Книга: Billard um halb Zehn / Бильярд в половине десятого. Книга для чтения на немецком языке
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Kapitel XI

„Kommen Sie nur her, General. Sie brauchen sich nicht zu schämen; alle Neulinge werden zuerst mir vorgestellt, denn ich bin am längsten in diesem hübschen Haus hier; warum schlagen Sie mit Ihrem Spazierstock Kerben in die unschuldige Gartenerde, schütteln dauernd den Kopf, vor jeder Mauer, vor der Kapelle, am Gewächshaus und murmeln: ‚Schussfeld‘?; übrigens ein hübsches Wort: ‚Schussfeld‘; freie Bahn den Kugeln und Geschossen; Otto, wie? Kösters? Nein, keine Intimitäten, keine Namen nennen, und der Name Otto ist außerdem besetzt; darf ich Sie also ‚Schussfeld‘ nennen? Ich sehe es Ihnen an, höre es aus Ihrer Stimme heraus, rieche es an Ihrem Atem: Sie haben vom Sakrament des Büffels nicht nur gekostet, sondern davon gelebt, konsequente Diät gehalten. Nun hören Sie einmal zu, Neuer, sind Sie katholisch? natürlich, das Gegenteil hätte mich überrascht; können Sie ministrieren? natürlich, Sie sind von katholischen Patres erzogen; verzeihen Sie, dass ich lache; wir suchen hier schon seit drei Wochen einen neuen Ministranten; den Ballosch haben sie als geheilt entlassen; wie war’s, wenn Sie sich hier ein bisschen nützlich machten? Du bist doch ein harmloser Irrer, nicht gewalttätig, hast nur den einen und einzigen Tick, bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit ‚Schussfeld‘ zu murmeln; du wirst doch das Messbuch von der rechten auf die linke, von der linken auf die rechte Altarseite tragen können; wirst vorm Tabernakel eine Kniebeuge machen können, wie? Du bist doch kerngesund, das gehört zu deinem Beruf, du kannst das Mea culpa, mea culpa, mea maxima culpa an die Brust schlagen, kyrie eleison sagen; na, siehst du, wozu ein gebildeter, bei katholischen Patres erzogener General noch zu gebrauchen ist; ich werde Sie dem Anstaltspfarrer als unseren neuen Ministranten vorschlagen; du bist doch einverstanden, nicht?

Danke; man spürt doch gleich, was ein Kavalier ist; nein, bitte hier herum, zum Gewächshaus, ich will Ihnen mal was zeigen, was zu Ihrem Handwerk gehört, und bitte, keine unangebrachten Galanterien, keine Tanzstundenkomplexe an mir auslassen, bitte; ich bin siebzig, Sie dreiundsiebzig, keine Handküsse, keine Greisenpoussagen; lassen Sie doch den Unsinn; hör mir mal zu: siehst du, was da hinter der hellgrünen Glasscheibe zu sehen ist? Ja, das sind Waffen, das ist unseres guten Obergärtners Arsenal: damit werden Hasen und Rebhühner, Krähen und Rehe geschossen, denn unser Obergärtner ist ein leidenschaftlicher Jäger, und da zwischen den Gewehren liegt so ein hübscher, handlicher schwarzer Gegenstand, eine Pistole; nun pack mal aus, was du als Fähnrich oder als Leutnant gelernt hast, und sag mir: ist so ein Ding wirklich lebensgefährlich, kann man damit jemanden umbringen? Nun werd mir nicht blaß, alter Haudegen, hast zentnerweise vom Sakrament des Büffels gegessen und wirst mir hier schwach, wenn ich dir ein paar einfache Fragen stelle; fang doch nicht an zu zittern, ich bin zwar ein bisschen verrückt, aber ich werde dir nicht die Pistole auf deine dreiundsiebzigjährige Brust drücken und dem Staat die Pension ersparen; ich denke gar nicht dran, dem Staat was zu ersparen; gib mir auf klare militärische Fragen eine militärische Antwort: Kann man mit dem Ding jemand umbringen? Ja? Gut. Auf wieviel Meter Entfernung hat man die größte Treffsicherheit? Zehn, zwölf, allerhöchstens fünfundzwanzig.

Mein Gott, nun regen Sie sich doch nicht auf! Wie bange so ein alter General sein kann; melden? Da gibt es nichts zu melden; euch haben sie das Melden wohl so eingetrichtert, dass ihr’s nicht lassen könnt, was? Küssen Sie mir meinetwegen die Hand, aber halten Sie nur den Mund, und morgen früh wird ministriert, verstanden? So ’nen hübschen weißhaarigen gutgewachsenen Ministranten haben die hier noch nie gehabt; kannst du denn keinen Spaß verstehen? Ich interessiere mich nun mal für Waffen, so wie du dich für Schussfeld interessierst; willst du denn nicht begreifen, dass es zu den ungeschriebenen Gesetzen dieses trauten Heimes hier gehört, dass jeder jedem sein Pläsierchen lässt; du hast eben deinen Schussfeld – Tick; Diskretion, Schussfeld, denk an deine gute Erziehung – vorwärts mit Hurra und Hindenburg; siehst du wohl, das gefällt dir, man muss nur die richtigen Worte wählen – hier geht es rum, an der Kapelle vorbei, willst du nicht eintreten und dir die Stätte deines künftigen Wirkens einmal anschauen?; friedlich, Alter, das weißt du also noch: Hut abnehmen, den rechten Finger ins Weihwasserbecken, jetzt ein Kreuzzeichen, so ist’s brav; jetzt hinknien, aufs Ewige Licht blicken, ein Ave Maria und ein Vaterunser beten – schön still; es geht doch nichts über eine katholische Erziehung; aufstehen, Finger ins Weihwasserbecken, Kreuzzeichen, der Dame den Vortritt lassen, Hut aufsetzen; so ist’s lieb, da sind wir wieder: Sommerabend, herrliche Bäume in herrlichem Park, eine Bank; vorwärts mit Hurra und Hindenburg, das gefällt dir, was? Wie gefällt dir das andere: muss haben ein Gewehr, muss haben ein Gewehr; das gefällt dir auch, wie? Lass doch die Scherze; nach Verdun war es eigentlich mit diesen Scherzen vorbei; da sind die letzten Kavaliere – gefallen, zu viele Kavaliere, zu viele Liebhaber auf einmal – zu viele junge guterzogene Leute; hast du dir einmal ausgerechnet, wieviel Pädagogenschweiß da innerhalb von ein paar Monaten verschwendet worden ist? Umsonst! Warum seid ihr nie auf die Idee gekommen, gleich nach der Gehilfenprüfung oder nach der Abiturientenprüfung ein Maschinengewehr auf dem Flur der Handwerks- oder Handelskammer, auf dem Flur des Gymnasiums aufzustellen und die jungen Männer mit dem strahlenden ‚Bestanden‘ im Gesicht totzuschießen? Du findest das übertrieben? Nun, dann lass dir sagen, dass Wahrheit reine Übertreibung ist; ich hab mit der Abiturientia 1905, 1906, 1907 noch getanzt und Kommers gefeiert mit diesen Mützenträgern und Biertrinkern – aber von den drei Jahrgängen ist mehr als die Hälfte bei Verdun gefallen. Was denkst du wohl, was von der Abiturientia 1935, 1936, 1937 übriggeblieben ist; oder 1941, 1942 – such dir einen Jahrgang aus; und fang doch nicht wieder an zu zittern, ich wusste ja gar nicht, wie bange so ein alter General sein kann. Lass das doch sein: Hände auf meine Hände legen – wie ich heiße? Merk dir: nach so was fragt man hier nicht, hier hat man keine Visitenkarte, hier trinkt man nicht Schmollis miteinander, hier duzt man sich ungefragt, hier weiß man, dass alle Menschen Brüder sind, wenn auch feindliche Brüder; die einen haben vom Sakrament des Lammes gegessen, wenige nur, Alter, die anderen vom Sakrament des Büffels, und mein Name ist: muss haben ein Gewehr, muss haben ein Gewehr, Zuname: vorwärts mit Hurra und Hindenburg; leg alle deine bürgerlichen Vorurteile, deine Kommentvorstellungen endgültig ab, hier herrscht die klassenlose Gesellschaft; und beklage dich nicht über den verlorenen Krieg. Mein Gott, habt ihr ihn tatsächlich verloren, zwei schon hintereinander? Einem wie dir hätte ich sieben verlorene Kriege gewünscht! Nun, hör mit dem Flennen auf; mir ist’s wurscht, wieviel Kriege du verloren hast; verlorene Kinder, das ist schlimmer als verlorene Kriege; du kannst hier im Denklinger Sanatorium ministrieren, eine höchst ehrenvolle Beschäftigung, und rede mir nicht von der deutschen Zukunft; ich hab in der Zeitung gelesen: die deutsche Zukunft ist genau abgesteckt. Wenn du schon weinen musst, dann weine nicht so weinerlich; Unrecht haben sie dir auch getan, deine Ehre angetastet? Was nützt einem schließlich die Ehre, wenn jeder Fremdling dran kratzen kann, nicht wahr? Aber nun sei zufrieden, in dieser Klapsmühle hier bist du gut untergebracht, hier wird auf jedes Seelenwehwehchen eingegangen, hier werden alle Komplexe respektiert; das ist nur eine Preisfrage: wenn du arm wärst, gäbe es Senge und kaltes Wasser, aber hier wird jedes Spielchen mitgespielt, du hast sogar Ausgang, kannst in Denklingen ein Bier trinken gehen; du brauchst nur ‚Schussfeld‘ zu rufen, Schussfeld für die zweite, Schussfeld für die dritte Armee, und irgend jemand wird dir ‚Jawohl, Herr General‘, antworten; Zeit wird nicht als Ganzes, nur im Detail verstanden, sie darf hier nie zu Geschichte werden, verstehst du? Ich will dir ja gern glauben, dass du meine Augen schon gesehen hast, bei jemand, der eine rote Narbe überm Nasenbein trug, ich will dir glauben, aber solche Angaben und solche Zusammenhänge sind hier unerlaubt; hier ist immer heute, heute ist Verdun, heute ist Heinrich gestorben, Otto gefallen, heute ist der 31. Mai 1942, heute flüsterte Heinrich mir ins Ohr: ‚Vorwärts mit Hurra und Hindenburg‘; du hast ihn gekannt, hast ihm die Hand gedrückt, oder vielmehr er dir; schön, aber nun wollen wir mal hübsch ein bisschen arbeiten; ich weiß noch, welches Gebet für die Ministranten am schwersten zu lernen war, ich hab’s mit meinem Sohn Otto gelernt, hab’s ihm abhören müssen: ‚Suscipiat Dominus sacrificium de manibus tuis ad laudem et gloriam nominis sui‘ – jetzt kommt das Schwerste, Alter – ‚ad utilitatem quoque nostram, totiusque Ecclesiae sua sanctae‘ – sprich’s nach, Alter – nein, ‚ad utilitatem‘, nicht ‚utilatem‘ – den Fehler machen sie alle – ich schreib’s dir auf einen Zettel, wenn du willst, oder lies es in deinem Gebetbuch nach – und nun, adieu, Abendbrotzeit, Schussfeld; lass dir’s schmecken…“

Über die breiten schwarzen Wege an der Kapelle vorbei zum Gewächshaus zurück; nur Mauern waren Zeugen, als sie die Tür mit dem Schlüssel öffnete, an leeren Blumentöpfen, modrig riechenden Beeten vorbei leise in das Büro des Obergärtners ging; sie nahm die Pistole vom Ständer, öffnete die weiche schwarze Handtasche, das Leder schloss sich um die Pistole, leicht ließ sich der Verschluss zuknipsen; lächelnd, leere Blumentöpfe streichelnd, verließ sie das Gewächshaus, schloss hinter sich die Tür wieder zu; nur die dunklen Mauern waren Zeugen, als sie den Schlüssel abzog; langsam ging sie über die breiten schwarzen Wege zum Haus zurück.



Huperts deckte den Abendbrottisch in ihrem Zimmer; Tee, Brot, Butter, Käse und Schinken; er blickte lächelnd auf, sagte: „Sie sehen blendend aus, gnädige Frau.“

„So“, sagte sie, legte ihre Handtasche auf die Kommode, nahm den Hut vom dunklen Haar, fragte lächelnd: „Ob der Obergärtner mir wohl ein paar Blumen bringen könnte?“

„Der ist aus“, sagte Huperts, „hat Ausgang bis morgen abend.“

„Und niemand außer ihm darf ins Gewächshaus?“

„Nein, gnädige Frau, darin ist er schrecklich eigen.“

„Dann muss ich wohl bis morgen abend warten, oder ich besorg mir welche in Denklingen oder Dodringen.“

„Sie wollen ausgehen, gnädige Frau?“

„Ja, wahrscheinlich, es ist ein so schöner Abend, ich darf doch, nicht wahr.“

„Natürlich, natürlich – Sie dürfen – oder soll ich den Herrn Rat anrufen, oder den Herrn Doktor?“

„Das werde ich selbst tun, Huperts, bitte würden Sie mir das Telefon auf Amt stellen, aber für lange, bitte – ja?“

„Selbstverständlich, gnädige Frau.“



Als Huperts gegangen war, öffnete sie das Fenster, warf den Schlüssel zur Gärtnerei in das Kompostbecken, schloss das Fenster, goss sich Tee und Milch in eine Tasse, setzte sich, zog das Telefon zu sich heran: „Komm, komm“, sagte sie leise, versuchte mit der linken Hand die zitternde Rechte zu beschwichtigen, die nach dem Hörer griff. „Komm, komm“, sagte sie, „ich bin bereit, mit dem Tod in der Handtasche ins Leben zurückzukehren; sie haben es alle nicht gewusst, dass diese Berührung mit dem kühlen Metall genügen würde, haben Gewehr zu wörtlich verstanden; ich brauch ja kein Gewehr, eine Pistole tut’s auch, komm, komm, sag mir, wie spät es ist, komm, sag’s, sanfte Stimme, bist du immer noch die gleiche und immer noch unter der gleichen Nummer erreichbar?“ Sie nahm den Hörer in die Linke, lauschte dem amtlichen Tuten. ‚Huperts braucht nur auf ein Knöpfchen zu drücken, und sie ist da: die Zeit, die Welt, die Gegenwart, die deutsche Zukunft: Ich bin gespannt, wie sie aussieht, wenn ich aus dem verwunschenen Schloss herauskomme.‘ Sie wählte mit der rechten Hand: eins, eins, eins und hörte die sanfte Stimme sagen: „Beim Zeitzeichen ist es siebenzehnuhrachtundfünfzig und dreißig Sekunden“ – beklemmende Stille, ein Gongschlag – die sanfte Stimme: „Beim Zeitzeichen ist es siebenzehnuhrachtundfünfzig und vierzig Sekunden.“ Die Zeit strömte in ihr Gesicht, füllte es mit tödlicher Weiße, während die Stimme sagte: „Siebenzehnuhrneunundfünfzig – zehn – zwanzig – dreißig – vierzig – fünfzig Sekunden“, ein harter Gongschlag: „achtzehn Uhr, am 6. September 1958“ – sagte die sanfte Stimme – Heinrich wäre achtundvierzig, Johanna neunundvierzig und Otto einundvierzig, Joseph war zweiundzwanzig, Ruth neunzehn – und die Stimme sagte: „Beim Zeitzeichen ist es achtzehn Uhr und eine Minute“ – Vorsicht, sonst werde ich wirklich verrückt, wird das Spiel ernst, und ich falle in das ewige Heute endgültig zurück, finde die Schwelle nicht mehr, renne um die bewachsenen Mauern herum, ohne den Eingang zu finden; die Visitenkarte der Zeit wie eine Forderung zum Duell – nicht anzunehmen: 6. September 1958 – achtzehn Uhr und eine Minute und vierzig Sekunden; die Faust voll Rache hat meinen Taschenspiegel zerbrochen, nur zwei Scherben sind übriggeblieben, die mir die tödliche Blässe meines Gesichts zeigen; ich hab’s doch gehört, das stundenlange Dröhnen der Sprengung, ich hab’s doch gehört, das empörte Geflüster der Leute: ‚Sie haben unsere Abtei in die Luft gejagt‘ – Wärter und Pförtner, Gärtner und Bäckerjungen kolportierten die schreckliche Nachricht, die ich so schrecklich nicht finde; Schussfeld; rote Narbe überm Nasenbein, tiefblaue Augen; wer kann das schon sein; war er’s? Wer? Ich würde sämtliche – Abteien der Welt in die Luft jagen, wenn ich Heinrich wiederbekommen, wenn ich Johanna von den Toten erwecken könnte, Ferdi und den Kellner, der Groll hieß; Edith – und wenn ich erfahren dürfte, wer Otto war; gefallen bei Kiew; es klingt so dumm und riecht nach Geschichte; komm, Alter, wir wollen nicht mehr Blindekuh spielen, ich halte dir die Augen nicht mehr zu: du wirst heute achtzig, ich bin einundsiebzig, und auf zehn, zwölf Meter hat man eine ziemliche Treffsicherheit; kommt auf mich zu, ihr Jahre, ihr Wochen und Tage, ihr Stunden und Minuten, welche Sekunde – „achtzehn Uhr zwei Minuten und zwanzig Sekunden“; ich verlasse mein Papierschiffchen und stürze mich in den Ozean; Totenblässe; vielleicht werd ich es überstehen; „achtzehn Uhr zwei Minuten und dreißig Sekunden“ – das klingt so dringlich: komm, ich habe keine Zeit zu verlieren, keine Sekunde zu verschenken, schnell, Fräulein, Fräulein, warum antworten Sie mir nicht? Fräulein, Fräulein – ich brauche ein Taxi, sofort, sehr dringend, helfen Sie mir doch; Schallplatten antworten nicht, das hätte ich wissen müssen; Hörer auflegen, Hörer abnehmen, wählen: eins, eins, zwei – bekam man auch die Taxis immer noch unter der gleichen Nummer? „Und können Sie“, sagte die sanfte Stimme, „in den Denklinger Lichtspielen den Heimatfilm ‚Die Brüder vom Moorhof‘ sehen; Anfangszeiten achtzehn Uhr und zwanzig Uhr fünfzehn – das Dodringer Lichtspielhaus bietet Ihnen den ausgezeichneten Film: ‚Was Liebe vermag‘ “ – still, still, mein Boot ist zerstört, aber hab ich nicht schwimmen gelernt, im Blücherbad 1905, trug einen schwarzen Badeanzug mit Krausen und Schürzen, Kopfsprung vom Einmeterbrett; fass dich, Atem holen, du hast schwimmen gelernt – was haben sie unter eins, eins, drei zu bieten: sanfte Stimme du, – „und falls Sie für den Abend Gäste erwarten, schlagen wir Ihnen ein ebenso schmackhaftes wie preiswertes Menü vor: erster Gang; Toast mit Käse und Schinken überbacken, dann grüne Erbsen mit saurer Sahne, dazu einen lockeren Kartoffelpudding, ein Schnitzel, frisch gegrillt“ – Fräulein, Fräulein – Schallplatten antworten nicht – „werden Ihre Gäste Sie als vorzügliche Hausfrau zu preisen wissen“; die Gabel gedrückt, eins, eins, vier – sanfte Stimme: „ – also die Campingausrüstung gepackt, Picknick vorbereitet, und vergessen Sie nicht, falls Sie an abschüssigen Stellen zu parken gedenken, die Handbremse zu ziehen, und nun: Einen fröhlichen Sonntag im Kreis der Familie.“

Ich werde es nicht schaffen; zuviel Zeit aufzuholen, immer mehr Blässe steigt in mein Gesicht, löst sich mein steinernes Gesicht nicht zu Tränen, bleibt die verleugnete, geschwänzte Zeit wie eine harte Lüge in mir zurück; Spieglein, Spieglein, Scherbenstück – sind meine Haare wirklich weiß geworden in den Folterkammern der sanften Stimmen; eins, eins, fünf – eine schläfrige Stimme: „Ja, bitte, hier Amt Denklingen“ – „Hören Sie mich, Fräulein? Hören Sie mich?“ – „Ja, ich höre“ – Lachen – „Ich brauche dringend eine Verbindung mit dem Büro des Architekten Fähmel, Modestgasse 7 oder 8, beide Adressen sind unter Fähmel zu finden, Kind, Sie nehmen es mir nicht übel, wenn ich Sie Kind nenne?“

„Nein, aber nein, gnädige Frau.“

„Es ist sehr dringend.“

Blätter wurden umgewendet.

„Ich habe hier Herrn Heinrich Fähmel – und Herrn Dr. Robert Fähmel – welche Verbindung wünschen Sie, gnädige Frau?“

„Mit Heinrich Fähmel.“

„Bitte, bleiben Sie am Apparat.“

Ob das Telefon immer noch auf der Fensterbank stand, so dass er beim Telefonieren auf die Straße blicken konnte und aufs Haus Modestgasse 8, wo seine Kinder auf dem Dach spielten; hinunter auf Gretzens Laden, wo der Keiler vor der Tür hing; ob es wirklich jetzt dort klingelt? Sie hörte das Rufzeichen sehr fern – die Pausen dazwischen kamen ihr unendlich lang vor.

„Bedaure, gnädige Frau, dort meldet sich niemand.“

„Bitte, versuchen Sie es mit der anderen Nummer.“

„Gern, gnädige Frau.“ Nichts, nichts, keine Antwort.

„Dann besorgen Sie mir bitte ein Taxi, Kind, ja?“

„Gern. Wohin?“

„In die Heilanstalt Denklingen.“

„Sofort, gnädige Frau.“

„Ja, Huperts, nehmen Sie den Tee weg, auch das Brot und den Aufschnitt. Und bitte, lassen Sie mich allein; ich sehe das Taxi schon, wenn es die Allee heraufkommt; nein, danke, ich brauche nichts mehr; Sie sind wirklich keine Schallplatte? Ach, ich wollte Sie nicht kränken – es war nur ein Scherz; danke.“

Ihr war kalt; sie spürte, wie ihr Gesicht zusammenschrumpfte, Großmuttergesicht, zerknittert, müde, in der Fensterscheibe war es zu sehen; keine Tränen; kroch sie wirklich silbern ins schwarze Haar, die Zeit? Ich hab schwimmen gelernt, aber nicht gewusst, wie kalt das Wasser ist; sanfte Stimmen peinigten mich, schlugen die Gegenwart in mich hinein; Großmutter mit Silberhaar, Zorn in Weisheit verwandelt, Rachegedanken in Verzeihen; Hass mit Weisheit kandiert; alte Finger klammerten sich um die Handtasche; Gold, aus dem verwunschenen Schloss mitgebracht, das Lösegeld.

Hol mich ab, Liebster, ich kehre zurück. Ich werde deine weißhaarige, liebe alte Frau sein, eine gute Mutter und eine liebenswürdige Großmutter, die man seinen Freunden und Freundinnen als besonders nett schildern kann; war krank, unsere Großmutter, lange Jahre, aber sie ist gesund geworden, bringt eine ganze Handtasche voll Gold mit.

Was werden wir heute abend im Cafe Kroner essen? Toast, mit Käse und Schinken überbacken, Erbsen mit saurer Sahne, ein Schnitzel dazu – und werden wir rufen: ‚Hosianna, der Braut Davids, die aus dem verwunschenen Schloss heimgekehrt ist?‘ Gretz wird seine Aufwartung machen; der Mörder seiner Mutter; die Stimme des Blutes sprach nicht zu ihm, sprach nicht aus Otto; wenn der Turnlehrer auf dem Schimmel am Haus vorüberkommt, werde ich schießen. Von der Pergola bis zur Straße sind es nicht mehr als zehn Meter – die diagonale Linie kann nicht viel länger als dreizehn sein; ich werde Robert bitten, es mir genau auszurechnen; jedenfalls liegt es innerhalb der Grenzen der höchsten Treffsicherheit; Schussfeld hat es mir erklärt, er muss es wissen, unser weißhaariger Ministrant; morgen früh wird er seinen Dienst antreten; ob er bis dahin wissen wird, dass es nicht ‚utilatem‘, sondern ‚utilitatem‘ heißen muss? Rote Narbe überm Nasenbein – und ist also doch Hauptmann geworden; so lange hat der Krieg gedauert; die Fensterscheiben klirrten, wenn wieder eine Sprengladung explodierte, und morgens lag Staub auf der Fensterbank; ich schrieb mit meinem Finger in die Staubschicht: ‚Edith, Edith‘ – ich liebte dich mehr, als die Stimme des Blutes mir hätte befehlen können; woher kamst du, Edith, sprich?

Immer weiter schrumpfte ich; er wird mich auf den Händen tragen können, vom Taxi ins Cafe Kroner; ich werde pünktlich sein; es ist höchstens achtzehn Uhr sechs und dreißig Sekunden; mein Lippenstift ist von der schwarzen Faust voll Rache zerquetscht worden; und es zittern meine morschen Knochen, ich habe Angst, wie werden sie aussehen, meine Zeitgenossen; werden sie dieselben sein wie damals oder nur die gleichen? – und wie steht es mit der goldenen Hochzeit, Alter, im September 1908 – weißt du nicht mehr, am 13. September – wie gedenkst du die goldene Hochzeit zu richten? Silberhaarig die Jubelbraut, silberhaarig der Jubelbräutigam, ringsum die unermessliche Enkelschar, verzeih, dass ich lache, David – du warst nicht Abraham, aber ich spüre ein wenig von Saras Lachen in mir; nur ein wenig, viel hat in mir nicht Platz, nur eine Nussschale voll Lachen bringe ich mit und eine Handtasche voll Gold; doch mein Lachen mag klein sein, es birgt gewaltige Energien, mehr als Roberts Dynamit…

Feierlich, feierlich, viel zu langsam kommt ihr die Allee herunter; Ediths Sohn vornweg, aber das ist nicht Ruth an seiner Seite; sie war drei, als ich wegging, aber ich würde sie erkennen, wenn ich sie als Achtzigjährige wiedersehen würde; das ist nicht Ruth; Handbewegungen verlernt man nicht; in der Nussschale ist der Baum enthalten; wie oft habe ich Ruths Handbewegung an meiner Mutter gesehen, wenn sie sich das Haar aus der Stirn strich; wo ist Ruth?; sie soll mir verzeihen – dies ist eine Fremde, eine Hübsche; ach, es ist der Schoß, der dir Urenkel gebären wird, Alter; werden es sieben sein, siebenmal sieben? Verzeih, dass ich lache; ihr kommt wie Herolde, langsam, viel zu feierlich; wollt ihr die Jubelbraut holen? Hier bin ich, bereit, geschrumpft wie ein uralter Apfel, du kannst mich auf den Händen ins Taxi tragen, Alter, aber rasch: ich habe keine Sekunde mehr zu verlieren; ja, das Taxi ist schon da: ihr seht, wie gut ich koordinieren kann; jedenfalls, das habe ich als Architektenfrau gelernt – macht dem Taxi nur Platz – rechts stehen Robert und die hübsche Fremde Spalier – links der Alte mit seinem Enkel; Robert, Robert, ist dies die Stelle, wo du jemand die Hand auf die Schulter legen musst? Brauchst du Hilfe, Stütze? Komm, Alter, tritt ein, bring Glück herein – wir wollen feiern und lustig sein! Die Zeit ist reif!

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