Der Platz vor der Universität lag in der leeren Mittagssonne. Die Luft war klar und blau, und über den Dächern kreiste ein Zug unruhiger Schwalben. Kern stand am Rande des Platzes und wartete auf Ruth.
Die ersten Studenten kamen durch die großen Türen und gingen die Treppen hinunter. Kern reckte den Kopf, um Ruths braune Baskenmütze zu entdecken. Sie war gewöhnlich eine der ersten, die herauskamen. Aber er sah sie nicht. Es kamen plötzlich auch keine Studenten mehr. Im Gegenteil: eine Anzahl von denen, die draußen waren, kehrte wieder um. Es schien etwas los zu sein.
Plötzlich, wie durch eine Explosion hervorgetrieben, quoll ein wirrer, ineinander verfilzter Haufe von Studenten aus der Tür. Es war eine Prügelei. Kern unterschied jetzt auch die Rufe: „Juden ’raus!“ – „Haut die Mosessöhne in die krummen Fressen!“ – „Jagt sie nach Palästina!“
Er ging rasch über den Platz und stellte sich am rechten Flügel des Gebäudes auf. Er musste vermeiden, in die Prügelei zu geraten; gleichzeitig wollte er aber so nahe dabeisein, wie es ging, um Ruth herauszuholen.
Eine Gruppe von etwa dreißig jüdischen Studenten versuchte zu entkommen. Dicht aneinandergedrängt, schoben sie sich die Treppe hinunter. Sie waren umringt von ungefähr hundert anderen, die von allen Seiten auf sie einschlugen.
„Haut sie auseinander!“ schrie ein großer, schwarzhaariger Student, der jüdischer aussah als die meisten der Angegriffenen. „Packt sie einzeln!“
Er setzte sich an die Spitze eines Trupps, der mit gewaltigem Geschrei einen Keil in die Gruppe der Juden bohrte und nacheinander einzelne losriss und sie den andern hinwarf, die sie sofort lit Fäusten, Bücherpacken und Stöcken bearbeiteten.
Kern blickte unruhig nach Ruth aus. Er konnte sie nirgendwo sehen und hoffte, dass sie in der Universität geblieben war. Oben auf der Freitreppe standen nur noch zwei Professoren. Einer, mit einem geteilten, grauen Franz-Joseph-Bart und einem rosigen Gesicht, der sich lächelnd die Hände rieb – und ein anderer, der hager und streng, mit unbewegter Miene in das Getümmel hinabschaute.
Ein paar Polizisten kamen von jenseits des Platzes eilig heran. Der vorderste blieb in der Nähe Kerns stehen. „Stopp!“ sagte er zu den beiden anderen. „Nicht einmischen!“
Die beiden blieben stehen. „Juden, was?“, fragte einer von ihnen.
Der erste nickte. Dann bemerkte er Kern und sah ihn scharf an. Kern tat, als habe er nichts gehört. Umständlich zündete er sich eine Zigarette an und ging dabei wie absichtslos einige Schritte weiter fort. Die Polizisten verschränkten die Arme und sahen neugierig der Schlägerei zu.
Ein kleiner jüdischer Student entkam dem Getümmel. Er blieb wie geblendet einen Augenblick stehen. Dann sah er die Polizisten und rannte auf sie zu.
„Kommen Sie!“ schrie er. „Rasch! Helfen Sie! Man schlägt sie ja tot!“
Die Polizisten betrachteten ihn wie ein seltenes Insekt. Keiner von ihnen erwiderte etwas. Der Kleine starrte sie einen Moment fassungslos an. Dann drehte er sich ohne ein Wort wieder um und ging zurück, auf das Getümmel zu. Er war noch keine zehn Schritte weit gekommen, als sich zwei Studenten aus dem großen Haufen lösten. Sie stürmten auf ihn zu. „Saujud!“ schrie der vorderste. „Der Saujud jammert nach Gerechtigkeit! Sollst du haben!“
Er schlug ihn mit einem klatschenden Schlag ins Gesicht nieder. Der Kleine versuchte, wieder hochzukommen. Der andere stieß ihn mit einem Tritt vor den Bauch zurück. Dann packten beide ihn an den Beinen und schleiften ihn wie einen Karren über das Pflaster. Der Kleine versuchte sich vergebens an den Steinen festzukrallen. Sein weißes Gesicht starrte wie eine Maske des Entsetzens zurück zu den Polizisten. Der Mund war wie ein schwarzes, offenes Loch, aus dem Blut über das Kinn lief. Er schrie nicht.
Kern spürte seinen Gaumen trocken werden. Er hatte das Gefühl, auf die beiden losspringen zu müssen. Aber er sah, dass die Polizisten ihn beobachteten, und steif und verkrampft vor Wut ging er zur andern Ecke des Platzes hinüber.
Die beiden Studenten kamen mit ihrem Opfer dicht an ihm vorüber. Ihre Zähne schimmerten, sie lachten, und ihre Gesichter wiesen nicht die Spur von Bosheit auf. Sie leuchteten einfach nur von aufrichtigem, unschuldigem Vergnügen – als trieben sie irgendeinen Sport und schleiften nicht einen Menschen blutig.
Plötzlich kam Hilfe. Ein großer, blonder Student, der bisher herumgestanden hatte, verzog angewidert das Gesicht, als der Kleine an ihm vorbeigeschleppt wurde. Er streifte die Ärmel seiner Jacke etwas hoch, machte ein paar langsame Schritte und schlug dann mit zwei kurzen, wuchtigen Schlägen die Peiniger des Kleinen nieder.
Er hob den verschmierten Kleinen am Kragen hoch und stellte ihn auf die Beine. „So, nun mach, dass du wegkommst“, knurrte er. „Aber schnell!“
Darauf ging er, ebenso langsam und nachdenklich wie vorher, auf den tobenden Haufen zu. Er besah sich den schwarzhaarigen Anführer und gab ihm dann einen so furchtbaren Hieb auf die Nase und sofort hinterher einen fast unsichtbaren Schlag gegen das Kinn, dass er krachend aufs Pflaster stürzte.
In diesem Augenblick erblickte Kern Ruth. Sie hatte ihre Mütze verloren und befand sich am Rande des Getümmels. Er lief auf sie zu. „Rasch! Komm rasch, Ruth! Wir müssen hier weg!“
Sie erkannte ihn im ersten Augenblick nicht. „Die Polizei!“ stammelte sie, blass vor Erregung, „die Polizei muss helfen!“
„Die Polizei hilft nicht! Sie darf uns hier auch nicht erwischen! Wir müssen fort, Ruth!“
„Ja.“ Sie sah ihn wie erwachend an. Ihr Gesicht veränderte sich. Es schien, als wollte sie weinen. „Ja, Ludwig“, sagte sie mit einer sonderbar zerbrochenen Stimme. „Komm, fort!“
„Ja, rasch!“ Kern nahm ihren Arm und zog sie mit sich. Hinter sich hörten sie Geschrei. Es gelang der Gruppe jüdischer Studenten durchzubrechen. Ein Teil von ihnen lief über den Platz. Das Gedränge verschob sich, und plötzlich waren Kern und Ruth mittendrin.
„Ah, Rebekka! Sarah!“ Einer der Angreifer griff nach Ruth.
Kern spürte etwas wie das Abschnellen einer Feder. Er war aufs höchste überrascht, den Studenten langsam zusammensinken zu sehen. Er war sich nicht bewusst, geschlagen zu haben.
„Hübscher Gerader!“ sagte jemand anerkennend neben ihm.
Es war der große blonde Student, der soeben zwei andere mit den Köpfen zusammenschlug. „Nichts Edles verletzt!“ sagte er, ließ sie fallen wie nasse Säkke und griff nach zwei andern.
Kern bekam einen Schlag mit einem Spazierstock über den Arm. Er sprang wütend los, in einen roten Nebel hinein und schlug um sich. Er zerschmetterte eine Brille und rannte jemand um. Dann dröhnte es furchtbar, und der rote Nebel wurde schwarz.
Er erwachte auf der Polizeistation. Sein Kragen war zerrissen, seine Backe blutete, und sein Kopf dröhnte immer noch. Er setzte sich auf.
„Servus!“ sagte jemand neben ihm. Es war der große blonde Student.
„Verdammt!“ erwiderte Kern. „Wo sind wir?“
Der andere lachte. „In Haft, mein Lieber. Ein, zwei Tage, dann lassen sie uns schon wieder ’raus.“
„Mich nicht.“ Kern sah sich um. Sie waren zu acht. Außer dem Blonden alles Juden. Ruth war nicht dabei.
Der Student lachte wieder. „Was sehen Sie sich so um? Sie meinen, die Falschen wären hier? Irrtum, mein Lieber! Nicht der Angreifer, der Angegriffene ist schuldig! Er ist die Ursache des Ärgernisses. Modernste Psychologie.“
„Haben Sie gesehen, was aus dem Mädchen geworden ist, mit dem ich zusammen war?“ fragte Kern.
„Das Mädchen?“ Der Blonde dachte nach. „Es wird ihr nichts passiert sein. Was soll ihr schon geschehen? Mädchen läßt man doch in Ruhe bei einer Prügelei.“
„Sind Sie dessen sicher?“
„Ja. Ziemlich. Außerdem kam ja doch gleich die Polizei.“
Kern starrte vor sich hin. Die Polizei. Das war es ja. Aber Ruths Pass war noch gültig. Man konnte ihr nicht allzuviel tun. Doch auch das war schon zuviel.
„Sind außer uns noch mehr verhaftet worden?“ fragte er.
Der Blonde schüttelte den Kopf. „Ich glaube nicht. Ich war der letzte. An mich gingen sie nur zögernd ’ran.“
„Bestimmt nicht?“
„Nein. Dann wären sie auch hier. Wir sind ja vorläufig noch auf der Wachstube.“
Kern atmete auf. Vielleicht war Ruth nichts passiert.
Der blonde Student betrachtete ihn ironisch. „Katzenjammer, was? Geht einem immer so, wenn man unschuldig ist. Besser, man hat einen Grund für das, was einem passiert. Sehen Sie, der einzige, der nach gutem, altem Recht hier sitzt, bin ich. Ich habe mich freiwillig eingemischt. Deshalb bin ich auch fröhlich.“
„Es war anständig von Ihnen.“
„Ach, anständig!“ Der Blonde machte eine wegwerfende Handbewegung. „Ich bin ein alter Antisemit. Aber bei so einer Schlächterei kann man doch nicht zuschauen. Sie haben übrigens einen schönen, kurzen Geraden geschlagen. Trocken und schnell. Irgendwann boxen gelernt?“
„Nein.“
„Dann sollten Sie es lernen. Sie haben gute Anlagen. Sind nur viel zu hitzig. Wenn ich der Papst der Juden wäre, würde ich ihnen jeden Tag eine Stunde Boxen verordnen. Solltet sehen, wie die Brüder Respekt vor euch kriegten.“
Kern griff sich vorsichtig an den Kopf. „Mir ist im Moment nicht nach Boxen zumute.“
„Gummiknüppel“, erklärte der Student sachlich. „Unsere brave Polizei. Immer auf der Seite der Sieger. Heute abend ist Ihr Schädel besser. Dann fangen wir an zu üben. Irgendwas müssen wir ja zu tun haben.“ Er zog die langen Beine auf die Pritsche und sah sich um. „Zwei Stunden sind wir nun schon hier! Verdammt langweilige Bude! Wenn wir wenigstens ein Spiel Karten hätten! Schwarzen Peter kann doch irgendeiner spielen.“ Er musterte die jüdischen Studenten verächtlich.
„Ich habe ein Spiel bei mir.“ Kern griff in die Tasche. Steiner hatte ihm damals das Spiel des Taschendiebes geschenkt. Er trug es seitdem stets als eine Art von Amulett mit sich.
Der Student sah ihn anerkennend an. „Alle Achtung! Aber sagen Sie mir jetzt nur nicht, dass Sie Bridge spielen! Alle Juden spielen Bridge, sonst nichts.“
„Ich bin Halbjude. Ich spiele Skat, Tarock, Jass und Poker“, erwiderte Kern mit einem Anflug von Stolz.
„Erstklassig. Da sind Sie mir über. Jass kann ich nicht.“
„Es ist ein Schweizer Spiel. Ich werde es Ihnen beibringen, wenn Sie wollen.“
„Gut. Ich gebe Ihnen dann dafür Ihre Boxlektion. Austausch geistiger Werte.“
Sie spielten bis abends. Die jüdischen Studenten unterhielten sich inzwischen über Politik und Gerechtigkeit. Sie kamen zu keinem Resultat. Kern und der Blonde spielten zuerst Jass; später Poker. Kern gewann im Poker sieben Schilling. Er war ein guter Schüler Steiners geworden. Sein Kopf wurde allmählich klarer. Er vermied es, an Ruth zu denken. Er konnte nichts für sie tun; Grübeln allein hätte ihn schwach gemacht. Und er wollte seine Nerven zusammen haben für die Vernehmung vor dem Richter.
Der Blonde warf die Karten zusammen und zahlte Kern aus. „Jetzt kommt der zweite Teil“, sagte er. „Los! ’ran, um ein zweiter Dempsey zu werden.“
Kern stand auf. Er war noch sehr schwach. „Ich glaube, es geht nicht“, sagte er. „Mein Kopf verträgt noch keinen zweiten Schlag.“
„Ihr Kopf war klar genug, mir sieben Schilling abzunehmen“, erwiderte der Blonde grinsend. „Vorwärts, überwinden Sie den inneren Schweinehund! Lassen Sie das arische Raufboldblut in sich sprechen! Geben Sie der humanen jüdischen Hälfte einen Stoß!“
„Das tue ich schon seit einem Jahr.“
„Ausgezeichnet. Also schonen wir vorerst den Kopf. Fangen wir mit den Beinen an. Die Hauptsache beim Boxen ist die Leichtigkeit der Füße. Sie müssen tänzeln. Tänzelnd schlägt man dem Gegner die Zähne ein. Angewandter Nietzsche!“
Der Blonde stellte sich in Positur, wiegte sich in den Knien und machte eine Anzahl Wechselschritte vorwärts und zurück. „Machen Sie das nach.“ Kern machte es nach.
Die jüdischen Studenten hatten aufgehört zu diskutieren. Einer von ihnen, mit einer Brille, stand auf. „Würden Sie mich auch unterrichten?“ fragte er.
„Natürlich! Brille ’runter und ’ran!“ Der Blonde klopfte ihm auf die Schulter. „Altes Makkabäerblut, rausche auf!“
Es meldeten sich noch zwei Schüler. Die übrigen blieben abweisend, aber neugierig auf den Pritschen sitzen.
„Zwei nach rechts, zwei nach links!“ dirigierte der Blonde. „Und nun auf, zum Blitzkurs! Jahrtausendelang vernachlässigte Erziehung zum Rohling nachholen. Der Arm schlägt nicht – der ganze Körper schlägt…“
Er legte sein Jackett ab. Die andern folgten ihm. Dann begann eine kurze Erklärung der Körperarbeit und eine Probe. Die vier hüpften eifrig in der halbdunklen Zelle herum.
Der Blonde überblickte väterlich seine schwitzende Schülerschar. „So“, erklärte er nach einer Weile, „das kennt ihr nun! Übt es, während ihr eure acht Tage absitzt wegen Aufreizung echter Arier zum Rassenhaß. Nun tief atmen ein paar Minuten! Verschnaufen! Und jetzt zeige ich euch den kurzen Geraden, das federnde Mittelstück der Boxerei!“
Er machte vor, wie man schlagen musste. Dann nahm er seine Jacke, ballte sie zusammen, hielt sie in Gesichtshöhe und ließ die andern danach schlagen. Als sie mitten im besten Üben waren, ging die Tür auf. Ein Kalfaktor kam herein mit ein paar dampfenden Näpfen. „Das ist doch…“ Er stellte die Näpfe rasch ab und schrie zurück: „Wache! Schnell! Die Bande prügelt sich sogar auf der Polizei weiter!“
Zwei Wachleute kamen hereingestürzt. Der blonde Student legte ruhig seine Jacke weg. Die vier Boxschüler hatten sich rasch in die Ecken verdrückt. „Rhinozeros!“ sagte der Blonde mit großer Autorität zum Kalfaktor. „Schafskopf! Tepperter Gefängniswedel!“ Dann wandte er sich an die Wachleute. „Was Sie hier sehen, ist eine Unterrichtsstunde in moderner Humanität. Ihr Erscheinen, die lechzende Hand am Gummiknüppel, war überflüssig, verstanden?“
„Nein“, sagte einer der Wachleute.
Der Blonde sah ihn mitleidig an. „Körperliche Ertüchtigung. Gymnastik! Freiübungen! Nun verstanden? Soll das da unser Abendessen sein?“
„Klar“, bestätigte der Kalfaktor.
Der Blonde beugte sich über einen der Näpfe und verzog angewidert das Gesicht. „Hinaus damit!“ schnauzte er dann plötzlich scharf. „Diesen Dreck wagt ihr hereinzubringen? Spülwasser für den Sohn des Senatspräsidenten? Wollt ihr degradiert werden?“ Er blickte die Wachleute an. „Ich werde mich beschweren! Ich wünsche sofort den Bezirksleiter zu sprechen! Führen Sie mich auf der Stelle zum Polizeipräsidenten! Morgen wird mein Vater dem Justizminister euretwegen die Hölle heiß machen!“
Die beiden Wachleute starrten zu ihm auf. Sie wussten nicht, ob sie grob werden konnten oder vorsichtig sein mussten. Der Blonde fixierte sie. „Herr“, sagte schließlich der ältere vorsichtig, „das hier ist die normale Gefängniskost.“
„Bin ich im Gefängnis?“ Der Blonde war eine einzige Beleidigung. „Ich bin in Haft! Kennen Sie den Unterschied nicht?“
„Doch, doch…“ Der Wachmann war sichtlich eingeschüchtert. „Sie können sich natürlich selbst verköstigen, mein Herr! Das ist Ihr Recht. Wenn Sie bezahlen wollen, kann der Kalfaktor Ihnen ein Gulasch holen…“
„Endlich ein vernünftiges Wort!“ Die Haltung des Blonden milderte sich.
„Und vielleicht ein Bier dazu…“
Der Blonde sah den Wachmann an. „Sie gefallen mir! Ich werde mich für Sie verwenden! Wie ist Ihr Name?“
„Rudolf Egger.“
„Recht so! Weitermachen!“ Der Student zog Geld aus der Tasche und gab es dem Kalfaktor. „Zwei Rindsgulasch mit Erdäpfeln. Eine Flasche Zwetschgenwasser…“
Der Wachmann Rudolf Egger öffnete den Mund. „Alkoholische…“
„Sind erlaubt“, vollendete der Blonde. „Zwei Flaschen Bier, eine für die Wachleute, eine für uns!“
„Danke vielmals, küß’ die Hand!“ sagte Rudolf Egger.
„Wenn das Bier nicht frisch und eiskalt ist“, erklärte der Sohn des Senatspräsidenten dem Kalfaktor, „säge ich dir einen Fuß ab. Wenn es gut ist, behältst du den Rest des Geldes.“
Der Kalfaktor verzog fröhlich das Gesicht. „Werd’s schon machen, Herr Graf!“ Er strahlte. „So was von einem echten, goldenen Wiener Humor!“
Das Essen kam. Der Student lud Kern ein. Der wollte anfangs nicht. Er sah die Juden mit ernsten Gesichtern das Spülwasser essen. „Seien Sie ein Verräter! Das ist modern!“ ermunterte ihn der Student. „Und außerdem ist das hier ein Essen unter Kartenspielern.“
Kern setzte sich nieder. Das Gulasch war gut, und schließlich hatte er keinen Pass und war zudem ein Mischling.
„Weiß Ihr Vater, dass Sie hier sind?“ fragte er.
„Lieber Gott!“ Der Blonde lachte. „Mein Vater! Der hat ein Weißwarengeschäft in Linz.“
Kern sah ihn überrascht an.
„Mein Lieber“, sagte der Student ruhig. „Sie scheinen noch nicht zu wissen, dass wir im Zeitalter des Bluffs leben. Die Demokratie ist durch die Demagogie abgelöst worden. Eine natürliche Folge. Prost!“
Er entkorkte das Zwetschgenwasser und bot dem Studenten mit der Brille ein Glas an.
„Danke, ich trinke nicht“, erwiderte der verlegen.
„Natürlich! Hätte ich mir denken können!“ Der Blonde kippte das Glas selbst herunter. „Schon deshalb werden die andern euch ewig verfolgen! Wie ist es mit uns beiden, Kern? Wollen wir die Flasche leermachen?“ – „Ja.“
Sie tranken die Flasche aus. Dann legten sie sich auf die Pritschen. Kern glaubte, er könne schlafen. Aber er wachte alle Augenblicke wieder auf. Verdammt, was haben sie mit Ruth gemacht, dachte er. Und wie lange werden sie mich hier einsperren?
Er bekam zwei Monate Gefängnis. Körperverletzung, Aufruhr, Widerstand gegen die Staatsgewalt, wiederholter, illegaler Aufenthalt – er wunderte sich, dass er nicht zehn Jahre bekam.
Er verabschiedete sich von dem Blonden, der um dieselbe Zeit freigelassen wurde. Dann führte man ihn nach unten. Er musste seine Sachen abgeben und erhielt Gefängniskleidung. Während er unter der Dusche stand, fiel ihm ein, dass es ihn einmal bedrückt hatte, als man ihm Handschellen anlegte. Es schien ihm endlos lange her zu sein. Jetzt fand er die Gefängniskleidung nur praktisch; er schonte so seine Privatsachen.
Seine Mitgefangenen waren ein Dieb, ein kleiner Defraudant und ein russischer Professor aus Kasan, der als Landstreicher eingesperrt worden war. Alle vier arbeiteten in der Schneiderei des Gefängnisses.
Der erste Abend war schlimm. Kern erinnerte sich an das, was Steiner ihm damals gesagt hatte – dass er sich gewöhnen werde. Aber er saß trotzdem auf seiner Pritsche und starrte gegen die Wand.
„Sprechen Sie Französisch?“ fragte ihn der Professor plötzlich von seiner Pritsche her.
Kern schreckte auf. „Nein.“
„Wollen Sie es lernen?“
„Ja. Wir können gleich anfangen.“
Der Professor stand auf. „Man muss sich beschäftigen, wissen Sie! Sonst fressen einen die Gedanken auf.“
„Ja.“ Kern nickte. „Ich kann es außerdem gut gebrauchen. Ich werde wohl nach Frankreich müssen, wenn ich ’rauskomme.“
Sie setzten sich nebeneinander auf die Ecke der unteren Pritsche. Über ihnen rumorte der Defraudant. Er hatte einen Bleistiftstummel und bemalte die Wände mit schweinischen Zeichnungen. Der Professor war sehr mager. Die Gefängniskluft war ihm viel zu weit. Er hatte einen roten, wilden Bart und ein Kindergesicht mit blauen Augen. „Fangen wir an mit dem schönsten und vergeblichsten Wort der Welt“, sagte er mit einem wunderschönen Lächeln ohne jede Ironie – „mit dem Wort Freiheit – la liberté.“
Kern lernte viel in dieser Zeit. Nach drei Tagen konnte er bereits beim Spazierengehen auf dem Hof mit den Gefangenen vor und hinter sich sprechen, ohne die Lippen zu bewegen. In der Schneiderei memorierte er auf dieselbe Weise eifrig mit dem Professor französische Verben. Abends, wenn er müde vom Französischen war, brachte ihm der Dieb bei, aus einem Draht Dietriche zu machen und wachsame Hunde zu beschwichtigen. Er lehrte ihn auch die Reifezeiten aller Feldfrüchte und die Technik, unbemerkt in Heuschober zu kriechen, um dort zu schlafen. Der Defraudant hatte einige Hefte der „Eleganten Welt“ eingeschmuggelt. Es war außer der Bibel das einzige, was sie zu lesen hatten, und sie lernten daraus, wie man sich bei diplomatischen Empfängen zu kleiden hatte und wann man zum Frack eine rote oder eine weiße Nelke zu tragen hatte. Leider war der Dieb in einem Punkte unbelehrbar; er behauptete, zum Frack gehöre eine schwarze Krawatte – er habe es in genug Lokalen bei Kellnern gesehen.
Als sie am Morgen des fünften Tages herausgeführt würden, stieß der Kalfaktor Kern so heftig an, dass er gegen die Wand taumelte. „Pass auf, du Esel!“ brüllte er.
Kern tat, als ob er sich nicht auf den Füßen halten könnte. Er wollte auf diese Weise den Kalfaktor gegen das Schienbein treten, ohne dass er bestraft werden konnte. Es hätte dann wie ein Zufall ausgesehen. Doch bevor es dazu kam, zupfte der Kalfaktor ihn am Ärmel und flüsterte: „Melde dich in einer Stunde zum Austreten. Sag, du hast Bauchkrämpfe. Vorwärts!“ schrie er dann. „Meinst du, wir können auf dich warten?“
Kern überlegte während des Spazierganges, ob der Kalfaktor ihn mit irgend etwas ’reinlegen wollte. Beide konnten sich nicht leiden. Er besprach die Sache nachher lautlos flüsternd in der Schneiderei mit dem Dieb, der Gefängnisfachmann war.
„Austreten kannst du immer“, erklärte der. „Das ist dein menschliches Recht. Damit kann er dir nichts machen. Manche treten öfter aus, manche weniger, das ist die Natur. Aber pass nachher auf.“
„Gut. Mal sehen, was er will. Auf jeden Fall ist es eine Abwechslung.“
Kern simulierte Bauchschmerzen, und der Kalfaktor führte ihn hinaus. Er brachte ihn zum Lokus und sah sich um. „Zigarette?“ fragte er.
Es war verboten zu rauchen. Kern lachte. „Das ist es also! Nein, mein Lieber, damit kriegst du mich nicht.“
„Ach, halt’s Maul. Meinst du, ich will dich ’reinlegen? Kennst du Steiner?“
Kern starrte den Kalfaktor an. „Nein“, sagte er dann. Er vermutete, dass es eine Falle war, um Steiner zu fangen.
„Du kennst Steiner nicht?“
„Nein.“
„Schön, dann pass auf. Steiner läßt dir sagen, dass Ruth in Sicherheit ist. Du brauchst keine Sorge zu haben. Wenn du herauskommst, sollst du dich nach der Tschechei ausweisen lassen und zurückkommen. Kennst du ihn nun?“
Kern spürte plötzlich, dass er zitterte. „Jetzt eine Zigarette?“ fragte der Kalfaktor.
Kern nickte. Der Kalfaktor zog eine Schachtel Memphis und ein Paket Streichhölzer aus der Tasche. „Hier, nimm! Von Steiner. Wenn du erwischt wirst, hast du sie nicht von mir gekriegt. Und nun setz dich da hinein und rauch eine. Blas den Rauch in die Brille. Ich gebe draußen acht.“
Kern setzte sich auf die Brille. Er nahm eine Zigarette heraus, brach sie in zwei Teile und zündete die eine Hälfte an. Er rauchte langsam und tief. Ruth war in Sicherheit. Steiner passte auf. Er starrte auf die schmutzige Wand mit den obszönen Zeichnungen und glaubte, es sei der schönste Raum der Welt.
„Warum hast du mir denn nicht gesagt, dass du Steiner kennst?“ sagte der Kalfaktor zu ihm, als er wieder herauskam.
„Nimm eine Zigarette“, sagte Kern.
Der Kalfaktor schüttelte den Kopf. „Kommt nicht in Frage!“
„Woher kennst du ihn denn?“ fragte Kern.
„Er hat mich einmal aus einem Senf herausgeholt. Verdammter Senf. Nun komm!“
Sie gingen zurück in die Schneiderei. Der Professor und der Dieb sahen Kern an. Er nickte und setzte sich. „In Ordnung?“ fragte der Professor lautlos.
Kern nickte wieder.
„Also weiter“, flüsterte der Professor in seinen roten Bart. „Aller. Unregelmäßiges Verb. Je vais, tu vas, il…“
„Nein“, erwiderte Kern. „Heute wollen wir ein anderes nehmen. Was heißt: lieben?“
„Lieben? Aimer. Aber das ist ein regelmäßiges Verb…“
„Eben deshalb“, sagte Kern.
Der Professor wurde nach vier Wochen entlassen. Der Dieb nach sechs; der Defraudant ein paar Tage später. Er versuchte, Kern in den letzten Tagen zur Homosexualität zu bekehren; aber Kern war kräftig genug, ihn sich vom Leibe zu halten. Er schlug ihn einmal mit dem kurzen Geraden des blonden Studenten k.o.; dann hatte er Ruhe.
Er war einige Tage allein; dann bekam er zwei neue Zellengenossen. Er erkannte sofort, dass es Emigranten waren. Der eine war älter und sehr schweigsam, der jüngere ungefähr dreißig Jahre alt. Sie trugen abgeschabte Anzüge, denen man die Mühe ansah, mit der sie saubergehalten wurden.
Der ältere legte sich sofort auf die Pritsche.
„Wo kommen Sie her?“ fragte Kern den jüngeren.
„Aus Italien.“
„Wie ist es da?“
„Es war gut. Ich war zwei Jahre dort. Jetzt ist es vorbei. Sie kontrollieren alles.“
„Zwei Jahre!“ sagte Kern. „Das will was heißen!“
„Ja, aber hier haben sie mich nach acht Tagen gefasst. Geht das immer so?“
„Es ist schlimmer geworden im letzten halben Jahr Der Neue stützte den Kopf in die Hände. „Es wird überall schlimmer. Was soll daraus noch werden? Wie ist es in der Tschechoslowakei?“
„Auch schlimmer. Es sind zu viele da. Waren Sie in der Schweiz?“
„Die Schweiz ist zu klein. Man fällt rasch auf.“ Der Mann starrte vor sich hin. „Ich hätte doch nach Frankreich gehen sollen.“
„Können Sie Französisch?“
„Ja, natürlich.“ Der Mann wühlte in seinem Haar.
Kern sah ihn an. „Wollen wir etwas Französisch sprechen? Ich habe es gerade gelernt und möchte es nicht vergessen.“
Der Mann blickte erstaunt hoch. „Französisch sprechen?“ Er lachte trocken auf. „Nein, das kann ich nicht! Ins Gefängnis geworfen werden und dann französische Konversation machen – das ist zu absurd! Wahrhaftig, Sie scheinen sonderbare Ideen zu haben.“
„Gar nicht. Ich führe nur ein sonderbares Leben.“
Kern wartete noch eine Weile, ob der Mann nicht nachgeben würde. Dann kletterte er auf seine Pritsche und wiederholte solange unregelmäßige Verben, bis er endlich einschlief.
Er erwachte davon, dass ihn jemand rüttelte. Es war der Mann, der nicht französisch sprechen wollte. „Helfen Sie!“ keuchte er. „Schnell! Er hat sich erhängt!“
Kern richtete sich verschlafen auf. Im fahlen Grau des frühen Morgens hing eine schwarze Gestalt mit gesenktem Kopf am Fenster. Er sprang von seiner Pritsche. „Ein Messer! Rasch!“
„Verdammt, nein! Abgenommen! Ich werde ihn hochheben. Streifen Sie den Riemen über seinen Kopf!“
Kern stieg auf die Pritsche und versuchte, den Erhängten anzuheben. Er war schwer wie die Welt. Er war viel schwerer, als er aussah. Seine Kleider waren kalt und tot wie er. Kern fasste mit aller Kraft zu. Er konnte ihn nur mit Mühe heben. „Los!“ keuchte er. „Riemen lockern! Ich kann ihn nicht lange so halten.“
„Ja.“ Der andere kletterte hinauf und machte sich am Halse des Erhängten zu schaffen. Plötzlich ließ er los, schwankte und erbrach sich.
„Verfluchte Sauerei!“ schrie Kern. „Weiter können Sie nichts? Machen Sie ihn los! Schnell!“
„Kann’s nicht ansehen!“ stöhnte der andere. „Die Augen! Die Zunge!“
„Dann kommen Sie ’runter! Heben Sie ihn hoch, und ich werde ihn losmachen!“
Er gab den schweren Körper dem andern in die Arme und sprang auf die Pritsche. Der Anblick war schauderhaft. Das gedunsene, fahle Gesicht, die herausgequollenen, wie zerplatzten Augen, die dicke, schwarze Zunge – Kern griff nach dem dünnen Lederriemen, der tief in den geblähten Hals einschnitt.
„Höher!“ rief er. „Heben Sie ihn höher!“
Er hörte ein Gurgeln unter sich. Der Mann erbrach sich schon wieder. Gleichzeitig ließ er den Erhängten los, dem durch den Ruck die Augen und die Zunge heraustrieben, als mache er sich auf eine grauenhafte Weise über die machtlosen Lebenden lustig. „Verdammt!“ Kern suchte verzweifelt nach irgend etwas, damit der Mann unten zu sich kam. Plötzlich, wie ein Blitz, flog ihm die Szene zwischen dem blonden Studenten und dem Kalfaktor durchs Gehirn. „Wenn du verfluchtes Waschweib jetzt nicht sofort zufasst“, brüllte er, „trete ich dir die Eingeweide aus dem Leibe! Los, du elender Feigling!“ Gleichzeitig holte er mit dem Fuß aus und spürte, dass er gut getroffen hatte. Er trat noch einmal mit aller Kraft. „Ich schlage dir den Schädel ein!“ schrie er. „Heb sofort hoch!“
Der Mann unten schwieg und hob. „Höher!“ tobte Kern. „Höher, du dreckiger Waschlappen!“
Der Mann hob höher. Es gelang Kern, die Schlinge zu lösen und über den Kopf des Erhängten zu streifen. „So, jetzt ’runterlassen!“
Beide griffen zu und legten den schlaffen Körper auf die Pritsche. Kern riss Weste und Hosenbund auf. „Stecken Sie die Klappe ’raus!“ sagte er. „Rufen Sie nach der Wache! Ich werde mit künstlicher Atmung anfangen.“
Er kniete hinter dem schwarzgrauen Kopf, nahm die kalten, toten Hände in seine warmen, lebensvollen und begann die Arme zu bewegen. Er hörte das rauhe, krächzende Schlürfen, wenn der Brustkorb sich hob und senkte und horchte manchmal – aber der Atem blieb aus. An der Tür rasselte der Mann, der nicht französisch sprechen wollte, mit der Klappe und schrie: „Wache! Wache!“ Es hallte dumpf in der Zelle.
Kern arbeitete weiter. Er wusste, dass man es Stunden machen musste – aber nach einer Zeitlang hörte er auf.
„Atmet er?“ fragte der andere.
„Nein.“ Kern war plötzlich entsetzlich müde. „Es ist auch sinnlos. Der Mann wollte sterben. Warum soll man ihm das nicht lassen?“
„Aber um Gottes willen…“
„Mensch, seien Sie ruhig!“ sagte Kern sehr leise und gefährlich. Er hätte es nicht ertragen, noch ein Wort zu hören. Er wusste alles, was der Mann sagen wollte. Aber er wusste auch, dass der andere sich zum zweitenmal aufhängen würde, wenn er durchkam. „Versuchen Sie es“, sagte er nach einem Augenblick ruhiger. „Der hier wird schon gewusst haben, weshalb er nicht mehr wollte.“
Gleich darauf kam die Wache. „Was soll der Radau? Verrückt geworden?“
„Hier hat sich jemand erhängt.“
„Herrgott! Was für Scherereien! Lebt er noch?“
Der Wachmann öffnete die Tür. Er roch stark nach Zervelatwurst und Wein. Seine Taschenlampe blitzte auf. „Ist er tot?“
„Wahrscheinlich.“
„Dann hat’s ja Zeit bis morgen früh. Soll sich der Sternikosch damit ’rumärgern. Ich weiß von nix.“
Er wollte weg. „Halt!“ sagte Kern. „Sie holen sofort Sanitäter. Von der Unfallwache.“
Der Wachmann starrte ihn an.
„Wenn sie in fünf Minuten nicht hier sind, setzt es einen Krach, bei dem Sie Ihren Posten riskieren!“
„Es ist doch möglich, dass er noch gerettet werden kann! Mit Sauerstoff!“ rief der andere Gefangene aus dem Hintergrund, wo er schattenhaft die Arme des Erhängten hob und senkte.
„Fängt gut an, der Tag!“ murrte die Wache und schob ab.
Einige Minuten später kamen Sanitäter und holten den Erhängten ab.
Kurz darauf erschien die Wache noch einmal. „Ihr sollt Hosenträger, Gürtel und Schnürriemen abgeben.“
„Ich erhäng’ mich nicht“, sagte Kern.
„Einerlei, ihr sollt’s abgeben.“
Sie gaben die Sachen ab und hockten sich auf die Pritsche. Es roch sauer nach Erbrochenem. „In einer Stunde ist es hell, dann können Sie es wegmachen“, sagte Kern.
Seine Kehle war trocken. Er war sehr durstig. Alles in ihm war trocken und staubig. Er fühlte sich, als hätte er Kohle und Watte geschluckt. Als würde er nie wieder sauber werden.
„Furchtbar, was?“ sagte der andere nach einer Weile.
„Nein“, erwiderte Kern.
Man brachte sie am nächsten Abend in eine größere Zelle, in der schon vier Leute waren. Es schien Kern, als ob es alles Emigranten wären; aber er kümmerte sich nicht darum. Er war sehr müde und kletterte auf seine Pritsche. Doch er konnte nicht schlafen. Er lag mit offenen Augen da und starrte auf das kleine Viereck des vergitterten Fensters. Spät, um Mitternacht, kamen noch zwei Leute dazu. Kern sah sie nicht; er hörte sie nur rumoren.
„Wie lange dauert das wohl, bis wir hier wieder ’rauskommen?“ fragte die Stimme eines der Neuen nach einiger Zeit zaghaft durch das Dunkel.
Es dauerte eine Weile, bis er Antwort bekam.
Dann knurrte eine Bassstimme. „Kommt drauf an, was Sie gemacht haben. Bei Raubmord lebenslänglich – bei politischem Mord acht Tage.“
„Mich haben sie nur zum zweiten Male ohne Pass erwischt.“
„Das ist schlimmer“, grunzte der Bass. „Rechnen Sie ruhig mit vier Wochen.“
„Mein Gott! Und ich habe ein Huhn in meinem Koffer. Ein gebratenes Huhn! Das ist dann verfault, bis ich ’rauskomme!“
„Ohne Zweifel!“ bestätigte der Bass.
Kern horchte auf. „Hatten Sie nicht schon früher einmal ein Huhn in Ihrem Koffer?“ fragte er.
„Ja! Das ist richtig!“ erwiderte der Neue erstaunt nach einer Weile. „Woher wissen Sie das, mein Herr?“
„Wurden Sie damals nicht auch verhaftet?“
„Natürlich! Wer fragt mich da? Wer sind Sie? Wie kommt es, dass Sie das wissen, mein Herr?“ fragte die Stimme aus dem Dunkel aufgewühlt.
Kern lachte. Er lachte plötzlich so, dass er fast erstickte. Es war wie ein Zwang, ein schmerzhafter Krampf, es löste sich alles darin, was sich in den zwei Monaten in ihm aufgespeichert hatte, die Wut über die Verhaftung, die Verlassenheit, die Angst um Ruth, die Energie, sich nicht zu verlieren, das Grauen vor dem Erhängten, er lachte und lachte, stoßweise und heftig und konnte nicht aufhören. „Das Poulet!“ stammelte er. „Tatsächlich, es ist das Poulet! Und wieder ein Huhn im Koffer! So ein Zufall!“
„Zufall nennen Sie das?“ fluchte das Poulet wütend. „Ein ganz verdammtes Schicksal ist so was!“
„Sie scheinen Unglück mit Brathühnern zu haben“, sagte der Baß.
„Ruhe!“ schnaubte ein anderer. „Die Pest über eure Brathühner! Einem Menschen ohne Heimat nachts einen solchen Kohldampf im Bauch zu entfachen!“
„Vielleicht besteht zwischen ihm und den Poulets ein tieferer Zusammenhang“, orakelte der Baß.
„Er kann’s ja mal mit gebratenen Schaukelpferden versuchen!“ brüllte der Mann ohne Heimat.
„Oder mit einem Magenkrebs“, wieherte ein hoher Quetschtenor.
„Vielleicht war er in einem früheren Dasein einmal ein Fuchs“, vermutete der Baß. „Und jetzt rächen sich die Hühner dafür an ihm.“
Das Poulet kam noch einmal durch. „So eine gottverdammte Gemeinheit, einen Menschen im Unglück noch zu verhöhnen!“
„Wann denn sonst?“ fragte salbungsvoll der Baß.
„Ruhe!“ schrie die Wache von draußen. „Hier ist ein anständiges Gefängnis und kein Nachtlokal!“