Книга: Billard um halb Zehn / Бильярд в половине десятого. Книга для чтения на немецком языке
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Kapitel IV

Leonores Schritte beruhigten ihn; vorsichtig ging sie im Atelier hin und her, öffnete Schranktüren, hob Kistendeckel, schnürte Pakete auf, entrollte Zeichnungen; selten kam sie ans Fenster, ihn zu stören; nur wenn ein Dokument kein Datum, eine Zeichnung keinen Namen trug. Er hatte die Ordnung immer geliebt und nie gehalten. Leonore würde sie schaffen, sie häufte, nach Jahren geordnet, auf dem großen Atelierboden Dokumente und Zeichnungen, Briefe und Abrechnungen aufeinander; nach fünfzig Jahren noch zitterte der Boden unter dem Stampfen der Druckereimaschinen; neunzehnhundertsieben, acht, neun, zehn; schon war Leonores Stapeln anzusehen, dass sie mit dem wachsenden Jahrhundert größer wurden, neunzehnhundertneun war größer als neunzehnhundertacht, zehn größer als neun. Leonore würde die Kurve seiner Tätigkeiten herausfinden, sie war auf Präzision gedrillt. „Ja“, sagte er, „stören Sie mich getrost, Kind. Das? Das ist das Krankenhaus in Weidenhammer; ich habe es im Jahr 1924 gebaut, es wurde im September eingeweiht.“ Und sie schrieb mit ihrer säuberlichen Handschrift auf den Rand der Zeichnung 1924/9.

Magere Häufchen blieben die Kriegsjahre vierzehn bis achtzehn; drei, vier Zeichnungen; ein Landhaus für den General, eine Jagdhütte für den Oberbürgermeister, eine Sebastianus-Kapelle für die Schützenbrüder. Urlaubsaufträge, mit kostbaren Tagen honoriert; um seine Kinder sehen zu dürfen, hätte er den Generälen kostenlos Schlösser gebaut.

„Nein, Leonore, das war 1935. Franziskanerinnenkloster. Modern? Natürlich, ich habe auch moderne Sachen gebaut.“

Immer war ihm der Rahmen des großen Atelierfensters wie ein Wechselrahmen erschienen: die Farben des Himmels wechselten, die Bäume in den Hinterhöfen wurden grau, wurden schwarz, wurden grün; Blumen auf den Dachgärten blühten, verblühten. Kinder spielten auf Bleidächern, wurden erwachsen, wurden zu Eltern, ihre Eltern zu Großeltern; andere Kinder spielten auf den Bleidächern; nur das Profil der Dächerlinie blieb, es blieb die Brücke, blieben die Berge, die an klaren Tagen am Horizont sichtbar wurden – bis der zweite Krieg das Profil der Dächerlinie veränderte, Lücken wurden gerissen, in denen an sonnigen Tagen silbern, an trüben grau der Rhein sichtbar wurde und die Drehbrücke am alten Hafen drüben; längst waren die Lücken wieder geschlossen, spielten Kinder auf Bleidächern, ging seine Enkelin drüben auf dem Kilbschen Bleidach mit Schulbüchern in der Hand auf und ab, wie vor fünfzig Jahren seine Frau dort auf – und abgegangen war – oder war’s nicht doch Johanna, seine Frau, die an sonnigen Nachmittagen dort Kabale und Liebe las?

Das Telefon klingelte; angenehm, dass Leonore den Hörer abnahm, ihre Stimme dem unbekannten Anrufer Antwort gab. „Cafe Kroner? Ich werde den Herrn Geheimrat fragen.“

„Wieviel Personen am Abend erwartet werden? Geburtstagsfeier?“ Genügen die Finger einer Hand, sie aufzuzählen? „Zwei Enkel, ein Sohn, ich – und Sie. Leonore, werden Sie mir die Freude machen?“

Also fünf. Die Finger einer Hand genügen. „Nein, keinen Sekt. Alles wie besprochen. Danke, Leonore.“

Wahrscheinlich hält sie mich für verrückt, aber wenn ich’s bin, bin ich’s immer gewesen; ich sah alles voraus, wusste genau, was ich wollte, und wusste, dass ich’s erreichen würde; nur eins wusste ich nie, weiß ich bis heute nicht: warum tat ich es? Des Geldes wegen, des Ruhmes wegen, oder nur, weil es mir Spaß machte? Was hab ich gewollt, als ich an diesem Freitagmorgen, am 6. September 1907, vor einundfünfzig Jahren da drüben aus dem Bahnhof trat? Ich hatte mir Handlungen, Bewegungen, einen präzisen Tageslauf vorgeschrieben, von dem Augenblick an, da ich die Stadt betrat, eine komplizierte Tanzfigur entworfen, in der ich Solotänzer und Ballettmeister in einer Person war; Komparserie und Kulissen standen mir kostenlos zur Verfügung.

Zehn Minuten nur blieben mir, bis der erste Tanzschritt getan werden musste: über den Bahnhofsvorplatz hinaus, am Hotel Prinz Heinrich vorüber, die Modestgasse überqueren und ins Cafe Kroner gehen. An meinem neunundzwanzigsten Geburtstag betrat ich die Stadt. Septembermorgen. Droschkengäule bewachten ihre schlummernden Herren; Hotelboys in der violetten Uniform des Prinz Heinrich schleppten Koffer hinter Gästen her in den Bahnhof; vor Banken wurden würdige Gitter hochgeschoben, rollten mit solidem Geräusch in Reservekammern; Tauben; Zeitungsverkäufer; Ulanen; eine Schwadron ritt am Prinz Heinrich vorüber, der Rittmeister winkte einer Frau mit rosenrotem Hut; sie stand verschleiert auf dem Balkon, warf eine Kusshand zurück, klappernde Hufe auf Kopfsteinpflaster; Wimpel im Morgenwind; Orgeltöne aus der geöffneten Kirchentür von Sankt Severin.

Ich war erregt, nahm den Stadtplan aus der Rocktasche, entfaltete ihn und betrachtete den roten Halbkreis, den ich um den Bahnhof herum gezogen hatte; fünf schwarze Kreuze bezeichneten die Hauptkirche und die vier Nebenkirchen; ich hob die Augen, suchte mir im Morgendunst die vier Kirchturmspitzen zusammen; die fünfte, Sankt Severin, brauchte ich nicht zu suchen, sie stand vor mir, ihr riesiger Schatten machte mich leise frösteln; ich senkte die Augen wieder auf meinen Plan: er stimmte; ein gelbes Kreuz bezeichnete das Haus, wo ich Wohnraum und Atelier für ein halbes Jahr gemietet und vorausbezahlt hatte: Modestgasse 7, zwischen Sankt Severin und dem Modesttor; dort drüben musste es sein, rechts, wo gerade eine Gruppe von Klerikern die Straße überquerte. Ein Kilometer betrug der Radius des Halbkreises, den ich um den Bahnhof herum gezogen hatte: innerhalb dieser roten Linie wohnte die Frau, die ich heiraten würde, ich kannte sie nicht, wusste nicht ihren Namen, wusste nur, dass ich sie aus einem der Patrizierhäuser nehmen würde, von denen mein Vater mir erzählt hatte; der hatte drei Jahre bei den Ulanen hier gedient, Hass in sich eingezogen, Hass auf Pferde und Offiziere, den ich respektierte, ohne ihn zu teilen; ich war froh, dass Vater nicht mehr erleben musste, wie ich selber Offizier wurde: Pionierleutnant der Reserve; ich lachte, ich lachte oft an diesem Morgen vor einundfünfzig Jahren; ich wusste, dass ich meine Frau aus einem dieser Häuser nehmen, dass sie Brodem oder Cusenius, Kilb oder Ferve heißen würde; sie sollte neunzehn sein, kam jetzt, gerade jetzt, in diesem Augenblick aus der Morgenmesse, legte ihr Gebetbuch in der Garderobe ab, kam im rechten Augenblick, um vom Vater den Kuss auf die Stirn zu bekommen, bevor dessen dröhnender Bass sich durch die Diele zum Kontor hin entfernte; zum Frühstück aß sie ein Honigbrot, trank eine Tasse Kaffee; ‚Nein, nein, Mutter, bitte kein Ei‘ —, las der Mutter die Balltermine vor. Durfte sie zum Akademikerball? Sie durfte.

Spätestens auf dem Akademikerball, am 6. Januar, würde ich wissen, welche ich nehmen wollte, würde mit ihr tanzen; ich würde gut zu ihr sein, sie lieben, und sie würde mir Kinder gebären, fünf, sechs, sieben, die würden heiraten und mir Enkel schenken, fünfmal, sechsmal, siebenmal sieben, und während ich den Hufen nachlauschte, die sich entfernten, sah ich meine Enkelschar, sah ich mich als achtzigjährigen Patriarchen über dieser Sippe thronen, die ich zu gründen gedachte: Geburtstagsfeiern, Begräbnisse, silberne und grüne Hochzeiten, Taufen, Säuglinge wurden in meine Greisenhände gelegt, Urenkel, ich würde sie lieben wie meine jungen hübschen Schwiegertöchter, die ich zum Frühstück einladen, denen ich Blumen und Konfekt, Kölnisch Wasser und Gemälde schenken würde; ich wusste es, während ich dort stand, bereit, den Tanz zu beginnen.

Ich sah dem Dienstmann nach, der mein Gepäck mit seinem Karren ins Haus Modestgasse 7 hinüberfuhr: den Schließkorb mit meiner Wäsche und meinen Zeichnungen, den kleinen Lederkoffer, der Papiere, Dokumente und mein Geld enthielt: vierhundert Goldstücke, den Reinertrag zwölfjähriger Arbeit, verbracht in den Baubuden ländlicher Unternehmer, den Büros mittelmäßiger Architekten; Arbeitersiedlungen, Industrieanlagen, Kirchen, Schulen, Vereinshäuser entworfen, geplant und gebaut; Kostenvoranschläge durchgeackert, mich durchgewühlt durch das spröde Deutsch der einzelnen Positionen —‚ und sollen die Holzvertäfelungen in der Sakristei aus bestem, astreinem Nussbaumholz ausgeführt, die Beschläge aus bestem Material ausgewählt werden‘. Ich weiß, dass ich lachte, als ich dort stand, und weiß bis heute noch nicht, worüber oder warum; eins weiß ich sicher: mein Lachen entsprang nicht reiner Freude; Spott war darin, Hohn, vielleicht Bosheit, aber nie habe ich gewusst, wieviel von jedem in diesem Lachen enthalten war; ich dachte an die harten Bänke, auf denen ich abends in Fortbildungskursen hockte; Rechnen gelernt; Mathematik und Zeichnen; Handwerk gelernt, Tanzen, Schwimmen; Pionierleutnant der Reserve beim 8. Bataillon in Koblenz, wo ich an Sommerabenden am Deutschen Eck saß und mir die Wasser des Rheins wie die der Mosel gleich faulig erschienen; in dreiundzwanzig möblierten Zimmern gehaust; Wirtstöchter, die ich verführt, und die mich verführt hatten; barfuß durch dumpf riechende Flure geschlichen, um Zärtlichkeiten zu tauschen, auch die allerletzte, die sich immer wieder als Falschgeld erwies; Lavendelwasser und gelöstes Haar; und in schrecklichen Wohnzimmern, wo Früchte, die nie gegessen werden durften, in grünlichen Glasschalen alt wurden, fielen harte Worte wie Schuft, Ehre, Unschuld, und es roch dort nicht nach Lavendelwasser; schaudernd las ich die Zukunft nicht im Gesicht der Entehrten, sondern im Gesicht der Mutter, wo geschrieben stand, was man für mich bereithielt. Ich war kein Schuft, hatte keiner die Ehe versprochen, und wollte nicht mein Leben in Wohnzimmern verbringen, wo Früchte, die man nicht essen durfte, in grünlichen Glasschalen alt wurden. Weitergezeichnet, wenn ich von Abendkursen kam, gerechnet und gezeichnet von halb zehn bis zwölf; Engel und Bäume, Wolkenbildungen und Kirchen, Kapellen; gotisch, romanisch, barock, Rokoko und Biedermeier – und, bitte, modern: langhaarige Frauenzimmer, deren seelenvolle Gesichter über Hauseingängen schwebten, während die langen Haare sich links und rechts der Tür wie ein Vorhang entrollten; genau in der Mitte überm Türeingang den scharfgezogenen Scheitel; bitte; da brachten mir in den arbeitsreichen Abendstunden schmachtende Wirtstöchter dünnen Tee oder dünne Limonade, forderten mich zu Zärtlichkeiten heraus, die sie für kühn hielten; und ich zeichnete weiter, vor allem Details, weil ich wusste, dass diese sie – wer waren sie, diese sie – am ehesten bestachen: Türgriffe, ornamentale Gitter, Gotteslämmer, Pelikane, Anker und Kreuze, an denen Schlangen züngelnd sich emporwanden und scheiterten.

Blieb mir auch die Erinnerung an den Trick, den mein letzter Chef, Domgreve, zu oft angewendet hatte: im entscheidenden Augenblick den Rosenkranz fallen zu lassen; wenn bei Ortsbesichtigungen fromme Bauern stolz den Acker zeigten, der als Bauplatz für die neue Kirche bestimmt war, wenn Kirchenvorstandsmitglieder voll biederer Schüchternheit im Hinterzimmer kleinstädtischer Kneipen den Willen kundtaten, ein neues Gotteshaus zu errichten, dann mit Kleingeld, der Uhr oder dem Zigarrenabschneider den Rosenkranz herausziehen, auf die Erde fallen lassen, ihn bestürzt wieder aufnehmen; darüber hatte ich nie lachen können.



„Nein, Leonore, das A auf Aktendeckeln und Zeichenrollen, auf Kostenaufstellungen, bedeutet nicht Auftrag, sondern Sankt Anton. Abtei Sankt Anton.“

Mit zierlichen Händen, leisen Schritten schaffte sie Ordnung, die er immer geliebt, aber nie hatte halt en können. Es war zuviel gewesen, zu viele Aufträge, zuviel Geld.

Wenn ich verrückt bin, war ich’s damals schon, als ich mich auf dem Bahnhofsplatz des losen Kleingelds in meiner Rocktasche vergewisserte, des kleinen Zeichenblocks, des grünen Etuis mit meinen Stiften, des Sitzes meiner Samtschleife; als ich am Rand meines schwarzen Künstlerhutes entlangtastete, weiter hinunter mit den Händen, an den Schößen des Anzugs entlang, des einzigen guten, den ich besaß, Erbstück von Onkel Marsil, der als junger Lehrer an Schwindsucht gestorben war; schon moosüberwachsen war der Grabstein in Mees, wo der Zwanzigjährige auf der Orgelempore den Taktstock geschwungen, im Schulhaus den Bauernkindern die Regeldetri eingebläut hatte; wo er abends, im Dämmer, am Moor entlangspaziert war, von Mädchenlippen träumte, von Brot, Wein und von Ruhm, den er sich von gelungenen Versen erhoffte; Traum, auf Moorwegen geträumt, zwei Jahre lang, bis der Blutsturz ihn überschwemmte und an dunkle Ufer trug; ein Quartheft mit Versen blieb, ein schwarzer Anzug, dem Patensohn vererbt, zwei Goldstücke, und am grünlichen Vorhang des Schulzimmers ein Blutflecken, den die Frau seines Nachfolgers nicht zu entfernen vermochte; ein Lied, von Kinderlippen dem hungrigen Lehrer am Grab gesungen: ‚Türmer, wohin ist die Schwalbe entflohen?‘

Noch einmal zurückgeblickt auf den Bahnhof, noch einmal das Plakat betrachtet, das, für einrückende Rekruten deutlich sichtbar, neben der Sperre hing: ‚Militärpflichtigen empfehle ich meine seit langen Jahren eingeführten echten Normal-Unterzeuge, System Professor Gustav Jäger, meine echten Pallas-Unterzeuge, patentiert in allen Kulturstaaten, meine echte Reform-Unterkleidung, System Dr. Lahmann.‘ Es war Zeit, den Tanz zu beginnen:

Ich überquerte die Straßenbahngleise, ging am Hotel Prinz Heinrich vorbei, über die Modestgasse, zögerte einen Augenblick, bevor ich ins Cafe Kroner trat: die Glastür, innen mit grüner Seide bespannt, zeigte mir mein Bild: zart war ich, fast klein, sah aus wie etwas zwischen jungem Rabbiner und Bohemien, schwarzhaarig und schwarzgekleidet, mit dem unbestimmbaren Air ländlicher Herkunft; ich lachte noch einmal und öffnete die Tür; gerade fingen die Kellner an, Blumenvasen mit weißen Nelken auf die Tische zu stellen, rückten in grünes Leder gebundene Speisekarten zurecht, Kellner in grünen Schürzen, schwarzen Westen, mit weißen Hemden und weißen Krawatten; zwei junge Mädchen, rosig und blond die eine, blaß und schwarzhaarig die andere, schichteten vorne am Kuchenbüfett Kekse auf, türmten Bisquits, erneuerten Sahneornamente, rieben silberne Kuchenschaufeln blank. Kein Gast zu sehen, sauber war’s drinnen wie im Krankenhaus vor der Chefarztvisite, Kellnerballett, durch das ich als Solist jetzt mit leichten Schritten hindurchging; Komparserie und Kulissen standen für mich bereit; das war Dressur, war ausgezeichnet und gefiel mir, wie die drei Kellner von Tisch zu Tisch gingen, mit abgezirkelten Bewegungen: das Salzfass hingestellt, die Blumenvase, ein kleiner Ruck für die Speisekarte, die offenbar in einem bestimmten Winkel zum Salzfass zu liegen hatte; Aschenbecher, schneeweißes Porzellan mit goldenem Rand; gut; das gefiel mir; ich war angenehm überrascht, das war Stadt, hatte ich noch in keinem der Nester gesehen, in denen ich gehockt hatte.

Ich ging in die äußerste linke Ecke, warf meinen Hut auf den Stuhl, Zeichenblock und Etui daneben, setzte mich; die Kellner kamen aus Richtung Küche zurück, schoben lautlos Teewagen vor sich her, verteilten Sauceflaschen, hängten Zeitungshalter auf; ich öffnete meinen Zeichenblock, las – zum wievielten Mal? – den Zeitungsausschnitt, den ich auf die Innenseite des Deckels geklebt hatte: ‚Öffentliche Ausschreibung, Neubau einer Benediktiner-Abtei, im Tale der Kissa gelegen, zwischen den Weilern Stehlingers Grotte und Görlingers Stuhl, etwa zwei Kilometer vom Dorf Kisslingen entfernt; jeder Architekt, der sich befähigt weiß, ist teilnahmeberechtigt. Unterlagen sind gegen eine Gebühr von 50 (fünfzig) Mark im Notariat Dr. Kilb, Modestgasse 8, erhältlich. Letzter Termin zur Einreichung des Entwurfs: Montag, 30. September 1907, mittags 12 Uhr.‘

Zwischen Mörtelhaufen stieg ich umher, zwischen Stapeln nagelneuer Steine, die ich auf ihre Brennqualität prüfte, schritt an ganzen Gebirgen von Basaltbruch vorüber, die ich zur Einfassung der Türen und Fenster vorgesehen hatte; ich hatte Dreckspuren am Hosenrand, Kalkspritzer auf der Weste; heftige Worte fielen in Bauhütten; waren die Mosaiksteine immer noch nicht geliefert worden, die ich für die Darstellung des Gotteslamms über dem Haupteingang brauchte? Zornausbruch, Skandal; Kredite wurden gesperrt, wieder flüssig; Handwerksmeister standen am Donnerstagnachmittag Schlange vor meiner Bude, Lohngelder für Freitag waren fällig; und abends stieg ich erschöpft in Kisslingen in den überheizten Personenzug, sank in den Polstersitz im Zweite-Klasse-Abteil, wurde in der Dunkelheit durch diese elenden Rübenbauernnester geschleppt, während die schläfrige Schaffnerstimme Stationsnamen ausrief: Denklingen, Dodringen, Kohlbingen, Schaklingen; Rübenberge, im Dunkeln grau wie Berge von Totenköpfen, lagen an Rampen zum Verladen bereit; weiter durch Rübennester, Rübennester; ich fiel am Bahnhof in eine Droschke, zu Hause in die Arme meiner Frau, die mich küsste, zärtlich meine übermüdeten Augen streichelte, stolz über Mörtelspuren strich, die meine Ärmel zierten; beim Kaffee, den Kopf in ihrem Schoß, rauchte ich die langersehnte Zigarre, eine Sechziger, und erzählte ihr von fluchenden Maurern; die musste man kennen, waren nicht bösartig, vielleicht ein bisschen grob, ein bisschen rot, aber ich wusste mit ihnen umzugehen; denen musste man hin und wieder einen Kasten Bier spendieren, ihnen auf Platt ein paar Witze erzählen; nur nie meckern; sonst kippten sie einem eine ganze Wanne Mörtel vor die Füße, wie sie es beim Baubeauftragten des Erzbischofs gemacht hatten, oder warfen vom hohen Gerüst einen Balken herunter, wie sie es beim Regierungsbaumeister gemacht hatten: der riesige Balken zersplitterte genau vor seinen Füßen. ‚Glaubst du, ich weiß nicht, Liebste, dass ich von ihnen abhänge, nicht sie von mir, wo doch gebaut wird, gebaut, überall? Und natürlich sind sie rot, warum sollten sie’s nicht sein? Hauptsache, sie können mauern, mir helfen, meine Termine zu halten; ein Augenzwinkern, wenn ich mit den Kommissionen auf die Gerüste steige, das bewirkt Wunder.‘



‚Guten Morgen, der Herr. Frühstück?‘

‚Ja, bitte‘, sagte ich, schüttelte den Kopf, als der Kellner mir die Speisekarte hinhielt, hob meinen Bleistift und skandierte die einzelnen Programmpunkte meines Frühstücks in die Luft, tat so, als hätte ich mein Leben lang nichts anderes gefrühstückt: ‚Ein Kännchen Kaffee, aber mit drei Tassen Kaffee, bitte, Toast, zwei Scheiben Schwarzbrot, Butter, Orangenmarmelade, ein gekochtes Ei und Paprikakäse.‘

‚Paprikakäse?‘

‚Ja, Rahmkäse mit Paprika angemacht.‘

‚Sehr wohl.‘

Es glitt lautlos über den grünen Teppich, das grüne Kellnergespenst, an grüngedeckten Tischen zum Küchenschalter hin, und die erste Replik kam prompt; die Komparserie war gut gedrillt und ich ein guter Regisseur: ‚Paprikakäse?‘ fragte der Koch hinterm Schalter: ‚Ja‘, sagte der Kellner, ‚Rahmkäse mit Paprika.‘ ‚Frag den Herrn, wieviel Paprika er im Käse haben will.‘

Ich hatte angefangen, die Front des Bahnhofsgebäudes zu zeichnen, zog mit sicherem Strich die Umrandung der Fenster auf unschuldig weißes Papier, als der Kellner zurückkam; er blieb wartend stehen, bis ich den Kopf hob, erstaunt meinen Stift vom Papier nahm.

‚Gestatten die Frage, wieviel Paprika in wieviel Käse der Herr wünschen?‘

‚Fünfundvierzig Gramm Käse, mit einem Fingerhut voll Paprika gut durchgeknetet – und hören Sie, Ober, ich werde auch morgen hier frühstücken, übermorgen, den Tag nach übermorgen, in drei Wochen, drei Monaten und drei Jahren – hören Sie? Und immer um die gleiche Zeit, gegen neun.‘

‚Sehr wohl.‘

Das war’s, was ich wollte, und es traf ein: genau. Später erschrak ich oft, weil meine Pläne sich so genau erfüllten, das Unvorhergesehene nie geschah; nach zwei Tagen schon war ich ‚Der Herr mit dem Paprikakäse‘, eine Woche später! ‚Der junge Künstler, der immer gegen neun zum Frühstück kommt‘, nach drei Wochen: ‚Herr Fähmel, der junge Architekt, der an einem großen Auftrag arbeitet.‘



„Ja, ja, Kind, das alles betrifft die Abtei Sankt Anton; das zieht sich durch Jahre, Leonore, Jahrzehnte, bis auf heute; Reparaturen, Erweiterungsbauten und nach fünfundvierzig der Aufbau nach den alten Plänen; Sankt Anton wird allein ein ganzes Regal füllen. Ja, Sie haben recht, ein Ventilator wäre hier angebracht, es ist heiß heute; nein, danke, ich will mich nicht setzen.“

Im Wechselrahmen der blaue Nachmittagshimmel des 6. September 1958, das Profil der Dächerreihe, jetzt wieder ohne Lücken; Teekannen auf bunten Tischen in Dachgärten; Frauen auf Liegestühlen, lässig in der Sonne hingestreckt, brodelnd der Bahnhof von Ferienheimkehrern – wartete er deshalb vergebens auf Ruth, seine Enkelin? War sie verreist, hatte Kabale und Liebe beiseite gelegt? Er tupfte sich vorsichtig mit dem Taschentuch die Stirn, Hitze und Kälte hatten ihm nie etwas ausgemacht; rechts in der Ecke des Wechselrahmens ritten Hohenzollern könige immer noch auf Bronzegäulen westwärts, unverändert seit achtundvierzig Jahren, auch der eine, sein oberster Kriegsherr; immer noch war seine verhängnisvolle Eitelkeit an der Kopfhaltung zu erkennen; lachend zeichnete ich damals, am Frühstückstisch im Cafe Kroner, den Sockel, der noch kein Denkmal trug, während der Kellner mir Paprikakäse brachte: immer war ich der Zukunft so gewiss, dass mir die Gegenwart wie vollendete Vergangenheit erschien; war das mein erstes, allererstes Frühstück im Cafe Kroner – oder war es schon das dreitausendste? Jeden Tag ins Cafe Kroner, zum Frühstück, um neun, nur eins konnte mich abhalten, höhere Gewalt, als mein oberster Kriegsherr mich zu den Fahnen rief, dieser Narr, der immer noch auf seinem Bronzegaul westwärts reitet. Paprikakäse? Aß ich diese merkwürdige, rötlichweiße Schmiere, die gar nicht so übel schmeckte, zum ersten Mal, hatte sie vor einer Stunde im D-Zug, der von Norden auf die Stadt zubrauste, erfunden, um meinem Dauerfrühstück die unerlässliche persönliche Note zu geben, oder schmierte ich mir diesen Brei schon zum dreißigsten Mal aufs Schwarzbrot, während der Kellner den Eierbecher wegnahm, die Marmelade in den Hintergrund des Tisches schob?

Vorsicht! Ich nahm das Instrument aus meiner Rocktasche, das mir bei der Korrektur so rascher und präziser Visionen das einzig verlässliche blieb: den Taschenkalender, der mich im Irrgarten der Phantasie an Ort, Tag und Stunde zu mahnen hatte; es war Freitag, der 6. September 1907, und dieses Frühstück war mein erstes; bis zu diesem Tag hatte ich morgens nie zum Frühstück Bohnenkaffee getrunken, nur Malzkaffee, nie ein Ei gegessen, nur Haferschleim, Graubrot mit Butter und eine Scheibe roher Gurke, aber der Mythos, den ich begründen wollte, war schon im Entstehen begriffen, war mit der Gegenfrage des Kochs ‚Paprikakäse?‘ dorthin unterwegs, wo er auskommen sollte: beim Publikum. Mir blieb nichts zu tun als zu warten, dazusein – bis zehn, halb elf, während sich das Cafe langsam füllte, eine Flasche Mineralwasser getrunken, einen Cognac dazu, den Zeichenblock auf den Knien, die Zigarre im Mund, den Bleistift in der Hand; zeichnen, zeichnen, während Bankiers mit würdigen Kunden an mir vorüber ins Konferenzzimmer gingen, Kellner auf grünen Tabletts Weinflaschen hinterherbrachten; Kleriker mit ausländischen Confratres von Sankt-Severin-Besichtigungen kamen, in gebrochenem Latein, Englisch oder Italienisch die Schönheiten der Stadt priesen; während Beamte aus der Regierungskanzlei ihren hohen Rang durch die Tatsache bekundeten, dass sie souverän genug waren, hier gegen halb elf einen Mokka und einen Kirschschnaps zu trinken; Damen, die vom Gemüsemarkt kamen, Kohl und Karotten, Erbsen und Pflaumen in geflochtenen Ledertaschen, bewiesen ihre gute hausfrauliche Erziehung, da sie es wohl verstanden hatten, ermüdeten Bauernfrauen die Beute wohlfeil abzuschwatzen, verzehrten hier das Hundertfache des Eingesparten an Kaffee und Kuchen, empörten sich, die Kaffeelöffel wie Degen schwingend, über einen Rittmeister, der ‚im Dienst, im Dienst‘ einer gewissen Kokotte zum Balkon hinauf einen Handkuss zugeworfen hatte, ihr, die er ‚nachweislich, nachweislich‘ erst um fünfeinhalb Uhr morgens, den Lieferanteneingang des Hotels benutzend, verlassen hatte. Rittmeister im Lieferanteneingang. Schande.

Ich sah sie mir alle an und hörte ihnen zu, meinen Komparsen; zeichnete Stuhlreihen, Tischreihen mit Kellnerballett, verlangte zwanzig vor elf die Rechnung: sie war niedriger, als ich erwartet hatte; ich hatte mich entschlossen, ‚großzügig, aber nicht verschwenderisch‘ aufzutreten; das hatte ich irgendwo gelesen und für eine gute Formel befunden. Ich war müde, als ich, vom Kellner mit Dienern verabschiedet, das Cafe verließ, den mythosbildenden Mund des Kellners mit einem Extratrinkgeld von fünfzig Pfennig honorierte; und sie musterten mich eingehend, als ich das Cafe verließ, ahnten nicht, dass ich der Solist war; aufrechten Ganges, elastisch, schritt ich durchs Spalier, gab ihnen zu sehen, was sie sehen sollten: einen Künstler, mit großem schwarzem Hut, klein, zart, wie fünfundzwanzig aussehend, mit dem unbestimmten Air ländlicher Herkunft, doch sicher in seinem Auftreten. Noch einen Groschen dem Jungen, der mir die Tür aufhielt.

Nur eine und eine halbe Minute bis hierhin, zum Haus Modestgasse 7. Lehrjungen, Lastwagen, Nonnen: Leben auf der Straße; roch’s in der Toreinfahrt des Hauses Numero 7 wirklich nach Druckerschwärze? Maschinen wie Schiffsmaschinen schoben ihre Kolben hin und her, her und hin; Erbauliches wurde auf weißes Papier gedruckt; der Portier zog die Mütze: ‚Der Herr Architekt? Das Gepäck ist schon oben.‘ Trinkgeld in rötliche Hände. ‚Immer zu jedem Dienst bereit, Herr Leutnant.‘ Grinsen. ‚Ja, es sind schon zwei Herren hier gewesen, die den Herrn Leutnant in den hiesigen Klub der Reserveoffiziere aufnehmen wollen.‘

Wieder sah ich die Zukunft deutlicher als die Gegenwart, die in dunkle Bereiche versank, in dem Augenblick, da sie vollzogen war; ich sah den schmierigen Portier von Zeitungsleuten umlagert, sah die Schlagzeilen: ‚Junger Architekt gewinnt Preisausschreiben gegen die Koryphäen des Fachs.‘ Bereitwillig gab der Portier den Zeitungsleuten Auskunft: ‚Der? Meine Herren, nichts als Arbeit. Morgens um acht in die stille Messe zu Sankt Severin, Frühstück im Cafe Kroner bis halb elf; von halb elf bis fünf bleibt er unsichtbar oben in seinem Atelier; für niemanden zu sprechen; lebt da oben – ja, lachen Sie nur – von Erbsensuppe, die er sich selber kocht; kriegt von seiner alten Mutter die Erbsen geschickt und den Speck, sogar die Zwiebeln. Von fünf bis sechs Spaziergang durch die Stadt; von halb sieben bis halb acht Billard im Hotel Prinz Heinrich, Klub der Reserveoffiziere. Mädchen? Nicht, dass ich wüsste. Freitags abends, meine Herren, von acht bis zehn Chorprobe im Sängerbund deutscher Kehlen.‘ Auch die Kellner im Cafe Kroner heimsten Trinkgelder ein für Auskünfte. ‚Paprikakäse? Sehr interessant! Zeichnet auch während des Frühstücks wie ein Besessener?‘

Später dachte ich oft an die Stunde meiner Ankunft, hörte Hufe auf Kopfsteinpflaster klappern, sah Hotelboys Koffer schleppen, sah die verschleierte Frau mit dem rosenroten Hut, las das Plakat: ‚Militärpflichtigen empfehle ich‘ – lauschte meinem Lachen nach; wem galt es, woraus bestand es? Ich sah sie jeden Morgen, wenn ich nach der Messe herüberkam, meine Post und die Zeitung zu holen; Ulanen, die zum Übungsgelände im Norden der Stadt ritten, dachte jeden Morgen an den Hass meines Vaters auf Pferde und Offiziere, wenn sich die klappernden Hufe entfernten, um Attacken zu reiten, in Spähtrupps Staub aufzuwirbeln; die Trompetensignale trieben Tränen in die Augen Altgedienter, die auf der Straße stehenblieben, aber ich dachte an meinen Vater; Reiterherzen, auch das des Portiers, schlugen höher; Mädchen, mit Staubtüchern in der Hand, erstarrten zu lebenden Bildern, kühlten den trostbereiten Busen im Morgenwind, während der Portier mir das Paket von Mutter aushändigte: Erbsen, Speck, Zwiebeln und Segenswünsche; mein Herz schlug nicht höher im Anblick der davonreitenden Schwadron.

Ich schrieb meiner Mutter beschwörende Briefe, nicht zu kommen; ich wollte nicht, dass sie der Komparserie eingereiht werde; später, später, wenn das Spiel lief, durfte sie kommen; sie war klein, zart und dunkel wie ich, lebte zwischen Friedhof und Kirche, und ihr Gesicht, ihre Erscheinung hätte zu gut gepasst in dieses Spiel; sie wollte nie Geld, ein Goldstück im Monat langte ihr für Suppe und Brot, für den Groschen in den Klingelbeutel am Sonntag, den Pfennig am Werktag: komm später, schrieb ich ihr – aber es wurde zu spät: ihr Grab, neben Vater, neben Charlotte, Mauritius – nie sah sie den, dessen Adresse sie jede Woche schrieb: Modestgasse 7, Heinrich Fähmel; ich hatte Angst vor der Weisheit ihres Blicks, vor dem Unvorhergesehenen, das ihr Mund aus sprechen würde: Wozu? Geld oder Ehre, um Gott zu dienen oder den Menschen? Ich hatte Angst vor dem Katechismus ihrer Fragen, die als Antworten nur die zum Aussagesatz umgeformte Frage erforderten, an deren Ende ein Punkt und kein Fragezeichen stehen musste. Ich wusste nicht, wozu. Es war nicht Heuchelei, dass ich in die Kirche ging, gehörte nicht zu meinem Auftritt, obwohl sie es dazuzählen würde; mein Auftritt fing erst im Cafe Kroner an, endete um halb elf, fing um fünf Uhr nachmittags wieder an, endete um zehn; an Vater zu denken war leichter, während die Ulanen endlich hinterm Modesttor verschwanden, Leierkastenmänner in die Vorstadt hinaushumpelten, sie wollten früh genug dort sein, um einsamen Hausfrauen und Dienstmädchenherzen Trost zu spielen: Morgenrot, Morgenrot; würden am späten Nachmittag in die Stadt zurückhumpeln, um die Melancholie des Feierabends auszumünzen: Annemarie, Rosemarie; und drüben hängte Gretz gerade den Keiler vor die Tür, frisches Wildschweinblut tropfte dunkelrot auf den Asphalt; um den Keiler herum wurden Fasanen und Rebhühner aufgehängt, Hasen; zartes Gefieder, demütiges Hasenfell umschmückte den gewaltigen Keiler; jeden Morgen hängte Gretz seine toten Tiere auf, immer so, dass die Wunden dem Publikum sichtbar waren; Hasenbäuche, Taubenbrüste, des Keilers aufgerissene Flanke; Blut musste sichtbar sein; Frau Gretzens rosige Hände ordneten Leberlappen zwischen Pilzhaufen; Kaviar, über Eiswürfel gehäuft, glitzerte vor riesigen Schinken; Langusten, violett wie scharf gebrannte Ziegel, bewegten sich blind, hilflos tastend in flachen Aquarien, warteten auf kundige Hausfrauenhände, warteten am siebten, am neunten, am zehnten, elften September 1907, nur am achten, fünfzehnten und zweiundzwanzigsten September, an den Sonntagen blieb Gretzens Fassade frei von Blut, und ich sah die toten Tiere im Jahre 1908, 1909 – nur in den Jahren, in denen höhere Gewalt herrschte, sah ich sie nicht; sah sie immer, einundfünfzig Jahre lang – sehe sie jetzt, wo kundige Hausfrauenhände am Samstagnachmittag letzte Leckerbissen fürs Sonntagsmahl aussuchen.

„Ja, Leonore, Sie haben recht gelesen: erste Honorarzahlung einhundertfünfzigtausend Mark. Kein Datum? Das muss im August 1908 gewesen sein. Ja, ich bin sicher. August 1908. Sie haben noch nie Wildschwein gegessen? Sie haben nichts versäumt, wenn Sie meinem Geschmack trauen wollen. Hab’s nie gemocht. Brühen Sie doch etwas Kaffee auf, spülen Sie den Staub hinunter, und kaufen Sie Kuchen, wenn Sie welchen mögen. Unsinn, das macht doch nicht dick, trauen Sie doch diesem ganzen Schwindel nicht. Ja, das war neunzehnhundertunddreizehn, ein Häuschen für Herrn Kolger, Kellner im Cafe Kroner. Nein: kein Honorar.“

Wieviel Frühstücke im Cafe Kroner? Zehntausend, zwanzigtausend? Ich hab’s nie nachgerechnet, jeden Tag ging ich hin, die abgerechnet, an denen höhere Gewalt mich hinderte.

Ich sah, wie die höhere Gewalt heraufzog, ich stand drüben auf dem Dach des Hauses Numero 8, hinter der Pergola verborgen, blickte auf die Straße hinunter, sah sie zum Bahnhof ziehen, Unzählige sangen die Wacht am Rhein, riefen den Namen des Narren, der da immer noch auf seinem Bronzegaul westwärts reitet; sie hatten Blumen an ihren Arbeitermützen, an Zylindern, ihren Bankiershüten, Blumen in den Knopflöchern, hatten Normalunterzeug, System Professor Gustav Jäger, in kleinen Paketen unterm Arm; ihr Lärm brandete bis zu mir herauf, und sogar die Huren da unten in der Krämerzeile hatten ihre Stenzen zum Meldeamt geschickt, mit besonders gutem, warmem Unterzeug , unterm Arm – und ich wartete vergebens auf Gefühle, die ich mit denen da unten hätte teilen können; ich fühlte mich leer und einsam, gemein, zu keiner Begeisterung fähig und wusste gar nicht, warum ich dazu nicht fähig war; ich hatte nie darüber nachgedacht; ich dachte an meine Pionieruniform, die nach Mottenkugeln roch, mir immer noch passte, obwohl ich sie mir mit zwanzig hatte machen lassen und inzwischen sechsunddreißig alt geworden war; ich hoffte nur, ich würde sie nicht anzuziehen brauchen; ich wollte Solist bleiben, nicht Komparse werden; sie waren übergeschnappt, die da unten singend zum Bahnhof zogen; die nicht ausrücken durften, wurden mit Bedauern angesehen, fühlten sich als Opfer, weil sie nicht dabeisein konnten; ich war bereit, mich als Opfer zu fühlen, und würde es nicht bedauern. Unten im Hause weinte meine Schwiegermutter, weil ihre beiden Söhne mit dem allerersten Aufgebot schon ausgeritten waren, zum Güterbahnhof, wo die Pferde verladen wurden; stolze Ulanen, um die meine Schwiegermutter stolze Tränen weinte; ich stand hinter der Pergola, die Glyzinien blühten noch, hörte von unten aus dem Mund meines vierjährigen Sohnes… muss haben ein Gewehr, muss haben ein Gewehr… und hätte hinuntergehen und ihn in Gegenwart meiner stolzen Schwiegermutter verprügeln sollen; ich ließ ihn singen, ließ ihn mit der Ulanentschapka spielen, die seine Onkel ihm geschenkt hatten, ließ ihn seinen Degen hinter sich herschleppen, ließ ihn ausrufen: Franzos tot! Englishman tot! Russ tot! Und nahm’s hin, dass der Standortkommandant mit weicher, fast brechender Stimme zu mir sagte: ‚Es tut mir ja so leid, Fähmel, dass wir Sie noch nicht missen können, dass Sie noch nicht dabeisein können, aber auch die Heimat braucht Leute, braucht gerade Leute wie Sie.‘

Kasernenbau, Festungsbau, Lazarette; nachts, in meiner Leutnantsuniform kontrollierte ich die Brückenwache; ältliche Kaufleute im Gefreitenrang, Bankiers im Rang eines Gemeinen salutierten beflissen, wenn ich den Treppenaufgang hinaufstieg, im Schein meiner Taschenlampe die obszönen Zeichnungen sah, die vom Bade heimkehrende Jugendliche in den roten Sandstein gekratzt hatten; es roch nach beginnender Männlichkeit im Brückenaufgang. Irgendwo hing ein Schild: ‚Michaelis, Kohlen, Koks, Briketts‘, zeigte eine aufgemalte Hand in die Richtung, wo Michaelis’ Güter zu erwerben waren; und ich genoss meine Ironie, meine Überlegenheit, wenn der Unteroffizier Gretz mir meldete: ‚Brückenwache; ein Unteroffizier und sechs Mann; keine besonderen Vorkommnisse‘, winkte ab mit einer Handbewegung, wie ich sie aus Komödien gelernt zu haben glaubte; sagte ‚Rühren‘, schrieb meinen Namen ins Wachbuch, ging heim, hängte Helm und Degen an die Garderobe, ging zu Johanna ins Wohnzimmer, legte meinen Kopf in ihren Schoß, rauchte meine Zigarre und sagte nichts, und auch sie sagte nichts; sie brachte nur Gretz die Gänseleberpastete zurück, und als der Abt von Sankt Anton uns Brot schickte, Honig und Butter, verteilte sie es; ich sagte nichts dazu, bekam noch immer mein Frühstück im Cafe Kroner: das zweitausendvierhundertste mit Paprikakäse; immer noch gab ich dem Kellnerfünfzig Pfennig Trinkgeld, obwohl er nichts annehmen wollte, darauf bestand, mir ein Honorar zu zahlen für das Haus, das ich ihm entworfen hatte.

Johanna sprach aus, was ich dachte; sie trank keinen Sekt, als wir beim Standortkommandanten eingeladen waren, aß nicht von dem Hasenpfeffer und wies alle Tänzer ab; sie sagte es laut: ‚Der kaiserliche Narr…‘, und es war, als bräche da draußen im Kasino an der Wilhelmskuhle die Eiszeit aus; sie wiederholte es in die Stille hinein: ‚Der kaiserliche Narr.‘ General, Oberst, Majore waren da, alle mit ihren Frauen, ich als frischbeförderter Oberleutnant, Beauftragter für den Festungsbau; Eiszeit im Kasino an der Wilhelmskuhle; ein kleiner Fähnrich hatte den guten Einfall, die Kapelle zu einem Walzer zu animieren; ich nahm Johannas Arm, brachte sie zur Kutsche; herrliche Herbstnacht; graue Kolonnen marschierten zu Vorstadtbahnhöfen hinaus; keine besonderen Vorkommnisse.

Ehrengericht. Niemand wagte das, was Johanna gesagt hatte, zu wiederholen; Lästerungen dieser Art wurden nicht einmal aktenkundig: Seine Majestät – ein kaiserlicher Narr; das hätte niemand hinzuschreiben gewagt; sie sagten immer nur: ‚Das, was Ihre Gattin gesagt hat‘, und ich sagte: ‚Das, was meine Frau gesagt hat‘, und sagte nicht, was ich hätte sagen müssen, dass ich ihr zustimmte, ich sagte: ‚Schwanger, meine Herren, zwei Monate vor der Entbindung; zwei Brüder verloren, Rittmeister Kilb, Fähnrich Kilb, beide am gleichen Tag gefallen; eine kleine Tochter verloren, im Jahre 1909‘ – und wusste doch, dass ich hätte sagen müssen: ich stimmte meiner Frau zu; wusste, dass Ironie nicht ausreichte und nie ausreichen würde.



„Nein, Leonore, packen Sie dieses Paketchen nicht aus; der Inhalt hat nur Gefühlswert, ist leicht und doch kostbar: ein Flaschenkorken. Danke für den Kaffee; bitte stellen Sie die Tasse auf die Fensterbank; ich warte vergebens, warte auf meine Enkelin, die meistens um diese Zeit oben auf dem Dachgarten Schulaufgaben macht; ich vergaß, dass die Ferien noch nicht zu Ende sind; sehen Sie, von hier oben kann man auch mitten in Ihr Büro hineinsehen, auch Sie kann ich von hier oben an Ihrem Schreibtisch sehen, Ihr hübsches Haar.“

Warum bebte die Tasse plötzlich, klirrte wie vom Stampfen der Druckereimaschinen; war die Mittagspause zu Ende, wurden Überstunden gemacht, auch am Samstagnachmittag Erbauliches auf weißes Papier gedruckt?

An unendlich vielen Morgen hatte ich das Beben gespürt, wenn ich mit aufgestützten Ellenbogen von hier auf die Straße hinuntersah, auf das blonde Haar, dessen Geruch ich aus der Morgenmesse kannte; allzu kernige Seifen würden das hübsche Haar töten; Biederkeit wurde hier als Parfüm benutzt. Ich ging hinter ihr her, wenn sie nach der Messe um Viertel vor neun an Gretzens Laden vorbei auf das Haus Nummer 8 zuging. Das gelbe, das auf schwarzem Holz die weiße, leicht verwitterte Aufschrift trug: ‚Dr. Kilb, Notar‘. Ich beobachtete sie, wenn ich in der Pförtnerloge auf meine Zeitung wartete; Licht fiel auf sie; fiel auf ihr zartes, im Dienst der Gerechtigkeit zerknittertes Gesicht, wenn sie die Bürotür öffnete, die Läden aufstieß, dann die Kombination des Safes einstellte, die Stahltüren öffnete, die sie zu erdrücken schienen; sie prüfte den Inhalt des Safes, und ich konnte über die schmale Modestgasse hinweg genau in den Safe hineinsehen, am obersten Fach das säuberlich gemalte Pappschild lesen: ‚Projekt Sankt Anton‘. Drei große Pakete lagen dort, mit Siegeln wie mit Wunden bedeckt. Es waren nur drei, und jedes Kind kannte die Namen der Absender: Brehmockel, Grumpeter und Wollersein. Brehmockel, der Erbauer von siebenunddreißig neugotischen Kirchen, siebzehn Kapellen und einundzwanzig Klöstern und Krankenhäusern; Grumpeter, der Erbauer von nur dreiunddreißig neuromanischen Kirchen, nur zwölf Kapellen und achtzehn Krankenhäusern; das dritte Paket stammte von Wollersein, der nur neunzehn Kirchen, nur zwei Kapellen, nur vier Krankenhäuser erbaut, dafür aber einen richtigen Dom aufzuweisen hatte. ‚Schon gelesen, Herr Leutnant, was in der Wacht steht?‘ fragte der Portier, und ich las oberhalb des hornigen Portierdaumens die Zeile, die er mir hinhielt: ‚Heute letzter Termin für Projekt Sankt Anton. Hat unsere Architektenjugend keinen Mut?‘ Ich lachte, rollte meine Zeitung zusammen, ging zum Frühstück ins Cafe Kroner; es klang schon wie uralte, seit Jahrhunderten eingesungene Liturgie; wenn der Kellner in die Klappe zur Küche hinein sagte: ‚Frühstück für Herrn Architekten Fähmel wie immer.‘ Hausfrauen, Kleriker, Bankiers – das Stimmengewirr gegen halb elf. Zeichenblock mit Lämmern, Schlangen, Pelikanen; fünfzig Pfennig Trinkgeld für den Kellner, zehn für den Boy, das Grinsen des Pförtners, wenn ich ihm seine Morgenzigarre in die Hand legte, die Post entgegennahm. Ich stand hier, spürte das Beben der Druckereimaschinen an meinen Ellenbogen, sah unten in Kilbs Büro den Lehrling, der in Fensternähe das weiße Falzbein schwang. Ich öffnete den Brief, den der Portier mir gegeben hatte: ‚… sind wir in der Lage, Ihnen die Position eines Chefzeichners ab sofort anzubieten; wenn gewünscht, Familienanschluss; garantiert freundliche Aufnahme in die hiesige Gesellschaft. Kein Mangel an Geselligkeiten…‘ So winkte man mit lieblichen Architektentöchtern, bot kosige Landpartien, auf denen junge Männer mit runden Hüten am Waldesrand Bierfässer anzapften, junge Damen belegte Brote auspackten und anboten, und da konnte man auf frischgemähten Wiesen ein Tänzchen wagen, während Mütter, die ängstlich die Jahre ihrer Töchter zählten, entzückt von soviel Grazie in die Hände klatschten, und wenn man zum gemeinsamen Waldspaziergang aufbrach, Arm in Arm, denn die Damen pflegten über Wurzeln zu stolpern, bot sich, da die Distanzen im Waldesdunkel sich unmerklich vergrößerten, Gelegenheit, einen Kuss zu wagen, auf den Unterarm, die Wange, die Schulter, und wenn man dann heimwärts fuhr, im Abenddämmer durch lauschige Wiesen, an deren Rändern sogar Rehe, als wären sie eigens dafür bestellt, aus dem Wald hervorlugten; wenn Lieder aufklangen, die sich von Kutsche zu Kutsche fortpflanzten, dann würde man sich schon zuflüstern können, dass Amor getroffen habe. Wehe Herzen, wunde Seelen trugen die Kutschen heimwärts.

Und ich schrieb eine liebenswürdige Antwort: ‚… bin ich gerne bereit, auf Ihr freundliches Angebot zurückzukommen, sobald ich die privaten Studien, die mich noch eine Weile an die Stadt fesseln, beendet haben werde…‘; klebte den Umschlag zu, die Marke drauf, ging zur Fensterbank zurück und blickte in die Modestgasse hinunter: wie ein Dolch blitzte das Falzbein auf, wenn der Junge zum Schwung ansetzte; zwei Hoteldiener luden den Keiler auf einen Handkarren; abends würde ich von diesem Keiler kosten, beim Herrenessen des Sängerbunds deutscher Kehlen, würde ihre Witze anhören müssen, und sie würden meinem Lachen nicht anmerken, dass ich nicht darüber lachte, sondern über sie; ihre Witze waren mir so widerwärtig wie die Soßen, und ich lachte mein Lachen, hier oben am Fenster und wusste immer noch nicht: war es Hass oder Verachtung? Nur eins wusste ich: es war nicht nur Freude.

Pilze in weißen Körben wurden von Gretzens Lehrmädchen neben den Keiler gestellt; schon wog im Prinz Heinrich der Koch die Gewürze ab, schliffen Küchengehilfen die Messer; aufgeregte Hilfskellner zupften sich zu Hause vor dem Spiegel die Krawatten zurecht, die sie probeweise umgelegt hatten, und fragten ihre bügelnden Frauen – der Plättdunst gewendeter Hosen erfüllte die Küche – : ‚Muss ich dem Bischof den Ring küssen, wenn ich das Pech haben sollte, ihn zu bedienen?‘ Immer noch schwang der Lehrling das weiße Falzbein.

Elf Uhr, fünfzehn Minuten; ich bürstete meinen schwarzen Anzug, prüfte den Sitz der Samtschleife, setzte den Hut auf, zog meinen Taschenkalender hervor, er war nur so groß wie eine flache Streichholzschachtel, schlug den Kalender auf und blickte hinein: 30. September 1907. 11.30 bei Kilb Entwurf abgeben. Quittung verlangen.

Vorsicht! Zu oft hatte ich in planender Vorstellung diese Handlung vollzogen: die Treppe hinunter, über die Straße, durch den Flur, ins Vorzimmer. ‚Ich wünsche Herrn Notar persönlich zu sprechen!‘

‚In welcher Angelegenheit?‘

‚Ich möchte dem Herrn Notar einen Entwurf übergeben. Preisausschreiben Sankt Anton.‘

Nur der Lehrling würde Überraschung zeigen, das Falzbein stillhalten, sich umblicken, dann aber beschämt sein Gesicht wieder der Straße, den Formularen zuwenden, eingedenk der Mahnung: Diskretion, Diskretion! In diesem Raum, wo Schäbigkeit zum Schick gehörte, die Porträts rechtsbeflissener Vorfahren an der Wand hingen, wo Tintenfässer achtzig Jahre alt wurden, Falzbeine einhundertundfünfzig; hier wurden gewaltige Transaktionen in Stillschweigen vollzogen; hier wechselten ganze Stadtviertel ihre Besitzer, wurden Heiratsverträge abgefasst, in denen jährliche Nadelgelder ausgesetzt wurden, die höher waren als die Summe, die ein Kanzlist in fünf Jahren verdiente; hier wurde aber auch des biederen Schuhmachermeisters Zweitausender-Hypothek notariell bestätigt, des zittrigen Rentners Testament aufbewahrt, in dem er seinem Lieblingsenkel sein Nachttischchen vermachte; der Witwen und Waisen, der Arbeiter und Millionäre Rechtsgeschäfte wurden hier in Verschwiegenheit erledigt, angesichts des Wandspruchs: Voll ist ihre Rechte von Geschenken. Kein Grund, aufzublicken, wenn ein junger Künstler, im vom Onkel geerbten, gewendeten schwarzen Anzug, ein in Kanzleipapier gewickeltes Paket, Zeichenrollen, übergab und glaubte, den Herrn Notar deswegen persönlich bemühen zu müssen. Der Bürovorsteher versiegelte das Paket, die Zeichenrollen, drückte das Kilbsche Wappen, ein Lamm, dem der Blutstrahl aus der Brust brach, in den heißen Siegellack, während die Blonde, Rechtschaffene die Quittung ausschrieb: ‚Am Montag, dem 30. September 1907, vormittags 11.35 übergab Herr Architekt Heinrich Fähmel…‘ Glitt nicht, als sie mir die Quittung hinhielt, über ihr blasses, freundliches Gesicht ein Schimmer des Erkennens? Ich war beglückt über das Unvorhergesehene, weil es mir bewies, dass Zeit etwas Wirkliches war; es gab also diesen Tag, diese Minute; bewiesen war es nicht durch mich, der ich tatsächlich die Treppe hinuntergegangen war, die Straße überquert, Flur und Vorzimmer betreten hatte; bewiesen nicht durch den Lehrling, der aufblickte, beschämt dann, der Diskretion eingedenk, sich wieder abwandte; bewiesen nicht durch die blutroten Wunden der Siegel; bewiesen war es durch das unvorhergesehene freundliche Lächeln der Kanzlistin, die meinen gewendeten Anzug musterte, mir dann, als ich die Quittung aus ihrer Hand nahm, zuflüsterte: ‚Viel Glück, Herr Fähmel.‘ Diese Worte waren die ersten innerhalb der viereinhalb Wochen, die der Zeit eine Wunde schlugen, mich daran erinnerten, dass es Spuren von Wirklichkeit gab in diesem Spiel, das ich ablaufen ließ; die Zeit war also nicht nur in Traumkabinetten geregelt, wo Zukünftiges gegenwärtig, Gegenwärtiges mich seit Jahrhunderten vergangen dünkte, Vergangenes zukünftig wurde, wie eine Kindheit, auf die ich zulief wie als Kind auf meinen Vater. Er war still gewesen, Jahre häuften sich um ihn herum wie Bleischichten aus Stille; Orgelregister gezogen, beim Hochamt gesungen, bei Beerdigungen erster Klasse viel, zweiter Klasse wenig, bei denen dritter Klasse gar nicht gesungen; so still, dass mir jetzt, da ich an ihn dachte, ganz beklommen war; er hatte Kühe gemolken, Heu geschnitten, Korn gedroschen, bis das schweißverklebte Gesicht von Spelzen wie von Insekten bedeckt war; hatte den Taktstock geschwungen, für den Jünglingsverein, den Gesellenverein, den Schützenverein und den Cäcilienverein; sprach nie, schimpfte nie, sang nur, schnitzelte Rüben, kochte Kartoffeln fürs Schwein, spielte Orgel, zog seinen schwarzen Küsterrock an, das weiße Rochett drüber; niemandem im Dorf fiel auf, dass er nie sprach, weil alle ihn nur tätig kannten; von vier Kindern starben zwei an der Schwindsucht, blieben nur zwei: Charlotte und ich. Meine Mutter, zart, eine von denen, die Blumen lieben, hübsche Gardinen, die beim Bügeln Lieder singen und abends am Herdfeuer Geschichten erzählen; Vater schuftete, zimmerte Betten, füllte Säcke mit Stroh, schlachtete Hühner, bis Charlotte starb: Engelamt, Kirche in Weiß; der Pfarrer sang, aber der Küster antwortete nicht, zog nicht die Register, kein Orgelton, keine Respons kam von der Empore herunter; nur der Pfarrer sang. Schweigen, als vor der Kirche der Zug sich in Richtung Friedhof formierte; fragte der verstörte Pfarrer: ‚Aber Fähmel, mein lieber, guter Fähmel, warum haben Sie denn nicht gesungen?‘ Und ich hörte zum ersten Mal die Stimme meines Vaters etwas aussprechen, und ich war erstaunt, wie rauh die Stimme dessen klang, der so sanft von der Orgelempore heruntersingen konnte; er sagte es leise, mit knurrendem Unterton: ‚Bei Begräbnissen dritter Klasse wird nicht gesungen.‘ Dunst über dem Niederrhein, Nebelschwaden zogen tanzende Schleifen über die Rübenäcker, in Weidenbäumen schnarrten die Krähen wie Fastnachtsklappern, während der verstörte Pfarrer die Liturgie las; Vater schwang nicht mehr den Taktstock im Jünglingsverein, im Gesellenverein, im Schützenverein, nicht mehr im Cäcilienverein, und es war, als hätte dieser erste Satz, den ich ihn sprechen hörte – sechzehn war ich, als Charlotte zwölfjährig starb —, als hätte er mit diesem ersten Satz seine Stimme entdeckt; er sprach mehr, sprach von Pferden und Offizieren, die er hasste, sagte es drohend: ‚Wehe euch, wenn ihr mich erster Klasse beerdigen lasst.‘

‚Ja‘, wiederholte die Blonde, ‚viel Glück wünsche ich Ihnen.‘ Vielleicht hätte ich die Quittung zurückgeben, das versiegelte Paket, die Zeichenrollen zurückverlangen, heimkehren sollen; die Tochter des Bürgermeisters und Bauunternehmers heiraten, Feuerwehrhäuser bauen, kleine Schulen, Kirchen, Kapellen; auf ländlichen Richtfesten mit der Hausherrin tanzen sollen, während meine Frau mit dem Hausherren tanzte; warum Brehmockel, Grumpeter und Wollersein herausfordern, die großen Koryphäen des Kirchenbaus, warum? Ich fühlte mich frei von Ehrgeiz, Geld lockte mich nicht; ich würde niemals zu hungern brauchen; mit Pfarrer, Apotheker, Wirt und Bürgermeister Skat spielen, an Treibjagden teilnehmen, reichgewordenen Bauern ‚was Modernes‘ bauen – aber schon stürzte der Lehrling von der Fensterbank zur Tür, hielt sie mir auf; ich sagte ‚Danke‘, ging hinaus, durch den Flur, überquerte die Straße, stieg die Treppe zum Atelier hinauf, stützte meinen Arm auf die Fensterbank, die vom Stampfen der Druckereimaschinen bebte, es war am 30. September 1907, gegen 11.45 Uhr…

„Ja, Leonore, es ist eine Last mit den Druckereimaschinen; wieviel Tassen sind mir schon zerbrochen, wenn ich nicht darauf achtete. Lassen Sie sich Zeit, nicht so hastig, Kind. Wenn Sie so weiterarbeiten, werden Sie in einer Woche geordnet haben, was ich einundfünfzig Jahre lang nicht ordnen mochte. Nein, danke, für mich keinen Kuchen. Ich darf Sie doch Kind nennen? Sie brauchen über die Schmeicheleien eines alten Mannes nicht zu erröten. Ich bin ein Denkmal, Leonore, und Denkmäler können einem nichts anhaben; ich alter Narr gehe immer noch jeden Morgen ins Cafe Kroner, esse dort meinen Paprikakäse, obwohl er mir schon lange nicht mehr schmeckt; ich bin es den Zeitgenossen schuldig, meine Legende nicht zu zerstören; ich werde ein Waisenhaus stiften, vielleicht eine Schule, werde Stipendien aussetzen, und irgendwann und irgendwo werden sie mich bestimmt in Erz gießen und enthüllen; Sie sollen dabeistehen und lachen, Leonore; Sie können so hübsch lachen, wissen Sie das? Ich kann es nicht mehr, ich hab es verlernt und hab doch geglaubt, es wäre eine Waffe; es war keine, war nur eine kleine Täuschung. Wenn Sie Lust haben, werde ich Sie zum Akademikerball mitnehmen, Sie als meine Nichte vorstellen, dort sollen Sie Sekt trinken, tanzen und einen jungen Mann kennenlernen, der gut zu Ihnen ist und Sie liebt; ich werde Ihnen eine hübsche Mitgift stiften – ja, sehen Sie sich das mal in Ruhe an: drei Meter mal zwei Meter, die Gesamtansicht von Sankt Anton; das hängt schon einundfünfzig Jahre hier im Atelier, hing noch da, als die Decke eingestürzt war; daher rühren die paar Stockflecken, die Sie da sehen; es war mein erster großer Auftrag, ein Riesenauftrag, und ich war, kaum dreißig damals, ein gemachter Mann.



Und brachte im Jahre 1917 nicht den Mut auf, zu tun, was Johanna an meiner Stelle tat; sie riss Heinrich, der oben auf dem Dach neben der Pergola stand, das Gedicht aus der Hand, das er auswendig lernen sollte; er sagte es mit ernsthafter Kinderstimme:

 

Sprach Petrus, der Pförtner am Himmelstor:

„Ich trage die Sache höheren Orts vor.“

Und siehe, nicht lange, da kam er zurück:

„Exzellenz Blücher, Sie haben Glück!

Urlaub auf unbestimmte Zeit“

(Sprach’s und öffnete das Himmelstor weit.)

„Zieh, alter Feuerkopf, und schlag drein,

Der alte Gott wird mit Euch sein.“

 

Robert war noch nicht zwei und Otto noch nicht geboren; ich hatte Urlaub, war mir längst klar über das, was ich unklar gespürt hatte: dass Ironie nicht ausreichte und nie ausreichen würde, dass sie nur ein Narkotikum für Privilegierte war, und ich hätte tun müssen, was Johanna dann tat; ich hätte in meiner Hauptmannsuniform mit dem Jungen sprechen müssen, aber ich lauschte nur, wie er weiter rezitierte:

 

Blücher ist’s, der herniederstieg,

Uns zu führen von Sieg zu Sieg,

Vorwärts mit Hurra und Hindenburg,

Ostpreußens Retter und feste Burg.

Solange noch deutsche Wälder stehn,

Solange noch deutsche Wimpel wehn,

Solange noch lebt ein deutsches Wort,

lebt der Name unsterblich fort.

Gemeißelt in Stein, gegraben in Erz,

Du, unser Held, dir schlägt unser Herz:

Hindenburg! Vorwärts!

 

Johanna riss dem Jungen den Zettel aus der Hand, zerriss ihn, streute die Fetzen auf die Straße hinunter, wie Schneeflocken fielen sie vor Gretzens Laden, wo in diesen Tagen kein Keiler hing; höhere Gewalt herrschte.



Lachen wird nicht genügen, Leonore, wenn sie mein Denkmal enthüllen; bespuck es, Kind – im Namen meines Sohnes Heinrich, im Namen Ottos, der ein so lieber Junge war, und brav, und weil er so lieb war und so brav, so folgsam – mir so fremd wurde, wie kein Mensch auf dieser Erde, und im Namen Ediths, des einzigen Lammes, das ich je sah; ich liebte sie, die Mutter meiner Enkel, und konnte ihr nicht helfen, konnte dem Tischlerlehrling nicht helfen, den ich nur zweimal sah, und nicht dem Jungen, den ich niemals sah; der uns Botschaften von Robert, Zettel so groß wie Bonbonpapiere, in den Briefkasten warf und dieses Verbrechens wegen in einem Lager verschwand. Robert war immer klug und kühl und nie ironisch; Otto war anders, er zeigte Herz und hatte doch plötzlich vom Sakrament des Büffels gekostet und wurde uns fremd; bespucke mein Denkmal, Leonore, sag ihnen, ich hätte dich darum gebeten; ich kann’s dir auch schriftlich geben und meine Unterschrift notariell beglaubigen lassen; du hättest den Jungen sehen müssen, der mich den Satz begreifen machte: Engel stiegen herab und dienten ihm, er war Tischlerlehrling; sie schlugen ihm den Kopf ab; du hättest Edith sehen müssen und ihren Bruder, den ich ein einziges Mal sah, wie er über unseren Hof kam und zu Robert hinaufging; ich stand am Schlafzimmerfenster und sah ihn nur eine halbe Minute lang, und ich hatte Angst; er trug Heil auf den Schultern und Unheil; Schrella, ich hab seinen Vornamen nie erfahren, war wie ein Gerichtsvollzieher Gottes, der für unbezahlte Rechnungen unsichtbare Pfandmarken an die Häuser klebte; ich wusste, dass er meinen Sohn fordern würde, und ließ ihn mit seinen hängenden Schultern über den Hof gehen; den ältesten meiner überlebenden Söhne, begabt; Ediths Bruder pfändete ihn: Edith war anders, ihr biblischer Ernst war so gewaltig, dass sie sich biblischen Humor erlauben durfte; sie lachte mit ihren Kindern inmitten des Bombardements; sie gab ihnen biblische Namen: Joseph und Ruth; und der Tod barg für sie keine Schrecken; sie begriff nie, dass ich so sehr um meine verstorbenen Kinder trauerte, um Johanna und Heinrich – sie erfuhr nicht mehr, dass auch Otto starb, der Fremde, der mir am nächsten gestanden hatte; er liebte mein Atelier, meine Zeichnungen, fuhr mit mir auf Baustellen, trank auf Richtfesten Bier, war der Liebling der Bauarbeiter; er wird an meiner Geburtstagsfeier heute abend – nicht teilnehmen; wieviel Gäste sind geladen? An einer Hand abzuzählen die Sippe, die ich gründete: Robert, Joseph, Ruth, Johanna und ich; auf Johannas Platz wird Leonore sitzen, und was werde ich Joseph sagen, wenn er mit jugendlichem Eifer vom Fortschritt der Aufbauarbeiten in Sankt Anton berichtet; Richtfest Ende Oktober; die Mönche wollen die Adventsliturgie schon in der neuen Kirche singen. Es zittern die morschen Knochen, Leonore, und sie haben meine Lämmer nicht geweidet.

Ich hätte die Quittung zurückgeben, die roten Siegel erbrechen und vernichten sollen, dann brauchte ich nicht hier zu stehen und auf meine Enkelin zu warten, die hübsche, schwarzhaarige, neunzehn Jahre alte, so alt wie Johanna war, als ich vor einundfünfzig Jahren hier oben stand und sie drüben auf dem Dachgarten sah; ich konnte den Buchtitel erkennen: Kabale und Liebe – oder ist es Johanna, die jetzt drüben Kabale und Liebe liest; ist sie wirklich nicht da, mit Robert immer noch im Löwen beim Mittagessen; hab ich in die Pförtnerloge die obligatorische Zigarre gelegt, bin dem vertraulichen Unter-Männern-Herr-Leutnant-Gespräch entronnen, um hier oben von halb elf bis fünf zu hocken, nur dazusein; bin an Bücherstapeln, an Stapeln frischgedruckter Bistumsblättchen vorbei hier heraufgestiegen; was wird denn samstags nachmittags noch auf weißes Papier gedruckt; Erbauliches oder Wahlplakate für alle die, die vom Sakrament des Büffels gekostet haben? Da beben die Wände, zittern die Stufen, bringen Arbeiterinnen immer neue Stapel, häufen sie bis vor die Ateliertür. Ich lag hier oben, übte mich in der Kunst, nur dazusein; trieb dahin wie im Sog eines schwarzen Windkanals, der mich hinausschleudern würde; wohin? wurde in uralter Bitterkeit dahingewirbelt, getränkt mit uralter Vergeblichkeit, sah die Kinder, die ich haben, die Weine, die ich trinken, die Krankenhäuser und Kirchen, die ich bauen würde – und hörte immer die Erdklumpen auf meinen Sarg fallen, dumpfe Trommelgeräusche, die mich verfolgten; ich hörte den Gesang der Einlegerinnen und der Falzerinnen und Packerinnen, hell die einen, dunkel, süß und spröde die andern; sie besangen die einfachen Freuden des Feierabends; es drang wie mein Grabgesang zu mir hin: Liebe im Tanzlokal, wehes Glück an der Friedhofsmauer, im herbstlich duftenden Gras; alter Mutter Tränen als Vorboten junger Mutter Freuden, Waisenhausmelancholie, wo ein tapferes junges Mädchen rein zu bleiben beschloss; doch traf es auch sie, traf sie im Tanzlokal; wehes Glück an der Friedhofsmauer, im herbstlich duftenden Gras – immer wieder griffen die Stimmen der Arbeiterinnen wie Schöpfräder ins ewig gleiche Wasser, sie sangen es mir zum Grabgesang, während Erdklumpen auf meinen Sarg polterten. Ich blickte unter den Augenlidern hervor auf die Wände meines Ateliers, die ich mit Zeichnungen tapeziert hatte: majestätisch in der Mitte die rötliche Lichtpause, I : 200, die Abtei Sankt Anton; im Vordergrund der Weiler Stehlingers Grotte, weidende Kühe, ein abgeernteter Kartoffelacker, von dem der Rauch eines Feuers hochstieg; dann die Abtei, gewaltig, im Basilikastil, rücksichtslos hatte ich sie romanischen Kathedralen nachgebildet, den Kreuzgang streng, niedrig und dunkel; Klausur, Refektorium, Bibliothek; in der Mitte des Kreuzgangs die Figur des heiligen Antonius; das große Geviert mit den landwirtschaftlichen Gebäuden; Scheune, Ställe, Wagenremisen, eigene Mühle mit Bäckerei, ein hübsches Wohnhaus für den Ökonom, der auch die Pilger zu betreuen hatte; da standen unter hohen Bäumen einfache Tische und Stühle, auf denen die Wegzehrung zu herbem Wein, zu Most oder Bier verzehrt werden konnte; am Horizont angedeutet der zweite Weiler: Görlingers Stuhl; Kapelle, Friedhof, vier Bauernhöfe, weidende Kühe; Pappelreihen grenzten rechts das gerodete Land ab, wo dienende Mönche Wein pflanzen, wo Kohl und Kartoffeln, Gemüse und Getreide wachsen, in Bienenstöcken der köstliche Honig gesammelt werden würde.

Abgegeben vor zwanzig Minuten, gegen Quittung; Entwurf mit Detailzeichnungen und einer kompletten Kalkulation; mit scharfer Feder hatte ich Ziffern und Positionen hingeschrieben; mit blinzelnden Augen, als sähe ich die Gebäude dort wirklich liegen, blickte ich wie durch ein Fenster auf den Entwurf; da bückten sich Mönche, tranken Pilger Most, während die singenden Arbeiterinnen unten mit Stimmen, die den Feierabend begehrten, hell und dunkel, ihren Grabgesang zu mir heraufschickten; ich schloss die Augen, spürte die Kälte, die ich fünfzig Jahre später erst würde spüren können, als gemachter Mann, von wimmelndem Leben umgeben.

Diese viereinhalb Wochen waren unendlich lang gewesen, alles was ich tat, hatte ich vorher in Traumkabinetten geregelt; blieb nur die Messe am Morgen, blieben die Stunden von halb elf bis fünf; ich begehrte das Unvorhergesehene, das mir nur ein winziges Lächeln, zweimal ein ‚Viel Glück, Herr Fähmel‘ beschert hatte. Wenn ich die Augen wieder schloss, teilte sich die Zeit wie ein Spektrum: Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft, in fünfzig Jahren würden meine ältesten Enkel schon fünfundzwanzig sein, meine Söhne schon so alt wie die würdigen Herren, denen ich mich eben ausgeliefert hatte, als ich meinen Entwurf übergab. Ich tastete nach der Quittung; sie war da; wirklich; morgen früh würde die Jury zusammentreten und die veränderte Lage feststellen: ein vierter Entwurf; die schon gebildeten Parteien, zwei für Grumpeter, zwei für Brehmockel, und einer, der wichtigste, jüngste und kleinste von den fünfen, der Abt, für Wollersein; der Abt liebte Romantik; heiß würde es hergehen, denn die beiden bestechlichen Jurymitglieder würden am heftigsten künstlerisch zu argumentieren haben; Vertagung; dieser hergelaufene junge Bengel hat uns das Konzept verdorben; beunruhigt hatten sie festgestellt, dass dem Abt mein Entwurf offensichtlich gefiel; immer wieder war er vor der Zeichnung stehengeblieben, nippte an seinem Wein; organisch war das Ganze in die Landschaft eingefügt, so klar die Nützlichkeit des landwirtschaftlichen Gevierts gegen das strenge Geviert des Kreuzgangs und der Klausur abgesetzt; Brunnen, Pilgerherberge, alles gefiel ihm; er lächelte: dort würde er Primus inter pares sein; er stieg schon in den Entwurf hinein wie in sein Eigentum, regierte im Refektorium, saß im Chor, besuchte die kranken Brüder, ging zum Ökonomen hinüber, den Wein zu prüfen, das Korn durch seine Hände rinnen zu lassen; Brot für seine Brüder und für die Armen, auf seinen Äckern geerntetes Korn, dort hatte der junge Architekt für die Bettler eine kleine überdachte Kammer geschaffen, gleich neben der Pforte, draußen Bänke für den Sommer, drinnen Stühle, ein Tisch, ein Ofen für den Winter. ‚Meine Herren, es gibt keinen Zweifel für mich, ich stimme ohne jede Einschränkung für den – wie heißt er doch – für den Fähmelschen Entwurf; und sehen Sie, die Kosten: dreihunderttausend Mark unter dem billigsten der drei andren; trockener Siegellack von den aufgebrochenen Wunden bedeckte den Tisch, auf den jetzt Fachmänner ihre Fäuste schlugen, das große Palaver zu beginnen: ‚Glauben Sie uns doch, Ehrwürdiger Vater, wie oft schon hat jemand unterboten, aber was wollen Sie tun, wenn er uns vier Wochen vor dem Richtfest kommt und erklärt, die Puste sei ihm ausgegangen; Baukostenüberschreitungen von einer halben Million sind bei solchen Projekten keine Seltenheit. Glauben Sie erfahrenen Männern. Welche Bank wird für einen unerfahrenen, völlig unbekannten jungen Mann bürgen, die Garantiesumme bereitlegen? Hat er Vermögen?‘ Großes Gelächter fiel über den jungen Abt: ‚Vermögen laut eigener Angabe: achttausend Mark.‘ Palaver. Verärgert schieden die Herren voneinander. Keiner war dem Abt beigesprungen. Vertagt um vier Wochen. Wer hatte diesem kahlgeschorenen Bauernjungen, der knapp dreißig war, laut Satzung die entscheidende Stimme gegeben, so dass gegen ihn nicht, mit ihm sofort entschieden werden konnte.

Da schnurrten die Telefone, rannten schwitzende Boten mit Eilbriefen vom Regierungspräsidenten zum Erzbischof, vom Erzbischof zum Priesterseminar, wo der Vertrauensmann des Erzbischöflichen Stuhles gerade die Vorzüge der Neugotik pries; der rannte mit knallrotem Gesicht zur wartenden Droschke, Hufe entfernten sich klappernd über Kopfsteinpflaster, knirschende Räder nahmen kühne Kurven; Eile, Eile; Bericht! Bericht! Fähmel? Nie gehört. Der Entwurf? Technisch glänzend, kalkulatorisch – man muss es zugeben, Exzellenz —, soweit überschaubar, überzeugend, aber der Stil? Grässlich; nur über meine Leiche; Leiche? Der Erzbischof lächelte; Künstlernatur, der Professor, feurig, zuviel Gefühl, zu viele wehende weiße Lockenhaare; Leiche, na, na; da gingen chiffrierte Anfragen von Grumpeter an Brehmockel, von Brehmockel an Wollersein, da versöhnten sich die zu Tode verfeindeten Koryphäen für einige Tage, fragten einander in chiffrierten Briefen und Telefonaten: ‚Ist Blumenkohl verderblich?‘ – was bedeuten sollte: ‚Sind Äbte absetzbar?‘ —, kam die niederschmetternde Antwort: ‚Blumenkohl ist nicht verderblich.‘

Viereinhalb Wochen lang untergetaucht; wie friedlich war mein Grab; da rutschte die Erde langsam nach, schob sich sanft neben und über mir zurecht; während der Wechselgesang der Arbeiterinnen mich betäubte, nichts zu tun war besser, aber nun würde ich handeln, handeln müssen, wenn sie mein Grab öffneten, den Deckel hoben; sie würden mich zurückwerfen in die Zeit, in der jeder Tag einen Namen, jede Stunde eine Pflicht enthalten würde; das Spiel würde ernst werden; nicht mehr gegen zwei die Erbsensuppe aus meiner kleinen Küche geholt; ich wärmte sie schon nicht mehr, aß sie kalt; ich machte mir nichts aus Essen, nichts aus Geld und aus Ruhm; ich liebte das Spiel, machte mir etwas aus meiner Zigarre und sehnte mich nach einer Frau, nach meiner Frau. Würde es die sein, die ich drüben auf dem Dachgarten sah, schwarzhaarig, schlank und hübsch; Johanna Kilb? Morgen würde sie meinen Namen wissen; sehnte ich mich nach irgendeiner, oder nach ihr? Ich konnte es nicht länger ertragen, immer nur mit Männern zusammen zu sein, fand sie alle lächerlich; die Frommen und die Unfrommen; die Zoten erzählten, und die, die sie sich erzählen ließen, Billardspieler, Reserveleutnants, Sänger, den Portier und die Kellner; ich war ihrer überdrüssig, freute mich auf die Abendstunden von fünf und sechs, auf die Gesichter der Arbeiterinnen, in deren Strom ich durch die Toreinfahrt ging; ich liebte die Sinnlichkeit auf ihren Gesichtern, die der Vergänglichkeit ungebrochen ihren Zoll zahlten, und wäre am liebsten mit einer von ihnen tanzen gegangen, hätte mit ihr an der Friedhofsmauer im herbstlich duftenden Gras gelegen – die Quittung zerrissen, das große Spiel abgebrochen —, diese Mädchen lachten, sangen, aßen gern und tranken gern, weinten und waren nicht wie die falschen Ziegen, die mich als möblierten Herrn zu Zärtlichkeiten herausforderten, die sie für kühn hielten. Noch gehörten sie mir, die Figuren und Requisiten, gehorchten mir die Komparsen, an diesem letzten Tag, an dem ich keine Lust auf die kalte Erbsensuppe hatte und zu faul war, sie mir zu wärmen; ich wollte das Spiel zu Ende spielen, ausgedacht in der Langeweile von Kleinstadtnachmittagen, wenn ich genug Mörtel geprüft, Steine begutachtet, die Gradheit von Mauern festgestellt hatte und die Langeweile in düsteren Kneipen der Langeweile im Büro vorzog, auf winzigen Zetteln die Abtei zu entwerfen begann.

Das Spiel ließ mich nicht mehr los; die Zeichnungen wurden größer, die Vorstellungen genauer, und fast ohne es zu merken, befand ich mich plötzlich mitten in der Kalkulation; rechnen gelernt, zeichnen gelernt; bitte; ich schickte fünfzig Goldmark an Kilb und bekam die Unterlagen geschickt; besuchte Kisslingen an einem Sonntagnachmittag; blühende Weizenäcker, dunkelgrüne Rübenäcker, Wald, wo die Abtei einmal stehen sollte; ich spielte weiter, studierte die Gegner, deren Namen von Kollegen mit andächtigem Hass ausgesprochen wurden: Brehmockel, Grumpeter, Wollersein; ich sah mir ihre Bauwerke an, Kirchen, Krankenhäuser, Kapellen, Wollersteins Dom; ich spürte es, roch es angesichts dieser trostlosen Baulichkeiten, die Zukunft lag griffbereit da, wie ein Land, das zu erobern war, unbekannter Boden, in dem Goldstücke vergraben lagen, herauszuholen von jedem, der sich nur ein wenig mit Strategie beschäftigen würde; ich nahm die Zukunft in die Hand; ich brauchte nur zuzugreifen; Zeit war plötzlich eine Macht, wurde missachtet, verstrich ungenutzt, während ich Stümpern und Heuchlern die Geschicklichkeit meiner Hände und die Mathematik meines Gehirns für ein paar Goldstücke überließ; Papier gekauft, Tabellen, Stifte und Handbücher; Spiel, das mich nur eins kostete: Zeit; sie war da, war geschenkt; die Sonntage waren Erkundungstage: Terrain besichtigt, Straßen durchschritten: Modestgasse, im Haus Nummer 7 war ein Atelier zu vermieten; im Haus gegenüber, Nummer 8, wohnte der Notar, der die Entwürfe unter Siegel hielt; die Grenzen waren offen, ich brauchte nur einzumarschieren; und jetzt erst, tief drinnen im zu erobernden Land, schon halb sein Besitzer, jetzt erst hatte ich, während der Feind noch schlief, die Kriegserklärung abgegeben; ich suchte noch einmal nach meiner Quittung; sie war da.

Übermorgen würde der erste Besucher die Schwelle des Ateliers überschreiten; der Abt, jung, braunäugig, nüchtern; obwohl er Herrschaft noch nicht ausgeübt hatte, doch schon herrschgewohnt. ‚Woher wussten Sie, dass die Trennung zwischen Brüdern und Mönchen im Refektorium nicht von unserem Heiligen Vater Benedikt vorgesehen war?‘ Er schritt auf und ab, blickte immer wieder in den Entwurf, fragte: ‚Werden Sie durchhalten, werden nicht schlappmachen, diesen Unken nicht recht geben müssen?‘ Und ich hatte Angst vor dem großen Spiel, das aus dem Papier steigen, mich überwältigen würde; ich hatte das Spiel gespielt, aber mir nie klargemacht, dass ich es auch gewinnen könnte; der Ruf, gegen Brehmockel, Grumpeter und Wollersein allein nicht gesiegt zu haben, würde mir genügt haben, aber sie zu besiegen? Ich hatte Angst und sagte doch: ‚Ja, ich werde durchhalten, Ehrwürdiger Vater.‘ Er nickte, lächelte und ging.



Um fünf ging ich im Strom der Arbeiterinnen durch die Toreinfahrt, machte meinen planmäßigen Feierabendspaziergang; ich sah verschleierte Schönheiten, die in Droschken zum Rendezvous fuhren, Leutnants, die im Cafe Fuhl zu weicher Musik harte Getränke tranken; ich ging jeden Tag vier Kilometer, eine Stunde lang, immer den gleichen Weg um die gleiche Zeit; sie sollten mich sehen, sollten mich immer um die gleiche Zeit an den gleichen Orten sehen; Ladnerinnen, Bankiers und Juweliere; Huren und Schaffner, Ladenschwengel, Kellner und Hausfrauen; sie sollten mich sehen und sahen mich; von fünf bis sechs, mit der Zigarre im Mund; ungehörig, ich weiß, aber ich bin Künstler, zum Nonkonformismus verpflichtet; ich darf auch stehenbleiben bei den Leierkastenmännern, die die Melancholie des Feierabends ausmünzen; Traumstraße, die durchs Traumkabinett führte: gut geölte Gelenke hatten meine Komparsen, wurden von unsichtbaren Fäden bewegt, Münder öffneten sich zu Stichworten, die ich ihnen zugestand, kalte Melodie der Billardkugeln im Hotel Prinz Heinrich; weiß über grün, rot über grün; Mannequins winkelten ihre Arme, um mit dem Queue zuzustoßen, um Biergläser zum Munde zu führen, sammelten Points, spielten Serien, klopften mir kollegial auf die Schulter; ach ja, ach nein, oh glänzend, Pech gehabt; während ich die Erdklumpen auf meinen Sarg fallen hörte, Ediths Todesschrei schon wartete, und des blonden Tischlerlehrlings letzter Blick, den er im Morgengrauen auf die Gefängnismauern werfen sollte, schon bereitgehalten wurde.



Ich fuhr mit meiner Frau, meinen Kindern ins Kissatal, zeigte ihnen stolz mein Jugendwerk, besuchte den älter gewordenen Abt und las in seinem Gesicht die Jahre ab, die ich in meinem eigenen nicht entdeckte; Kaffee im Gästezimmer, Kuchen, aus eigenem Mehl gebacken, mit selbstgeernteten Pflaumen und der Sahne eigener Kühe; meine Söhne durften die Klausur betreten, meine Frau mit den kichernden Töchtern musste draußen warten: vier Söhne, drei Töchter, sieben Kinder, die mir siebenmal sieben Enkel bescheren würden, und der Abt lächelte mir zu: ‚Wir sind ja jetzt sogar Nachbarn geworden.‘ Ja, ich hatte die beiden Weiler Stehlingers Grotte und Görlingers Stuhl gekauft.

„Ach, Leonore, schon wieder das Cafe Kroner? Nein, ich habe doch ausdrücklich gesagt: Kein Sekt. Ich hasse Sekt. Und nun machen Sie Feierabend, Kind, bitte. Und würden Sie mir noch ein Taxi bestellen, auf zwei Uhr? Es soll an der Toreinfahrt warten, vielleicht kann ich Sie ein Stück mitnehmen. Nein, ich fahre nicht über Blessenfeld. Bitte, wenn Sie wollen, können wir das noch klären.“



Er wandte sich von seinem Wechselrahmen ab, blickte ins Atelier, wo immer noch der große Entwurf von Sankt Anton an der Wand hing, die Luft von Staub erfüllt war, den die fleißige Mädchenhand trotz aller Vorsicht aufgewirbelt hatte; unverdrossen räumte sie den Stahlschrank aus, hielt ihm jetzt einen Haufen Geldscheine hin, die vor fünfunddreißig Jahren schon ihren Wert verloren hatten, brachte kopfschüttelnd einen anderen Packen Geld zum Vorschein, das vor zehn Jahren wertlos geworden war, zählte ihm korrekt die fremd gewordenen Scheine auf den Zeichentisch: zehn, zwanzig, achtzig, hundertzwölf, hundertundzwanzig Mark.



„Ins Feuer damit, Leonore, oder vielleicht schenken Sie es den Kindern auf der Straße, die großangelegten Quittungen des Schwindels, der vor fünfunddreißig Jahren begonnen, vor zehn bekräftigt wurde. Ich habe mir nie etwas aus Geld gemacht, und doch hielten mich alle für geldgierig; sie haben sich getäuscht, ich wollte nicht Geld, als ich das große Spiel anfing; und als ich es gewann und populär wurde, da erst wurde ich mir bewusst, dass sich alle Voraussetzungen für die Popularität in mir vereinten; ich war tüchtig, liebenswürdig, einfach, war Künstler, Reserveoffizier, hatte es zu etwas gebracht, wurde reich und war doch, war doch ‚der Junge aus dem Volke‘ und verleugnete es nie; nicht um des Geldes, des Ruhmes, nicht um der Frauen willen hatte ich die Algebra der Zukunft in Formeln gefasst, hatte X, Y und Z in Größen verwandelt, die sichtbar wurden, in Bauernhöfe, Bankkonten, Macht, die ich immer wieder verschenkte und die mir doppelt zurückgegeben wurde; ein lächelnder David, zart, nahm nie ein Pfund zu, nie ein Pfund ab; heute noch würde mir meine Leutnantsuniform aus dem Jahr 97 passen; schwer traf mich das Unvorhergesehene, das ich so heftig begehrt hatte: die Liebe meiner Frau und der Tod meiner Tochter Johanna; eine echte Kilb, eineinhalb Jahre alt – aber ich sah in diese Kinderaugen wie in die Augen meines schweigsamen Vaters, sah uralte Weisheit auf dem dunklen Grund dieser Augen, die den Tod schon zu kennen schienen; Scharlach blühte wie schreckliches Unkraut auf diesem kleinen Körper, wuchs an den Hüften hoch, sank bis zu den Füßen, Fieber siedete, und weiß wie Schnee wuchs der Tod, wuchs wie Schimmel unter dem blühenden Rot, fraß sich durch, durch und brach schwarz aus den Nasenlöchern; das Unvorhergesehene, das ich begehrt hatte, es kam wie ein Fluch, lauerte in diesem schrecklichen Haus; es gab Streit, heftigen Wortwechsel mit dem Pfarrer von Sankt Severin, mit den Schwiegereltern, den Schwägern, weil ich mir für die Totenmesse das Singen verbat; doch ich bestand darauf und setzte es durch; erschrak, als ich Johanna in der Totenmesse flüstern hörte: ‚Christus.‘

Ich sprach den Namen nie aus, wagte kaum, ihn zu denken, und wusste doch: er hatte mich; nicht Domgreves Rosenkranz, nicht die säuerlichen Tugenden heiratslustiger Wirtstöchter, nicht die Geschäfte mit Beichtstühlen aus dem sechzehnten Jahrhundert, die auf geheimen Auktionen für teures Gold verkauft wurden, das Domgreve in Locarno in billige Sünden zurückverwandelte; nicht die düsteren Verfehlungen heuchlerischer Priester, deren Augenzeuge ich wurde: ärmliche Verführungen gefallener Mädchen; auch nicht Vaters unausgesprochene Härte hatte das Wort in mir töten können, das Johanna neben mir flüsterte: ‚Christus‘; nicht die endlosen Fahrten durch Windkanäle uralter Bitterkeit und Vergeblichkeit; wenn ich auf den eisigen Ozeanen der Zukunft, Einsamkeit wie einen riesigen Rettungsring um mich herum, mich mit meinem Lachen stärkte; das Wort war nicht getötet worden; ich war David, der Kleine mit der Schleuder, und Daniel, der Kleine in der Löwengrube, und bereit, das Unvorhergesehene, das ich begehrt hatte, hinzunehmen: Johannas Tod am 3. September 1909. Auch an diesem Morgen ritten die Ulanen übers Kopfsteinpflaster; Milchmädchen, Bäckerjungen, Kleriker mit flatternden Rockschössen; Morgen; der Keiler vor Gretzens Laden, die schmutzige Melancholie des Kilbschen Hausarztes, der seit vierzig Jahren Kilbsche Geburten und Tode bescheinigte: in dieser ausgebeutelten Ledertasche das nutzlose Instrumentarium, mit dem er immer wieder über die Vergeblichkeit seiner Bemühungen hinwegzutäuschen verstand; er deckte den entstellten Körper zu, aber ich deckte ihn wieder auf; ich wollte Lazarus Körper sehen, die Augen meines Vaters, die dieses Kind nicht länger als eineinhalb Jahre hatte offenhalten wollen, und im Schlafzimmer nebenan schrie Heinrich; die Glocken von Severin schlugen die Zeit in Scherben, läuteten um neun zur Messe; fünfzig Jahre wäre Johanna jetzt alt.



„Kriegsanleihen, Leonore? Die habe ich nicht gezeichnet; sie stammen aus dem Erbe meines Schwiegervaters. Ins Feuer damit, wie mit den Geldscheinen; zwei Orden? Natürlich, ich habe ja Sappen gebaut, Stollen vorgetrieben, Artilleriestellungen befestigt, dem Trommelfeuer standgehalten, Verwundete aus dem Feuer geschleppt; zweiter Klasse, erster Klasse, her mit den Dingern, Leonore, komm, gib sie schon her: wir werfen sie in die Regenrinne; sollen sie in der Regenrinne im Schlamm begraben werden. Otto kramte sie einmal aus dem Schrank heraus, während ich am Zeichentisch stand; ich sah den verhängnisvollen Schimmer in seinen Augen zu spät: er hatte sie gesehen, und die Ehrfurcht, die er mir zollte, bekam eine größere Dimension; zu spät. Aber schmeiß sie wenigstens jetzt weg, damit Joseph sie nicht eines Tages in meiner Erbschaft entdeckt.“

Es klirrte nur leise, als er die Orden über das schräge Dach in die Regenrinne gleiten ließ; sie kippten, als sie vom Dach in die Rinne fielen, lagen mit der glanzlosen Seite nach oben.

„Warum so entsetzt, Kind? Sie gehören mir, und ich kann damit machen, was ich will; zu spät, aber vielleicht doch noch rechtzeitig. Vertrauen wir darauf, dass es bald regnet und der Dreck vom Dach heruntergespült wird; spät opfere ich sie dem Andenken meines Vaters. Hinab mit der Ehre der Väter, der Großväter und Urgroßväter.“



Ich fühlte mich stark genug und war’s nicht, las die Algebra der Zukunft aus meinen Formeln, die sich zu Figuren auflösten; Äbte und Erzbischöfe, Generale und Kellner, sie gehörten alle zu meiner Komparserie; ich allein war Solist, auch wenn ich freitags abends im ‚Sängerbund Deutscher Kehlen‘ den Mund öffnete und im Chor mitsang: Was glänzt dort am Walde im Sonnenschein? Ich sang es gut, hatte es bei meinem Vater gelernt, übte meine baritonale Lautmalerei mit unterdrücktem Lachen aus; der Dirigent, der den Taktstock schwang, ahnte nicht, dass er meinem Taktstock gehorchte; und sie luden mich zur obligatorischen Geselligkeit ein, boten mir Aufträge an, schlugen mich lachend auf die Schulter: ‚Geselligkeit, junger Freund, ist des Lebens eigentliche Würze.‘ Grauhaarige Kollegen fragten säuerlich nach Woher und Wohin, aber ich sang nur: Tom, der Reimer, von halb acht bis zehn, keine Minute drüber. Der Mythos sollte fertig sein, bevor der Skandal käme. Blumenkohl ist nicht verderblich.



Ich wanderte mit meiner Frau und meinen Kindern das Kissatal hinauf; die Jungen versuchten Forellen zu fangen; zwischen Weingärten und Weizenfeldern, Rübenäckern und Waldstücken wanderten wir dahin, tranken Bier und Limonade im Denklinger Bahnhof – und wusste doch, dass ich vor einer Stunde erst die Zeichnung abgegeben, die Quittung empfangen hatte; noch umgab mich Einsamkeit wie ein riesiger Rettungsring, noch schwamm ich auf der Zeit dahin, versank in Wellentälern, überquerte die Ozeane Vergangenheit und Gegenwart und drang, durch Einsamkeit vorm Versinken gesichert, tief in die eisige Kälte der Zukunft, hatte als eiserne Ration mein Lachen mit, von dem ich nur sparsam kostete – rieb mir die Augen, wenn ich auftauchte, trank ein Glas Wasser, aß ein Stück Brot und trat mit meiner Zigarre ans Fenster: dort drüben wandelte sie im Dachgarten, wurde manchmal in einer Lücke der Pergola sichtbar, blickte von der Brüstung auf die Straße hinab, in der sie sah, was auch ich sah: Lehrjungen, Lastwagen, Nonnen, Leben auf der Straße; sie war neunzehn, hieß Johanna, las Kabale und Liebe; ich kannte ihren Vater, den dröhnenden Bass im Sängerbund, dessen Klang mir nicht zur Rechtschaffenheit des Büros zu passen schien; das klang nicht nach Diskretion, wie sie den Lehrjungen eingebleut wurde; die Stimme war geeignet, jemand das Gruseln beizubringen, klang nach heimlicher Sünde. Wusste er schon, dass ich seine einzige Tochter heiraten würde? Dass wir an stillen Nachmittagen hin und wieder ein Lächeln tauschten? Ich schon an sie dachte mit der Heftigkeit des rechtmäßigen Bräutigams? Sie hatte schwarze Haare, war blaß, und ich würde ihr verbieten, resedafarbene Kleider zu tragen; grün würde ihr gut stehen; ich hatte die Kleider, die Hüte für sie schon ausgesucht auf meinen Nachmittagsspaziergängen, im Schaufenster von Hermine Horuschka, an dem ich jeden Abend in Regen und Wind und im Sonnenschein und zwanzig vor fünf vorbeikam; ich würde sie aus dieser Biederkeit, die nicht zur Stimme ihres Vaters passte, erlösen und ihr herrliche Hüte kaufen, so groß wie Wagenräder, aus derbem grüngefärbten Stroh; ich wollte nicht ihr Gebieter sein, ich wollte sie lieben, und ich würde nicht mehr lange warten. Sonntags morgens, mit Blumen bewaffnet, würde ich in der Kutsche vorfahren, so gegen halb zwölf, wenn man nach dem Hochamt das Frühstück beendet hatte, gerade im Herrenzimmer einen Schnaps trank: Ich bitte Sie um die Hand Ihrer Tochter. Jeden Nachmittag, wenn ich aus den Ozeanen auftauchte, zeigte ich mich ihr, hier im Atelierfenster, verneigte mich, wir tauschten ein Lächeln, und ich trat wieder ins Dunkel zurück; trat auch vor, um ihr den Glauben zu nehmen, dass sie unbeobachtet sei; ich brachte es nicht fertig, wie eine Spinne im Netz dazuhocken; ich ertrug es nicht, sie zu sehen, ohne von ihr gesehen zu werden; es gab Dinge, die man nicht tat.

Morgen würde sie wissen, wer ich war. Skandal. Sie würde lachen, würde mir ein Jahr später schon die Mörtelspuren vom Hosenbein bürsten; würde es noch tun, wenn ich vierzig, fünfzig, sechzig war; und sie würde eine reizende alte Frau an meiner Seite sein; ich beschloss es endgültig, am 30. September 1907, nachmittags gegen halb vier.“



„Ja, Leonore, bezahlen Sie das für mich; nehmen Sie Geld aus meiner Kassette da drüben, und geben Sie dem Mädchen zwei Mark Trinkgeld, ja, zwei Mark; Pullover und ein Rock von Hermine Horuschka für meine Enkelin Ruth, die ich heute zurückerwartet habe; Grün steht ihr gut; schade, dass die jungen Mädchen heute keine Hüte mehr tragen; ich habe immer so gern Hüte gekauft. Das Taxi ist bestellt? Danke, Leonore. Sie wollen noch nicht Schluss machen? Wie Sie wollen; natürlich, ein bisschen ist es auch Neugierde, nicht wahr? – Sie brauchen nicht rot zu werden. Ja, einen Kaffee gern noch. Ich hätte mich erkundigen müssen, wann die Ferien zu Ende sind; aber Ruth ist zurück? Mein Sohn hat Ihnen nichts gesagt? Er wird doch die Einladung zu meiner Geburtstagsfeier nicht vergessen haben? Ich habe angeordnet, dass der Portier unten Blumen und Telegramme, Geschenke und Karten annimmt, jedem Boten zwei Mark Trinkgeld gibt und sagt, ich sei verreist; suchen Sie sich den schönsten Strauß, oder zwei, wenn Sie mögen, heraus, und nehmen Sie die mit nach Hause, und wenn es Ihnen Spaß macht, verbringen Sie getrost Ihren Nachmittag hier.“

Die Tasse, mit Kaffee frisch gefüllt, bebte nicht mehr; offenbar hatte man aufgehört, Erbauliches oder Wahlplakate auf weißes Papier zu drucken; im Wechselrahmen das Bild unverändert: drüben der Dachgarten des Kilbschen Hauses, leer; an der Pergola müde Kapuzinerkresse; das Profil der Dächerlinie, im Hintergrund die Berge unter strahlendem Himmel: in diesem Wechselrahmen sah ich meine Frau, sah später meine Kinder, sah meine Schwiegereltern, wenn ich manchmal ins Atelier hinaufging, um den fleißigen jungen Architekten, die mir halfen, hin und wieder über die Schulter zu blicken, Kalkulationen zu prüfen, Termine zu bestimmen; die Arbeit war mir so gleichgültig wie das Wort Kunst; andere konnten sie ebenso tun wie ich, ich bezahlte sie gut; ich verstand die Fanatiker nie, die sich dem Wort Kunst opferten; ich half ihnen, belächelte sie, gab ihnen Arbeit, aber verstehen: nie; ich begriff’s nicht, begriff nur, was Handwerk war, obwohl ich als Künstler galt, als solcher bewundert wurde; war die Villa, die ich für Gralduke baute, nicht wirklich kühn, modern? Sie war’s, wurde sogar von den künstlerischen Kollegen bewundert und gepriesen, und ich hatte sie entworfen, gebaut und wusste doch nie, was Kunst ist; sie nahmen’s zu ernst, vielleicht, weil sie so viel davon verstanden, und bauten doch scheußliche Kästen, von denen ich damals schon wusste, dass sie zehn Jahre später Ekel hervorrufen würden; und ich konnte doch manchmal die Ärmel hochkrempeln, mich hier an den Zeichentisch stellen und entwerfen: das Verwaltungsgebäude für die ‚Societas, die Gemeinnützigste der Gemeinnützigen‘, da staunten die Narren, die mich für einen geldgierigen, erfolgshungrigen Bauernlümmel hielten, und heute noch schäme ich mich des Kastens nicht, der vor sechsundvierzig Jahren gebaut worden ist; ist das Kunst? Meinetwegen, ich wusste nie, was das war, hab sie vielleicht gemacht, ohne es zu wissen; konnte das Wort nie ernst nehmen, sowenig wie ich die Wut der drei Koryphäen gegen mich verstand; mein Gott, war kein Spielchen erlaubt, mussten die Goliathe so humorlos sein? Sie glaubten an Kunst, ich nicht, fühlten sich in ihrer Ehre gekränkt von einem Hergelaufenen. Wer war nicht irgendwo hergelaufen? Ich zeigte mein Lachen offen, ich hatte sie in eine Situation manövriert, wo selbst meine Niederlage noch ein Sieg werden würde, mein Sieg aber ein Triumph.

Ich hatte fast Mitleid mit ihnen, als wir die Treppe im Museum hinaufgingen, hatte Mühe, meinem Schritt jenen würdigen Rhythmus der Feierlichkeit zu geben, den die Gekränkten schon gewöhnt waren; Schritt, mit dem man Domtreppen hinaufging, hinter Königen und Bischöfen; Denkmaleinweihungsschritt, abgemessene Erregung, nicht zu langsam, nicht zu schnell; wissen, was Würde ist; ich wusste es nicht, wäre am liebsten wie ein junger Hund die Treppe hinaufgerannt, die steinernen Stufen, an den Statuen römischer Legionäre vorbei, deren abgebrochene Schwerter, Lanzen oder Rutenbündel man für Fackeln hätte halten können; an Cäsarenbüsten, Nachbildungen von Kindergräbern vorbei in den ersten Stock, wo das Sitzungszimmer zwischen den Niederländern und den Nazarenern lag; Bürgerernst; irgendwo im Hintergrund hätten jetzt Trommeln dröhnen müssen; so stieg man Altarstufen hinauf, Schafottstufen, stieg auf Tribünen, um Orden umgehängt zu bekommen oder das Todesurteil zu empfangen; so wurde auch auf Liebhaberbühnen Feierlichkeit dargestellt, aber die da neben mir hergingen, waren keine Liebhaber: Brehmockel, Grumpeter und Wollersein.

Museumswärter in Gala standen verlegen vor Rembrandts, van Dycks und Overbecks; an der Marmorbrüstung, im Dunkel vor dem Sitzungszimmer stand Meeser, hielt das silberne Tablett mit Cognacgläsern bereit, um uns vor der Urteilsverkündung einen Trank zu verabreichen; Meeser grinste mich an; wir hatten kein Zeichen verabredet, doch hätte er nicht jetzt eins geben können? Ein Kopfnicken, ein Kopfschütteln; ja oder nein? Nichts. Brehmockel flüsterte mit Wollersein, Grumpeter fing ein Gespräch mit Meeser an, drückte eine Silbermünze in Meesers stumpfe Hände, die ich als Kind schon gehasst hatte; ein Jahr lang hatte ich mit ihm zusammen in der Frühmesse gedient; Gemurmel alter Bauernfrauen im Hintergrund, hartnäckig beteten sie gegen die Liturgie an ihrem Rosenkranz. Heugeruch, Milchgeruch, Stallwärme, während ich mich mit Meeser nach vorn beugte, um beim mea culpa, mea culpa, mea maxima culpa die Schuld unausgesprochener Sünden gegen die Brust zu trommeln, und wenn der Pfarrer die Altarstufen emporschritt, machten Meesers Hände, diese Hände, die jetzt Grumpeters Silbermünze fest umschlossen, obszöne Bewegungen; Hände, denen jetzt die Schlüssel zum städtischen Museum anvertraut waren, Schlüssel zu Holbein und Hals, Lochner und Leibl.



Mit mir sprach keiner; mir blieb die kalte Marmorbrüstung, auf die ich mich lehnte; ich blickte hinunter in den Innenhof, wo ein bronzener Bürgermeister mit unerbittlichem Ernst seinen Wanst den Jahrhunderten hinhielt, ein marmorner Mäzen in einem vergeblichen Versuch zur Tiefsinnigkeit die Lider über seine Froschaugen senkte; leer waren die Denkmalsaugen, wie die Augen der römischen Marmormatronen, deren Augenpartien von den Leiden einer späten Kultur kündeten. Meeser schlurfte zu seinen Kollegen hinüber, Brehmockel, Grumpeter und Wollersein standen dicht beieinander; kalt und klar war der Dezemberhimmel über dem Innenhof; draußen gröhlten früh Betrunkene, rollten Droschken theaterwärts, zarte Frauengesichter unter resedafarbenem Schleier freuten sich auf ‚La Traviata‘; zwischen Meeser und den drei Gekränkten stand ich wie ein Aussätziger, den zu berühren Tod bringt; sehnte mich nach der strengen Liturgie meines Tageslaufs, als ich die Fäden des Spiels noch allein gehalten hatte, Dasein und Nicht – Dasein noch hatte regeln, den Mythos dosieren können; ich war nicht mehr Herr des Spiels; Skandal; Gerücht; Abtschritte in meinem Atelier; Bauunternehmer ließen Fresskörbe in meinem Atelier abgeben, goldene Taschenuhren in rotsamtenen Etuis, und einer schrieb mir: ‚… und würde ich Ihnen die Hand meiner Tochter gewiss nicht verweigern…‘ Voll ist ihre Rechte von Geschenken.

Ich würde keins annehmen, nicht einen Ziegelstein; ich liebte den Abt. Hatte ich wirklich in winzigen Augenblicken daran gedacht, bei ihm Domgreves Trick anzuwenden? Ich wurde schamrot, wenn ich daran dachte, dass ich es in winzigen Augenblicken wirklich gedacht haben könnte; das Unvorhergesehene war geschehen: ich liebte Johanna, die Kilbsche Tochter, und liebte den Abt; ich hatte schon um halb zwölf vorfahren, schon den Blumenstrauß abgeben, schon sagen dürfen: ‚Ich bitte Sie um die Hand Ihrer Tochter‘ – und Johanna war später augenzwinkernd hinzugekommen, hatte das Ja nicht gehaucht, sondern es deutlich ausgesprochen. Ich machte immer noch von fünf bis sechs meinen Spaziergang, spielte immer noch Billard im Klub der Reserveoffiziere, und mein Lachen, von dem ich jetzt großzügigere Rationen nahm, war durch Johannas Augenzwinkern gestärkt; ich sang immer noch freitags im Sängerbund: Tom, der Reimer.

Langsam schob ich mich über die kalte Marmorbrüstung zu den drei Gekränkten hin, stellte das leere Cognacglas aufs Tablett zurück; würden sie vor dem Aussätzigen zurückweichen? Sie wichen nicht; erwarteten sie eine demütige Annäherung? ‚Gestatten, dass ich mich bekannt mache: Fähmel.‘ Mein Gott, war nicht jeder irgendwo hergelaufen, hatte nicht Grumpeter in jungen Jahren als Schweizer die Kühe des Grafen von Telm gemolken, Kuhmist auf duftende Erde gekarrt, bevor er seine Berufung zum Architekten entdeckte? Aussatz ist heilbar, heilbar an den Ufern des Lago Maggiore, in den Gärten von Minusio; sogar der Aussatz biederer Bauunternehmer, die romanische Kirchen zum Abbruch kauften, inklusive des respektiven Inventars, mit alten Madonnen, Kirchenbänken; die mit dem respektiven Inventar die Salons der Neu-und Altreichen schmückten? Beichtstühle, in denen dreihundert Jahre lang demütige Bauern ihre Sünden geflüstert hatten, in die Salons von Kokotten verkauften? Aussatz ist heilbar in Jagdhütten und in Bad Ems.

Die todernsten Gesichter der Gekränkten wurden starr, als sich die Tür zum Sitzungszimmer öffnete: ein schwarzer Umriss wurde sichtbar, bekam Kontur, Farbe; das erste Jurymitglied trat in den Flur; Hubrich, Professor für Kunstgeschichte an der theologischen Fakultät; nur über meine Leiche; sein schwarzer Tuchrock wirkte in dieser Beleuchtung wie der Tuchrock eines rembrandtgemalten Ratsherren; Hubrich ging auf das Tablett zu, nahm ein Cognacglas, ich hörte ein tiefes Seufzen aus seiner Brust; an den drei Gekränkten vorbei, die auf ihn zuzulaufen versuchten, entfernte er sich auf das Ende des Flures zu; die Strenge des Priestergewandes war bei ihm durch einen weißen Schal abgemildert, die hellen, kindlich bis über den Kragen herabfallenden Locken erhöhten den Eindruck, den hervorzurufen Hubrich bemüht war; er sah wie ein Künstler aus. Mit dem Schnitzmesser über einem Holzblock, mit zartem goldgetränktem Pinsel hätte man sich ihn vorstellen können, demütig am Werk, Madonnenhaar zu malen, Prophetenbärte, oder dem Hündlein des Tobias einen neckischen Kringel an den Schweif zu hängen. Leise glitten Hubrichs Füße über das Linoleum, müde winkte er den Gekränkten ab, ging in die Dunkelheit des Flures auf Rembrandt und van Dyck zu: auf diesen schmalen Schultern also ruhte die Verantwortung für die Kirchen, Krankenhäuser, Heime, in denen nach hundert Jahren noch Nonnen und Witwen, Waisen und Kassenpatienten, Schwererziehbare und gefallene Mädchen die Küchengerüche verstorbener Generationen würden erdulden müssen; dunkle Flure, trostlose Rückfronten, die durch dumpfe Mosaike noch trostloser wurden, als im Plan des Architekten vorgesehen gewesen war; da ging er, der praeceptor und arbiter architecturae ecclesiasticae, der seit vierzig Jahren mit pathetischem Eifer und der blinden Affektiertheit des Überzeugten für Neugotik eintrat; sicher hatte er schon als Junge, wenn er durch die öden Vorstädte der heimatlichen Industriestadt trabte, triumphierend seine Einser nach Hause trug, im Anblick rauchender Schlote, schwarzer Häuserfronten sich entschlossen, die Menschheit zu beglücken und eine Spur auf dieser Erde zu hinterlassen; er würde eine hinterlassen; rötliche, im Laufe der Jahre immer trüber werdende Backsteinfassaden, in deren Nischen grämliche Heilige voll unzerstörbaren Trübsinns in die Zukunft blickten.

Treuherzig hielt Meeser dem zweiten Jurymitglied das Tablett hin: Cognac für Krohl; jovial; rotweingesichtiger Zigarrenraucher, Fleischfresser; schlank war er geblieben; unabsetzbarer Baumeister von Sankt Severin: Taubendreck und Eisenbahndämpfe, chemisch vergiftete Wolken aus den östlichen, scharfe nasse Winde aus den westlichen Vorstädten, Sonne des Südens, Kälte des Nordens, alle industriellen und alle natürlichen Witterungskräfte garantierten ihm und seinen Nachfolgern Amt auf Lebenszeit; fünfundvierzig war er alt, so blieben ihm noch zwanzig Jahre für die Dinge, die er wirklich liebte: Essen, Trinken, Zigarren, Pferde und Mädchen von der besonderen Sorte, wie man sie in der Nähe von Pferdeställen trifft, bei Fuchsjagden kennenlernt; hartgliedrige Amazonen mit männlichem Geruch. Ich hatte meine Gegner studiert; Krohl verbarg seine absolute Gleichgültigkeit architektonischen Problemen gegenüber hinter einer ausgesuchten Höflichkeit, die fast chinesisch war, hinter einem Frömmigkeitsgebaren, das er Bischöfen abgelauscht hatte; Krohls Bewegungen waren echte Denkmaleinweihungsbewegungen; auch wusste er ein paar sehr gute Witze, die er ständig in einer bestimmten Reihenfolge abwandelte, und da er schon als Zweiundzwanzigjähriger ‚Handkes Handbuch der Architektur‘ auswendig gelernt und sich damals entschlossen hatte, aus dieser Anstrengung sein Leben lang Nutzen zu ziehen, zitierte er immer dann, wenn er Architektur – Vokabeln benötigte, den unsterblichen Handke; bei Jurysitzungen plädierte er schamlos für das Projekt, dessen Urheber ihm die höchste Bestechung zugesichert hatte, wechselte, wenn er sah, dass das Projekt keine Chancen hatte, zum Favoriten über; denn er zog es vor, ja anstatt nein zu sagen, aus dem Grunde, weil ein Ja zwei, ein Nein aber vier Buchstaben hat und den schrecklichen Nachteil, dass es nicht mit Gaumen und Zunge allein zu bewerkstelligen ist, sondern eine Verlagerung der Sprechenergie fast bis in die Nasenwurzel hinein erfordert; zudem noch eine entschlossene Miene, während das Ja diese Anstrengung nicht erfordert; auch Krohl seufzte, auch er schüttelte den Kopf, mied die drei Gekränkten, ging in die andere Ecke des Flures, auf die Nazarener zu.

Sekundenlang blieb im Lichtviereck der Tür nur der Tisch mit dem grünen Filz sichtbar, Wasserkaraffe, Aschenbecher, blaue Wolken von Krohls Zigarre; Stille da drinnen, nicht mal Geflüster zu hören; Todesurteile hingen in der Luft; ewige Feindschaften wurden geboren; da ging es für Hubrich um Ehre oder Schande, die auf immerdar von seinem Haupte abzuhalten er sich schon als verbissener Quintaner geschworen hatte; ging um die schreckliche Demütigung, dem Erzbischof eingestehen zu müssen, dass er geschlagen worden war. ‚Na, und Ihre Leiche, Hubrich?‘ würde der humorvolle Fürst sagen; es ging für Krohl um eine Villa am Corner See, die Brehmockel ihm versprochen hatte.

Gemurmel klang in der Wärterreihe auf: Meeser gebot durch ein Zischen Ruhe. Schwebringer trat aus der Tür, klein war er, zart wie ich, galt nicht nur als unbestechlich, sondern war es auch; trug abgewetzte Breeches, gestopfte Strümpfe; schwärzlich der kahlgeschorene Schädel, ein Lächeln in den Korinthenaugen; Schwebringer vertrat das Geld, verwaltete den Fonds, den die Nation gegründet hatte; er vertrat die Industriellen und den König, vertrat aber auch den Kaufmannsgehilfen, der einen Zehner, das alte Mütterchen, das dreißig Pfennig gestiftet hatte; Schwebringer würde die Konten lockern, Schecks ausschreiben, Rechnungen kontrollieren, mit säuerlicher Miene Vorschüsse genehmigen; er war Konvertit, seine geheime architektonische Leidenschaft war das Barock, er liebte schwebende Engel, mit Gold bemalte Chorstühle, geschweifte Predigtstühle, weißlackierte Kanzeln, liebte Weihrauch, den Gesang von Knabenchören. Schwebringer war Macht: ihm gehorchten Bankkonsortien wie Eisenbahnschranken dem Wärter; er regulierte Kurse, befehligte Stahlwerke; mit seinen harten dunklen Korinthenaugen sah er aus, als hätte er vergeblich alle erreichbaren Laxativa ausprobiert und wartete auf die Erfindung des wahren, wirklich helfenden Mittels; er nahm den Cognac, ohne ein Trinkgeld aufs Tablett zu legen; zwei Schritte entfernt nur stand er, sah aus wie ein gescheiterter Berufsradfahrer, mit seinen Breeches, seinen gestopften Strümpfen, blickte plötzlich mich an, lächelte, stellte sein leeres Cognacglas hin und ging in die Niederländerecke, wo auch Hubrich verschwunden war; auch Schwebringer würdigte die drei Gekränkten keines Worts.

Geflüster wurde im Sitzungszimmer vernehmbar, offenbar sprach der Abt auf Gralduke ein; sichtbar waren nur der grüne Tisch, der Aschenbecher, die Wasserkaraffe; die Hinrichtung war verschoben; Streit lag in der Luft; immer noch schien das Richterkollegium uneins zu sein.

Gralduke kam heraus, nahm zwei Gläser von Meesers Tablett, blieb einen Augenblick zögernd stehen, blickte in Krohls Richtung; er war groß, von gewaltigem Ausmaß, korrekter, als die Tränensäcke unter seinen Augen hätten vermuten lassen; Gralduke vertrat das Recht, beobachtete die juristische Korrektheit des Abstimmungsvorgangs, führte Protokoll. Gralduke wäre fast selber Mönch geworden; zwei Jahre lang hatte er gregorianische Liturgie gesungen, die er immer noch liebte; war dann in die Welt zurückgekehrt, um ein bildschönes Mädchen zu heiraten, dem er fünf bildschöne Töchter zeugte, thronte jetzt als Oberpräsident über den Landen; er hatte die Grundstücke stiften lassen, Äcker und Wiesen und Wälder in mühseliger Kleinarbeit aus Katasterverstrickungen gelöst; hatte hartnäckige Bürgermeister bearbeitet, hatte Fischrechte in elenden Tümpeln ablösen müssen, Hypotheken versilbern, Banken und Versicherungen beruhigen müssen.

Langsam ging es ins Sitzungszimmer zurück; von der schmalen Abthand wurde Meeser herbeibefohlen, der für eine halbe Minute verschwand, wiedererschien, seine Stimme hob und in den Flur hineinrief: ‚Bin beauftragt, den Herren von der Jury mitzuteilen, dass die Pause um ist.‘ Als erster kam Krohl aus der Nazarenerecke zurück, das Ja war von seinem Gesicht schon abzulesen; Schwebringer kam allein als erster aus der Niederländerecke, ging rasch ins Zimmer; Hubrich als letzter, sah bleich aus, zu Tode getroffen, ging kopfschüttelnd an den drei Gekränkten vorüber; Meeser schloss hinter ihm die Tür, blickte auf sein Tablett, auf die neun leeren Cognacgläser, klimperte verächtlich mit der geringen Ausbeute an Trinkgeld, ich ging auf ihn zu, warf ihm einen Taler aufs Tablett: es klang laut und hart, erschrocken blickten die drei Gekränkten auf; Meeser grinste, nahm die Hand dankend an die Mütze, flüsterte: ‚Und du bist doch nur der Sohn eines übergeschnappten Küsters.‘

Längst waren draußen keine Droschken mehr zu hören; ‚La Traviata‘ hatte begonnen; starr standen die Wärter Spalier, zwischen Legionären und Matronen, zwischen abgebrochenen Tempel – Säulen; Lärm brach in den kalten Abend wie Wärme ein; Presseleute hatten den ersten Wärter überrannt, schon hob der zweite hilflos die Arme, blickte der dritte zu Meeser hin, der in Zischlauten Ruhe gebot; ein junger Journalist, der an Meeser vorbeigewischt war, kam auf mich zu, wischte sich die Nase mit dem Rockärmel ab, sagte leise zu mir: ‚Klarer Sieg für Sie.‘ Im Hintergrund warteten zwei würdige Feuilletonredakteure, mit schwarzen Hüten, bärtig, vom Pathos seelenvoller Verse ausgehöhlt, hielten die würdelosere Masse zurück: ein bebrilltes Mädchen, einen hageren Sozialisten; bis der Abt die Tür öffnete, rasch, atemlos wie ein Junge auf mich zukam, mich umarmte, während eine Stimme ‚Fähmel‘ rief, ‚Fähmel‘.



Lärm drang herauf; zehn Minuten nachdem das Beben der Fensterbank aufgehört hatte, verließen lachende Arbeiterinnen das Tor, trugen stolze Sinnlichkeit in den Feierabend; warmer Herbsttag, an dem das Gras an der Friedhofsmauer duften würde; Gretz war heute seinen Keiler nicht losgeworden, dunkel und trocken war die blutige Schnauze; im Wechselrahmen der Dachgarten drüben: der weiße Tisch, die grüne Holzbank, die Pergola mit der müden Kapuzinerkresse; würden Josephs Kinder, Ruths Kinder drüben einmal auf und ab gehen, Kabale und Liebe lesen; hatte er Robert je da drüben gesehen? Nie, der hockte in seinem Zimmer, übte im Garten, Dachgärten waren zu klein für den Sport, den er trieb: Schlagballspiel, Hundertmeterlauf.



Ich hatte immer ein wenig Angst vor ihm, erwartete Ungewöhnliches, war nicht einmal erstaunt, als der mit den hängenden Schultern ihn pfändete; wenn ich nur wüsste, wie der Junge hieß, der die winzigen Zettel mit Roberts Botschaften in unseren Briefkasten warf; ich hab’s nie erfahren, auch Johanna konnte es aus Dröscher nicht herausbekommen; dem Jungen gebührt das Denkmal, das sie mir setzen werden; ich brachte es nicht fertig, Nettlinger die Tür zu weisen und diesem Wakiera das Betreten von Ottos Zimmer zu verbieten, sie brachten das Sakrament des Büffels in mein Haus, verwandelten den Jungen, den ich liebte, in einen Fremden, den Kleinen, den ich mit auf Baustellen nahm, mit auf die Gerüste. Taxi? Taxi? War es das Taxi des Jahres 1936, als ich mit Johanna in den ‚Anker‘ fuhr, zum oberen Hafen; das Taxi des Jahres 1942, mit dem ich sie in die Heilanstalt nach Denklingen brachte? Oder das des Jahres 1956, als ich mit Joseph nach Kisslingen fuhr, ihm die Baustelle zu zeigen, wo er, mein Enkel, Roberts und Ediths Sohn, für mich wirken sollte; zerstört die Abtei, ein wüster Haufen von Steinen und Staub und Mörtel; gewiss hätten Brehmockel, Grumpeter und Wollersein triumphiert bei diesem Anblick; ich triumphierte nicht, als ich den Trümmerhaufen im Jahr 1945 zum ersten Mal sah; ging nachdenklich umher, ruhiger, als man offenbar von mir erwartet hätte; hatten sie Tränen erwartet, Empörung? ‚Wir werden den Schuldigen finden.‘ ‚Warum?‘ fragte ich, ‚lassen Sie ihn doch in Frieden.‘ Ich hätte zweihundert Abteien gegeben, wenn ich Edith dafür hätte zurückbekommen können, Otto, oder den unbekannten Jungen, der die Zettelchen in unseren Briefkasten warf und so teuer dafür bezahlen musste; und wenn auch der Tausch nicht angenommen wurde, ich war froh, wenigstens das bezahlt zu haben: einen Haufen Steine, mein ‚Jugendwerk‘. Ich bot sie Otto und Edith, dem Jungen und dem Tischlerlehrling an, obwohl ich wusste, dass es ihnen nichts nützen würde; sie waren tot; gehörte dieser Trümmerhaufen zum Unvorhergesehenen, das ich so heftig begehrt hatte? Die Mönche wunderten sich über mein Lächeln, und ich wunderte mich über ihre Empörung.



„Das Taxi? Ich komm ja schon, Leonore. Denken Sie an meine Einladung: um neun Uhr im Cafe Kroner, Geburtstagsfeier. Es gibt keinen Sekt. Ich hasse Sekt. Nehmen Sie die Blumen unten aus der Portierloge mit, die Zigarrenkisten und Glückwunschtelegramme, und vergessen Sie’s nicht, Kind: bespucken Sie mein Denkmal.“

Wahlplakate waren es, die in Überstunden auf weißes Papier gedruckt worden waren; die Stapel versperrten die Flure, den Treppenaufgang, waren bis vor seine Tür gelagert, jedes Paket mit einem Muster überklebt; sie lächelten ihn alle an, gutgekleidete Muster, Kammgarnfäden waren in ihren Anzügen sogar auf den Plakaten erkennbar; Bürgerernst und Bürgerlächeln heischten Zuversicht und Vertrauen; junge und alte, doch schienen die Jungen ihm schrecklicher noch als die Alten; er winkte dem Portier ab, der ihn in seine Loge locken wollte, Blumenpracht zu besichtigen, Telegramme zu öffnen, Präsente zu begutachten; stieg in das Taxi, dessen Schlag der Chauffeur ihm aufhielt, sagte leise: „Nach Denklingen, bitte, zur Heilanstalt.“

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