Direktor Potzloch war ein behendes kleines Männchen mit einem zausigen Schnurrbart, einer riesigen Nase und einem Kneifer, der ewig rutschte. Er war immer in großer Eile; am meisten, wenn nichts zu tun war.
„Was ist los? Schnell!“ fragte er, als Steiner mit Kern zu ihm kam.
„Wir brauchen doch eine Hilfe“, sagte Steiner. „Tagsüber zum Aufräumen, abends für die telepathischen Experimente. Hier ist sie.“ Er wies auf Kern.
„Kann er irgend etwas?“
„Er kann das, was wir brauchen.“
Potzloch blinzelte. „Einer von Ihren Bekannten? Was verlangt er?“
„Essen, Wohnen und dreißig Schilling. Vorläufig.“
„Ein Vermögen!“ schrie Direktor Potzloch. „Die Gage eines Filmstars! Wollen Sie mich ruinieren, Steiner? So viel zahlt man ja beinahe einem legal angemeldeten Arbeitsburschen“, fügte er friedlicher hinzu.
„Ich bleibe auch ohne Geld“, erwiderte Kern rasch.
„Bravo, junger Mann! So wird man Millionär! Nur der Bescheidene kommt vorwärts im Leben!“ Potzloch blies schmunzelnd Luft durch die Nase und erhaschte seinen rutschenden Klemmer. „Aber Sie kennen Leopold Potzloch nicht, den letzten Menschenfreund! Sie bekommen Gage. Fünfzehn blanke Schilling im Monat. Gage, sagte ich, lieber Freund. Gage, nicht Gehalt! Ab heute sind Sie Künstler. Fünfzehn Schilling Gage sind mehr als tausend Gehalt. Kann er noch was Besonderes?“
„Etwas Klavier spielen“, sagte Kern.
Potzloch hakte den Klemmer energisch auf die Nase.
„Können Sie leise spielen? Stimmungsmusik?“ „Leise besser als laut.“
„Gut!“ Potzloch verwandelte sich in einen Feldmarschall. „Er soll irgendwas Ägyptisches üben! Bei der zersägten Mumie und der Dame ohne Unterleib können wir Musik brauchen.“
Er verschwand. Steiner sah Kern kopfschüttelnd an. „Du bestätigst meine Theorie“, sagte er. „Ich habe die Juden immer für das dümmste und vertrauensseligste Volk der Welt gehalten. Wir hätten glatt dreißig Schilling ’rausgeholt.“
Kern lächelte. „Du rechnest nicht mit einem: mit der panischen Angst, die ein paar tausend Jahre Pogrome und Getto gezüchtet haben. Daran gemessen, sind die Juden sogar ein tollkühnes Völkchen. Und schließlich bin ich nur ein elender Mischling.“
Steiner grinste. „Na schön, dann komm. Mazzes essen! Wir wollen das Laubhüttenfest feiern. Lilo ist eine wunderbare Köchin.“
Das Etablissement Potzloch bestand aus drei Abteilungen: einem Karussell, einer Schießbude und dem Panorama der Weltsensationen. Steiner führte Kern am Morgen gleich in einen Teil seiner Arbeiten ein. Er hatte den besseren Karussellpferden die Messingteile ihres Geschirrs zu putzen und das Karussell zu fegen.
Kern machte sich an seine Arbeit. Er putzte nicht nur die Pferde, sondern auch die Hirsche, die sich im Takt wiegten, und die Schwane und die Elefanten. Er war so vertieft, dass er nicht hörte, wie Steiner an ihn herantrat. „Komm, Kleiner, Mittagessen!“
„Schon wieder essen?“
Steiner nickte. „Schon wieder. Etwas ungewohnt, was? Du bist unter Künstlern; da herrschen die bürgerlichsten Sitten der Welt. Es gibt sogar nachmittags eine Jause. Kaffee und Kuchen.“
„Ein Schlaraffenland!“ Kern kroch aus einer Gondel vor, die von einem Walfisch gezogen wurde. „Mein Gott, Steiner!“ sagte er. „Man könnte Angst kriegen, so wunderbar geht alles in der letzten Zeit. Zuerst in Prag – und jetzt hier. Gestern wusste ich noch nicht, wo ich schlafen sollte… und heute habe ich eine Stellung, eine Wohnung und werde zum Mittagessen abgeholt! Ich glaube es noch nicht!“
„Glaub’s nur“, erwiderte Steiner. „Denk nicht nach, nimm’s! Alte Devise der fahrenden Leute.“
„Hoffentlich dauert es noch ein bisschen!“
„Es ist eine Lebensstellung“, sagte Steiner. „Mindestens für drei Monate. Bis es zu kalt wird.“
Lilo hatte einen wackeligen Tisch in das Gras vor dem Wohnwagen gestellt. Sie brachte eine große Schüssel mit Gemüsesuppe und Fleisch und setzte sich zu Steiner und Kern. Es war helles Wetter mit einer Ahnung von Herbst in der Luft. Auf der Wiese waren Wäschestücke aufgehängt, zwischen denen ein paar gelbgrüne Zitronenfalter spielten.
Steiner dehnte die Arme. „Eine gesunde Existenz! Und nun auf in die Schießbude.“
Er zeigte Kern die Gewehre, und wie sie geladen wurden. „Es gibt zwei Arten von Schützen“, sagte er. „Die Ehrgeizigen und die Habgierigen.“
„Wie im Leben“, meckerte Direktor Potzloch, der gerade vorüberstrich.
„Die Ehrgeizigen schießen auf Karten und Nummern“, erläuterte Steiner weiter. „Sie sind nicht gefährlich. Die Habgierigen wollen etwas gewinnen.“ Er zeigte auf eine Anzahl Etageren im Hintergrund der Bude, die mit Teddybären, Puppen, Aschbechern, Weinflaschen, Bronzefiguren, Haushaltungsgegenständen und ähnlichen Sachen gefüllt waren.
„Sie sollen etwas gewinnen. Die unteren Etagen nämlich. Kommt einer aber an fünfzig Ringe heran, dann gerät er in die obersten Etagen, wo die Stücke zehn Schilling und mehr wert sind. Dann gibst du eine von Direktor Potzlochs Original-Zauberkugeln ins Gewehr. Sie sehen genauso aus wie die andern. Hier liegen sie, an dieser Seite. Der Mann wird staunen, wenn er plötzlich damit nur einen Zweier oder Dreier schießt. Bisschen weniger Pulver, verstehst du?“
„Ja.“
„Vor allem nie das Gewehr wechseln, junger Mann!“ erklärte Direktor Potzloch, der wieder hinter ihnen stand. „Mit dem Gewehr sind die Brüder misstrauisch. Mit den Kugeln nicht. Und dann die Balance! Gewonnen soll werden. Verdient aber muss werden. Das muss ausbalanciert werden. Wenn Sie das können, sind Sie ein Lebenskünstler. Nicht zuviel gesagt. Wer oft schießt, hat natürlich ein Recht auf die dritte Etage.“
„Wer fünf Schilling verpulvert hat, darf eine von den Bronzegöttinnen gewinnen“, sagte Steiner. „Wert einen Schilling.“
„Junger Mann“, sagte Potzloch plötzlich mit pathetischer Drohung, „auf eins mache ich Sie aber gleich aufmerksam: auf den Hauptgewinn. Der ist ungewinnbar, verstehn S’? Er ist ein Privatstück aus meiner Wohnung: ein Prunkstück!“
Er zeigte auf einen getriebenen, silbernen Obstkorb mit zwölf Silbertellern und Bestecken dazu. „Sie haben eher zu sterben, als einen Sechziger durchzulassen. Versprechen S’ mir das!“
Kern versprach es. Potzloch wischte sich den Schweiß von der Stirn und haschte nach seinem Kneifer. „Allein schon der Gedanke!“ murmelte er. „Meine Frau brächte mich um! Ein Erbstück, junger Mann“, schrie er, „ein Erbstück in dieser traditionslosen Zeit! Wissen S’ was ein Erbstück ist? Lassen S’ nur, Sie wissen es nicht…“
Er sauste los. Kern sah ihm nach. „Nicht so schlimm“, sagte Steiner. „Unsere Gewehre stammen sowieso aus der Zeit der Belagerung Trojas. Und außerdem hast du Lilo zu Hilfe, wenn’s brenzlig wird.“
Sie gingen zum Panorama der Weltsensationen hinüber. Es war eine Bude, die mit bunten Plakaten bedeckt war. Sie stand auf einem dreistufigen Podest. Vorn war ein Kassenhäuschen in Form eines chinesischen Tempels aufgebaut – eine Idee Leopold Potzlochs. Steiner wies auf ein Plakat, das einen Mann vorstellte, dem Blitze aus den Augen schossen. „Alvaro, das Wunder der Telepathie – das bin ich, Baby. Und du wirst mein Assistent werden.“
Sie gingen in die Bude hinein, die halbdunkel war und muffig roch. Einige Reihen leerer Stühle standen wie Gespenster unordentlich umher. Steiner stieg auf die Bühne. „Also pass auf! Irgend jemand im Zuschauerraum versteckt etwas bei einem andern; meistens sind es Zigarettenschachteln, Zündhölzer, Puderdosen oder sonderbarerweise Stecknadeln. Weiß der Himmel, wo die Leute immer die Stecknadeln herkriegen! Ich habe das zu finden. Ein interessierter Zuschauer wird heraufgebeten, ich fasse ihn bei der Hand und rase los. Entweder bist du das, dann führst du mich einfach hin, und je fester du meine Hand drückst, desto dichter bin ich bei dem versteckten Gegenstand. Leichtes Klopfen mit dem Mittelfinger bedeutet, dass es der richtige ist. Das ist einfach. Ich suche so lange, bis du klopfst. Höher oder tiefer zeigst du mir durch Auf- und Abbewegen der Hand.“
Direktor Potzloch erschien mit Getöse im Eingang. „Lernt er’s?“
„Wir wollen gerade probieren“, erwiderte Steiner. „Setzen Sie sich mal hin, Direktor, und verstecken Sie was an sich. Haben Sie eine Stecknadel bei sich?“
„Natürlich!“ Potzloch griff nach seinem Rockaufschlag.
„Natürlich hat er eine Stecknadel!“ Steiner drehte sich um. „Verstecken Sie sie. Und dann komm, Kern, und führe mich.“
Leopold Potzloch nahm die Nadel mit einem listigen Blick und klemmte sie zwischen seine Schuhsohle. „Los, Kern!“ sagte er dann.
Kern ging zur Bühne und nahm Steiners Hand. Er führte ihn zu Potzloch, und Steiner begann zu suchen.
„Ich bin kitzlig, Steiner“, prustete Potzloch und kreischte auf.
Nach einigen Minuten fand Steiner die Nadel. Sie wiederholten das Experiment noch ein paarmal. Kern lernte die Zeichen, und die Zeit, bis Steiner Potzlochs Zündholzschachtel fand, wurde immer kürzer.
„Ganz gut“, sagte Potzloch. „Übt das heute nachmittag weiter. Aber nun die Hauptsache: wenn S’ als Zuschauer auftreten, müssen S’ zögern, verstehen S’? Das Publikum darf keine Lunte riechen. Deshalb müssen S’ zögern! Machen Sie’s einmal, Steiner, ich werd’s ihm zeigen!“
Er setzte sich auf einen Stuhl neben Kern.
Steiner ging zum Podium. „Und nun bitte ich“, donnerte er mit Ausruferstimme in die leere Bude, „einen der geehrten Herrschaften, sich hierher auf die Bühne zu begeben! Nur durch einen Griff an die Hand, ohne ein Wort, wird die Gedankenübertragung erfolgen und der versteckte Gegenstand gefunden werden!“
Direktor Potzloch beugte sich vor, als wollte er aufstehen und etwas sagen. Dann begann er zu zögern. Er rutschte auf seinem Stuhl hin und her, rückte an seinem Kneifer und blickte sich verschämt um. Dann lächelte er entschuldigend, erhob sich halb, kicherte, setzte sich schnell wieder zurück, gab sich schließlich einen Ruck und schritt ernst, verlegen, neugierig und zaudernd zugleich auf den vor Lachen tobenden Steiner zu.
Vor dem Podium drehte er sich um. „Nun kopieren Sie das, junger Mann!“ ermunterte er Kern selbstgefällig.
„Das ist nicht zu kopieren!“ rief Steiner.
Potzloch grinste geschmeichelt. „Verlegenheit ist schwer darzustellen, das weiß ich als alter Bühnenhase. Echte Verlegenheit, mein’ ich.“
„Er ist von Natur verlegen“, erklärte Steiner. „Er wird es schon schaffen.“
„Na schön! Ich muss jetzt zum Ringelspiel.“
Potzloch schoss davon.
„Ein vulkanisches Temperament!“ äußerte Steiner anerkennend. „Über sechzig Jahre alt! Jetzt zeige ich dir, was du zu tun hast, wenn du nicht zögern kannst. Wenn ein anderer zögert. Wir haben zehn Reihen Stühle hier. Das erstemal, wenn du dir übers Haar streichst, zeigst du die Zahl der Reihe, wo das Versteckte ist. Einfach soviel Finger, Das zweitemal der wievielte Stuhl von links es ist. Dann fasst du bei dir unauffällig an die Stelle, wo es ungefähr versteckt ist. Ich finde es dann schon…“
„Genügt denn das?“
„Es genügt. Der Mensch ist enorm phantasielos in solchen Sachen.“
„Mir sieht es zu einfach aus.“
„Betrug muss einfach sein. Komplizierte Betrügereien misslingen fast immer. Wir werden die Kiste heute nachmittag weiter üben. Lilo hilft auch mit. Jetzt zeige ich dir den Klavierschimmel. Er hat Museumswert. Eines der ersten Klaviere, die je gebaut wurden.“
„Ich glaube, ich spiele viel zu schlecht.“
„Unsinn! Such dir ein paar hübsche Akkorde ’raus. Bei der zersägten Mumie spielst du sie getragen; bei der Dame ohne Unterleib flotter und abgehackt. Es hört dir ohnehin niemand zu.“
„Gut. Ich werde es probieren und es dir nachher vorspielen.“ Kern kroch in den Verschlag hinter der Bühne, aus dem ihm das Klavier mit gelben Stockzähnen entgegengrinste. Nach einigem Nachdenken wählte er für die Mumie den Tempeltanz aus „Aida“ und für den fehlenden Unterleib das Salonstück „Maikäfers Hochzeitstraum“. Er trommelte auf dem Klavier herum und dachte an Ruth, an Steiner, an die Wochen der Ruhe und das Abendessen, und er glaubte, es nie in seinem Leben so gut gehabt zu haben.
Eine Woche später erschien Ruth im Prater. Sie kam gerade, als die Nachtvorstellung des Panoramas der Sensationen begann. Kern brachte sie auf einen Platz in der ersten Reihe. Dann verschwand er ziemlich aufgeregt, um das Klavier zu bedienen. Er wechselte zur Feier des Tages das Programm. Für die Mumie spielte er die „Japanische Fackelserenade“ und für die Dame ohne Unterleib „Glühwürmchen, schimm’re!“ Sie waren effektvoller. Hinterher gab er für Mungo, den australischen Waldmenschen, freiwillig noch den Prolog aus dem „Bajazzo“ hinzu, sein Glanzstück, das reichlich Gelegenheit zu Arpeggios und Oktaven bot.
Draußen erwischte ihn Leopold Potzloch. „Prima!“ sagte er anerkennend. „Viel feuriger als sonst! Was getrunken?“
„Nein“, erwiderte Kern. „Nur eben so eine Stimmung…“
„Junger Mann!“ Potzloch griff nach seinem Kneifer. „Sie scheinen mich bis jetzt betrogen zu haben! Ich müsste Gage von Ihnen zurückverlangen! Von heute an sind Sie verpflichtet, immer in Stimmung zu sein. Ein Künstler kann das, verstehen Sie?“
„Ja.“
„Und als Ausgleich spielen Sie von nun an auch bei den zahmen Seehunden. Irgendwas Klassisches, verstanden?“
„Gut“, sagte Kern. „Ich kann ein Stück aus der Neunten Symphonie; das wird passen.“
Er ging in die Bude und setzte sich in eine der hinteren Reihen. Zwischen einem Federhut und einer Glatze sah er weit vorn, umwölkt von Zigarettenrauch, Ruths Kopf. Er schien ihm plötzlich der schmälste und schönste Kopf der Welt zu sein.
Manchmal verschwand er, wenn die Zuschauer sich bewegten und lachten; dann, überraschend, war er wieder da, wie eine ferne, sanfte Vision, und Kern konnte sich nur schwer vorstellen, dass er zu jemand gehörte, mit dem er nachher sprechen und neben dem er gehen würde.
Steiner trat auf die Bühne. Er trug ein schwarzes Trikot, auf das ein paar astrologische Zeichen gemalt waren. Eine dicke Dame versteckte ihren Lippenstift in der Brusttasche eines Jünglings, und Steiner forderte jemand auf, zu ihm auf die Bühne zu kommen.
Kern begann zu zögern. Er zögerte geradezu meisterhaft; selbst als er schon in der Mitte des Ganges war, wollte er noch einmal zurück. Potzloch warf ihm einen zustimmenden Blick zu – irrtümlicherweise, denn es war keine reife künstlerische Nuance, sondern Kern hatte nur einfach plötzlich das Gefühl, nicht an Ruth vorbeigehen zu können.
Dann aber klappte alles und war ganz leicht.
Potzloch winkte Kern nach der Vorstellung zu sich. „Junger Mann“, sagte er, „was ist heute los mit Ihnen? Sie haben erstklassig gezögert. Sogar mit dem Schweiß der Verlegenheit auf der Stirn. Schweiß ist schwer darzustellen, das weiß ich. Wie haben Sie’s gemacht? Atem angehalten?“
„Ich glaube, es war nur Lampenfieber.“
„Lampenfieber?“ Potzloch strahlte. „Endlich! Die echte Erregung des wirklichen Künstlers vor dem Auftritt! Ich will Ihnen was sagen: Sie spielen bei den Seehunden und von jetzt an auch bei dem Waldmenschen aus Neukölln, und ich erhöhe Ihr Gehalt um fünf Schilling. Einverstanden?“
„Einverstanden!“ sagte Kern. „Und zehn Schilling Vorschuss.“ Potzloch starrte ihn an. „Das Wort Vorschuss kennen Sie auch schon?“ Er zog einen Zehnschillingschein aus der Tasche. „Jetzt gibt’s keinen Zweifel mehr: Sie sind tatsächlich ein Künstler!“
„Also, Kinder “, sagte Steiner, „lauft los! Aber seid um ein Uhr wieder hier zum Essen. Es gibt heiße Piroggen, die heilige russische Nationalspeise. Nicht wahr, Lilo?“
Lilo nickte.
Kern und Ruth gingen über die Wiese hinter der Schießbude entlang, dem Lärm der Karussells zu. Die Lichter und die Musik des großen Platzes schlugen ihnen wie eine helle, strahlende Woge entgegen und überstürzten sie mit dem Gischt gedankenloser Fröhlichkeit.
„Ruth!“ Kern nahm ihren Arm. „Du sollst heute einen großen Abend haben! Mindestens fünfzig Schilling werde ich für dich ausgeben.“
„Das wirst du nicht!“ Ruth blieb stehen.
„Doch! Ich werde fünfzig Schilling für dich ausgeben. Aber so wie das Deutsche Reich. Ohne sie zu haben. Du wirst es sehen. Komm!“
Sie gingen zur Geisterbahn. Es war ein Riesenkomplex mit hoch in die Luft gebauten Schienen, über die kleine Wagen voll Gelächter und Geschrei sausten. Vor dem Eingang stauten sich die Menschen. Kern drängte sich durch und zog Ruth hinter sich her. Der Mann an der Kasse sah ihn an. „Hallo, George“, sagte er. „Auch wieder da? Geht hinein!“
Kern öffnete die Tür eines der niedrigen Wagen. „Steig ein!“
Ruth sah ihn überrascht an.
Kern lachte. „Es ist so! Reine Zauberei! Wir brauchen nicht zu bezahlen.“
Sie sausten los. Der Wagen stieg steil empor und stürzte dann in einen finsteren Tunnel. Ein kettenbeladenes Ungeheuer erhob sich wimmernd und griff nach Ruth. Sie schrie auf und drückte sich an Kern. Im nächsten Augenblick öffnete sich ein Grab, und eine Anzahl Skelette rasselte mit ihren Knochen einen monotonen Trauermarsch. Gleich darauf schoss der Wagen aus dem Tunnel heraus, wirbelte durch eine Kurve und stürzte aufs neue in einen Schacht. Ein anderer Wagen raste ihnen entgegen, zwei aneinandergedrückte Menschen saßen darin, die sie erschreckt anstarrten, ein Zusammenstoß schien unvermeidlich – da schleuderte der Wagen durch eine Kurve, das Spiegelbild verschwand, und sie flogen in eine dampfende Höhle, in der feuchte Hände über ihre Gesichter glitten.
Sie überfuhren noch einen letzten, wimmernden Greis, dann kamen sie wieder ans Tageslicht, und der Wagen hielt an. Sie stiegen aus. Ruth strich sich über die Augen. „Wie schön das alles plötzlich ist!“ sagte sie und lächelte. „Das Licht, die Luft – dass man atmet und gehen kann…“
„Warst du schon einmal im Flohzirkus?“ fragte Kern.
„Nein.“
„Dann komm!“
„Servus, Charlie!“ sagte die Frau am Eingang zu Kern. „Ausgehtag heut? Geht hinein! Wir haben gerade Alexander II. drin.“
Kern sah Ruth vergnügt an. „Wieder umsonst!“ erklärte er. „Komm!“
Alexander II. war ein ziemlich starker, rötlicher Floh, der zum erstenmal frei vor dem Publikum arbeitete. Der Dompteur war etwas nervös; Alexander II. war bisher nur als vorderes linkes Pferd eines Viererzuges tätig gewesen und hatte ein ungestümes, unberechenbares Temperament. Das Publikum, das mit Ruth und Kern aus fünf Personen bestand, beobachtete ihn gespannt.
Aber Alexander II. arbeitete tadellos. Er ging wie ein Traber; er kletterte und turnte am Trapez, und sogar sein Glanzstück frei an der Balancierstange verrichtete er, ohne auch nur einmal zur Seite zu schielen.
„Bravo, Alfons!“ Kern schüttelte dem stolzen Dompteur die zerstochene Hand.
„Danke. Wie hat es Ihnen gefallen, meine Dame?“ „Es war wunderbar.“ Ruth schüttelte ihm ebenfalls die Hand. „Ich verstehe nicht, wie Sie das überhaupt fertigbringen.“
„Es ist ganz einfach. Alles Dressur. Und Geduld. Mir hat einmal einer gesagt, man könne sogar Steine dressieren, wenn man genug Geduld hätte.“ Der Dompteur machte verschmitzte Augen. „Weißt du, Charlie, bei Alexander II. war ein kleiner Trick dabei. Ich habe das Vieh vor der Vorstellung eine halbe Stunde an der Kanone ziehen lassen. An dem schweren Mörser. Davon ist er müde geworden. Und müde macht willig.“
„An der Kanone?“ fragte Ruth. „Haben denn selbst die Flöhe schon Kanonen?“
„Sogar schwere Feldartillerie.“ Der Dompteur ließ Alexander II. einen herzhaften Belohnungsbiss an seinem Unterarm tun. „Es ist halt einmal das populärste, meine Dame. Und populär bringt Geld!“
„Sie schießen aber nicht aufeinander“, sagte Kern. „Sie rotten sich nicht aus – darin sind sie vernünftiger als wir.“
Sie gingen zur mechanischen Autorennbahn.
„Grüß dich Gott, Peperl!“ heulte der Mann am Eingang, durch das metallene Getöse. „Nehmt Nummer sieben, die rammt gut!“
„Hältst du mich nicht allmählich für den Bürgermeister von Wien?“ fragte Kern Ruth.
„Für viel mehr; für den Besitzer des Praters.“
Sie sausten los, stießen mit andern zusammen und waren bald mitten im Wirbel. Kern lachte und ließ das Steuer los; Ruth versuchte ernsthaft, mit zusammengezogenen Augenbrauen, weiter zu lenken. Schließlich ließ sie es, wandte sich an Kern, wie entschuldigend, und lächelte – das seltene Lächeln, das ihr Gesicht erhellte und weich und kindlich machte. Man sah dann plötzlich den roten, vollen Mund und nicht mehr die schweren Augenbrauen.
Sie machten noch die Runde durch ein halbes Dutzend Buden und Etablissements – von den rechnenden Seelöwen bis zum indischen Zukunftsdeuter; nirgendwo brauchten sie etwas zu zahlen. „Du siehst“, sagte Kern stolz, „sie verwechseln zwar meinen Namen überall; aber wir haben freien Eintritt. Das ist die höchste Form der Volkstümlichkeit.“
„Werden wir auch beim großen Riesenrad umsonst ’reingelassen?“ fragte Ruth.
„Bestimmt! Als Künstler Direktor Potzlochs. Sogar mit besonderen Ehren. Komm, wir gehen sofort hin.“
„Servus, Schani“, sagte der Mann an der Kasse. „Mit Fräulein Braut?“
Kern nickte, errötete und blickte Ruth nicht an.
Der Mann nahm zwei bunte Postkarten von einem Haufen, der neben ihm lag, und überreichte sie Ruth. Es waren Abbildungen des Riesenrades mit dem Panorama von Wien. „Zur Erinnerung, mein Fräulein.“
„Danke vielmals.“
Sie stiegen in einen der Wagen und setzten sich ans Fenster. „Das mit der Braut habe ich so hingehen lassen“, sagte Kern. „Es hätte zu lange gedauert, ihm das zu erklären.“
Ruth lachte. „Dafür haben wir ja die besonderen Ehren. Unsere Postkarten. Wir wissen nur beide nicht, wem wir sie schicken sollten.“
„Nein“, sagte Kern. „Ich weiß niemand. Und die, die ich wüßte, haben keine Adresse.“
Der Wagen schwebte langsam empor, und unter ihm entfaltete sich allmählich, wie ein großer Fächer, das Panorama von Wien. Zuerst der Prater mit den hellen Schnüren der erleuchteten Alleen, die wie doppelreihige Perlenstränge über dem dunklen Nakken des Waldes lagen – dann, wie ein riesiger Schmuck aus Smaragden und Rubinen, der bunte Glanz der Budenstadt – und endlich, mit allen Lichtern, unübersehbar fast, die Stadt und dahinter der schmale, dunkle Rauch der Höhenzüge.
Sie waren allein in dem Wagen, der in sanfter Kurve immer weiter stieg und dann nach links hinüberglitt – und es schien ihnen plötzlich, als wäre es kein Wagen mehr – als säßen sie in einem lautlosen Aeroplan und unter ihnen drehte sich langsam die Erde fort – als gehörten sie gar nicht mehr zu ihr, als wären sie in einem Geisterflugzeug, das nirgendwo mehr einen Landeplatz hatte und unter dem tausend Heimaten vorüberzogen, tausend erleuchtete Häuser und Stuben, abendliches Heimkehrlicht bis zu den Horizonten, Lampen und Wohnungen und schirmende Dächer darüber, die riefen und lockten, und keines war das ihre. Sie schwebten darüber im Dunkel der Heimatlosigkeit, und alles, was sie anzünden konnten, war die trostlose Kerze der Sehnsucht…
Die Fenster des Wohnwagens standen weit offen. Es war schwül und sehr still. Lilo hatte eine bunte Decke über das Bett und einen alten Samtvorhang aus der Schießbude über Kerns Lager gebreitet. Im Fenster schwankten zwei Lampions.
„Venezianische Nacht der Nomaden von heute“, sagte Steiner. „Wart ihr im kleinen Konzentrationslager?“
„Was meinst du?“
„Die Geisterbahn.“
„Ja.“
Steiner lachte. „Bunker, Verliese, Ketten, Blut und Tränen – die Geisterbahn ist plötzlich modern geworden, was, kleine Ruth?“ Er stand auf. „Wollen einen Wodka nehmen!“ Er holte die Flasche vom Tisch. „Wollen Sie auch einen, Ruth?“
„Ja, einen großen.“
„Und Kern?“
„Einen doppelten.“
„Kinder, ihr macht euch!“ sagte Steiner.
„Ich nehme einen aus reiner Lebensfreude“, erklärte Kern.
„Gib mir auch ein Glas“, sagte Lilo, die mit einer Platte brauner Piroggen hereinkam.
Steiner schenkte ein. Dann hob er sein Glas und grinste. „Es lebe die Depression! Die dunkle Mutter der Lebensfreude!“
Lilo stellte die Platte ab und holte einen Steinkrug mit Gurken und einen Teller mit dunklem russischem Brot. Dann nahm sie ihr Glas und trank es langsam aus. Das Licht der Lampions glitzerte in der klaren Flüssigkeit, dass es schien, als tränke sie aus einem rosafarbenen Diamanten.
„Gibst du mir noch ein Glas?“ fragte sie Steiner. „Soviel du willst, mein melancholisches Steppenkind. Ruth, wie ist es mit Ihnen?“
„Auch noch einen.“
„Gebt mir auch noch einen“, sagte Kern. „Ich habe Gehaltserhöhung bekommen.“
Sie tranken und aßen dann die warmen Kohl- und Fleischpasteten. Hinterher hockte Steiner sich auf sein Bett und rauchte. Kern und Ruth setzten sich auf das Lager Kerns am Boden. Lilo ging hin und her und räumte ab. Ihr Schatten schwankte groß über die Wände des Wagens. „Sing etwas, Lilo“, sagte Steiner nach einer Weile.
Sie nickte und nahm eine Gitarre, die in der Ecke an der Wand hing. Ihre Stimme, die heiser war, wenn sie sprach, wurde klar und tief, wenn sie sang. Sie saß im Halbdunkel. Ihr sonst unbewegtes Gesicht belebte sich, und die Augen bekamen einen wilden und schwermütigen Glanz. Sie sang russische Volkslieder und die alten Wiegenlieder der Zigeuner. Nach einer Zeitlang hörte sie auf und sah Steiner an. Das Licht spiegelte sich in ihren Augen.
„Sing weiter“, sagte Steiner.
Sie nickte und griff einige Akkorde auf der Gitarre. Dann begann sie zu summen, kleine, einförmige Melodien, aus denen manchmal Worte aufstiegen wie Vögel aus dem Dunkel weiter Steppen, Lieder der Wanderschaft, der flüchtigen Ruhe unter Zelten, und es schien, als würde auch der Wagen im unruhigen Licht der Lampions zu einem Zelt, rasch aufgeschlagen in der Nacht, und morgen müsste sie alle weiter.
Ruth saß vor Kern und lehnte sich an ihn; ihre Schultern berührten seine hochgezogenen Knie, und er spürte die glatte Wärme ihres Rückens. Sie legte den Kopf zurück gegen seine Hände. Die Wärme strömte durch seine Hände in sein Blut und machte ihn hilflos vor fremden Wünschen. Es wollte etwas herein und hinaus, ein Dunkles, es war in ihm und außer ihm, es war in der tiefen, leidenschaftlichen Stimme Lilos und in dem Atem der Nacht, in der erworrenen Flucht seiner Gedanken und in der leuchtenden Flut, die ihn plötzlich hob und trug. Er legte seine Hände wie eine Schale um den schmalen Nakken vor ihm, der ihm willig entgegenkam.
Es war still draußen, als Kern und Ruth fortgingen. Die Buden waren schon mit ihren Zeltplanen verhängt, der Lärm war verstummt, und über Rummel und Geschrei, über das Knallen der Schüsse und die schrillen Rufe der Achterbahnen war lautlos wieder der Wald gewachsen und hatte den bunten und grauen Aussatz der Zelte unter sich begraben.
„Willst du schon nach Hause?“ fragte Kern.
„Ich weiß nicht. Nein.“
„Lass uns noch hierbleiben. Herumgehen. Ich wollte, es würde nie morgen.“
„Ja. Morgen ist immer Angst und Ungewissheit. Wie schön es hier ist.“
Sie gingen durch das Dunkel. Die Bäume über ihnen regten sich nicht. Sie waren in ein weiches Schweigen wie in unsichtbare Watte gepackt. Die Blätter machten nicht das geringste Geräusch.
„Vielleicht sind wir die einzigen, die noch wach sind…“
„Ich weiß nicht. Die Polizisten sind immer länger wach…“
„Hier gibt es keine Polizisten. Hier nicht. Hier ist Wald. Wie schön es ist zu gehen! Man hörte die Füße gar nicht.“
„Ja, man hört nichts.“
„Doch, dich höre ich. Aber vielleicht bin ich es auch. Ich kann mir nicht mehr vorstellen, wie es war ohne dich.“
Sie gingen weiter. Es war so still, dass die Stille zu raunen schien – als wäre sie ohne Atem und warte auf etwas ungeheuer Fremdes von weit her.
„Gib mir deine Hand“, sagte Kern. „Ich habe Angst, dass du plötzlich nicht mehr da bist.“
Ruth lehnte sich an ihn. Er fühlte ihr Haar an seinem Gesicht. „Ruth“, sagte er, „ich weiß, es ist nichts anderes als ein bisschen Zusammengehören in all der Flucht und der Leere – aber für uns ist das wohl mehr als vieles, das große Namen hat…“
Sie nickte an seiner Schulter. Sie standen eine Weile so. „Ludwig“, sagte Ruth. „Manchmal möchte ich nirgendwo mehr hin. Mich einfach so fallen lassen, in die Erde, und auslöschen…“
„Bist du müde?“
„Nein, nicht müde. Ich bin nicht müde. Ich könnte immer so weitergehen. Es ist so weich. Man stößt nirgendwo an.“
Es begann zu wehen. Das Laub über ihnen fing an zu rauschen. Kern fühlte einen warmen Tropfen auf seiner Hand. Ein zweiter streifte sein Gesicht. Er sah auf. „Es fängt an zu regnen, Ruth.“
„Ja.“
Die Tropfen fielen regelmäßiger und dichter. „Nimm meine Jacke“, sagte Kern. „Mir macht es nichts, ich bin es gewohnt.“
Er hängte Ruth seine Jacke über die Schultern. Sie fühlte die Wärme, die noch darin war, und fühlte sich plötzlich sonderbar geborgen.
Es hörte auf zu wehen. Einen Augenblick schien der Wald den Atem anzuhalten, dann flammte ein lautloser, weißer Blitz durch das Dunkel, ein rascher Donner folgte, und auf einmal stürzte der Regen hernieder, als hätte der Blitz den Himmel aufgerissen.
„Komm schnell!“ rief Kern.
Sie liefen dem Karussell zu, das mit seinen heruntergelassenen Zeltwänden wie ein stumpfer Räuberturm undeutlich in der Nacht stand. Kern hob die Zeltplane an einer Stelle hoch, sie krochen beide darunter hinweg und standen, hoch atmend, plötzlich geschützt wie unter einer riesigen, dunklen Trommel, auf die der Regen herabprasselte.
Kern fasste Ruths Hand und zog sie mit sich. Ihre Augen gewöhnten sich bald an das Dunkel. Gespensterhaft ragten die Umrisse der sich bäumenden Pferde auf; die Hirsche waren in ewiger, schattenhafter Flucht versteinert; die Schwäne breiteten Flügel voll geheimnisvoller Dämmerung, und ruhevoll standen, dunkler im Dunkel, die mächtigen Rücken der Elefanten.
„Komm!“ Kern zog Ruth zu einer Gondel. Er griff ein paar Samtkissen aus den Wagen und Karossen zusammen und packte sie unten hinein. Dann riss er einem Elefanten seine goldbestickte Schabracke ab. „So, jetzt hast du eine Decke wie eine Prinzessin…“
Draußen rollte langgezogen der Donner. Die Blitze warfen einen matten, bleichen Glanz in das warme Dunkel des Zeltes – und jedesmal tauchten dann die bunten Geweihe und Geschirre der Tiere, die friedlich in ewigem Kreise hintereinander paradierten, auf, wie die sanfte, ferne Vision eines verzauberten Paradieses. Kern sah Ruths bleiches Gesicht mit den dunklen Augen, und er spürte, während er sie zudeckte, ihre Brust unter seiner Hand; unbekannt und fremd wieder und erregend, wie in der ersten Nacht im Hotel Bristol in Prag.
Das Gewitter kam rasch näher. Der Donner überrollte das Trommeln auf dem straffgespannten Zeltdache, von dem das Wasser in Güssen herniederschoss; der Boden bebte bei den heftigen Schlägen, und plötzlich, im nachklingenden Schweigen einer letzten, besonders schweren Erschütterung, löste sich das Karussell und begann sich langsam zu drehen. Langsamer als am Tage, fast unwillig und wie unter einem geheimen Zwang – auch die Musik war langsamer als am Tage und auf eine sonderbare Weise mit Pausen untermischt. Es war nur eine halbe Runde, als wäre es einen Augenblick aus dem Schlaf erwacht – dann stand es wieder still, und auch die Orgel schwieg, als wäre sie müde auseinandergebrochen, und nur noch Regen rauschte, der Regen, das älteste Schlaflied der Welt.