Книга: Billard um halb Zehn / Бильярд в половине десятого. Книга для чтения на немецком языке
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Kapitel XIII

Die eine war blond, die andere braun, beide waren schlank, beide lächelnd, und beiden war rotbrauner Tweed zu kleidsamer Tracht angemessen worden, beiden wuchs aus schneeweißem Kragen der hübsche Hals wie der Schaft einer Blume hervor; sie sprachen es fließend und akzentfrei: Französisch und Englisch, Flämisch und Dänisch und sprachen fließend und akzentfrei auch ihre Muttersprache: Deutsch; hübsche Nonnen des Nichts, auch des Lateinischen mächtig, warteten sie im Personalraum hinter der Kasse, bis die Besucher zu Gruppen von zwölf sich an der Barriere gesammelt hatten; sie drückten mit spitzem Absatz ihre Zigarettenkippen aus, erneuerten mit gekonntem Schwung ihr Lippenrot, bevor sie nach draußen traten, die Nationalität der Führungssüchtigen zu ermitteln; lächelnd die Frage nach Herkunftsland und Muttersprache, akzentfrei, und die Führungssüchtigen taten es mit erhobenem Finger kund: sieben sprachen Englisch, zwei Flämisch, drei Deutsch; dann noch die fröhlich gestellte Frage, wer des Lateinischen mächtig sei; zögernd hob Ruth ihren Finger; nur einer? Sanft nur erschien auf dem hübschen Gesicht ein Schimmer von Trauer über die geringe Ausbeute an humanistisch Geschulten, nur eine konnte die metrische Exaktheit würdigen, mit der sie den Grabspruch zitieren würde? Lächelnd, die Stablampe wie einen Degen gesenkt, stieg sie als erste die Treppe hinab; es roch nach Beton und Mörtel, roch gruftig, obwohl ein leichtes Surren vom Vorhandensein einer Klimaanlage kündete; akzentfrei erklang es: englisch, flämisch und deutsch; das Ausmaß grauer Quadern wurde bekannt gegeben, die Breite der römischen Straße – dort eine Treppe aus dem zweiten Jahrhundert – ein Thermalbad aus dem vierten – sehen Sie, dort haben gelangweilte Wachtposten sich ein Mühlespiel in einen Sandsteinquader geritzt – (wie hatte der Kursleiter gesagt? – ‚immer das Menschliche betonen‘) – hier haben römische Kinder Murmeln gespielt, beachten Sie bitte die makellose Verfugung der Pflastersteine; eine Abflussrinne: römisches Waschwasser, römisches Spülwasser war diese graue Rinne hinabgeflossen; die Reste eines kleinen, privaten Venustempels, den der Herr Statthalter sich errichten ließ; im Neonlicht das Grinsen der Geführten, flämisches, englisches Grinsen – grinsten die drei jungen Deutschen tatsächlich nicht? Woher die Tiefe der Fundamente zu erklären sei? Nun, der Boden war zur Bauzeit mit ziemlicher Sicherheit noch sumpfig, Grundwasser des Stroms gurgelten grün um graues Gestein. Hören Sie das Fluchen germanischer Sklaven? Schweiß floss über blonde Brauen in helle Gesichter, von dort in blonde Barte; barbarische Münder formten im Stabreim den Fluch: ‚Rache den ruchlosen Römern wird Wotan aus Wunden erwachsen lassen, wehe, wehe, wehe‘; „Geduld, meine Damen und Herren, nur noch wenige Schritte, hier noch die Überreste eines Gerichtsgebäudes, und da sind sie: Die römischen Kindergräber.“

(‚Hier, hatte der Kursleiter gesagt, treten Sie als erste schweigend ins Rund und warten, bevor Sie mit den Erklärungen beginnen, die erste Welle der Ergriffenheit ab; es ist reine Instinktsache, meine Damen, wie lange Ihr ergriffenes Schweigen hier dauern muss, hängt wohl auch von der Zusammensetzung der Gruppe ab; lassen Sie sich keinesfalls auf eine Diskussion über die Tatsache ein, dass es sich ja nicht um römische Kindergräber, sondern nur um Grabsteine handelt, die nicht einmal an dieser Stelle gefunden wurden.‘)

Im Halbrund waren die Grabplatten an graue Mauern gelehnt; überrascht, nachdem die erste Ergriffenheit abgeklungen war, blickten die Besucher nach oben: dunkelblauer Abendhimmel war oberhalb der Neonlampen zu sehen; funkelte da nicht sogar ein früher Stern oder war es nur das Blinken eines vergoldeten, versilberten Knopfs vom Geländer, das sich durch den runden Lichtschacht in fünf Windungen sanft nach oben schraubte?

„Dort, wo die erste Windung beginnt – Sie sehen den weißen Querstrich im Beton? —, lag ungefähr das Straßenniveau zur römischen Zeit – bei der zweiten Windung – Sie sehen auch dort den weißen Querstrich im Beton, nicht wahr – das mittelalterliche und schließlich am Beginn der dritten Windung – ich kann mir den Hinweis auf den weißen Querstrich wohl ersparen – das heutige Straßenniveau – und nun, meine Damen und Herren, zu den Inschriften.“

Ihr Gesicht wurde steinern wie das einer Göttin, leicht winkelte sie den Arm hoch, hielt die Stablampe wie einen Fackelstumpf nach oben

DURA QUIDEM FRANGIT PARVORUM MORTE PARENTES

CONDICIO RAPIDO PRAECIPITATA GRADU

SPES AETERNA TAMEN TRIBUET SOLACIA LUCTUS…

Ein Lächeln zu Ruth hin, der einzigen, die die Ursprache zu würdigen wusste; eine winzige Bewegung zum Kragen der Tweedjacke, den sie zurechtzupfte; die Stablampe ein wenig gesenkt, bevor sie die Übersetzung rezitierte:

Zwar trifft ein hartes Geschick die Eltern

mit dem raschen, überstürzt eintretenden Tod der Kleinen,

doch in der Trauer über das zarte Alter,

das nun dem Paradiese gehört,

gibt Trost die ewige Hoffnung.

Sechs Jahre und neun Monate alt birgt dieser Grabhügel dich,

Desideratus.

Siebzehn Jahrhunderte alte Trauer fiel in die Gesichter, fiel in die Herzen, lähmte sogar die Kaumuskeln des flämischen Herrn in mittleren Jahren, er ließ den Unterkiefer hängen, während die Zunge rasch den Kaugummi in einen stillen Winkel beförderte; Marianne brach in Tränen aus, Joseph drückte ihren Arm. Ruth legte ihr die Hand auf die Schulter, noch immer steinernen Gesichts zitierte die Fremdenführerin:

Hard a fate meets with the parents…



Gefährlich der Augenblick, wenn man aus dunklen Grüften wieder nach oben stieg, ans Licht, in die Luft, den sommerlichen Abend; wenn uralter Todesschmerz, tief in die Herzen gesenkt, sich mit der Ahnung von Venusmysterien mischte, wenn einsame Touristen den Kaugummi vor den Kassenschalter spuckten und in gebrochenem Deutsch ein Rendezvous zu verabreden versuchten; Tanz im Hotel Prinz Heinrich; Spaziergang, Abendessen – a lonely feeling, Fräulein; da war man gezwungen, vestalisch zu werden, keinen Flirt anzulegen und jegliche Einladung strikt abzulehnen; nicht anfassen, bitte, nur ansehen; no, Sir, no, no – und spürte doch selbst den Hauch der Verwesung, spürte Mitleid mit traurigen Ausländern, die kopfschüttelnd ihren Liebeshunger in jene Gefilde trugen, wo Venus noch herrschte und, des Wechselkurses kundig, ihren Tarif in Dollars und Pfunden, in Gulden, Franken und Mark zu verkünden sich nicht schämte.

Da riss der Kassierer die Eintrittskarten von der Rolle, als führte die schmale Eingangspforte ins Kino, da blieb einem kaum Zeit, im Personalzimmer rasch ein paar Züge zu tun, einen Bissen ins belegte Brot, einen Schluck aus der Thermosflasche, und immer wieder die schwierige Entscheidung, ob es sich lohne, den Zigarettenstummel aufzubewahren, oder ob es angebracht sei, ihn mit spitzem Absatz zu töten; noch einen Zug, noch einen, während die linke Hand den Lippenstift schon aus der Handtasche angelte, während das Herz sich trotzig entschloss, den vestalischen Schwur zu brechen, während der Kassierer den Kopf in die Tür steckte: „Kind, Kind, zwei Gruppen warten schon, beeil dich – die römischen Kindergräber sind ja fast ein Kassenschlager“, lächelnd an die Barriere getreten, die Frage nach Nationalität und Muttersprache: vier sprachen Englisch, einer Französisch, eine Holländisch und diesmal sechs Deutsche; die Stablampe gesenkt wie einen Degen, stieg sie in die dunkle Gruft hinab, von uraltem Liebeskult zu künden, uralten Todesschmerz zu entziffern.

Marianne weinte noch, als sie an der Schlange der Wartenden vorbei nach draußen gingen; beschämt wandten wartende Deutsche, Engländer und Holländer sich von dem Mädchengesicht ab; welch schmerzliches Geheimnis bargen die dunklen Keller dort unten? Wo hatte man je gelesen, dass Kulturdenkmäler Tränen hervorrufen konnten? Für sechzig Pfennig solch tiefe Bewegung, wie man sie im Kino nur nach sehr schlechten und nach sehr guten Filmen auf einzelnen Gesichtern bemerkte? Konnten Steine tatsächlich den einen zu Tränen rühren, während andere kaltblütig frischen Kaugummi in ihre Münder schoben, gierig Zigaretten anzündeten, in ihren Blitzlichtkameras den nächsten Film knipsbereit drehten, das Auge schon spähend aufs nächste Objekt gerichtet: Giebel eines bürgerlichen Wohnhauses aus dem fünfzehnten Jahrhundert, gleich dem Eingang gegenüber; knips, schon war der Giebel auf chemischer Basis verewigt…

„Langsam, langsam, meine Herrschaften“, rief der Kassierer von drinnen, „infolge des außerordentlichen Andrangs haben wir uns entschlossen, an einem Rundgang anstatt zwölf fünfzehn Besucher teilnehmen zu lassen; ich darf die nächsten drei Herrschaften bitten – sechzig der Eintritt, einszwanzig der Katalog.“

Immer noch an der Schlange der Wartenden vorbei, die sich an der Hausmauer entlang bis zur Straßenecke hin aufgestellt hatte; immer noch zeigte Mariannes Gesicht die Tränen, mit einem Lächeln erwiderte sie den heftigen Druck von Josephs Arm, dankte mit einem zweiten Lächeln für Ruths Hand auf der Schulter.

„Wir müssen uns beeilen“, sagte Ruth, „es sind nur noch zehn Minuten bis sieben, wir dürfen sie nicht warten lassen.“

„In zwei Minuten sind wir da“, sagte Joseph, „wir kommen schon pünktlich; Mörtel – der Geruch soll mir wohl auch heute nicht erspart bleiben – und Beton; wisst ihr übrigens, dass sie diese Entdeckung da unten Vaters Sprengeifer verdanken; als sie die alte Wache wegsprengten, brach unten ein Gewölbe durch und öffnete ihnen den Weg zu den alten Klamotten; es lebe das Dynamit – wie findest du übrigens unseren neuen Onkel, Ruth, spricht die Stimme des Blutes zu dir, wenn du ihn siehst?“

„Nein“, sagte Ruth, „die Stimme des Blutes spricht nicht zu mir, aber ich finde ihn nett; etwas trocken, etwas hilflos – wird er bei uns wohnen?“

„Wahrscheinlich“, sagte Joseph, „werden wir auch dort wohnen, Marianne?“

„Du willst in die Stadt ziehen?“

„Ja“, sagte Joseph, „ich will Statik studieren und in das ehrenwerte Geschäft meines Vaters eintreten, gefällt dir das nicht?“

Sie überquerten eine belebte Straße, gingen in einer stilleren weiter, Marianne blieb vor einem Schaufenster stehen, löste sich aus Josephs Arm, schüttelte Ruths Hand ab und betupfte ihr Gesicht mit einem Taschentuch; Ruth strich sich übers Haar, zupfte ihren Pullover zurecht.

„Ob wir elegant genug sind?“ fragte sie. „Ich möchte Großvater nicht kränken.“

„Ihr seid elegant genug“, sagte Joseph. „Wie gefällt dir mein Plan, Marianne?“

„Es ist mir nicht gleichgültig, was du tust“, sagte sie, „Statik zu studieren ist sicher gut, fragt sich, was du mit deinen Kenntnissen anfangen willst.“

„Bauen oder sprengen, ich weiß es noch nicht“, sagte Joseph.

„Dynamit ist doch sicher veraltet“, sagte Ruth, „es gibt bestimmt bessere Mittel; weißt du noch, wie lustig Vater war, als er noch sprengen durfte? So ernst ist er eigentlich erst, seitdem es nichts mehr zu sprengen gibt… wie findest du ihn, Marianne? Magst du ihn?“

„Ja“, sagte Marianne, „ich mag ihn sehr; ich hatte ihn mir schlimmer vorgestellt, kälter, und ich hatte fast Angst vor ihm, bevor ich ihn kannte, aber ich glaube, Angst ist das, was man am wenigsten vor ihm zu haben braucht; ihr werdet lachen, aber ich fühle mich geschützt in seiner Nähe.“

Joseph und Ruth lachten nicht; sie nahmen Marianne in die Mitte und gingen weiter; vor der Tür zum Cafe Kroner hielten sie an, die beiden Mädchen betrachteten sich noch einmal im Spiegelglas der Tür, die innen mit grüner Seide bespannt war, strichen sich noch einmal übers Haar, bevor Joseph ihnen lächelnd die Tür aufhielt.

„Mein Gott“, sagte Ruth, „habe ich einen Hunger, sicher hat Großvater uns was Gutes bestellt.“

Frau Kroner kam mit erhobenen Armen auf sie zu, an grüngedeckten Tischen vorbei, über den grünen Läufer; ihr silbriges Haar war in Unordnung, der Ausdruck ihres Gesichts kündigte Unheil an, ihre wässrigen Augen schimmerten feucht, ihre Stimme zitterte in ungespielter Erregung.

„Sie wissen es also noch nicht?“ fragte sie.

„Nein“, sagte Joseph, „was?“

„Es muss etwas Schreckliches passiert sein; Ihre Großmutter hat die Feier abgesagt – vor wenigen Minuten rief sie an; Sie möchten ins Prinz Heinrich rüberkommen, auf Zimmer 212. Ich bin nicht nur tief beunruhigt, sondern auch sehr enttäuscht, Herr Fähmel, ich würde sagen beleidigt, wenn ich nicht annehmen müsste, dass gewichtige Gründe vorliegen; für einen Kunden, der fünfzig, einundfünfzig Jahre Stammgast ist, hat man natürlich eine Überraschung bereitet, ein Werk – nun, ich werde es Ihnen zeigen; und was soll ich der Presse sagen und dem Rundfunk, die gegen neun hier erscheinen wollen, nach der intimen Feier – was soll ich sagen?“

„Hat Ihnen meine Großmutter den Grund nicht genau gesagt?“

„Unpässlichkeit – muss ich annehmen, dass es die – die chronische, eh – Unpässlichkeit Ihrer Großmutter ist?“

„Wir wissen von nichts“, sagte Joseph. „Bitte würden Sie die Geschenke und Blumen hinüberbringen lassen?“

„Ja, gern, aber wollen nicht Sie sich wenigstens meine Überraschung ansehen?“

Marianne stieß ihn an, Ruth lächelte, und Joseph sagte: „Ja gern, Frau Kroner.“

„Ich war ja noch ein junges Ding“, sagte Frau Kroner, „als Ihr Großvater in die Stadt kam, gerade vierzehn, und tat damals Dienst hier vorn am Küchenbüfett; später hab ich servieren gelernt, und was glauben Sie, wie oft ich ihm morgens den Frühstückstisch gedeckt habe – wie oft ich den Eierbecher wegnahm und ihm die Marmelade hinschob, und wenn ich mich dann vorbeugte, um den Käseteller wegzunehmen, warf ich einen Blick auf den Zeichenblock; mein Gott, man nimmt doch Anteil am Leben seiner Kunden, glauben Sie nicht, dass wir Geschäftsleute so gefühllos sind – und denken Sie, ich hätte vergessen, wie er damals über Nacht berühmt geworden ist und den großen Auftrag bekam; vielleicht denken die Kunden: man geht ins Cafe Kroner, bestellt sich was, zahlt und geht; aber glauben Sie doch nicht, dass so ein Schicksal spurlos an einem vorübergeht…“

„Ja, natürlich“, sagte Joseph.

„Oh, ich weiß, was Sie denken: die Alte soll uns doch verschonen, aber ist es zuviel verlangt, wenn ich Sie bitte, sich meine Überraschung einmal anzusehen und Ihrem Großvater auszurichten, dass ich mich freuen würde, wenn er käme und es sich ansähe? Für die Zeitung ist es schon fotografiert worden.“

Sie gingen langsam hinter Frau Kroner her, über den grünen Läufer zwischen den grüngedeckten Tischen dahin, blieben stehen, als Frau Kroner stehenblieb, und verteilten sich unwillkürlich um den großen viereckigen Tisch, der mit einem Leinentuch bedeckt war; das Tuch verhüllte etwas, das von ungleichmäßiger Höhe zu sein schien.

„Es trifft sich gut“, sagte Frau Kroner, „dass wir zu vieren sind; darf ich Sie bitten, je eine Ecke des Tuchs in die Hand zu nehmen und, wenn ich ‚hoch‘ sagte, es gleichmäßig hochzuheben.“

Marianne schob Ruth auf die noch unbesetzte linke Ecke zu; sie nahmen jeder ein Ende des Tuchs in die Hand. „Hoch“, sagte Frau Kroner, und sie hoben das Tuch hoch; die beiden Mädchen kamen herüber, legten die Ecken übereinander, und Frau Kroner faltete das Tuch sorgfältig zusammen.

„Mein Gott“, sagte Marianne, „das ist ja ein naturgetreues Modell von Sankt Anton.“

„Nicht wahr?“ sagte Frau Kroner, „sehen Sie hier: nicht einmal das Mosaik über dem Haupteingang haben wir vergessen – und da der Weingarten.“

Das Modell war nicht nur maßstab – , es war auch farbgerecht: dunkel die Kirche, hell die Wirtschaftsgebäude, rot das Dach des Pilgerhauses, bunt die Fenster des Refektoriums.

„Und das Ganze“, sagte Frau Kroner, „ist nicht Zuckerwerk oder Marzipan, sondern Kuchen; unser Geburtstagsgeschenk für den Herrn Geheimrat – das ist feinster Baumkuchenteig. Glauben Sie nicht, dass Ihr Großvater eben herüberkommen und es sich anschauen könnte, bevor wir es ihm ins Atelier bringen?“

„Bestimmt“, sagte Joseph, „er wird herüberkommen und es sich anschauen; darf ich Ihnen zunächst in seinem Namen danken; es müssen ernste Gründe sein, die ihn veranlasst haben, die Feier abzusagen, und Sie werden verstehen…“

„Ich verstehe durchaus, dass Sie jetzt gehen müssen – nein, bitte, breiten Sie das Tuch nicht wieder drüber, Fräulein – das Fernsehen hat sich angesagt.“

„Eins möchte ich jetzt können“, sagte Joseph, als sie über den Platz vor Sankt Severin gingen, „lachen oder weinen, aber ich kann beides nicht.“

„Ich weiß nur, was ich eher könnte: weinen“, sagte Ruth, „aber ich tu’s nicht. Was sind das für Leute? Was ist das für ein Trubel – was machen sie mit den Fackeln?“

Lärm herrschte, Pferdegetrappel, Wiehern ertönte, kommandogewohnte Stimmen forderten zum Sammeln auf, Blasinstrumente gaben letzte Probetöne ab; ein nicht sehr lautes, sprödes kleines Geräusch brach in den Lärm wie etwas sehr Fremdes ein.

„Mein Gott“, sagte Marianne ängstlich, „was war das?“

„Das war ein Schuss“, sagte Joseph.



Sie erschrak, als sie durchs Stadttor in die Modestgasse kam; die Gasse war leer; keine Lehrjungen, keine Nonnen, keine Lastwagen, kein Leben auf der Straße; nur der weiße Kittel von Frau Gretz da hinten vor dem Laden, rosige Arme schoben mit dem Schrubber Seifenschaum vor sich her; fest verschlossen war das Druckereitor, als würde in alle Ewigkeit nie mehr Erbauliches auf weißes Papier gedruckt; mit gespreizten Läufen, die Wunde in der Flanke schwarz verkrustet, lag der Keiler auf der Treppe, wurde langsam ins Innere des Ladens gezogen; Gretzens rotes Gesicht zeigte an, wie schwer das Tier war; nur zwei von drei Klingeln hatten geantwortet, nicht im Haus Numero sieben, nicht im Haus Numero acht, nur im Cafe Kroner. „Dringend Herr Dr. Fähmel?“ „Nicht anwesend. Die Feier ist abgesagt. Fräulein Leonore? Man erwartet Sie im Hotel Prinz Heinrich.“

Heftig hatte der Eilbote bei ihr geklingelt, während sie im Bad saß; das wilde Geräusch verhieß nichts Gutes, sie stieg aus dem Bad, warf den Bademantel über, wickelte sich ein Handtuch ums nasse Haar, ging zur Tür und nahm den Eilbrief in Empfang; mit seinem gelben Stift hatte Schrit die Adresse geschrieben, den Umschlag rot überkreuzt, und gewiss war seine achtzehnjährige Tochter mit dem Fahrrad zur Post gehetzt worden; dringend.

‚Liebes Fräulein Leonore, versuchen Sie sofort Herrn Fähmel zu erreichen; die gesamten statischen Berechnungen für das Bauvorhaben x 5 sind falsch; Herr Kanders, mit dem ich soeben telefonierte, hat außerdem noch die – falschen – Unterlagen direkt an den Auftraggeber gesandt, im Gegensatz zu unseren üblichen Usancen; die Sache ist so dringend, dass ich heute abend noch mit dem D-Zug herunterkomme, falls ich bis 20 Uhr nicht Bescheid von Ihnen habe, dass in der Angelegenheit etwas unternommen worden ist; wie umfangreich und wichtig das Bauvorhaben x 5 ist, brauche ich Ihnen gewiss nicht mitzuteilen. Herzlich Ihr Schrit.‘



Zweimal schon war sie am Hotel Prinz Heinrich vorbei, wieder zurückgegangen, bis kurz vor Gretzens Laden in die Modestgasse hinein, war wieder umgekehrt; sie hatte Angst vor dem Krach, den es geben würde; der Samstag war ihm heilig, er duldete Störungen nur, wenn es um etwas Privates ging, aber Geschäftliches duldete er am Samstag nicht; noch klang ihr das ‚Dumme Stück‘ im Ohr; noch war es nicht sieben und Schrit in wenigen Minuten telefonisch erreichbar; es war gut, dass der Alte die Feier abgesagt hatte; Robert Fähmel essen oder trinken zu sehen, wäre ihr wie eine Entweihung vorgekommen; ängstlich dachte sie an das Bauvorhaben x 5; das war nichts Privates, war auch nicht ‚Haus für einen Verleger am Waldrand‘, nicht ‚Haus für einen Lehrer am Flussufer‘; x 5 – sie wagte kaum, es zu denken, so geheim war’s, lag tief im Stahlschrank; ihr stockte der Atem, hatte er nicht sogar mit Kanders fast eine Viertelstunde deswegen telefoniert? Sie hatte Angst.

Immer noch zerrte Gretz an dem Keiler herum, bekam das gewaltige Tier nur ruckweise über die Treppe; ein Bote mit einem riesigen Blumenkorb klingelte am Druckereitor, der Pförtner erschien, nahm den Blumenkorb in Empfang, schloss das Tor wieder; enttäuscht blickte der Bote auf das Trinkgeld in seiner flachen Hand; ‚ich werde es ihm sagen‘, dachte sie, ‚dem netten Alten, dass man seiner Anweisung, jedem Boten zwei Mark Trinkgeld zu geben, offenbar nicht folgt; es glänzte nicht von Silber in des Boten Hand, nur von mattem Kupfer.‘

Mut, Leonore! Mut, die Zähne zusammengebissen, überwinde deine Angst und geh ins Hotel. Sie drückte sich noch einmal um die Ecke, ein Mädchen mit einem Fresskorb trat ins Druckereitor; gleichfalls blickte es auf seine flache Hand; ‚verfluchter Schuft von Portier‘, dachte Leonore, ‚das werd ich Herrn Fähmel aber sagen.‘

Noch zehn Minuten bis sieben; ins Cafe Kroner eingeladen, aber zum Hotel Prinz Heinrich bestellt, und sie würde mit geschäftlichen Botschaften kommen, die er am heiligen Samstag hasste; würde x 5 ihn veranlassen, ausnahmsweise anders zu reagieren? Sie schüttelte den Kopf, als sie mit blindem Mut endlich die Tür aufstieß, erschrocken spürte, dass die Tür von innen aufgehalten wurde.

Kind, Kind, auch bei dir werde ich mir eine private Bemerkung gestatten; komm nur näher, hoffentlich ist die Ursache deiner Schüchternheit nicht im Zweck, sondern nur in der Tatsache deines Hierseins zu suchen; ich hab schon viele junge Mädchen hier reinkommen sehen, aber so was wie dich noch nicht; du gehörst nicht hierher, es gibt gegenwärtig nur einen einzigen Kunden im Haus, zu dem ich dich lassen werde, ohne mir eine private Bemerkung zu gestatten: den Fähmel; ich könnte dein Großvater sein, und du wirst mir eine private Bemerkung nicht übelnehmen: was suchst du in dieser Räuberhöhle; streu Brotbrocken aus, damit du den Rückweg findest; Kind, du hast dich verirrt: wer beruflich hier zu tun hat, sieht anders aus als du, und wer privat hier zu tun hat, erst recht; tritt nur näher. „Dr. Fähmel? Ja, Sekretärin? Dringend – warten Sie, Fräulein, ich lass ihn ans Telefon rufen… Hoffentlich wird Sie der Lärm da draußen nicht stören.“

„Leonore? Ich freue mich, dass mein Vater Sie eingeladen hat, und entschuldigen Sie bitte, was ich heute morgen gesagt habe, Leonore, ja? Mein Vater erwartet Sie auf Zimmer 212. Ein Brief von Herrn Schrit? Alle Unterlagen für x 5 falsch errechnet? Ja, ich werde mich drum kümmern, Schrit anrufen. Jedenfalls danke, Leonore, und bis nachher.“

Sie legte den Hörer auf, ging auf den Portier zu, öffnete schon den Mund, um nach dem Weg zu Fähmels Zimmer zu fragen, als ein fremdes, nicht sehr lautes, sprödes Geräusch sie erschreckte.

„Mein Gott“, sagte sie, „was war das?“

„Das war ein Pistolenschuss, mein Kind“, sagte Jochen.



Rot über grün, weiß über grün; Hugo stand an die weißlackierte Türfüllung gelehnt, hatte die Hände auf dem Rücken gekreuzt; die Figuren erschienen ihm weniger präzis, der Rhythmus der Kugeln gestört; waren es nicht dieselben Kugeln, derselbe Tisch, bestes Fabrikat, ständig aufs beste gepflegt? Und war Fähmels Hand nicht noch leichter geworden, seine Stöße nicht noch genauer, wenn er eine Figur aus dem grünen Nichts schlug? Und doch erschien es Hugo, als wäre der Rhythmus der Kugeln gestört, die Präzision der Figuren geringer; war es Schrella, der die ständige Gegenwärtigkeit der Zeit mitgebracht, den Zauber gelöst hatte: das war hier, das war heute, war achtzehnuhrvierundvierzig, am Samstag, den sechsten September 1958; da wurde man nicht dreißig Jahre zurück, vier vor, wieder vierzig zurück und dann in die Gegenwart geworfen; das war ständige Gegenwart, die der Sekundenzeiger vor sich herschob: hier, heute, jetzt, während die Unruhe aus dem Speisesaal herüberdrang: ‚Zahlen, Ober, zahlen‘; alles drängte zum Aufbruch, zum Feuerwerk, an die Fenster, den Aufmarsch zu sehen; drängte zu den römischen Kindergräbern; sind die Blitzlichter wirklich in Ordnung? ‚Wussten Sie nicht, dass M. Minister bedeutet?‘ ‚Schick, nicht wahr?‘ ‚Zahlen, Ober, zahlen.‘

Uhren schlugen nicht vergebens, Zeiger bewegten sich nicht vergebens: sie häuften Minute auf Minute, addierten sie zu viertel und halben Stunden und würden auf Jahr und Stunde und Sekunde genau abrechnen, klang nicht im Rhythmus der Kugeln die Frage: ‚Robert, wo bist du; Robert, wo warst du; Robert, wo bist du gewesen?‘ Und gab Robert nicht mit seinen Stößen die Frage zurück: ‚Schrella, wo bist du; Schrella, wo warst du; Schrella, wo bist du gewesen?‘ War dieses Spiel nicht eine Art Gebetsmühle, eine mit Stöcken und Kugeln über grünem Filz geschlagene Litanei? Wozuwozuwozu und Erbarme dich unser! Erbarme dich unser! Schrella lächelte jedesmal, schüttelte den Kopf, wenn er vom Rand zurücktrat und Robert die von den Kugeln gebildete Figur überließ. Unwillkürlich schüttelte auch Hugo nach jedem Stoß den Kopf: verflogen der Zauber, geringer die Präzision, gestört der Rhythmus, während die Uhr so genau das Wann? beantwortete: achtzehnuhreinundfünfzig am 6. September 1958.

„Ach“, sagte Robert, „lassen wir’s doch, wir sind nicht mehr in Amsterdam.“

„Ja“, sagte Schrella, „lassen wir’s, du hast recht. Brauchen wir den Jungen noch?“

„Ja“, sagte Robert, „ich brauche ihn noch, oder möchtest du lieber gehen, Hugo? Nein? Bitte bleib, stell die Stöcke in den Ständer, schließ die Kugeln weg, und hol uns was zu trinken – nein, bleib, mein Sohn; ich wollte dir noch was zeigen: sieh hier, ein ganzes Paket von Papieren, durch Stempel und Unterschriften sind sie zu Dokumenten geworden, nur eins fehlt noch, Hugo: deine Unterschrift unter dieses Papier – wenn du sie druntersetzt, wirst du mein Sohn sein! Hast du dir meine Mutter und meinen Vater oben angesehen, als du ihnen den Wein brachtest; sie werden deine Großeltern sein, Schrella dein Onkel, Ruth und Marianne Schwestern und Joseph dein Bruder; du wirst der Sohn, den Edith mir nicht mehr schenken konnte; was wird der Alte sagen, wenn ich ihm zum Geburtstag einen neuen Enkel vorstelle, der Ediths Lächeln auf dem Gesicht trägt?… Ob ich den Jungen noch brauche, Schrella? Wir brauchen ihn und wären froh, wenn er uns brauchte; besser noch: er fehlt uns… hörst du, Hugo, du fehlst uns. Du kannst nicht Ferdis Sohn sein und bist doch von seinem Geiste… Sei still, Junge, weine nicht, geh auf dein Zimmer und lies dir das durch; sei vorsichtig, wenn du durch die Flure gehst, Vorsicht, mein Sohn!“

Schrella zog den Vorhang auf, blickte auf den Platz draußen; Robert hielt ihm die Zigarettenschachtel hin, Schrella gab Feuer; sie rauchten beide.

„Hast du das Hotelzimmer noch nicht geräumt?“ – „Nein.“

„Willst du nicht bei uns wohnen?“

„Ich weiß noch nicht“, sagte Schrella, „ich habe Angst vor Häusern, in denen man sich einrichtet und sich von der banalen Tatsache überzeugen lässt, dass das Leben weitergeht und die Zeit einen versöhnt; Ferdi würde nur eine Erinnerung sein, mein Vater nur ein Traum, und doch haben sie Ferdi hier getötet, und sein Vater ist von hier spurlos verschwunden; die Erinnerung an die beiden ist nicht einmal in den Listen irgendeiner politischen Gruppe enthalten, denn sie trieben keine Politik; nicht einmal in den Trauergesängen der jüdischen Gemeinde wird ihrer gedacht, sie waren keine Juden; vielleicht lebt Ferdi wenigstens in den Gerichtsakten; nur wir beide denken an ihn, Robert, deine Eltern, und dieser alte Portier da unten – deine Kinder schon nicht mehr; ich kann in dieser Stadt nicht leben, weil sie mir nicht fremd genug ist, ich bin hier geboren, bin zur Schule gegangen; ich wollte die Gruffelstraße aus ihrem Bann erlösen, ich trug das Wort in mir, das ich nie aussprach, Robert, auch im Gespräch mit dir noch nie, das einzige, von dem ich mir für diese Welt etwas verspreche – ich werde es auch jetzt nicht aussprechen; vielleicht werde ich es dir am Bahnhof sagen können, wenn du mich an den Zug bringst.“

„Du willst heute noch fahren?“ fragte Robert.

„Nein, nein, nicht heute, das Hotelzimmer ist genau das richtige: wenn ich die Tür hinter mir schließe, ist diese Stadt mir so fremd wie alle anderen. Ich kann mir dort denken, dass ich bald aufbrechen muss, um irgendwo meinen Sprachunterricht zu geben, in einer Schulklasse, wo ich Rechenaufgaben von der Tafel abwische, um mit Kreide daran zu schreiben: ‚Ich binde, ich band, ich habe gebunden, ich werde binden, ich hatte gebunden – du bindest, du bandest‘; ich liebe die Grammatik, wie ich Gedichte liebe. Vielleicht glaubst du, ich möchte nicht hier leben, weil ich keine politische Chance für dieses Land sehe, ich glaube eher, dass ich hier nicht leben könnte, weil ich immer vollkommen unpolitisch war und es noch bin“ – er deutete auf den Platz draußen und lachte – , „es sind nicht die da unten, die mich abschrecken; ja, ja, ich weiß alles und ich seh sie da unten, Robert: Nettlinger, Wakiera; ich habe nicht Angst, weil es die da unten gibt, sondern weil es die anderen nicht gibt; welche? Die, die das Wort manchmal denken, meinetwegen nur flüstern; ich hab’s mal von einem alten Mann in Hyde Park gehört, Robert: Wenn ihr an ihn glaubt, warum tut ihr nicht, was er befohlen hat? Dumm, nicht wahr, unrealistisch, Robert? Weide meine Lämmer, Robert aber sie züchten nur Wölfe. Was habt ihr aus dem Krieg mit nach Hause gebracht, Robert? Dynamit? Ein herrliches Zeug zum Spielen, ich verstehe deine Leidenschaft gut, Hass auf die Welt, in der für Ferdi und Edith kein Platz war, kein Platz für meinen Vater und für Groll und für den Jungen, dessen Namen wir nie erfahren haben, nicht für den – Polen, der gegen Wakiera die Hand erhob. Du sammelst also statische Unterlagen, wie andere Barockmadonnen sammeln, schaffst dir eine Kartei aus Formeln, und auch mein Neffe, Ediths Sohn, ist des Mörtelgeruchs überdrüssig, sucht die Formel für die Zukunft anderswo als im geflickten Gemäuer von Sankt Anton. Was wird er finden? Wirst du ihm die Formel geben können? Wird er sie im Gesicht seines neuen Bruders finden, dessen Vater du werden willst? Du hast recht, Robert, man ist nicht Vater, sondern wird es; die Stimme des Blutes ist erlogen, einzig die andere ist wahr – das ist der Grund, weshalb ich nicht geheiratet habe, ich hatte nicht den Mut, darauf zu vertrauen, dass ich Vater werden würde, ich hätte es nicht ertragen können, wenn meine Kinder mir so fremd geworden wären, wie Otto deinen Eltern war; nicht einmal der Gedanke an meine Mutter und meinen Vater gab mir genug Mut, und du weißt noch nicht, was Joseph und Ruth einmal werden, von welchem Sakrament sie kosten – nicht einmal bei Kindern von Edith und dir bist du sicher; nein, nein, Robert, du wirst verstehen, dass ich nicht mein Hotelzimmer räume und mich ansiedle in dem Haus, in dem Otto gelebt hat und Edith gestorben ist, ich könnte es nicht ertragen, jeden Tag den Briefkasten zu sehen, in den der Junge deine Zettelchen geworfen hat – ist es noch der alte Briefkasten?“

„Nein“, sagte Robert, „die ganze Tür ist erneuert worden, sie war von Bombensplittern durchsiebt – nur das Pflaster ist das alte – seine Füße haben es berührt.“

„Du denkst daran, wenn du darüber gehst?“

„Ja“, sagte Robert, „ich denke daran, und vielleicht ist es einer der Gründe, weshalb ich statische Formeln sammle – warum bist du nicht früher zurückgekommen?“

„Weil ich Angst hatte, die Stadt könnte mir nicht fremd genug sein; zweiundzwanzig Jahre bilden ein gutes Polster, und was wir uns zu sagen haben, Robert, findet es nicht auf Postkarten Platz? Ich würde gern in deiner Nähe sein, aber nicht hier; ich habe Angst, und die Menschen, die ich vorfinde – täusche ich mich, wenn ich sie nicht weniger schlimm finde als die, die ich damals verließ?“

„Wahrscheinlich täuschst du dich nicht.“

„Was ist aus so Leuten wie Enders geworden? Erinnerst du dich an ihn, den Rothaarigen? Er war nett, sicher kein Gewaltmensch. Was haben Leute wie er im Krieg gemacht, und was machen sie heute?“

„Vielleicht unterschätzt du Enders; er war nicht nur nett, er war – nun, er hat nie vom Sakrament des Büffels gekostet, warum es nicht so einfach sagen, wie Edith es sagte? Enders ist Priester geworden; er hat nach dem Krieg ein paar Predigten gehalten, die mir unvergesslich sind; es würde schlecht klingen, wenn ich seine Worte wiederholte, aber wenn er sie sagte, klang es gut.“

„Was macht er jetzt?“

„Sie haben ihn in ein Dorf gesteckt, das nicht einmal Bahnanschluss hat; da predigt er über die Köpfe der Bauern, die Köpfe der Schulkinder hinweg; sie hassen ihn nicht, verstehen ihn einfach nicht, verehren ihn sogar auf ihre Weise wie einen liebenswürdigen Narren; sagt er ihnen wirklich, dass alle Menschen Brüder sind? Sie wissen es besser und denken wohl heimlich: ‚Ist er nicht doch ein Kommunist?‘ Mehr fällt ihnen dann nicht ein; die Anzahl der Schablonen hat sich verringert, Schrella; niemand wäre auf die Idee gekommen, deinen Vater für einen Kommunisten zu halten, nicht einmal Nettlinger war so dumm – heute würden sie deinen Vater nicht anders einordnen können. Enders würde die Lämmer weiden, aber man gibt ihm nur Böcke; er ist verdächtig, weil er die Bergpredigt so oft zum Gegenstand seiner Predigten macht; vielleicht wird man eines Tages entdecken, dass sie ein Einschiebsel ist, und wird sie streichen – wir wollen Enders besuchen, Schrella, und wenn wir mit dem Abendbus zur Bahnstation zurückfahren, werden wir mehr Verzweiflung als Trost mit zurücknehmen; der Mond ist mir vertrauter als dieses Dorf – wir werden ihn besuchen, Barmherzigkeit üben; man soll die Gefangenen besuchen – wie kamst du gerade auf Enders?“

„Ich dachte darüber nach, wen ich wohl wiedersehen möchte, du vergisst, dass ich von der Schule weg verschwinden musste, aber ich habe Angst vor Begegnungen, seitdem ich Ferdis Schwester gesehen habe.“ – „Du hast Ferdis Schwester gesehen?“

„Ja, sie hat die Limonadebude an der Endstation der Elf. Bist du nie dort gewesen?“

„Nein, ich habe Angst, die Gruffelstraße könnte mir fremd sein.“

„Sie war für mich fremder als alle Straßen in der Welt – geh nicht hin, Robert. Sind Trischlers wirklich tot?“

„Ja“, sagte Robert, „auch Alois; sie sind mit der ‚Anna Katharina‘ gesunken, Trischlers wohnten schon lange nicht mehr am Hafen; als die Brücke gebaut wurde, mussten sie dort weg, und die Mietwohnung in der Stadt war nichts für die beiden, sie brauchten Wasser und Schiffe; Alois wollte sie auf der ‚Anna Katharina‘ zu Freunden nach Holland bringen – der Kahn wurde bombardiert, Alois wollte seine Eltern aus den Kojen holen, aber es war zu spät – das Wasser schlug schon von oben rein, und sie kamen nicht mehr raus; es hat lange gedauert, bis ich ihre Spur gefunden habe.“

„Wo hast du’s erfahren?“

„Im Anker, ich bin jeden Tag dorthin gegangen und habe alle Schiffer gefragt – bis ich einen fand, der wusste, was mit der ‚Anna Katharina‘ passiert ist.“

Schrella zog den Vorhang zu, ging zum Tisch und drückte seine Zigarette im Aschenbecher aus. Robert folgte ihm.

„Ich glaube“, sagte er, „wir müssen jetzt zu meinen Eltern rauf – oder möchtest du lieber nicht zur Feier?“

„Nein“, sagte Schrella, „ich geh mit, aber wollen wir nicht auf den Jungen warten? Was macht eigentlich so einer wie Schweugel?“

„Interessiert es dich wirklich?“

„Ja, warum fragst du, ob es mich wirklich interessiert?“

„Hast du in deinen Hotelzimmern und Pensionen an Enders und Schweugel gedacht?“

„Ja, und an Grewe und Holten – sie waren die einzigen, die nicht mitmachten, wenn sie mich auf dem Heimweg überfielen – auch Drischka machte nicht mit… was machen sie, leben sie noch?“

„Holten ist tot, gefallen“, sagte Robert, „aber Schweugel lebt noch; er ist Schriftsteller, und ich lasse mich von Ruth verleugnen, wenn er mal abends anruft oder an der Haustür klingelt; ich finde ihn so unerträglich wie unergiebig; ich langweile mich einfach mit ihm; er redet immer von bürgerlich und nichtbürgerlich, und wahrscheinlich hält er sich für das letztere – was soll’s? Es interessiert mich einfach nicht; er hat mich auch schon mal nach dir gefragt.“

„Ach, und was ist aus Grewe geworden?“

„Er ist Parteimensch, aber frag mich nicht in welcher Partei; es ist auch unwichtig, das zu wissen. Und Drischka fabriziert ‚Drischkas Autolöwen‘, einen Markenartikel, der ihm sehr viel Geld einbringt. Du weißt noch nicht, was ein Autolöwe ist? Nun, wenn du ein paar Tage bleibst, wirst du es wissen; wer etwas auf sich hält, hat einen von Drischkas Löwen hinten im Auto auf der Fensterbank liegen – und du wirst in diesem Lande kaum jemand finden, der nichts auf sich hält… Das wird ihnen schon eingebleut, was auf sich zu halten; sie haben aus dem Krieg manches mitgebracht, die Erinnerung an Schmerz und Opfer, aber heute halten sie was auf sich – hast du nicht die Leute da unten in der Halle gesehen? Sie gingen zu drei verschiedenen Banketten: zu einem Bankett der linken Opposition, zu einem Bankett der Gemeinnützigsten aller Gemeinnützigen und zu einem Bankett der rechten Opposition – aber du müsstest schon ein Genie sein, wenn du herausfinden wolltest, wer von ihnen zu welchem Bankett geht.“

„Ja“, sagte Schrella, „ich habe dort unten gesessen und auf dich gewartet, da sammelten sich gerade die ersten Teilnehmer, und ich hörte was von Opposition; als erste kamen die Harmlosen, das Fußvolk der Demokratie, Geschaftlhuber von der Sorte, die man gar nicht so übel nennt; sie sprachen über Automarken und Wochenendhäuser und teilten einander mit, dass die französische Riviera anfange modern zu werden, gerade weil sie überlaufen sei, und dass es – allen entgegengesetzten Prognosen zum Trotz – jetzt anfange bei Intellektuellen Mode zu werden, mit Reisegesellschaften zu fahren. Nennt man das hierzulande reziproken Snobismus oder Dialektik? Du musst mich über solche Dinge aufklären; ein englischer Snob würde dir sagen: ‚Wenn Sie mir zehn Zigaretten geben, verkaufe ich Ihnen meine Großmutter‘ – die hier würden dir tatsächlich für nur fünf Zigaretten ihre Großmutter verkaufen; sie nehmen nämlich auch ihren Snobismus ernst; später sprachen sie über Schulen, die einen waren fürs Humanistische, die anderen waren dagegen; na schön. Ich lauschte, weil ich so gern etwas von wirklichen Sorgen erfahren hätte; immer wieder flüsterten sie einander ehrfürchtig den Namen des Stars zu, den sie an diesem Abend erwarteten. Kretz – hast du den Namen schon mal gehört?“

„Kretz“, sagte Robert, „ist sozusagen ein Star der Opposition.“

„Das Wort ‚Opposition‘ hörte ich immer wieder, aber aus ihrem Gespräch wurde mir nicht klar, wem ihre Opposition gilt.“

„Wenn sie auf Kretz warteten, müssen sie von der Linken gewesen sein.“

„Ich habe wohl recht gehört: dieser Kretz ist eine Art Berühmtheit, das, was man eine Hoffnung nennt?“

„Ja“, sagte Robert, „sie versprechen sich viel von ihm.“

„Ich habe ihn gesehen“, sagte Schrella, „er kam als letzter; wenn der eine Hoffnung ist, möchte ich wissen, was eine Verzweiflung sein könnte…; ich glaube, wenn ich mal jemand umbringen würde, dann ihn. Seid ihr denn alle blind? Der ist natürlich klug und gebildet, zitiert dir den Herodot im Original, und das klingt in den Ohren dieses Fußvolks, das seinen Bildungsfimmel nie los wird, natürlich wie göttliche Musik; aber ich hoffe, Robert, du würdest deine Tochter oder deinen Sohn nicht eine Minute mit diesem Kretz allein lassen; der weiß vor Snobismus ja gar nicht mehr, welches Geschlecht er hat. Die spielen Untergang, Robert, aber sie spielen ihn nicht gut, da fehlt nur das Largo, und du hast ein Begräbnis dritter Klasse…“

Das Klingeln des Telefons unterbrach Schrella, er folgte Robert, der in die Ecke ging und den Hörer abnahm.

„Leonore?“ sagte Robert, „ich freue mich, dass mein Vater Sie eingeladen hat, und entschuldigen Sie bitte, was ich heute morgen gesagt habe, Leonore, ja? Mein Vater erwartet Sie auf Zimmer 212. Ein Brief von Herrn Schrit? Alle Unterlagen für x 5 falsch errechnet? Ja, ich werde mich drum kümmern, Schrit anrufen. Jedenfalls danke, Leonore, und bis nachher.“

Robert legte den Hörer auf und wandte sich wieder Schrella zu:

„Ich glaube“, sagte er – aber ein fremdes, nicht sehr lautes, sprödes Geräusch unterbrach ihn.

„Mein Gott“, sagte Schrella, „das war ein Schuss.“

„Ja“, sagte Robert, „das war ein Schuss. Ich glaube, wir müssen jetzt nach oben gehen.“

Hugo las: ‚Verzichterklärung: Ich erkläre mich damit einverstanden, dass mein Sohn Hugo…‘; gewichtige Stempel darunter, Unterschriften, aber die Stimme, vor der er sich gefürchtet hatte, meldete sich nicht; welche Stimme war es gewesen, die ihm befohlen hatte, Mutters Blöße zu bedecken, wenn sie von ihren Streifzügen heimkehrte, auf dem Bett liegend die tödliche Litanei des Wozuwozuwozu murmelte, Mitleid hatte er gespürt, ihre Blöße bedeckt, ihr zu trinken gebracht, hatte sich, auf die Gefahr hin, von ihnen überfallen, geprügelt und Lamm Gottes gerufen zu werden, in den Laden geschlichen und zwei Zigaretten erbettelt; welche Stimme war es gewesen, die ihm befahl, mit So was sollte nicht geboren werden Canasta zu spielen; die ihn warnte, das Zimmer der Schafspriesterin zu betreten; die ihm jetzt eingab, das Wort vor sich hinzumurmeln: ‚Vater‘.

Um die Furcht, die ihn befiel, zu verringern, warf er andere Worte hinterher: Bruder und Schwester, Großvater, Großmutter und Onkel, aber diese Worte verringerten die Furcht nicht; er warf mehr Worte hinterher: Dynamik und Dynamit, Billard und korrekt, Narben auf dem Rücken, Cognac und Zigaretten, rot über grün, weiß über grün, aber die Furcht wurde nicht geringer; vielleicht würden Handlungen sie mildern: das Fenster geöffnet, hinuntergeblickt auf die murmelnde Menschenmenge; war es ein drohendes oder freundliches Murmeln? Feuerwerk am dunkelblauen Himmel; Donnerschläge, aus denen riesige Blumen hervorbrachen; orangefarbene Garben, die wie greifende Hände waren; Fenster geschlossen; über die violette Uniform gestrichen, die am Kleiderbügel vor der Tür hing; Flurtür geöffnet: Erregung war bis hier oben zu spüren: Ein Schwerverletzter auf Zimmer 211! Stimmengebrodel, Schritte hin, Schritte her, rauf und runter, und immer wieder die eine durchdringende Polizeistimme: „Weg da! Weg da!“

Weg hier! Weg! Hugo hatte Angst, und er flüsterte das Wort: „Vater.“ Der Direktor hatte gesagt: „Du wirst uns fehlen, muss das sein, so plötzlich?“; und er hatte es nicht ausgesprochen, nur gedacht: ‚Es muss sein, so plötzlich, die Zeit ist reif‘, und als Jochen die Meldung von dem Anschlag überbrachte, war des Direktors Erstaunen über seine Kündigung vergessen; der Direktor hatte Jochens Meldung nicht mit Entsetzen, sondern mit Entzücken entgegengenommen, nicht traurig den Kopf geschüttelt – sich die Hände gerieben. „Ihr habt ja alle keine Ahnung. So ein Skandal kann ein Hotel mit einem Mal hochreißen. Da wird es Schlagzeilen nur so prasseln. Mord ist nicht Selbstmord, Jochen – und politischer Mord nicht irgendeiner. Wenn er nicht tot ist, werden wir so tun, als ob er sterben müsste. Ihr habt keine Ahnung, da muss mindestens die Zeile rein: ‚Schwebt in Lebensgefahr; alle Telefongespräche sofort hier auf meine Leitung, dass mir ja kein Unsinn passiert. Mein Gott, macht doch nicht alle so belämmerte Gesichter. Kühl bleiben, zartes Bedauern ins Gesicht, wie jemand, der zwar einen Todesfall zu beklagen hat, aber durch die zu erwartende Erbschaft getröstet wird. Los, Kinder, an die Arbeit. Es wird telegrafische Zimmerbestellungen regnen. Ausgerechnet M. Ihr habt ja keine Ahnung, was das bedeutet. Wenn uns jetzt nur kein Selbstmord dazwischen kommt. Ruf sofort den Herrn auf Zimmer elf an; soll er meinetwegen wütend werden und abreisen – verflucht, das Feuerwerk hätte ihn doch wecken müssen. Los, Kinder, an die Gewehre.“

‚Vater‘, dachte Hugo, ‚du musst mich hier abholen, sie lassen mich nicht auf Zimmer 211‘; Blitzlichter zuckten im grauen Schatten des Treppenhauses, das Lichtviereck des Aufzugs erschien, brachte die Gäste für die Zimmer 213 – 226, die der Absperrung wegen bis zum dritten Stock hinauffahren und über die Bediententreppe hinuntersteigen mussten; heftiges Gemurmel brach aus der Aufzugstür; dunkle Anzüge, helle Kleider, verstörte Gesichter, Lippen, die sich zu ‚Zumutung‘ und ‚skandalös‘ verzogen; zu spät zog Hugo seine Tür zu: sie hatte ihn entdeckt, kam schon über den Flur auf sein Zimmer zugelaufen; er hatte gerade den Schlüssel von innen umgedreht, da zuckte die Klinke schon heftig.

„Mach auf, Hugo, mach doch auf“, sagte sie.

„Nein.“

„Ich befehle es dir.“

„Ich bin seit einer Viertelstunde nicht mehr im Dienst des Hotels, gnädige Frau.“

„Du gehst weg?“

„Ja.“

„Wohin?“

„Ich gehe zu meinem Vater.“

„Mach auf, Hugo, mach auf, ich werde dir nicht weh tun und dich nicht mehr erschrecken; du kannst nicht weggehen; ich weiß, dass du keinen Vater hast, ich weiß es genau; ich brauche dich, Hugo – du bist es, auf den sie warten, Hugo, und du weißt es; du wirst die ganze Welt sehen, und sie werden dir in den schönsten Hotels zu Füßen liegen; du brauchst nichts zu sagen, nur dazusein; dein Gesicht, Hugo – komm, mach auf, du kannst nicht weggehen.“

Das Zucken der Klinke unterbrach ihre Worte, zeichnete Kommata in den flehenden Fluss ihrer Stimme.

„… es ist wirklich nicht meinetwegen, Hugo, vergiss, was ich gesagt und getan habe; es war Verzweiflung – komm jetzt, ihretwegen – sie warten auf dich, du bist unser Lamm…“

Einmal noch zuckte die Klinke.

„Was suchen Sie hier?“ fragte sie.

„Ich suche meinen Sohn.“

„Hugo ist Ihr Sohn?“

„Ja; mach auf, Hugo.“

‚Zum ersten Mal kein ,Bitte’‘, dachte Hugo; er drehte den Schlüssel um und öffnete.

„Komm, Junge, wir gehen.“

„Ja, Vater, ich komme.“

„Mehr Gepäck hast du nicht?“

„Nein.“

„Komm.“

Hugo nahm seinen Koffer auf und war froh, dass der Rücken seines Vaters ihr Gesicht verdeckte. Er hörte ihr Weinen noch, als er die Personaltreppe hinunterstieg.



„Weint doch nicht, Kinder“, sagte der Alte; „sie wird ja wiederkommen und bei uns bleiben; sie wäre sehr traurig, wenn sie erfahren müsste, dass wir den Wein sauer werden lassen; er ist ja lebensgefährlich verletzt worden, und ich hoffe, das große Staunen wird nicht wieder von seinem Gesicht verschwinden; die halten sich alle für unsterblich – so ein sprödes kleines Geräusch kann Wunder wirken. Bitte, ihr Mädchen, kümmert euch um die Geschenke und die Blumen; Leonore übernimmt die Blumen, Ruth die Glückwunschkarten, Marianne die Geschenke. Ordnung ist das halbe Leben – woraus mag die andere Hälfte bestehen? Ich kann mir nicht helfen, Kinder, ich kann nicht traurig sein. Der Tag ist groß, er hat mir meine Frau wiedergegeben und einen Sohn geschenkt – darf ich Sie so nennen, Schrella? Ediths Bruder – sogar einen Enkel hab ich bekommen, wie, Hugo? ich kann mich noch nicht entscheiden, dich wirklich Enkel zu nennen, du bist zwar der Sohn meines Sohnes, aber doch nicht mein Enkel; ich kann es nicht erklären; welche Stimme befiehlt mir, dich nicht Enkel zu nennen? Setzt euch, die Mädchen werden uns belegte Brote machen, plündert die Fresskörbe, Kinder, und werft mir nicht Leonores ordentliche Stapel durcheinander; am besten setzt sich jeder auf einen Jahrgang: nehmen Sie den Stapel A, Schrella, das ist der höchste, darf ich dir 1910 anbieten, Robert, den nächsthöheren? Joseph, du suchst dir vielleicht einen aus, 1921 ist nicht schlecht. So ist es recht, lasst euch nieder: trinken wir den ersten Schluck auf Herrn M., dass das Staunen in seinem Gesicht sich nicht verlieren möge – den zweiten Schluck auf meine Frau: möge Gott ihr Gedächtnis segnen. Bitte, Schrella, würden Sie einmal nachschauen, wer da an die Tür klopft?

Ein gewisser Herr Gretz wünscht mir seine Aufwartung zu machen? Ich hoffe, er schleppt nicht den Keiler auf dem Rücken an? Nein? Gott sei Dank. Bitte, sagen Sie ihm, lieber Schrella, dass ich nicht für ihn zu sprechen bin; oder würdest du meinen, Robert, dies wäre der Tag und die Stunde, einen gewissen Herrn Gretz zu empfangen? Nein, nicht wahr? Danke, Schrella. Es ist der Tag und die Stunde, falschen Nachbarschaftsgefühlen zu entsagen; zwei Worte können das Leben kosten: ‚Ist Sünde und Schande‘ hat die alte Frau Gretz gesagt; eine Handbewegung kann das Leben kosten, ein falsch verstandenes Augenzwinkern; ja, Hugo, bitte, gieß du Wein nach – ich hoffe, es kränkt dich nicht, wenn wir hier im Familienkreis deine erworbenen Fähigkeiten zu schätzen wissen und uns ihrer bedienen.

Stell die großen Buketts getrost vor die Ansicht von Sankt Anton, die kleineren rechts und links daneben, auf den Bord für die Zeichenrollen; nimm die Rollen herunter und wirf sie weg; sie sind alle leer und dienen nur der Dekoration – oder ist vielleicht einer unter uns, der das kostbare Papier noch zu nutzen gedenkt? Du vielleicht, Joseph! Warum sitzt du so unbequem? Du hast dir den Jahrgang 1941 ausgesucht, einen mageren Jahrgang, Junge. 1945 wäre besser gewesen, da regnete es Aufträge, fast wie im Jahr 1909, aber ich hab’s drangegeben, Junge. Das Sorry verdarb mir die Lust am Bauen. Ruth, stapele du die Glückwunschadressen auf meinen Zeichentisch, ich werde Danksagungen drucken lassen, und du wirst mir helfen, die Adressen zu schreiben, ich kauf dir was Schönes dafür, bei Helene Horuschka; wie müsste der Text der Danksagung lauten: ‚Für die anlässlich meines achtzigsten Geburtstages erwiesenen Aufmerksamkeiten spreche ich hiermit meinen innigsten Dank aus.‘ Vielleicht werde ich jeder Danksagung eine Handzeichnung beilegen, was hältst du davon, Joseph? Einen Pelikan, oder eine Schlange – wie war’s mit einem Büffel – bitte, Joseph, jetzt geh du einmal an die Tür, schau nach, wer so spät noch kommt.

Vier Angestellte des Cafe Kroner? Bringen ein Geschenk, von dem du glaubst, dass ich es nicht abweisen sollte? Gut, dann herein mit ihnen.“

Sie trugen es vorsichtig zur Tür herein, zwei Kellner und die beiden Mädchen vom Küchenbüfett, ein viereckiges Brett, viel länger als breit, mit einem schneeweißen Leintuch bedeckt; der Alte erschrak: brachten sie eine Leiche? War das, was da spitz wie ein Stock das weiße Tuch straffte, die Nase; vorsichtig trugen sie es, als wäre der Leichnam ein kostbarer; vollkommene Stille herrschte; Leonores Hände erstarrten im Arrangieren eines Buketts, Ruth hielt eine goldumränderte Glückwunschkarte, Marianne setzte den leeren Korb nicht ab.

„Nein, nein“, sagte der Alte leise, „bitte stellen Sie es nicht auf die Erde; gebt ihnen zwei Zeichenböcke.“

Hugo und Joseph holten zwei Zeichenböcke aus der Ecke, stellten sie in die Mitte des Ateliers über die Jahrgänge 1936 bis 1939; Stille trat wieder ein, als die beiden Kellner und die beiden Mädchen das Brett auf die Böcke legten, sich an die vier Ecken verteilten, jeder einen Zipfel des Leintuchs nahmen und auf ein kurzes, scharfes ‚Hoch‘, das der ältere der Kellner aussprach, das Tuch hoben.

Der Alte lief rot an, er sprang auf das Kuchenmodell zu, hob seine Fäuste wie ein Trommler, der zu zornigem Takt seine Kräfte sammelt, und einen Augenblick schien es, als würde er das gezuckerte Backwerk zermalmen, aber er ließ seine erhobenen Fäuste wieder sinken, schlaff hingen die Hände zu seinen Seiten herab; er lachte leise, verbeugte sich gegen die Mädchen, dann gegen die beiden Kellner, richtete sich wieder auf, nahm seine Brieftasche aus dem Rock und gab jedem der vier einen Geldschein als Trinkgeld. „Bitte“, sagte er ruhig, „richten Sie Frau Kroner meinen aufrichtigen Dank aus und sagen Sie ihr, dass wichtige Ereignisse mich leider zwingen, mein Frühstück zu kündigen – wichtige Ereignisse, ab morgen kein Frühstück mehr.“

Er wartete, bis die Kellner und Mädchen hinausgegangen waren, und rief: „Los, Kinder, gebt mir ein großes Messer und einen Kuchenteller.“

Er schnitt als erstes den Turmhelm der Abteikirche ab und reichte den Teller Robert hinüber.

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