Книга: Billard um halb Zehn / Бильярд в половине десятого. Книга для чтения на немецком языке
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Kapitel XII

Der Portier blickte unruhig auf die Uhr: schon sechs vorüber, Jochen war nicht zur Ablösung erschienen, und der Herr auf Zimmer elf schlief nun einundzwanzig Stunden, hatte das Schild Bitte nicht stören an die Türklinke gehängt, und doch hatte bisher noch niemand hinter der geschlossenen Tür die Stille des Todes gespürt; kein Geflüster, kein Zimmermädchenschrei; Abendessenzeit, dunkle Anzüge, helle Kleider, viel Silber, Kerzenschein, Musik; zum Hummercocktail Mozart, zum Fleischgang Wagner, zum Nachtisch Hot.

Unheil lag in der Luft; voller Angst blickte der Portier auf die Uhr, die viel zu langsam ihre Sekunden dem Punkte zuschob, wo das Unheil offenbar werden würde; immer wieder das Telefon: Menü 1 auf Zimmer 12, Menü 3 auf Zimmer 218, Sekt auf Zimmer 14; Weekend- Ehebrecher verlangten die nötigen Stimulantia; fünf Globetrotter lümmelten sich in der Halle, warteten auf den Bus, der sie zum Nachtflugzeug bringen würde; ja, gnädige Frau, erste links, zweite rechts, dritte links – die römischen Kindergräber sind abends beleuchtet, Fotografieren ist erlaubt. Oma Bleesiek trank hinten in der Ecke ihren Portwein, hatte endlich Hugo erwischt, der ihr aus der Lokalzeitung vorlas: ‚Handtaschenräuber ohne Erfolg. Gestern versuchte am Ehrenfeldgürtel ein junger Mann einer älteren Frau die Handtasche zu entreißen, doch gelang es der tapferen Oma… Außenminister Dulles.‘ – „Unsinn, Unsinn“, sagte die Oma Bleesiek, „nichts Politisches, nichts Internationales, das einzig Interessante ist das Lokale“, und Hugo las: ‚Stadtoberhaupt ehrt verdienten Boxer…‘

Höhnisch schob die Zeit den Ausbruch des Unheils hinaus, während Gläser leise klirrten, Silberplatten auf Tische gestellt, Porzellanteller zu erhabener Musik in Schwingung versetzt wurden; mit mahnend und warnend erhobenen Händen stand der Fahrer der Fluggesellschaft in der Tür, die sanft in ihre Filzfugen zurückpendelte; nervös blickte der Portier auf seinen Notizblock: ‚ab 18.30 Zimmer-Straßenseite für Herrn M. reservieren; 18.30 Doppelzimmer für Geheimrat Fähmel und Frau, unbedingt Straßenseite; 19.00 Hund Kässi von Zimmer 114 zum Spaziergang abholen‘; gerade wurden die Spezialspiegeleier für diesen Köter gebracht, Dotter hart, Eiweiß weich, scharf gebratene Wurstscheiben, und wie immer würde das Mistvieh mäklig das Mahl verweigern; der Herr auf Zimmer elf schlief nun einundzwanzig Stunden und achtzehn Minuten.

Ja, gnädige Frau, das Feuerwerk beginnt eine halbe Stunde nach Sonnenuntergang, also gegen neunzehn Uhr dreißig; der Aufmarsch der Kämpfer gegen neunzehn Uhr fünfzehn; bedaure, ich bin nicht in der Lage, Ihnen Auskunft darüber zu geben, ob der Herr Minister zugegen sein wird; Hugo las mit seiner Schulentlassenenstimme: ‚Und überreichten die Stadtväter dem verdienten Boxer nicht nur die Ehrenbürgerurkunde, auch die goldene Marsilius-Plakette, die nur für besonders hohe kulturelle Verdienste verliehen wird. Ein Festbankett schloss die würdige Feier ab.‘ Endlich verließen die Globetrotter die Halle; ja, meine Herren, das Festbankett für die linke Opposition im blauen Zimmer – nein, für die rechte Opposition im gelben Zimmer; der Weg ist mit Schildern markiert, der Herr; wer gehörte zur Linken, wer zur Rechten; es war ihnen nicht anzusehen; für solche Sachen wäre Jochen besser gewesen; dessen Instinkt war untrüglich, wenn es galt, jemand einzustufen; der erkannte im schäbigen Anzug den wirklichen Herrn, erkannte im allerbesten Anzug den Proleten; der würde die linke von der rechten Opposition zu unterscheiden wissen; nicht einmal die Menüs unterschieden sich voneinander – ach, da war noch irgendein Bankett: Aufsichtsrat der Gemeinnützigsten der Gemeinnützigem; roter Saal, mein Herr; alle trugen die gleichen Gesichter, und alle würden Hummercocktail als Vorspeise essen, die Linke und die Rechte und der Aufsichtsrat; Mozart zur Vorspeise, Wagner zum Hauptgang, wenn sie die schweren Soßen kosteten, Hot zum Nachtisch; ja, im roten Saal, der Herr: Jochens Instinkt war untrüglich, wenn es nur ums Soziale ging, versagte aber, wenn es um mehr ging. Als die Schafpriesterin zum ersten Mal auftauchte, war es Jochen gewesen, der flüsterte: ‚Vorsicht, das ist allererste Klasse‘, und als dann die kleine Blasse kam, mit dem langen wirren Haar, nur mit ’ner Handtasche und ’nem Taschenbuch unterm Arm, flüsterte Jochen: ‚Nutte‘, und ich sagte: ‚Die tut”s mit jedem, nimmt aber nichts dafür, also keine Nutte‘, Jochen sagte: ‚Die tut’s mit jedem, und nimmt was dafür‘ – und Jochen hatte recht. Für Unheil aber hatte Jochen keinen Instinkt; als dann die andere kam, die Blonde, Strahlende mit ihren dreizehn Koffern, sagte ich ihm, als sie in den Aufzug stieg: ‚Wetten, dass wir die nie lebend wiedersehen?‘ Und Jochen sagte: ‚Unsinn, die ist nur mal für ein paar Tage ihrem Mann durchgegangen; und wer hat recht gehabt? Ich! Schlaftabletten und das Schild Bitte nicht stören an der Tür; die schlief vierundzwanzig Stunden, dann ging das Geflüster los: ‚Tod, Tod auf Zimmer 118‘; herrliche Sache, wenn nachmittags gegen drei die Mordkommission kommt, und wenn um fünf “ne Leiche aus dem Hotel rausgeschleppt wird, herrlich.

Puh, was ist das für eine Büffelvisage. Kleiderschrank mit Diplomatenair, zwei Zentner, Dackelgang und ein Anzug! Das roch nach Bedeutsamkeit, hielt sich im Hintergrund, während zwei weniger Bedeutungsvolle an die Theke traten: „Zimmer für Herrn M. bitte.“ „Ach, ja, Zimmer 211, Hugo, komm, bring die Herren hinauf“; da glitten sechs Zentner, in englisches Tuch gehüllt, lautlos nach oben.

„Jochen, Jochen, mein Gott, wo bist du denn so lange gewesen?“

„Entschuldige“, sagte Jochen, „du weißt, dass ich fast nie unpünktlich bin; besonders wo deine Frau und die Kinder auf dich warten, war ich gern pünktlich gewesen, aber wenn’s um meine Tauben geht, da schwankt mein Herz zwischen Freundespflicht und Taubenzüchterpflicht, und wenn ich sechs auf die Reise schicke, will ich auch sechse zurückhaben, aber es kamen nur fünf pünktlich, verstehst du, die sechste zehn Minuten verspätet und völlig erschöpft, das arme Tier; nun geh schon, wenn ihr zum Feuerwerk noch ’nen guten Platz erwischen wollt, wird es Zeit; ja, ich sehe schon, linke Opposition im blauen Zimmer, rechte Opposition im gelben Zimmer, Aufsichtsrat der Gemeinnützigsten der Gemeinnützigen im roten Zimmer; nun ja, das geht fürs Wochenende; das ist ja viel weniger aufregend, als wenn die Briefmarkensammler sich treffen oder die Bierspitzenorganisation; keine Angst, mit denen werd ich schon fertig, ich werd meine Gefühle mäßigen, obwohl ich der linken Opposition am liebsten den Hintern versohlen, den Rechten und den Gemeinnützigsten aller Gemeinnützigen am liebsten in die Vorspeise spucken würde; nu, reg dich nicht auf, die Fahne des Hauses wird schon hochgehalten; und um deine Selbstmordkandidaten kümmere ich mich schon; ja, gnädige Frau, Hugo um neun Uhr zum Kartenspiel aufs Zimmer, jawohl; so, der Herr M. ist schon da? – gefällt mir nicht, der Herr M., ohne ihn gesehen zu haben, sprech ich ihm mein Missfallen aus; jawohl, der Herr, Sekt auf Zimmer 211 und drei Partagas Eminentes; an ihrem Zigarrenaroma sollt ihr sie erkennen! Mein Gott, da kommt ja die ganze Sippe Fähmel.“



Mädchen, Mädchen, was ist aus dir geworden! Als ich dich zum ersten Mal sah, das war bei der Kaiserparade 1908, da schlug mein Herz höher, obwohl ich wusste, dass Blümchen wie du nicht für unsereins wachsen; ich brachte den Rotwein aufs Zimmer, wo du mit Papa und Mama gesessen hast; Kind, Kind – wer hätte gedacht, dass aus dir mal eine waschechte Oma werden würde, Silberhaar und ganz verschrumpelt, dich könnte ich ja auf einer Hand ins Zimmer hinauftragen, und ich würde es tun, wenn es mir gestattet würde; wird aber nicht gestattet, altes Mädchen, schade, du bist immer noch hübsch. Mädchen, Mädchen, was ist aus dir geworden! Als ich dich zum ersten Mal sah, das war bei der Kaiserparade 1908, da schlug mein Herz höher, obwohl ich wusste, dass Blümchen wie du nicht für unsereins wachsen; ich brachte den Rotwein aufs Zimmer, wo du mit Papa und Mama gesessen hast; Kind, Kind – wer hätte gedacht, dass aus dir mal eine waschechte Oma werden würde, Silberhaar und ganz verschrumpelt, dich könnte ich ja auf einer Hand ins Zimmer hinauftragen, und ich würde es tun, wenn es mir gestattet würde; wird aber nicht gestattet, altes Mädchen, schade, du bist immer noch hübsch.

„Herr Geheimrat, wir hatten Zimmer 212 für Sie und Ihre Gattin, pardon, für Ihre Gattin und Sie reserviert; Gepäck am Bahnhof? Nein? In der Wohnung was abzuholen? Auch nicht? Ach, nur für zwei Stunden, solange das Feuerwerk dauert, und um den Aufmarsch der Kämpfer zu sehen. Selbstverständlich ist im Zimmer Platz für sechs Personen, ein großer Balkon, und wenn Sie wünschen, lassen wir die Betten zusammenrücken. Nicht nötig? Hugo, Hugo, bring die Herrschaften auf Zimmer 212 und nimm eine Weinkarte mit; ich werde die jungen Herrschaften auf Ihr Zimmer weisen; selbstverständlich, Herr Doktor, das Billardzimmer ist für Sie und Herrn Schrella reserviert, ich werde Hugo für Sie loseisen; ja, er ist ein braver Junge, der hat den halben Nachmittag am Telefon gehangen, immer wieder gewählt; ich glaube, der vergisst Ihre Telefonnummer und die von der Pension Modern im Leben nicht mehr; warum der Kampfbund heute marschiert? Geburtstag irgendeines Marschalls – ich glaube, des Helden vom Husenwald; wir werden das herrliche Lied zu hören bekommen: ‚Vaterland, es knirscht in deinem Gebälk‘; na, lassen wir’s knirschen, Herr Doktor. Wie? Immer geknirscht? Wenn Sie mir gestatten wollen, hier eine persönliche politische Meinung zu äußern, so würde ich sagen: Vorsicht, wenn’s wieder knirscht; Vorsicht!“



„Hier hab ich schon einmal gestanden“, sagte sie leise, „hab dir zugeschaut, wie du unten vorbeimarschiert bist, bei der Kaiserparade im Januar 1908; Kaiserwetter, Liebster, klirrender Frost – so nennt man’s, glaube ich, in Gedichten; ich habe gezittert, ob du die letzte, schwerste aller Proben bestehen würdest: die Uniformprobe; nebenan auf dem Balkon stand der General und prostete Papa, Mama und mir zu; du hast die Probe damals bestanden, Alter; sieh mich nicht so lauernd an – ja, lauernd, so hast du mich noch nie angesehen; leg deinen Kopf in meinen Schoss rauch deine Zigarre und verzeih mir, wenn ich zittere: ich habe Angst; hast du das Gesicht des Jungen gesehen? Könnte er nicht Ediths Bruder sein? Ich habe Angst und da musst du verstehen, dass ich noch nicht in unsere Wohnung zurückgehen kann, vielleicht nie wieder; ich kann nicht wieder in den Zirkel treten – ich habe Angst, viel mehr als damals; ihr habt euch offenbar an die Gesichter schon gewöhnt, aber ich fange an, mich nach meinen harmlosen Irren zurückzusehnen; seid ihr denn blind? so leicht zu täuschen? Die werden euch für weniger als eine Handbewegung, für weniger als ein Butterbrot umbringen! Du brauchst nicht einmal mehr dunkelhaarig oder blond zu sein, brauchst nicht mehr den Taufschein deiner Urgroßmutter – die werden euch umbringen, wenn ihnen eure Gesichter nicht gefallen; hast du denn nicht die Plakate an den Wänden gesehen? Seid ihr denn blind? Da weißt du ja einfach nicht mehr, wo du bist; ich sag, Liebster, die haben doch alle vom Sakrament des Büffels gegessen; dumm wie Erde, taub wie ein Baum, und so schrecklich harmlos wie die letzte Inkarnation des Büffels; anständig, anständig; ich habe Angst, Alter – nicht einmal 1935 und nicht 1942 habe ich mich so fremd unter den Menschen gefühlt; mag sein, dass ich Zeit brauche, aber da werden Jahrhunderte nicht ausreichen, mich an die Gesichter zu gewöhnen; anständig, anständig und keine Spur von Trauer im Gesicht; was ist ein Mensch ohne Trauer? Gib mir noch ein Glas Wein und schau nicht misstrauisch auf meine Handtasche; ihr habt die Medizin gekannt, aber anwenden muss ich sie selber; du hast ein reines Herz und ahnst nicht, wie böse die Welt ist, und ich verlange heute noch ein großes Opfer von dir: sag die Feier im Cafe Kroner ab, zerstör die Legende, fordere nicht deine Enkel auf, dein Denkmal zu bespucken, sondern verhindere, dass du eins bekommst; Paprikakäse hat dir doch nie geschmeckt – sollen die Kellner und Küchenmädchen sich an die Festtafel setzen und dein Geburtstagsmahl verzehren; wir bleiben hier auf diesem Balkon, genießen den Sommerabend im Kreis der Familie, trinken Wein, schauen dem Feuerwerk zu und sehen uns den Aufmarsch der Kämpfenden an; wogegen kämpfen sie? Soll ich ans Telefon gehen und im Kroner absagen?“

Schon sammelten sich am Portal von Sankt Severin blau Uniformierte, standen rauchend in Gruppen, trugen blau-rote Fahnen mit einem großen schwarzen K darauf; schon probte das Blasorchester das Lied: Vaterland, es knirscht in deinem Gebälk‘; Weingläser klirrten leise auf den Balkonen, Sektkübel tönten metallisch, Pfropfen knallten ins abendlich dunkle Blau des Himmels; die Glocken von Sankt Severin läuteten Viertel vor sieben; drei dunkelgekleidete Herren traten auf den Balkon von Zimmer 212.

„Glauben Sie wirklich, dass sie uns nützen können?“ fragte M.

„Ich bin sicher“, sagte der eine.

„Kein Zweifel“, sagte der andere.

„Aber werden wir nicht mehr Wähler verärgern, als wir durch eine solche Sympathiebezeugung gewinnen?“ fragte Herr M.

„Der Kampfbund ist als nicht radikal bekannt“, sagte der eine.

„Verlieren können Sie gar nichts“, sagte der andere, „nur gewinnen.“

„Wieviel Stimmen sind es? Optimal und im ungünstigsten Falle?“

„Optimal an die achtzigtausend, im ungünstigen Fall an die fünfzigtausend. Entschließen Sie sich.“

„Ich bin noch nicht entschlossen“, sagte M., „ich warte noch auf Weisung von K. Glauben Sie, dass es uns bisher gelungen ist, der Aufmerksamkeit der Presse zu entgehen?“

„Ist gelungen, Herr M.“, sagte der eine.

„Und das Hotelpersonal?“

„Absolut diskret, Herr M.“, sagte der andere. „Die Weisung von Herrn K. müsste bald kommen.“

„Ich mag diese Burschen nicht“, sagte Herr M., „sie glauben an etwas.“

„Achtzigtausend Stimmen dürfen getrost an etwas glauben, Herr M.“, sagte der eine.

Lachen. Gläserklirren. Telefon.

„Ja, hier M. Habe ich recht verstanden? Sympathie bezeigen? Gut.“

„Herr K. hat sich positiv entschieden, meine Herren, stellen wir unsere Stühle und den Tisch auf den Balkon hinaus.“

„Was werden die Ausländer denken?“

„Sie denken sowieso das Falsche.“ – Lachen, Gläserklirren.

„Ich werde hinuntergehen und die Aufmerksamkeit des Umzugsleiters auf Ihren Balkon lenken“, sagte der eine.



„Nein, nein“, sagte der Alte, „ich will nicht in deinem Schoß liegen, nicht in den blauen Himmel hineinsehen; hast du denen im Cafe Kroner gesagt, dass man Leonore hierher schickt? Sie wird enttäuscht sein; du kennst sie nicht; Roberts Büroangestellte; ein liebes Kind, sie soll nicht um ihr Fest kommen; ich hab kein reines Herz und weiß genau, wie böse die Welt ist; ich fühle mich fremd, fremder als damals, wenn wir in den Anker am oberen Hafen gingen und dem Kellner, der Groll hieß, das Geld brachten; da unten formieren sie sich zum Aufmarsch – warmer Sommerabend, Dämmerung, Lachen klingt herauf – soll ich dir helfen, Liebste? Du weißt wohl nicht, dass du im Taxi die Handtasche auf meine Knie gelegt hast; schwer ist sie, aber nicht schwer genug – was willst du eigentlich mit dem Ding?“

„Ich will den Dicken da auf dem Schimmel erschießen. Siehst du ihn, kennst du ihn noch?“

„Glaubst du, ich würde ihn je vergessen? Er hat das Lachen in mir getötet, hat die verborgene Feder im verborgenen Uhrwerk zerbrochen; er hat den blonden Engel hinrichten lassen, Ediths Vater verschleppt, Groll und den Jungen, dessen Namen wir nie erfahren haben; er hat mich gelehrt, dass eine Handbewegung das Leben kostet; er hat aus Otto den gemacht, der nur noch Ottos Hülle war – und trotzdem: ihn würde ich nicht erschießen. Ich habe mich oft gefragt, warum ich in diese Stadt gekommen bin; um reich zu werden? Nein, du weißt es; weil ich dich liebte? Nein – denn ich kannte dich noch nicht und konnte dich noch nicht lieben; aus Ehrgeiz? Nein. Ich glaube, ich wollte nur über sie lachen, wollte ihnen am Ende zurufen: es war doch nicht ernst; wollte ich Kinder haben? Ja. Ich hatte sie; zwei starben jung, einer fiel, fremd war er mir, noch fremder als die jungen Herren, die da unten jetzt ihre Fahnen hochnehmen; und der andere Sohn? Wie geht es dir, Vater? Gut und dir? Gut, danke, Vater. Kann ich etwas für dich tun? Nein, danke, ich habe alles. Abtei Sankt Anton? Verzeih, dass ich lache, Liebste; Staub; erregt nicht einmal Sentimentalität, viel weniger noch Gefühle; willst du noch Wein?“ – „Ja, bitte.“

Ich verlass mich auf den Paragraphen einundfünfzig, Liebster; dehnbar sind die Gesetze – sieh da unten, unser alter Freund Nettlinger; klug genug, nicht in Uniform zu erscheinen, aber doch da, um Hände zu drücken, Schultern zu klopfen, Fahnen zu betasten; wenn schon, dann würde ich lieber diesen Nettlinger erschießen – aber vielleicht überlege ich es mir und schieße nicht in das Museum da unten; der Mörder meines Enkels sitzt nebenan auf dem Balkon – siehst du ihn: dunkel gekleidet, anständig, anständig; der denkt anders, handelt anders, plant anders; der hat was gelernt; spricht fließend Französisch, Englisch, kann Latein und Griechisch und hat schon das Lesezeichen für morgen in seinem Schott zurechtgemacht: fünfzehnter Sonntag nach Pfingsten; ‚welche Präfation?‘ hat er ins Schlafzimmer seiner Frau hinübergerufen. Ich erschieß nicht den Dicksack da auf dem Schimmel; ich schieß nicht ins Museum – nur eine kleine Wendung, und höchstens sechs Meter Entfernung, eine vorzügliche Treffsicherheit; wozu soll mein siebzigjähriges Leben sonst noch nütze sein; nicht Tyrannenmord, sondern Anständigenmord – der Tod wird das große Staunen in sein Gesicht zurückbringen, komm, zittere nicht, Liebster, ich will das Lösegeld zahlen; das macht mir Spaß, ruhig atmen, ins Ziel gehen, Druckpunkt nehmen – du brauchst dir nicht die Ohren zuzuhalten, Liebster, das knallt nicht lauter, als wenn ein Luftballon platzt; Vigil des fünfzehnten Sonntags nach Pfingsten…

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