zum Fenster, nahm aus der Ecke zwischen Fenster und Vorhang den Spazierstock ihres Bruders, der vor dreiundvierzig Jahren gestorben war, legte den Stock an wie ein Gewehr und zielte, nahm Ben Wackes und Nettlinger aufs Korn; sie ritten draußen vorüber, der eine auf einem Schimmel, der andere auf einem Braunen; der wandernde Spazierstock zeigte das Tempo des vorübergehenden Pferdes genau an, das war wie mit der Stoppuhr gemessen; sie kamen um die Ecke, am Hotel vorbei in die Modestgasse hinein, ritten vorüber bis ans Modesttor, das die Sicht versperrte; und sie senkte den Stock. ‚Zweieinhalb Minuten hab ich Zeit‘, Atemholen, zielen, Druckpunkt nehmen; die Nähte ihres Traumes waren stichfest, nirgendwo ließ sich die feingesponnene Lüge aufreißen; sie stellte den Stock wieder in die Ecke.

„Ich werde es tun, Robert, werde das Werkzeug des Herrn sein; ich habe Geduld, die Zeit dringt nicht in mich ein; nicht Pulver mit Pappe, sondern Pulver mit Blei muss man nehmen; Rache für das Wort, das als letztes die unschuldigen Lippen meines Sohnes verließ. Hindenburg; das Wort, das auf dieser Erde von ihm blieb; ich muss es auslöschen; bringen wir Kinder zur Welt, damit sie mit sieben Jahren sterben und als letztes Wort Hindenburg hauchen? Ich hatte das zerrissene Gedicht auf die Straße gestreut, und er war so ein korrekter, kleiner Bengel, flehte mich an, ihm eine Abschrift zu beschaffen, aber ich weigerte mich, wollte nicht, dass dieser Unsinn über seine Lippen kam; im Fieber suchte er sich die Zeilen zusammen, und ich hielt mir die Ohren zu, hörte es aber durch meine Hände hindurch: ‚Der alte Gott wird mit Euch sein‘; ich versuchte, ihn aus dem Fieber zu reißen, wachzurütteln, er sollte mir in die Augen sehen, meine Hände spüren, meine Stimme hören, aber er sprach weiter: ‚Solange noch deutsche Wälder stehn, solange noch deutsche Wimpel wehn, solange noch lebt ein deutsches Wort, lebt der Name unsterblich fort‘; es tötet mich fast, wie er im Fiebertraum das der noch betonte, ich suchte alles Spielzeug zusammen, nahm dir deins ab, und ließ dich losheulen, häufte alles vor ihm auf die Bettdecke, aber er kam nicht mehr zurück, blickte mich nicht mehr an. Heinrich, Heinrich. Ich schrie, betete und flüsterte, er aber starrte in Fieberländer, die nur noch eine einzige Zeile für ihn bereithielten: Vorwärts mit Hurra und Hindenburg; nur noch diese eine und einzige Zeile lebte in ihm, und ich hörte als letztes Wort aus seinem Mund: Hindenburg.

Ich muss den Mund meines siebenjährigen Sohnes rächen, Robert, verstehst du denn nicht? An denen rächen, die da an unserem Haus vorbei auf das Hindenburgdenkmal zureiten; glatte Kränze werden hinter ihnen hergetragen, mit goldenen Schleifen, schwarzen und violetten; immer habe ich gedacht: Stirbt er denn nie? Werden wir ihn in der Ewigkeit noch als Briefmarke serviert bekommen, den uralten Büffel, dessen Namen mir mein Sohn als Losungswort zurufen wird. Besorgst du mir jetzt ein Gewehr? Ich werde dich beim Wort nehmen; es braucht nicht heute zu sein, nicht morgen, aber bald; ich habe Geduld gesammelt; erinnerst du dich nicht an deinen Bruder Heinrich? Du warst schon fast zwei, als er starb. Wir hatten damals den Hund, der Brom hieß, weißt du nicht mehr, er war so alt und so weise, dass er die Schmerzen, die ihr beide ihm zufügtet, nicht in Bosheit, sondern in Trauer umsetzte; ihr hieltet euch an seinem Schwanz fest und ließt euch durchs Zimmer schleifen, weißt du nicht mehr; du warfst die Blumen, die du auf Heinrichs Grab legen solltest, zum Kutschenfenster hinaus, wir ließen dich vor dem Friedhof; du durftest oben auf dem Kutschbock die Zügel halten; sie waren aus brüchigem schwarzen Leder. Siehst du Robert, du erinnerst dich: Hund, Zügel, Bruder – und Soldaten, Soldaten, unendlich viele, weißt du nicht mehr, sie kamen die Modestgasse herauf, schwenkten vor dem Hotel ab zum Bahnhof, zogen ihre Kanonen hinter sich her; Vater hielt dich auf dem Arm und sagte: ‚Der Krieg ist aus.‘

Eine Billion für einen Riegel Schokolade, dann zwei Billionen für ein Bonbon, eine Kanone für ein halbes Brot, ein Pferd für einen Apfel; immer mehr; und dann keinen halben Groschen für das billigste Stück Seife; es konnte nicht gutgehen, Robert, und sie wollten nicht, dass es gutging; und immer kamen sie durchs Modesttor, schwenkten müde zum Bahnhof hin: ordentlich, ordentlich, trugen den Namen des großen Büffels vor sich her: Hindenburg; der sorgte für Ordnung, bis zum letzten Atemzug; ist er denn wirklich tot, Robert? Ich kann es nicht glauben: ‚Gemeißelt in Stein, gegraben in Erz. Hindenburg! Vorwärts‘; der sah mir nach Einigkeit aus, mit seinen Büffelbacken auf den Briefmarken, ich sage dir, der wird uns noch zu schaffen machen, wird uns zeigen, wohin politische Vernunft führt und die Vernunft des Geldes: ein Pferd für einen Apfel, und eine Billion für ein Bonbon, und dann keinen halben Groschen für ein Stück Seife, und immer ordentlich; ich hab’s gesehen und hab’s gehört, wie sie den Namen vor sich hertrugen; dumm wie Erde, taub wie ein Baum, und sorgte für Ordnung; anständig, anständig, Ehre und Treue, Eisen und Stahl, Geld und notleidende Landwirtschaft; Vorsicht, Junge, wo die Äcker dampfen und die Wälder rauschen, Vorsicht: da wird das Sakrament des Büffels geweiht.

Glaub nicht, dass ich verrückt bin, ich weiß genau, wo wir sind: in Denklingen, hier, da siehst du den Weg, zwischen den Bäumen führt er an der blauen Wand hinauf bis zu der Stelle, wo die gelben Busse wie Käfer vorbeikriechen; sie haben mich hergebracht, weil ich deine Kinder hungern ließ, nachdem das letzte Lamm von den flatternden Vögeln getötet worden war; es ist Krieg, Zeit an Beförderungen ablesbar; Leutnant warst du, als du weggingst, zwei Jahre: Oberleutnant. Bist du noch nicht Hauptmann? Diesmal werden sie es unter vier Jahren nicht tun, vielleicht dauert es sechs, dann wirst du Major; verzeih, dass ich lache; treib’s nicht zu weit mit deinen Formeln im Gehirn und verliere nicht die Geduld und nimm keine Privilegien an; wir essen nicht einen Krümel mehr, als es auf Lebensmittelkarten gibt; Edith ist damit einverstanden; iss, was alle essen, zieh an, was alle anziehn, lies, was alle lesen; nimm nicht die Extrabutter, das Extrakleid, das Extragedicht, das dir den Büffel auf elegantere Weise anbietet. Voll ist ihre Rechte von Geschenken, Schmiergelder in vielfältiger Münze. Ich wollte auch deine Kinder keine Privilegien genießen lassen, sie sollten die Wahrheit auf ihren Lippen kosten, aber sie brachten mich weg von den Kindern; das nennt man Sanatorium, hier darfst du verrückt sein, ohne verprügelt zu werden, hier wird dir nicht kaltes Wasser über den Körper geschüttet, und ohne Einwilligung der Anverwandten bekommst du das spanische Hemd nicht angezogen; ich hoffe, ihr werdet nicht einwilligen, dass sie’s mir anziehen; ich kann sogar ausgehen, wenn ich will, denn ich bin harmlos, ganz harmlos, Junge; doch ich will nicht ausgehn, will die Zeit nicht sehen und nicht täglich spüren müssen, dass das heimliche Lachen getötet worden ist, die verborgene Feder im verborgenen Uhrwerk zerbrochen; er fing plötzlich an, sich ernst zu nehmen; feierlich, sage ich dir; da wurden ganze Gebirge von Steinen vermauert, ganze Wälder Bauholz geschlagen, und Beton, Beton, du hättest den Bodensee damit zuschütten können; im Bauen suchen sie Vergessen, das ist wie Opium; du glaubst gar nicht, was so ein Architekt in vierzig Jahren alles zusammenbaut – ich bürstete ihm die Mörtelspuren vom Hosenrand, die Gipsflecken vom Hut, er rauchte seine Zigarre, den Kopf in meinem Schoß, und wir beteten die Litanei des Weißt-du-noch ab: weißt du noch 1907, 1914, 1921, 1928, 1935 – und die Antwort war immer ein Bauwerk – oder ein Todesfall; weißt du noch, wie Mutter starb, weißt du noch, wie Vater starb, Johanna und Heinrich? Weißt du noch, wie ich Sankt Anton baute, Sankt Servatius und Bonifatius und Modestus, den Damm zwischen Heiligenfeld und Blessenfeld, das Kloster für die Weißen Väter und für die Braunen, Erholungsheime für die barmherzigen Schwestern, und jede Antwort klang mir im Ohr wie: Erbarme dich unser! Bauwerk auf Bauwerk gehäuft, Todesfall auf Todesfall; er fing an, hinter seiner eigenen Legende herzulaufen, die Liturgie nahm ihn gefangen; jeden Morgen das Frühstück im Cafe Kroner, wo er doch lieber mit uns gefrühstückt hätte, seinen Milchkaffee getrunken, sein Brot dazu gegessen, ihm lag ja gar nichts an dem weichgekochten Ei, dem Toast und diesem scheußlichen Paprikakäse, aber er fing an zu glauben, es läge ihm was dran; ich hatte Angst; er fing an, ärgerlich zu werden, wenn er einen großen Auftrag nicht bekam, wo er doch bisher immer noch froh gewesen war, wenn er einen bekommen hatte; verstehst du? Das ist eine komplizierte Mathematik, wenn du auf die Fünfzig, Sechzig zugehst und die Wahl hast, dir entweder an deinem eigenen Denkmal Erleichterung für die Blase zu verschaffen oder in Ehrfurcht daran hochzublicken; kein Augenzwinkern mehr; du warst achtzehn damals, Otto sechzehn – und ich hatte Angst; wie ein wachsamer Vogel mit scharfen Augen hatte ich da oben auf der Pergola gestanden, trug euch als Säuglinge, als kleine Kinder auf dem Arm, hatte euch an der Hand, oder ihr standet neben mir, schon größer als ich, und ich beobachtete, wie die Zeit da unten vorbeimarschierte; das brodelte, schlug sich, zahlte eine Billion für ein Bonbon und hatte dann keine drei Pfennige für ein Brötchen; ich wollte den Namen des Retters nicht hören, aber sie hoben den Büffel doch auf ihre Schultern, klebten ihn als Marke auf ihre Briefe und beteten die Litanei ab: anständig, anständig, Ehre, Treue, geschlagen und doch ungeschlagen; Ordnung; dumm wie Erde, taub wie ein Baum, Josephine zog ihn unten in Vaters Büro übers nasse Schwämmchen und klebte ihn in allen Farben auf die Briefe; und er, mein kleiner David, schlief; er wachte erst auf, als du verschwunden warst; als er sah, wie es das Leben kosten kann, ein Päckchen Geld, das eigene Geld, in Zeitungspapier gewickelt, von einer Hand in die andere zu legen; als sein Sohn plötzlich nur die Hülle seines Sohnes war. Treue, Ehre, anständig – da sah er es; ich warnte ihn vor Gretz, aber er sagte: ‚Der ist harmlos.‘ ‚Natürlich‘, sagte ich, ‚du wirst noch sehen, was die Harmlosen fertigbringen; der Gretz ist imstande, seine eigene Mutter zu verraten‘, und ich bekam Angst vor meiner eigenen Hellsicht, als Gretz wirklich seine Mutter verriet; er hat es getan, Robert, seine eigene Mutter an die Polizei verraten; nur, weil die alte Frau immer sagte: ‚Es ist eine Sünde und Schande.‘ Mehr sagte sie nicht, nur immer diesen Satz, bis ihr Sohn eines Tages erklärte: ‚Das kann ich nicht länger dulden, das ist gegen meine Ehre.‘ Sie schleppten die alte Frau weg, steckten sie in ein Altersheim, erklärten sie für verrückt, um ihr das Leben zu retten, aber gerade das brachte ihr den Tod; sie haben ihr eine Spritze gegeben. Hast du die alte Frau nicht gekannt? Die warf euch doch immer die leeren Pilzkörbe über die Mauer, ihr habt die Körbe auseinandergenommen und euch Schilfhütten draus gebaut; wenn es lange regnete, wurden sie braun und schmutzig, dann ließt ihr sie trocknen, und ich erlaubte euch, sie zu verbrennen; weißt du das nicht mehr; die alte Frau, die Gretz verriet, seine eigene Mutter – natürlich steht er immer noch hinter der Theke, streichelt die Leberlappen. Sie kamen auch, um Edith zu holen, aber ich gab sie nicht raus, ich fletschte die Zähne, schrie sie an, und sie wichen zurück; ich behielt Edith, bis der flatternde Vogel sie tötete; ich versuchte, auch ihn aufzuhalten, ich hörte ihn rauschen, niederstürzen, und wusste, dass er den Tod brachte, triumphierend brach er durchs Dielenfenster, ich hielt die Hände auf, ihn abzufangen, aber er flatterte zwischen meinen Armen hindurch; verzeih mir, ich konnte das Lamm nicht retten; und denk daran, Robert: du hast versprochen, mir ein Gewehr zu besorgen. Vergiss es nicht. Gib acht, Junge, wenn du Leitern hinaufsteigen musst; komm, lass dich küssen und verzeih, dass ich lache: wie geschickt die Friseure heutzutage sind.“



Aufrecht stieg er die Leiter hinauf, trat in die graue Unendlichkeit zwischen den Sprossen, während David von oben herab auf ihn zukam; klein; sein Leben lang hätte er die Anzüge tragen können, die er sich als junger Mann gekauft hatte; Vorsicht! warum müsst ihr zwischen den Stufen stehenbleiben, warum könnt ihr euch nicht wenigstens auf die Sprossen setzen, wenn ihr miteinander reden müsst, beide aufrecht; umarmten sie sich wirklich, legte der Sohn dem Vater, der Vater dem Sohn den Arm auf die Schulter?

Kaffee, Huperts, stark, heiß, mit viel Zucker; stark und süß mag er ihn am Nachmittag, mild am Morgen, mein Gebieter; er kommt aus der grauen Unendlichkeit, in die hinein sich der Aufrechte, Ungebeugte mit langen Schritten entfernt; sie sind mutig, mein Mann und mein Sohn, steigen in das verwunschene Schloss zu mir herunter; mein Sohn zweimal, mein Gebieter nur einmal in der Woche; er bringt den Samstag mit, trägt den Kalender in den Augen und lässt mir nicht die Hoffnung, sein Äußeres der Geschicklichkeit der Friseure zuzuschreiben; achtzig ist er, hat heute Geburtstag, wird feierlich im Cafe Kroner begangen; ohne Sekt; den hasste er immer, und ich erfuhr nie, warum.

Du hast einmal davon geträumt, eine Riesenfeier an diesem Tag zu veranstalten: siebenmal sieben Enkel, dazu Urenkel, Schwiegertöchter, angeheiratete Enkel mit Enkelinnen; du hast dich immer ein wenig wie Abraham gefühlt, Gründer einer gewaltigen Sippe, hast dich selbst in den Traumkabinetten der Zukunft mit dem neunundzwanzigsten Urenkel auf dem Arm gesehen.

Fortpflanzen, fortpflanzen; das wird ein traurige Feier geben: nur ein Sohn, der blonde Enkel, die schwarzhaarige Enkelin, die Edith dir schenkte, und die Mutter der Sippe im verwunschenen Schloss, nur über unendlich lange Leitern mit Riesensprossen erreichbar.

„Tritt ein, bring Glück herein, alter David, immer noch mit der Taillenweite der Jugend; verschone mich mit dem Kalender in deinen Augen; ich fahre dahin auf dem winzigen Kalenderblatt, das den Namen 31. Mai 1942 trägt; zerstöre mein Boot nicht; erbarme dich meiner, Geliebter, zerstöre nicht das Papierschiffchen, aus einem Kalenderblatt gefaltet, und stürz mich nicht in den Ozean der sechzehn Jahre. Weißt du noch: Der Sieg wird erkämpft, nicht geschenkt; wehe denen, die nicht vom Sakrament des Büffels essen; du weißt auch, dass Sakramente die schreckliche Eigenschaft haben, nicht der Endlichkeit unterworfen zu sein; und sie hatten Hunger, und es fand keine Brotvermehrung für sie statt, keine Fischvermehrung, das Sakrament des Lammes stillte nicht ihren Hunger, das des Büffels bot reichliche Nahrung; sie hatten nicht rechnen gelernt: eine Billion für ein Bonbon, ein Pferd für einen Apfel, und dann keine drei Pfennige für ein Brötchen; und immer ordentlich, anständig, Ehre, Treue; mit dem Sakrament des Büffels geimpft, sind sie unsterblich; gib’s auf, David, wozu die Zeit mit sich herumschleppen; sei barmherzig, lösch den Kalender in deinen Augen aus; Geschichte machen die ändern; dein Cafe Kroner ist dir sicher, irgendwann ein Denkmal, ein kleines aus Bronze, wird dich mit einer Zeichenrolle in der Hand zeigen: klein, zart, lächelnd, etwas zwischen jungem Rabbiner und Bohemien, mit dem unbestimmten Air ländlicher Herkunft; du hast doch gesehen, wohin politische Vernunft führt – willst du mir die politische Unvernunft rauben?

Von deinem Atelierfenster aus riefst du mir zu: ‚Mach dir keinen Kummer, ich werde dich lieben und dir die schrecklichen Sachen ersparen, von denen dir deine Schulfreundinnen erzählen; Sachen, wie sie angeblich in Hochzeitsnächten passieren; glaub dem Geflüster dieser Närrinnen nicht; wir werden lachen, wenn es soweit ist, bestimmt, ich verspreche es dir, aber du musst noch warten, ein paar Wochen, höchstens einen Monat, bis ich den Blumenstrauß kaufen, die Droschke mieten, vor eurem Haus vorfahren kann. Wir werden reisen, uns die Welt anschauen, du wirst mir Kinder schenken, fünf, sechs, sieben; die Kinder werden mir Enkel schenken, fünfmal, sechsmal, siebenmal sieben; du wirst nie merken, dass ich arbeite; ich werde dir den Männerschweiß ersparen, Muskelernst und Uniformernst; alles geht mir leicht von der Hand, ich hab’s gelernt, ein bisschen studiert, hab den Schweiß im voraus bezahlt; ich bin kein Künstler; mach dir keine Illusionen; ich werde dir weder falsche noch echte Dämonie bieten können, das, wovon dir deine Freundinnen Gruselmärchen erzählen, werden wir nicht im Schlafzimmer tun, sondern im Freien: du sollst den Himmel über dir sehen. Blätter oder Gräser sollen dir ins Gesicht fallen, du sollst den Geruch eines Herbstabends schmecken und nicht das Gefühl haben, an einer widerwärtigen Turnübung teilzunehmen, zu der du verpflichtet bist; du sollst herbstliches Gras riechen, wir werden im Sand liegen, unten am Flussufer, zwischen den Weidenbüschen, gleich oberhalb der Spur, die das Hochwasser hinterließ; Schilfstengel, Korken, Schuhcremedosen, eine Rosenkranzperle, die einer Schifferfrau über Bord fiel, und in einer Limonadenflasche eine Post; in der Luft der bittere Rauch der Schiffsschornsteine; rasselnde Ankerketten; wir werden keinen blutigen Ernst draus machen, obwohl’s natürlich ernst und blutig ist.‘

Und der Korken, den ich mit meinen nackten Zehen aufnahm und dir zur Erinnerung anbot? Ich hob ihn auf, schenkte ihn dir, weil du mir das Schlafzimmer erspart hattest, die dunkle Folterkammer aus Romanen, Freundinnengeflüster mit Nonnenwarnungen; Weidenzweige hingen mir in die Stirn, silbergrüne Blätter hingen mir über die Augen, die dunkel waren und glänzten; die Dampfer tuteten, mir zur Feier, riefen mir zu, dass ich nicht mehr Jungfrau sei; Dämmer, Herbstabend, längst waren alle Ankerketten gefallen, Matrosen und Schifferfrauen stiegen über schwankende Stege an Land, und schon begehrte ich, was ich vor Stunden noch gefürchtet hatte; und es kamen mir doch ein paar Tränen, weil ich mich meiner Vorfahren nicht würdig fühlte, die sich geschämt hätten, aus der Pflicht ein Vergnügen zu machen; du hast mir Weidenblätter auf die Stirn und die Tränenspur geklebt, unten am Flussufer, wo meine Füße Schilfrohr berührten, Flaschen mit Sommerfrischlergrüßen an die Bewohner; woher kamen alle die Schuhcremedosen, waren sie für die blanken Stiefel ausgehbereiter Matrosen, für die schwarzen Einkaufstaschen der Schifferfrauen, für die blanken Mützenschirme bestimmt gewesen, die im Dämmer blitzten, als wir später in Trischlers Cafe auf den roten Stühlen saßen? Ich bewunderte die herrlichen Hände dieser jungen Frau, die uns gebratenen Fisch brachte, Salat, der so grün war, dass mir die Augen schmerzten; Wein; die Hände dieser jungen Frau, die achtundzwanzig Jahre später den Rücken meines zerschundenen Sohnes mit Wein wusch; du hättest Trischler nicht anbrüllen sollen, als er anrief und von Roberts Unfall erzählte; Hochwasser, Hochwasser, immer hat es mich gelockt, mich hineinzuwerfen und auf den grauen Horizont zutreiben zu lassen. Tritt ein, bring Glück herein, aber küss mich nicht; zerstöre nicht mein Schiffchen; hier ist Kaffee, süß und heiß, Nachmittagskaffee, stark und ohne Milch, hier sind Zigarren, Sechziger, Huperts hat sie mir besorgt. Wechsele die Optik deiner Augen aus, Alter, ich bin ja nicht blind, nur verrückt und kann wohl lesen, welches Datum da unten in der Halle auf dem Kalender steht: 6. September 1958; blind bin ich nicht und weiß, dass ich dein Aussehen nicht der Geschicklichkeit der Friseure zuschreiben kann; spiel mit, schraube die Optik deiner Augen zurück und erzähl mir nicht wieder von deinem strahlenden blonden Enkel, der das Herz seiner Mutter und den Verstand seines Vaters hat und beim Wiederaufbau der Abtei als dein Beauftragter fungiert; hat er das Abitur bestanden? Wird er Statik studieren? Macht jetzt sein Praktikum? Verzeih, dass ich lache; ich habe Bauwerke nie ernst nehmen können; Staub, zusammengebacken, konzentriert, zu Struktur verwandelter Staub; optische Täuschung, Fata morgana, dazu bestimmt, Trümmer zu werden; der Sieg wird erkämpft, nicht geschenkt; ich hab’s heute morgen in der Zeitung gelesen, bevor sie mich wegbrachten. ‚Jubelwellen brandeten hoch – voll gläubigen Vertrauens lauschten sie den Worten – immer wieder brandeten Jubel und Begeisterung hoch.‘ Soll ich’s dir aus der Lokalzeitung vorlesen?

Deine Enkelschar, nicht siebenmal sieben, sondern zweimal eins, einmal zwei, sie werden keine Privilegien genießen, ich hab’s Edith, dem Lamm, versprochen; sie sollen nicht vom Sakrament des Büffels essen, und der Junge lernt das Gedicht für die Schule nicht.

 

Lob jeden Hieb, den uns das Schicksal schlägt,

weil Not verwandte Seelen ähnlich prägt…

 

Du liest zuviel überregionale Zeitungen, lässt dir den Büffel, süß oder sauer, paniert und in Gott weiß welchen Saucen servieren; du liest zuviel gepflegte Zeitungen – hier, im Feuilleton des Lokalblättchens kannst du den wahren, echten Dreck jeden Tag schlucken, unvermischt und unverfälscht, so gut gemeint, wie du es dir nur wünschen kannst; die anderen meinen es nicht gut, die sind nur feige, deine überregionalen, aber hier, das ist gut gemeint; keine Privilegien bitte, keine Schonung; hier, das ist an mich gerichtet: ‚Mütter der Gefallenen… Und ob ihr auch des Volkes Heilige seid, gleich euren Söhnen eure Seele schreit…‘; ich bin des Volkes Heilige, und meine Seele schreit ; mein Sohn ist gefallen: Otto Fähmel; anständig, anständig, Ehre, Treue; er verriet uns an die Polizei, war plötzlich nur noch die Hülle unseres Sohnes; keine Schonung, keine Privilegien; den Abt haben sie natürlich geschont, er hat doch davon gekostet, anständig, ordentlich, Ehre; es wurde mit fackeltragenden Mönchen gefeiert, oben auf dem Hügel, mit Blick ins liebliche Kissatal, die neue Zeit brach an, Opferzeit, Schmerzenszeit, und sie hatten wieder ihre Pfennige für die Brötchen, ihren halben Groschen für ein Stück Seife; den Abt wunderte es, dass Robert sich weigerte, an der Feier mitzumachen; sie ritten auf dampfenden Rossen den Hügel hinauf, zündeten Feuer an: Sonnenwende; Otto durfte den Holzstoß anzünden, er stieß die brennende Fackel ins Reisig, die gleichen Lippen, die das rorate coeli so wunderbar singen konnten, sangen, was ich den Lippen meines Enkels fernhalten will: Es zittern die morschen Knochen – zittern deine noch nicht, Alter?

Komm, leg deinen Kopf in meinen Schoß, steck dir eine Zigarre an, hier, die Kaffeetasse in Reichweite deiner Hände; schließ die Augen; Klappe runter, weg, den Kalender ausgelöscht, wir wollen die Litanei des Weißt-du-noch abbeten, uns der Jahre erinnern, als wir draußen in Blessenfeld wohnten, wo es jeden Abend nach Feierabend roch, nach Volk, das sich in Fischbratküchen sättigte, an Reibekuchenbuden und Eiskarren; selig, die mit den Fingern essen dürfen; ich durfte es nie, solange ich zu Hause lebte; du hast es mir erlaubt; da dudelten die Drehorgeln, kreischten die Karussells, und ich roch es, hörte es, spürte es, dass nur die Vergänglichkeit Dauer hat; du hattest mich aus diesem schrecklichen Haus erlöst, wo sie seit vierhundert Jahren hockten und vergebens sich zu befreien suchten; an Sommerabenden saß ich oben auf dem Dachgarten, wenn sie unten im Garten saßen und Wein tranken: Herrenabende, Damenabende, und ich hörte im schrillen Lachen der Frauen, was ich im gröhlenden der Männer hörte: Verzweiflung; wenn der Wein die Zungen löste, die Tabus befreite, wenn der Geruch des Sommerabends sie aus dem Gefängnis der Heuchelei erlöste, wurde es offenkundig: sie waren weder reich noch arm genug, das einzige Dauerhafte zu entdecken: Vergänglichkeit; ich sehnte mich nach ihr, während ich fürs Unvergängliche erzogen wurde: Ehe, Treue, Ehre, Schlafzimmer, wo es nur Pflicht, keine Kür gab; Ernst, Bauwerke, Staub in Strukturen verwandelt, und es klang mir im Ohr, wie der Lockruf des murmelnden Flusses bei Hochwasser: wozuwozuwozu; ich wollte an ihrer Verzweiflung nicht teilhaben, nicht von dem dunklen Erbe kosten, das sie von Geschlecht zu Geschlecht weiterreichten; ich sehnte mich nach dem weißen, leichten Sakrament des Lammes und versuchte, mir beim mea culpa, mea culpa, mea maxima culpa die uralte Erbschaft der Dunkelheit und der Gewalt aus der Brust herauszuklopfen; legte, wenn ich aus der Messe kam, mein Gebetbuch in der Diele ab, kam gerade früh genug, um Vaters Begrüßungskuss zu empfangen; sein dröhnender Bass entfernte sich über den Hof zum Kontor hin: fünfzehn war ich, sechzehn, siebzehn, achtzehn und sah in den Augen meiner Mutter das harte Lauern: sie war den Wölfen vorgeworfen worden, sollte ich etwa davon verschont bleiben? Sie wuchsen schon heran, die Wölfe, Biertrinker, Mützenträger, hübsche und weniger hübsche; ich sah ihre Hände, ihre Augen und war mit dem schrecklichen Fluch beladen, zu wissen, wie sie mit vierzig, mit sechzig aussehen würden; violette Adern in ihrer Haut, und sie würden nie nach Feierabend riechen; ernst, Männer, Verantwortung; Gesetze hüten, Kindern Geschichte beibringen; Münzen zählen, zu politischer Vernunft entschlossen; sie waren alle dazu verdammt, vom Sakrament des Büffels zu kosten, wie meine Brüder; jung waren sie nur an Jahren, und es gab für sie alle nur eins, das ihnen Glanz versprach, ihnen Größe verleihen, sie in mythischen Dunst hüllen würde: den Tod; Zeit war nur ein Mittel, sie ihm entgegen zu tragen; sie schnupperten danach, und alles, was danach roch, war ihnen gut; sie rochen selbst danach: Verwesung; sie hockte im Haus, in den Augen derer, denen ich vorgeworfen werden sollte: Mützenträger, Gesetzeshüter; nur eins war verboten: leben wollen und spielen. Verstehst du mich, Alter? Spiel galt als Todsünde; nicht Sport, den hätten sie geduldet; das hält lebendig, macht anmutig, hübsch, steigert den Appetit der Wölfe; Puppenstuben: gut; das fördert die hausfraulichen und mütterlichen Instinkte; tanzen: auch gut; das gehört zum Markt; aber wenn ich für mich ganz allein tanzte, im Hemd oben in meinem Zimmer: Sünde, weil es nicht Pflicht war; da konnte ich mich getrost auf Bällen von Mützenträgern betasten lassen, im Dunkel des Flures, durfte sogar im Waldesdunkel nach Landpartien nicht allzu gewagte Zärtlichkeiten dulden; wir sind ja nicht prüde; ich betete um den, der mich erretten, vom Tode im Wolfszwinger erlösen würde, ich betete und nahm das weiße Sakrament drauf und sah dich im Atelierfenster drüben; wenn du wüsstest, wie ich dich liebte, wenn du es ahnen könntest, würdest du nicht die Augen aufschlagen, mir den Kalender entgegenhalten und mir erzählen wollen, wie groß meine Enkel inzwischen geworden sind, dass sie nach mir fragen, mich nicht vergessen haben. Nein, ich will sie nicht sehen; sie lieben mich, ich weiß, und ich weiß, dass es eine Möglichkeit gab, den Mördern zu entrinnen: für verrückt erklärt zu werden; aber wenn es mir wie Gretzens Mutter gegangen wäre, wie? Glück gehabt, reines Glück in dieser Welt, wo eine Handbewegung das Leben kostet, wo es dich retten oder dich umbringen kann, für verrückt erklärt zu werden; ich will die Jahre, die ich verschluckt habe, noch nicht wieder hergeben, will nicht Joseph als Zweiundzwanzigjährigen sehen, mit Mörtelspuren an den Hosenbeinen, Gipsflecken am Rock, einen strahlenden jungen Mann, der den Zollstock schwingt, Zeichenrollen unter dem Arm trägt, ich will nicht die neunzehnjährige Ruth sehen, Kabale und Liebe lesend; schließ die Augen, alter David, klapp den Kalender zu, hier, dein Kaffee.

Ich habe wirklich Angst, glaub mir; ich lüge nicht; lass mein Schiffchen schwimmen, sei nicht der mutwillige Knabe, der es zerstört; die Welt ist böse, es gibt so wenig reine Herzen; auch Robert spielt mit, geht gehorsam auf die Stationen, auf die ich ihn schicke: von 1917 bis 1942 – keinen Schritt weiter; aufrecht tut er’s, ungebeugt, deutsch; ich weiß, dass er Heimweh hatte, dass ihn das Billardspielen und Formelnpauken in der Fremde nicht glücklich machte; dass er nicht allein um Ediths willen zurückgekommen ist; der ist deutsch, liest Hölderlin, hat nie vom Sakrament des Büffels gekostet, er ist vom Adel, kein Lamm, sondern ein Hirte. Ich hätte nur gerne gewusst, was er im Krieg gemacht hat, aber er spricht nie darüber; ein Architekt, der nie ein Haus gebaut hat, nie Mörtelspuren am Hosenbein, nein, makellos, korrekt, ein Schreibtischarchitekt, den es nicht nach Richtfesten gelüstet. Aber wo ist der andere Sohn: Otto; gefallen bei Kiew, von unserem Fleisch und Blut; wo kam er her, wo ging er hin? Glich er wirklich deinem Vater? Hast du Otto nie mit einem Mädchen gesehen? Ich wüsste so gern etwas über ihn; ich weiß, dass er gern Bier trank, Gurken nicht mochte, und kenne die Bewegungen seiner Hände, wenn er sich kämmte, den Mantel anzog; er verriet uns an die Polizei, ging zum Militär – noch bevor er die Schule absolviert hatte, schrieb uns Postkarten von tödlicher Ironie: ‚Mir geht es gut, was ich von euch hoffe; brauche 3.‘ Otto, er kam nicht einmal zu den Urlauben nach Hause; wo verbrachte er sie? Welcher Detektiv könnte uns Auskunft darüber geben? Regimentsnummern weiß ich, Feldpostnummern, Dienstgrade: Oberleutnant, Major, Oberstleutnant Fähmel, und als letzten Schlag wieder Ziffern, ein Datum, gefallen 12. 1. 42. Ich sah es mit eigenen Augen, wie er die Leute auf der Straße niederschlug, weil sie die Fahnen nicht grüßten; er erhob seine Hände und schlug sie, hätte auch mich geschlagen, wenn ich nicht rasch in die Krämerzeile eingebogen wäre; wie kam er in unser Haus? Mir bleibt nicht einmal die törichte Hoffnung, er könne als Säugling vertauscht worden sein; er ist im Hause geboren, vierzehn Tage nach Heinrichs Tod, im Schlafzimmer oben, an einem dunklen Oktobertag 1917; er glich deinem Vater.

Still, Alter, sprich nicht, öffne nicht deine Augen, zeig mir nicht deine achtzig Jahre. Memento quia pulvis es et in pulverem reverteris. Sie sagen es uns deutlich genug; Staub, der Mörtel hinterlässt, Hypothekenbriefe, Häuser, Gutshöfe, ein Denkmal in einem friedlichen Vorort, wo spielende Kinder sich fragen werden: Wer war denn das?

Als junge Mutter, blühend und fröhlich, ging ich durch den Blessenfelder Park und wusste doch, dass die griesgrämigen Rentner dort, die auf die lärmenden Kinder schimpften, nur auf die schimpften, die einmal selber als griesgrämige Rentner dort sitzen und auf lärmende Kinder schimpfen würden, die einmal griesgrämige Rentner wären; zwei Kinder hatte ich, an jeder Hand eins; sie waren vier und sechs Jahre alt, dann sechs und acht, acht und zehn, und im Garten hingen die korrekt gemalten Schilder: 25, 50, 75, 100, schwarze Ziffern auf weißlackiertem Blech, erinnerten mich immer an die Ziffern an Straßenbahnhaltestellen; abends dein Kopf in meinem Schoß, die Kaffeetasse in Reichweite; wir warteten vergebens auf Glück, fanden es nicht in Eisenbahnabteilen, in Hotels; ein Fremder ging durchs Haus, trug unseren Namen, trank unsere Milch, aß unser Brot, kaufte sich von unserem Geld im Kindergarten Kakao, dann Schulhefte.

Trag mich ans Flussufer zurück, wo meine nackten Füße die Hochwasserspur berühren, wo die Dampfer tuten, es nach Rauch riecht, bring mich in das Cafe, wo die Frau mit den herrlichen Händen bedient; still, Alter, weine doch nicht: ich lebte in der inneren Emigration und du hast einen Sohn, zwei Enkel, vielleicht werden sie dir bald Urenkel schenken; ich habe es nicht in der Hand, zu dir zurückzukehren, mir jeden Tag ein neues Schiffchen aus einem Kalenderblatt zurechtzufalten und munter bis Mitternacht dahinzusegeln: 6. September 1958; das ist Zukunft, deutsche Zukunft, ich habe es selber im Lokalblättchen gelesen:

‚Ein Bild aus deutscher Zukunft; im Jahr 1958; aus dem einundzwanzigjährigen Unteroffizier Morgner ist der sechsunddreißigjährige Bauer Morgner geworden; er steht an den Ufern der Wolga; es ist Feierabend, er raucht sein wohlverdientes Pfeifchen, hat eins seiner blonden Kinder auf dem Arm, blickt versonnen zu seiner Frau hinüber, die gerade die letzte Kuh melkt; deutsche Milch am Wolgaufer…‘

Du willst nicht mehr weiterhören! Gut, aber lass mich mit der Zukunft zufrieden; ich will nicht wissen, wie sie als Gegenwart aussieht; stehen sie nicht am Wolgaufer? Weine nicht, Alter; zahl das Lösegeld, und ich komme aus dem verwunschenen Schloss zurück: ich muss haben ein Gewehr, muss haben ein Gewehr.

Vorsicht, wenn du die Leiter hinaufkletterst; nimm die Zigarre aus dem Mund; du bist nicht mehr dreißig und könntest schwindlig werden; heute abend im Cafe Kroner die Familienfeier? Vielleicht komm ich, viel Glück zum Geburtstag; verzeih, dass ich lache; Johanna wäre achtundvierzig, Heinrich siebenundvierzig; sie nahmen ihre Zukunft mit; weine nicht, Alter, du hast das Spiel gewollt. Vorsicht, wenn du die Leiter hinaufsteigst.“

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