Книга: Billard um halb Zehn / Бильярд в половине десятого. Книга для чтения на немецком языке
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Kapitel X

Seine Angst war unbegründet gewesen: Erinnerung wurde nicht Gefühl, blieb Formel, rann nicht in Seligkeit oder Trauer auseinander und machte das Herz nicht bang; das Herz war nicht beteiligt: Dort hatte er im Abenddämmer gestanden, zwischen dem Gästehaus und der Abtei, wo jetzt der Haufen violetter, scharf gebrannter Ziegel lag; neben ihm General Otto Kösters, dem sich Schwachsinn in einer einzigen Formel eingeprägt hatte: Schussfeld; Hauptmann Fähmel, Oberleutnant Schrit und die beiden Fähnriche Kanders und Hochbret; mit todernstem Gesicht hatten sie Schussfeld – Otto die Notwendigkeit eingeredet, selbst vor solch ehrwürdigen Gebäuden nicht inkonsequent zu werden; legten andere Offiziere Protest ein, warfen sich tränenselige Mörder ins Zeug für die Kultur, die hier zu retten sei, sprach einer das böse Wort aus: Hochverrat; aber keiner wusste so scharf, so fließend und logisch zu argumentieren wie Schrit, der in eindringlichen Worten dem zögernden General die Notwendigkeit der Sprengung suggerierte: ‚Und wäre es nur, um ein Beispiel zu geben, dass wir noch an den Sieg glauben, Herr General, ein solch schmerzliches Opfer würde der Bevölkerung und den Soldaten klarmachen, dass wir noch an den Sieg glaube‘, und schon kam das geflügelte Wort: ‚Meine Entscheidung ist gefallen; sprengen Sie, meine Herren. Wenn es um den Sieg geht, dürfen wir selbst unsere geheiligten Kulturgüter nicht schonen; ans Werk denn, meine Herren‘; Hände an die Mützen, Hacken zusammen.

War er je neunundzwanzig gewesen, je Hauptmann, hatte je mit Schussfeld – Otto an dieser Stelle gestanden, wo der neue Abt lächelnd den Vater begrüßte:

„Wir sind sehr glücklich, Herr Geheimrat, dass Sie uns wieder einmal die Freude eines Besuchs machen; sehr erfreut, Ihren Sohn kennen zu lernen; Joseph ist ja schon fast wie ein Freund für uns, nicht wahr, Joseph? Eng ist das Schicksal unserer Abtei mit dem Schicksal der Familie Fähmel verwachsen – und Joseph ist sogar, wenn ich mir gestatten darf, solche privaten Dinge zu erwähnen, Joseph ist hier sogar von Amors Pfeil getroffen worden; sehen Sie, Herr Doktor Fähmel, die jungen Leute werden heutzutage nicht einmal rot, wenn man von solchen Sachen spricht; Fräulein Ruth und Fräulein Marianne, leider muss ich Sie vom Rundgang ausschließen.“

Die Mädchen kicherten; hatten nicht Mutter, Josephine, sogar Edith an dieser Stelle gekichert, wenn sie vom Männerbund ausgeschlossen wurden? Man brauchte im Fotoalbum nur die Köpfe und die Moden auszuwechseln.

„Ja, die Klausur ist schon bezogen“, sagte der Abt, „hier unser Augapfel, die Bibliothek – bitte hier herum, die Krankenzelle, zum Glück im Augenblick unbewohnt…“

Nie war er hier mit Kreide von Punkt zu Punkt gegangen, hatte seine geheimen Mischungen aus XYZ an die Wände geschrieben, den Code des Nichts, den nur Schrit, Hochbret und Kanders zu entziffern verstanden; Mörtelgeruch, Geruch frischer Farbe, frisch gehobelten Holzes.

„Ja, das wurde dank der Aufmerksamkeit Ihres Enkels – Ihres Sohnes vor der Zerstörung bewahrt; das Abendmahlsbild hier im Refektorium; wir wissen wohl, dass es keine kunstgeschichtliche Rarität ist – Sie verzeihen mir diese Bemerkung, Herr Geheimrat – , aber selbst die Produkte dieser Malerschulen beginnen selten zu werden, und wir haben uns immer der Tradition verpflichtet gefühlt; ich muss gestehen, dass mich die Detailtreue dieser Maler heute noch entzückt – Sehen Sie hier, mit welch einer liebevollen Sorgfalt gemalt, Sankt Johanns und Sankt Peters Füße, die Füße eines älteren und eines jüngeren Mannes; Treue im Detail.“

Nein, hier hatte niemand Es zittern die morschen Knochen gesungen; keine Sonnwendfeuer; nur Traum. Distinguierter Herr, Anfang Vierzig, Sohn eines distinguierten Vaters, Vater eines frischen, sehr intelligenten Sohnes, der lächelnd dem Rundgang beiwohnte, obwohl ihn das Unternehmen sehr zu langweilen schien; jedesmal, wenn er sich Joseph zuwandte, sah er nur ein freundliches, etwas müdes Lächeln auf dessen Gesicht.

„Wie Sie wissen, waren nicht einmal die Wirtschaftsgebäude verschont geblieben; wir haben sie als erste wieder aufgebaut, weil sie uns die materielle Vorbedingung für einen glücklichen neuen Start zu gewährleisten schienen; hier der Kuhstall; natürlich melken wir elektrisch; Sie lächeln – ich bin sicher, unser heiliger Vater Benedikt hätte nichts gegen elektrisches Melken einzuwenden gehabt. Darf ich Ihnen hier einen bescheidenen Imbiss servieren lassen? – einen Willkommensgruß, unser berühmtes Brot, unsere berühmte Butter und den Honig; Sie wissen nicht, dass jeder sterbende oder resignierende Abt seinem Nachfolger eine Botschaft hinterlässt: Familie Fähmel nicht vergessen; Sie gehören ja wirklich zu unserer Klosterfamilie – ach, da sind ja die jungen Damen schon; natürlich, hier sind sie wieder zugelassen.“

Brot und Butter, Wein und Honig auf schlichten hölzernen Tischplatten; Joseph hatte den einen Arm um seine Schwester, den anderen um Marianne gelegt; Blond zwischen zwei schwarzen Mädchenköpfen.

„Sie werden uns doch die Ehre antun, zur Einweihung zu kommen? Kanzler und Kabinett haben ihr Erscheinen zugesagt, einige ausländische Fürstlichkeiten werden dasein, und es wäre uns eine große Freude, die ganze Familie Fähmel hier als unsere Gäste zu begrüßen; meine Festansprache wird nicht im Zeichen der Anklage stehen, sondern im Zeichen der Versöhnung, Versöhnung auch mit jenen Kräften, die in blindem Eifer unsere Heimstatt zerstört haben, keine Versöhnung allerdings mit jenen zerstörerischen Kräften, die unsere Kultur aufs neue bedrohen; darf ich also hier die Einladung aussprechen und die herzliche Bitte, dass Sie uns die Ehre erweisen?“

‚Ich werde nicht zur Einweihung kommen‘, dachte Robert, ‚weil ich nicht versöhnt bin, nicht versöhnt mit den Kräften, die Ferdis Tod verschuldeten, und nicht mit denen, die Ediths Tod verschuldeten und Sankt Severin schonten; ich bin nicht versöhnt, nicht versöhnt mit mir und nicht mit dem Geist der Versöhnung, den Sie bei Ihrer Festansprache verkünden werden; es war nicht blinder Eifer, der Ihre Heimstatt zerstörte, sondern Hass, der nicht blind war und dem noch keine Reue erwachsen ist. Soll ich bekennen, dass ich es gewesen bin? Ich muss meinem Vater Schmerz zufügen, obwohl er nicht schuldig ist, und vielleicht meinem Sohn, obwohl auch er nicht schuldig ist, und Ihnen, Ehrwürdiger Vater, obwohl auch Sie nicht schuldig sind; wer ist schon schuldig? Ich bin nicht versöhnt mit der Welt, in der eine Handbewegung und ein missverstandenes Wort das Leben kostet.‘ Und er sagte: „Herzlichen Dank, Ehrwürdiger Vater, es wird mir eine Freude sein, an Ihrem Fest teilzunehmen.“

‚Ich werde nicht kommen, Ehrwürdiger Vater‘, dachte der Alte, ‚denn ich würde hier stehen nur als ein Denkmal meiner selbst, nicht als der, der ich bin: ein alter Mann, der seiner Sekretärin heute morgen den Auftrag gab, sein Denkmal zu bespucken; erschrecken Sie nicht, Ehrwürdiger Vater; ich bin nicht versöhnt mit meinem Sohn Otto, der nicht mehr mein Sohn war, sondern nur die Hülle meines Sohnes; und mit Gebäuden, auch wenn ich sie selbst erbaute, kann ich keine Versöhnung feiern. Man wird uns bei den Feierlichkeiten nicht vermissen; Kanzler, Kabinett, ausländische Fürstlichkeiten und hohe kirchliche Würdenträger werden gewiss die Lücke würdig ausfüllen. Bist du es gewesen, Robert, und hast dich gefürchtet, es mir zu sagen? Dein Blick, deine Bewegungen beim Rundgang haben es mir verraten; nun: es trifft mich nicht – vielleicht hast du dabei an den Jungen gedacht, dessen Namen ich nie erfuhr: der deine Zettelchen in unseren Briefkasten warf – und an den Kellner, der Groll hieß, an die Lämmer, die niemand geweidet hat, auch wir nicht; feiern wir also nicht Versöhnung: sorry, Ehrwürdiger Vater, Sie werden es ertragen, Sie werden uns nicht vermissen; lassen Sie eine Tafel aufhängen: ,Erbaut von Heinrich Fähmel im Jahre 1908, in seinem neunundzwanzigsten Lebensjahr, zerstört von Robert Fähmel, im Jahre 1945, in seinem neunundzwanzigsten Jahr’ – was wirst du tun, Joseph, wenn du dreißig bist? Wirst du deines Vaters Büro für statische Berechnungen übernehmen: bauen oder zerstören? Formeln sind wirksamer als Mörtel.

Stärken Sie Ihr Herz mit Choral, Ehrwürdiger Vater, überlegen Sie sich gut, ob Sie wirklich mit dem Geist, der das Kloster zerstörte, versöhnt sind.‘

„Herzlichen Dank, Ehrwürdiger Vater, es wird uns eine Freude sein, an Ihrem Fest teilzunehmen“, sagte der Alte.



Kühle stieg schon aus Wiesen und Niederungen, trockene Rübenblätter wurden feucht, dunkel, versprachen Reichtum; links vor dem Steuer Josephs blonder Kopf, rechts die beiden schwarzen Mädchenköpfe; leise glitt das Auto auf die Stadt zu; sang dort jemand: ‚Wir haben das Korn geschnitten‘? Es konnte nicht wahr sein, so wenig wie der schlanke Turm von Sankt Severin am Horizont; Marianne sprach als erste wieder:

„Du fährst nicht über Dodringen?“

„Nein, Großvater wollte über Denklingen fahren.“

„Ich denke, wir fahren auf dem kürzesten Weg in die Stadt?“

„Wenn wir um sechs in der Stadt sind, ist es früh genug“, sagte Ruth, „zum Umziehen brauchen wir nicht mehr als eine Stunde.“

Das Gespräch der Kinder klang leise wie Geflüster aus dunklen Erdschächten, wo Verschüttete einander Hoffnung zusprechen; ich sehe Licht; du täuschst dich; aber ich sehe wirklich Licht; wo?; hörst du denn nicht das Klopfen der Rettungsmannschaft?; ich höre nichts; hatten wir denn im Gästezimmer laut gesprochen?

Es ist nicht gut, Formeln aus ihrer Erstarrung zu lösen, Geheimnisse in Worte zu fassen, Erinnerung in Gefühle umzusetzen, Gefühl kann sogar so gute und strenge Dinge wie Liebe und Hass töten; gab es wirklich einmal den Hauptmann, der Robert Fähmel hieß, der sich im Kasinojargon so gut auskannte, Gepflogenheiten so präzis exerzierte, pflichtgemäß die Frau des rangältesten Offiziers zum Tanz aufforderte, mit knapper Stimme Toaste auszubringen verstand; auf die Ehre unseres geliebten deutschen Volkes; Sekt, Ordonnanz; Billardspiel; rot über grün, weiß über grün; weiß über grün; und eines Abends stand ihm einer gegenüber, hielt den Billardstock in der Hand, lächelte und sagte: ‚Schrit, Leutnant, wie Sie sehen, Sprengspezialist wie Sie, Herr Hauptmann, verteidige mit Dynamit die abendländische Kultur.‘ Der trug keine gemischte Seele in der Brust, der konnte warten und sparen, brauchte nicht immer wieder Herz und Gefühl zu mobilisieren, betrank sich nicht an Tragik, hatte den Schwur geleistet, nur deutsche Brücken, nur deutsche Häuser zu sprengen, an keiner russischen Kate auch nur eine Fensterscheibe zu zerstören; warten, Billard spielen, kein Wort zuviel – und endlich lag sie in der Frühlingssonne, unsere große Beute, auf die wir so lange hatten warten müssen: Sankt Anton; am Horizont die Beute, die uns entgehen sollte: Sankt Severin.



„Fahr nicht so schnell“, sagte Marianne leise.

„Entschuldige“, sagte Joseph.

„Sag, was wollen wir hier in Denklingen?“

„Großvater will dorthin“, sagte Joseph.

„Nein, Joseph“, sagte Ruth, „fahr nicht mit dem Auto in die Allee, siehst du nicht das Schild: ‚Nur für Anliegen‘? Zählst du dich etwa dazu?“

Die große Abordnung: Gatte, Sohn, Enkel und zukünftige Schwiegertochter stiegen ins verwunschene Schloss hinunter.



„Nein, nein“, sagte Ruth, „ich warte hier draußen. Bitte, lasst mich.“

Abends, wenn ich mit Vater im Wohnzimmer sitze, könnte Großmutter dabeisein; ich lese, er trinkt Wein, kramt in seinen Karteikästen, legt die doppelpostkartengroßen Fotokopien wie eine Patience vor sich aus; immer korrekt, nie die Krawatte gelockert, nie die Weste geöffnet, nie zu väterlicher Gemütlichkeit sich aufgelöst; zurückhaltend und besorgt: ‚Brauchst du Bücher, Kleider, Geld für die Reise; langweilst du dich nicht, Kind? Möchtest du lieber ausgehen? Ins Theater, ins Kino, zum Tanzen; ich werde dich gern begleiten; oder möchtest du deinen Schulfreundinnen noch einmal einen Kaffee oben auf dem Dachgarten geben, jetzt, wo das Wetter so schön ist?‘ Abendspaziergang vorm Zubettgehen, rund um den Häuserblock, Modestgasse bis zum Tor, dann die Bahnhofstraße hinunter bis zum Bahnhof; ‚Riechst du die Ferne, Kind?‘; durch die Unterführung, an Sankt Severin, am Hotel Prinz Heinrich vorüber; ‚Gretz hat vergessen, die Blutflecken vom Trottoir abzuwaschen‘; Keilerblut war hart und schwarz geworden; ‚Kind, es ist halb zehn, jetzt gehst du besser schlafen; gute Nacht‘; Kuss auf die Stirn; immer freundlich, immer korrekt; ‚möchtest du lieber, dass wir eine Haushälterin nehmen, oder bist du das Wirtshausessen noch nicht leid?; offen gestanden, ich mag nicht gern fremde Personen im Hause‘; Frühstück, Tee, Brötchen, Milch; Kuss auf die Stirn; und manchmal ganz leise: ‚Kind, Kind.‘ – ‚Was ist denn Vater?‘ ‚Komm, wir fahren weg.‘ ‚Jetzt, hier, sofort?‘ ‚Ja. Lass die Schule für heute und morgen, wir fahren nicht weit; nur bis Amsterdam; herrliche Stadt, Kind, stille, sehr freundliche Menschen – man muss sie nur kennen. Kennst du sie?‘ ‚Ja, ich kenne sie. Schön, die Spaziergänge abends an den Grachten entlang.‘ ‚Glas. Glas. Still. Hörst du, wie still die Menschen hier sind? Nirgendwo sind sie so laut wie bei uns, immer brüllen, schreien, wichtig tun. Langweilt es dich, wenn ich noch zum Billard gehe? Geh mit, wenn es dir Spaß macht.‘

Ich verstand nie die Faszination, mit der ihm alte und junge Männer beim Spiel zusahen, wenn er dastand, im Zigarrenrauch, das Bierglas neben sich auf dem Bord, und Billard spielte, Billard; duzten sie ihn wirklich, oder war es nur eine Eigenart der holländischen Sprache, dass es wie Du klang, wenn sie ihn anredeten; sie kannten seinen Vornamen: Robert, rollten das R von Robert, wie ein hartes Bonbon im Gaumen. Still. Soviel Glas an den Grachten. Ruth heiße ich, Halbwaise bin ich, meine Mutter war vierundzwanzig, als sie starb; ich war drei, und wenn ich an sie denke, denke ich siebzehn oder zweitausend Jahre, vierundzwanzig ist eine Zahl, die nicht zu ihr passt; irgend etwas unter achtzehn oder über achtzig; mir kam sie immer vor wie Großmutters Schwester; ich kenne das große, wohlbehütete Geheimnis, dass Großmutter verrückt ist, und ich will sie nicht sehen, solange sie verrückt ist; Ihre Verrücktheit ist Lüge, Trauer hinter dicken Mauern, ich kenne das, betrinke mich auch oft daran und schwimme in Lüge dahin: Hinterhaus, Modestgasse 8, von Gespenstern bewohnt. Kabale und Liebe, Großvater hat das Kloster gebaut, Vater hat es gesprengt, Joseph hat’s neu errichtet. Meinetwegen; ihr werdet enttäuscht sein, wie wenig mich das erschüttert; ich habe gesehen, wie sie die Toten aus den Kellern holten, und Joseph versuchte, mir einzureden, sie wären krank und würden nur ins Krankenhaus gebracht, aber warf man Kranke so wie Säcke einfach auf den Lastwagen? Und ich habe gesehen, wie der Lehrer Krott heimlich in der Pause in die Klasse ging und Konrad Gretz das Butterbrot aus dem Ranzen stahl, ich habe Krotts Gesicht gesehen und litt Todesängste, und betete zu Gott: ‚Bitte, lass nicht zu, dass er mich hier entdeckt, bitte, bitte‘, denn ich wusste, er würde mich ermorden, wenn er mich entdeckte; ich stand hinter der Tafel, suchte meine Haarspange, und er hätte meine Beine sehen können, aber Gott hatte Erbarmen mit mir: Krott entdeckte mich nicht; ich sah sein Gesicht und sah noch, wie er ins Brot biss, dann hinausging; wer in solche Gesichter gesehen hat, den regen gesprengte Abteien nicht mehr auf; und das Theater nachher, als Konrad Gretz den Verlust entdeckte und Krott uns alle zur Aufrichtigkeit ermahnte: ‚Kinder, seid doch ehrlich, ich gebe euch eine Viertelstunde Zeit; dann muss sich der Schuldige gemeldet haben, sonst‘ – noch acht Minuten, noch sieben Minuten, sechs – , und ich sah ihn an, er fing meinen Blick auf, stürzte auf mich zu: ‚Ruth, Ruth‘, schrie er, ‚du? Bist du es gewesen?‘ Ich schüttelte den Kopf, fing an zu weinen, denn ich litt wieder Todesangst – und er sagte: ‚Mein Gott, Ruth, sei ehrlich.‘ Ich hätte gern ja gesagt, aber dann hätte er gemerkt, dass ich wusste; und ich schüttelte den Kopf unter Tränen; noch vier Minuten, drei, zwei, eine, aus; ‚Ihr verdammte Diebesbande, ihr Lügenbande, jetzt schreibt ihr zur Strafe zweihundertmal: ,Ich darf nicht stehlen!’‘ Ihr mit euren Abteien; ich habe schrecklichere Geheimnisse hüten müssen, habe Todesangst ausgestanden; wie Säcke warfen sie sie auf den Wagen.

Warum mussten sie den netten Abt so kühl behandeln? Was hat er getan, hat er jemand umgebracht, hat er jemand ein Butterbrot gestohlen? Konrad Gretz hatte genug zu essen, Leberpastete und Kräuterbutter auf Weißbrot; welcher Teufel wohnte plötzlich im Gesicht des milden, vernünftigen Lehrers? Mord hockte zwischen Nase und Augen, Nase und Mund, zwischen den Ohren; wie Säcke warfen sie die Leichen auf den Lastwagen, und ich hatte Spaß, wenn Vater den Bürgermeister vor der großen Wandkarte verhöhnte, wenn er seine schwarzen Zeichen malte und sagte: ‚Weg damit, sprengen‘; ich liebe ihn, liebe ihn nicht weniger, jetzt, wo ich’s weiß; hat Joseph wenigstens seine Zigaretten im Auto gelassen; ich hab doch gesehen, wie der Mann seinen Trauring für zwei Zigaretten hergab – wieviel hätte er für seine Tochter haben wollen, wieviel für seine Frau? In seinem Gesicht die Preistafel: zehn, zwanzig, er hätte mit sich reden lassen; sie lassen alle mit sich reden; tut mir leid, Vater, aber der Honig und das Brot und die Butter schmeckten mir auch noch, nachdem ich wusste, wer das getan hatte. Wir wollen weiter Vater und Tochter spielen; genau abgezirkelt, wie ein Turniertanz; nach dem Imbiss wäre eigentlich der Spaziergang auf den Kosakenhügel hinauf fällig gewesen: Joseph mit Marianne und mir vorneweg, Großvater hinterher, wie jeden Samstag.

‚Kommst du mit, Großvater?‘

‚Danke, es geht schon.‘

‚Gehn wir nicht zu schnell?‘

‚Nein, lasst nur, Kinder. Ob ich mich ein wenig setzen kann, oder glaubt ihr, es ist zu feucht?‘

‚Der Sand ist pulvertrocken, Großvater, und noch ganz warm, du kannst dich ruhig setzen; komm, gib mir deinen Arm.‘

‚Natürlich, Großvater, steck dir ruhig eine Zigarre an, wir werden schon achtgeben, dass nichts passiert.‘



Zum Glück hat Joseph die Zigaretten im Wagen gelassen, und der Anzünder funktioniert; Großvater hat mir so schöne Kleider geschenkt und Pullover, viel schönere als Vater, der einen altmodischen Geschmack hat; man merkt, dass Großvater von Mädchen und von Frauen was versteht; ich will Großmutter nicht verstehen, ich will nicht, ihre Verrücktheit ist Lüge, sie hat uns nichts zu essen gegeben, und ich war froh, als sie weg war und wir was bekamen; mag sein, dass du recht hast, dass sie groß war und groß ist, aber ich will nichts von Größe wissen; ein Butterbrot mit Leberpastete, Weißbrot und Kräuterbutter, hätte mich fast das Leben gekostet; mag sie wiederkommen und abends bei uns sitzen, aber gebt ihr nicht den Schlüssel zur Küche, bitte nicht; ich habe den Hunger auf dem Gesicht des Lehrers gesehen und habe Angst davor; gib ihnen immer zu essen, lieber Gott, immer, damit das Schreckliche nicht wieder auf ihren Gesichtern erscheint; das ist ein harmloser Herr Krott, der sonntags ins Kleinauto steigt, um mit seiner Familie nach Sankt Anton zu fahren und dort dem Hochamt beizuwohnen; den wievielten Sonntag nach Pfingsten haben wir heute, den wievielten Sonntag nach Epiphanie, nach Ostern? – ein lieber Mensch, mit einer lieben Frau und zwei lieben Kinderchen: ‚Sieh mal Ruth, ist unser Fränzchen nicht gewachsen?‘ ‚Ja, Herr Krott, Ihr Fränzchen ist gewachsen!‘, und ich denke nicht mehr daran, dass mein Leben an einem Haar hing; nein; ich hab auch zweihundertmal ganz brav geschrieben: ‚Du sollst nicht stehlen‘; und natürlich sag ich nicht nein, wenn Konrad Gretz eine Party gibt; da gibt’s herrliche Gänseleberpastete mit Kräuterbutter auf Weißbrot, und wenn man jemand auf den Fuß tritt oder jemand das Weinglas umstößt, sagt man nicht: ‚Entschuldigen Sie bitte‘, sagt auch nicht: ‚Pardon‘, sondern: ‚Sorry‘.

Warm ist das Gras am Straßengraben, würzig ist Josephs Zigarette, und mir schmeckte das Honigbrot noch, als ich erfuhr, dass es Vater war, der die Abtei in die Luft gejagt hat; herrlich, Denklingen dort hinten in der Abendsonne; sie müssen sich beeilen, zum Umziehen brauchen wir mindestens eine halbe Stunde.

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