Книга: Liebe deinen Nächsten / Возлюби ближнего своего. Книга для чтения на немецком языке
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Es gelang Kern, seine Aufenthaltserlaubnis noch um fünf Tage zu verlängern; dann wurde er ausgewiesen. Man gab ihm einen Freifahrtschein bis zur Grenze, und er fuhr zur Zollstation.

„Ohne Papiere?“ fragte der tschechische Beamte.

„Ja.“

„Gehen Sie ’rein. Es sind schon ein paar da. In ungefähr zwei Stunden ist die beste Zeit.“

Kern betrat die Zollbude. Es waren noch drei Leute da – ein sehr blasser Mann mit einer Frau und ein alter Jude.

„Guten Abend“, sagte Kern.

Die anderen murmelten etwas.

Kern stellte seinen Koffer ab und setzte sich. Er war müde und schloss die Augen. Er wusste, dass der Weg nachher noch lang sein würde, und versuchte zu schlafen.

„Wir kommen ’rüber“, hörte er den blassen Mann sagen, „du wirst sehen, Anna, dann wird alles besser.“

Die Frau gab keine Antwort.

„Bestimmt kommen wir ’rüber“, begann der Mann wieder, „ganz bestimmt! Weshalb sollten sie uns nicht ’rüberlassen?“

„Weil sie uns nicht haben wollen“, erwiderte die Frau.

„Aber wir sind doch Menschen…“

Du armer Narr, dachte Kern. Er hörte den Mann undeutlich weitermurmeln; dann schlief er ein.

Er erwachte, als der Zollbeamte kam, um sie abzuholen. Sie gingen über die Felder und kamen zu einem Laubwald, der massig wie ein schwarzer Block vor ihnen im Dunkel lag.

Der Beamte blieb stehen. „Folgen Sie diesem Fußweg und halten Sie sich nach rechts. Wenn Sie die Straße erreicht haben, wieder nach links. Alles Gute.“

Er verschwand in der Nacht.

Die vier standen unentschlossen. „Was sollen wir nun machen?“ fragte die Frau. „Weiß einer den Weg?“

„Ich werde vorangehen“, sagte Kern. „Ich war vor einem Jahr schon einmal hier.“

Sie tasteten sich durch das Dunkel. Der Mond war noch nicht aufgegangen. Das Gras war nass und streifte unsichtbar und fremd über ihre Schuhe. Dann kam der Wald mit seinem großen Atem und nahm sie auf.

Sie gingen lange Zeit. Kern hörte die andern hinter sich. Plötzlich blitzten elektrische Lampen vor ihnen auf, und eine grobe Stimme rief: „Halt! Stehenbleiben!“

Kern brach mit einem Sprung seitlich aus. Er rannte ins Dunkel, stieß gegen Bäume, tastete sich weiter, durch ein Brombeergestrüpp, und warf seinen Koffer hinein. Hinter sich hörte er laufen. Er drehte sich um. Es war die Frau. „Verstecken Sie sich!“ flüsterte er. „Ich klettere hier ’rauf!“

„Mein Mann… oh, dieser…“

Kern kletterte rasch einen Baum hinauf. Er fühlte das weiche, rauschende Laub unter sich und hockte sich in eine Astgabel. Unten stand regungslos die Frau; er konnte sie nicht sehen, er fühlte nur, dass sie da stand.

Aus der Ferne hörte er den alten Juden etwas sagen.

„Das ist mir wurscht“, erwiderte die grobe Stimme dagegen. „Ohne Pass kommen Sie nicht durch, basta!“

Kern lauschte. Nach einer Weile hörte er auch die leise Stimme des anderen Mannes, der dem Gendarmen antwortete. Sie hatten also beide erwischt. Im selben Augenblick raschelte es unter ihm. Die Frau murmelte etwas und ging zurück.

Eine Weile blieb es ruhig. Dann huschte der Lichtschein der Taschenlampe zwischen den Bäumen umher. Schritte kamen näher. Kern drückte sich an den Stamm. Er war gut gedeckt durch das volle Laub unter ihm. Plötzlich hörte er die harte, unbeherrschte Stimme der Frau. „Hier muss er sein! Er ist auf einen Baum geklettert, hier…“

Der Lichtschein glitt nach oben, „’runterkommen!“ schrie die grobe Stimme. „Sonst wird geschossen!“

Kern überlegte einen Moment. Es hatte keinen Zweck. Er kletterte herunter. Die Taschenlampen leuchteten ihm grell ins Gesicht. „Pass?“

„Wenn ich einen Pass hätte, war’ ich da nicht hinaufgeklettert.“

Kern sah die Frau an, die ihn verraten hatte. Sie war aufgelöst und fast nicht bei Sinnen. „Das möchten Sie wohl!“ zischte sie ihn an. „Ausreißen, und wir sollen hierbleiben! Alle sollen hierbleiben!“ schrie sie. „Alle!“

„Maul halten!“ brüllte der Gendarm. „Zusammenstellen!“ Er leuchtete die Gruppe an. „Wir sollten euch eigentlich ins Gefängnis bringen, das wißt ihr wohl! Unbefugter Grenzübertritt! Aber wozu euch erst noch füttern! Kehrt marsch! Zurück in die Tschechoslowakei. Aber merkt euch: das nächstemal wird sofort geschossen!“

Kern suchte seinen Koffer aus dem Gestrüpp. Dann gingen die vier schweigend im Gänsemarsch zurück. Hinter ihnen gingen die Gendarmen mit den Taschenlampen. Es war gespenstisch, dass sie von ihren Gegnern nichts sahen als die weißen Kreise der Lampen; es waren nur Stimmen und Licht, die sie gefangen hatten und zurücktrieben.

Die Lichtkreise blieben stehen. „Marsch, vorwärts in dieser Richtung!“ befahl die grobe Stimme. „Wer wiederkommt, wird erschossen!“

Die vier gingen weiter, bis das Licht hinter den Bäumen verschwand.

Kern hörte hinter sich die leise Stimme des Mannes der Frau, die ihn verraten hatte. „Verzeihen Sie… sie war außer sich… entschuldigen Sie… es tut ihr ganz bestimmt jetzt schon leid…“

„Das ist mir egal“, sagte Kern nach rückwärts.

„Verstehen Sie doch“, flüsterte der Mann; „der Schreck, die Angst…“

„Verstehen meinetwegen!“ Kern wandte sich um. „Verzeihen ist mir zu anstrengend. Ich vergesse lieber.“

Er blieb stehen. Sie befanden sich auf einer kleinen Lichtung. Die andern hielten ebenfalls an. Kern legte sich ins Gras und schob seinen Koffer unter den Kopf. Die andern flüsterten miteinander. Dann trat die Frau einen Schritt vor. „Anna“, sagte der Mann.

Die Frau stellte sich vor Kern auf. „Wollen Sie uns den Weg zurück nicht zeigen?“ fragte sie scharf.

„Nein“, erwiderte Kern.

„Sie! – Sie haben doch Schuld, dass wir erwischt wurden! Sie Lump!“

„Anna!“ sagte der Mann.

„Lassen Sie nur“, sagte Kern. „Immer gut, wenn man sich ausspricht.“

„Stehen Sie auf!“ schrie die Frau.

„Ich bleibe hier. Sie können tun, was Sie wollen. Geradeaus hinter dem Wald links geht’s zum tschechischen Zoll.“

„Judenlümmel!“ schrie die Frau.

Kern lachte. „Das hat noch gefehlt!“

Er sah, wie der blasse Mann auf die maßlose Frau einflüsterte und sie wegdrängte.

„Er geht bestimmt zurück!“ schluchzte sie, „ich weiß, er geht zurück und kommt ’rüber. Er soll uns… er hat die Pflicht…„

Der Mann führte die Frau langsam weg, dem Walde zu. Kern griff nach einer Zigarette. Da sah er ein paar Meter vor sich etwas Dunkles auftauchen, wie einen Gnom aus der Erde. Es war der alte Jude, der sich ebenfalls hingelegt hatte. Er richtete sich auf und schüttelte den Kopf. „Diese Gojim!“

Kern erwiderte nichts. Er zündete seine Zigarette an.

„Bleiben wir die Nacht hier?“ fragte der Alte nach einer Weile sanft.

„Bis drei. Dann ist die beste Zeit. Jetzt passen sie noch auf. Wenn keiner kommt, werden sie müde.“

„Wer’n wir halt solange warten“, sagte der Alte friedlich.

„Es ist weit, und ein Stück werden wir jetzt wohl kriechen müssen“, erwiderte Kern.

„Macht nix. Wer’ ich halt auf meine alten Tage ’n jiddischer Indianer.“

Sie saßen schweigend. Allmählich kamen Sterne am Himmel durch. Kern erkannte den Großen Bären und den Polarstern.

„Ich muss nach Wien“, sagte der Alte nach einiger Zeit.

„Ich muss eigentlich nirgendwohin“, erwiderte Kern.

„Das gibt’s.“ Der Alte kaute an einem Grashalm. „Später muss man dann wieder irgendwohin. So geht das. Man muss nur abwarten.“

„Ja“, sagte Kern. „Das muss man. Aber worauf wartet man?“

„Auf nichts im Grunde“, entgegnete der Alte ruhig. „Wenn es kommt, ist es nichts. Dann wartet man wieder auf was anderes.“

„Ja, vielleicht.“ Kern streckte sich wieder aus. Er fühlte den Koffer unter seinem Kopf. Es war gut, ihn zu fühlen.

„Ich bin der Moritz Rosenthal aus Godesberg am Rhein“, sagte der Alte nach einer Weile. Er holte aus einem Rucksack einen dünnen, grauen Havelock hervor und hängte ihn sich um die Schultern. Er sah jetzt noch mehr wie ein Gnom aus. „Manchmal ist es komisch, dass man einen Namen hat, was? Besonders nachts…“

Kern sah in den dunklen Himmel. „Wenn man keinen Pass hat, auch. Namen müssen aufgeschrieben sein, sonst gehören sie einem nicht.“

Der Wind fing sich in den Kronen der Bäume. Es rauschte, als wäre hinter dem Walde ein Meer. „Glauben Sie, dass sie schießen werden drüben?“ fragte Moritz Rosenthal.

„Ich weiß nicht. Vielleicht nicht.“

Der Alte wiegte seinen Kopf. „Einen Vorteil hat’s, wenn man über siebzig ist; man riskiert nicht mehr so viel von seinem Leben…“

* * *

Steiner hatte endlich erfahren, wo die Kinder des alten Seligmann versteckt waren. Die Adresse, die in dem hebräischen Gebetbuch gesteckt hatte, war richtig gewesen; aber man hatte die Kinder inzwischen anderswohin gebracht. Es dauerte lange, ehe Steiner herausbekam, wohin… man hielt ihn zunächst überall für einen Spitzel und war misstrauisch.

Er holte den Koffer aus der Pension und machte sich auf den Weg. Das Haus lag im Osten Wiens. Es dauerte über eine Stunde, bis er ankam. Er stieg die Treppen empor. In jeder Etage waren drei Wohnungstüren. Er zündete Streichhölzer an und suchte. Endlich fand er im vierten Stock ein ovales Messingschild mit der Aufschrift: Samuel Bernstein. Uhrmacher. Er klopfte.

Hinter der Tür hörte er ein Raunen und Huschen. Dann fragte eine vorsichtige Stimme. „Wer ist da?“

„Ich habe etwas abzugeben“, sagte Steiner. „Einen Koffer.“

Er hatte plötzlich das Gefühl, dass er beobachtet wurde, und drehte sich rasch um.

Die Tür zur Wohnung hinter ihm hatte sich lautlos geöffnet. Ein schmächtiger Mensch in Hemdsärmeln stand im Eingang. Steiner stellte den Koffer zu Boden.

„Zu wem wollen Sie?“ fragte der Mann in der Tür.

Steiner sah ihn an. „Bernstein ist nicht da“, fügte der Mann hinzu.

„Ich habe hier die Sachen des alten Seligmann“, sagte Steiner. „Seine Kinder sollen hier sein. Ich war dabei, wie er verunglückte.“

Der Mann betrachtete ihn noch einen Augenblick. „Du kannst ihn ruhig ’reinlassen, Moritz“, rief er dann.

Eine Kette rasselte, und ein Schlüssel knirschte. Die Tür zur Wohnung Bernsteins ging auf. Steiner spähte in das trübe Licht. „Was“, sagte er, „das ist doch nicht… aber natürlich, das ist Vater Moritz!“

Moritz Rosenthal stand in der Tür. In der Hand hielt er einen hölzernen Kochlöffel. Um seine Schultern hing der Havelock. „Ich bin’s“, erwiderte er. „Aber wer… Steiner!“ sagte er plötzlich herzlich und überrascht. „Ich hätte es mir denken sollen! Wahrhaftig, meine Augen werden schlecht! Ich wusste, dass Sie in Wien sind. Wann haben wir uns das letztemal getroffen?“

„Das ist schon ungefähr ein Jahr her, Vater Moritz.“

„In Prag?“

„In Zürich.“

„Richtig, in Zürich im Gefängnis. Nette Leute dort. Ich werfe das in der letzten Zeit etwas durcheinander. War vor einem halben Jahr erst wieder in der Schweiz. Basel. Vorzügliche Kost dort; leider keine Zigaretten wie im Stadtgefängnis von Locarno. Hatte da sogar einen Busch Kamelien in der Zelle. Tat mir leid, weg zu müssen. Mailand war kein Vergleich dagegen.“ Er hielt inne. „Kommen Sie ’rein, Steiner. Wir stehen da wie alte Raubmörder auf dem Korridor und tauschen Erinnerungen aus.“

Steiner trat ein. Die Wohnung bestand aus einer Küche und einer Kammer. Sie enthielt ein paar Stühle, einen Tisch, einen Schrank und zwei Matratzen mit Decken. Auf dem Tisch lag eine Anzahl Werkzeuge herum. Dazwischen standen billige Weckuhren und ein bemaltes Gehäuse mit Barockengeln, die eine alte Uhr hielten, deren Sekundenzeiger ein’ hin und her schwankender Tod mit einer Hippe war. Über dem Herd hing an einem gebogenen Arm eine Küchenlampe mit einem grünlichweißen, zerfledderten Gasbrenner. Auf den eisernen Ringen des Gaskochers stand ein großer Suppentopf und dampfte.

„Ich koche den Kindern gerade etwas“, sagte Moritz Rosenthal. „Fand sie hier wie Mäuse in der Falle. Bernstein ist im Krankenhaus.“

Die drei Kinder des toten Seligmann hockten neben dem Herd. Sie beachteten Steiner nicht. Sie starrten auf den Suppentopf. Der ältere war etwa vierzehn Jahre alt; der jüngste sieben oder acht.

Steiner stellte den Koffer nieder. „Hier ist der Koffer eures Vaters“, sagte er.

Die drei sahen ihn gleichzeitig an, fast ohne jede Bewegung. Sie wandten kaum die Köpfe.

„Ich habe ihn noch gesehen“, sagte Steiner. „Er sprach von euch.“

Die Kinder sahen ihn an. Sie antworteten nicht. Ihre Augen glitzerten wie rundgeschliffene schwarze Steine. Das Licht des Gasbrenners zischte. Steiner fühlte sich unbehaglich. Er hatte das Gefühl, etwas Warmes, Menschliches sagen zu müssen, aber alles, was ihm einfiel, erschien ihm albern und unwahr vor der Verlassenheit, die von den drei schweigenden Kindern ausging.

„Was ist in dem Koffer?“ fragte nach einer Zeitlang der älteste. Er hatte eine fahle Stimme und sprach langsam, hart und vorsichtig.

„Ich weiß es nicht mehr genau. Verschiedene Sachen eures Vaters. Auch etwas Geld.“

„Gehört er jetzt uns?“

„Natürlich. Deshalb habe ich ihn ja gebracht.“

„Kann ich ihn nehmen?“

„Aber ja!“ sagte Steiner erstaunt.

Der Junge stand auf. Er war schmal, schwarz und groß. Langsam, die Augen fest auf Steiner gerichtet, näherte er sich dem Koffer. Mit einer raschen, tierhaften Bewegung griff er dann danach und sprang fast zurück, als fürchte er, Steiner würde ihm die Beute wieder entreißen. Er schleppte den Koffer sofort in die Kammer nebenan. Die andern beiden folgten ihm rasch, dicht aneinandergedrängt, wie zwei große schwarze Katzen.

Steiner sah Vater Moritz an. „Na ja“, sagte er erleichtert. „Sie wussten es ja wohl schon länger…“

Moritz Rosenthal rührte die Suppe durcheinander. „Es macht ihnen nicht mehr viel. Sie haben ihre Mutter und zwei Brüder sterben sehen. Da trifft es sie nicht mehr so. Was oft kommt, trifft nicht mehr so.“

„Oder noch mehr“, sagte Steiner.

Moritz Rosenthal sah ihn aus seinen faltigen Augen an. „Wenn man sehr jung ist, nicht. Wenn man sehr alt ist, auch nicht mehr. Dazwischen, das ist die schlimme Zeit.“

„Ja“, sagte Steiner. „Diese lausigen fünfzig Jahre dazwischen, die sind es.“

Moritz Rosenthal nickte friedlich. „Gehen mich nichts mehr an, jetzt.“ Er legte den Deckel auf den Topf. „Wir haben sie schon untergebracht“, sagte er. „Einen nimmt Mayer mit nach Rumänien. Der zweite kommt in ein Kinderasyl in Locarno. Ich kenne jemand da, der für ihn bezahlt. Der älteste bleibt vorläufig hier bei Bernstein…“

„Wissen sie schon, dass sie sich trennen müssen?“

„Ja. Auch das macht ihnen nicht viel. Sie halten es mehr für ein Glück.“ Rosenthal wandte sich um. „Steiner“, sagte er, „ich kannte ihn seit zwanzig Jahren. Wie ist er gestorben? Ist er ’runtergesprungen?“

„Ja.“

„Man hat ihn nicht ’runtergeworfen?“

„Nein. Ich war dabei.“

„Ich hörte es in Prag. Da hieß es, sie hätten ihn ’runtergestoßen. Ich bin dann hergekommen. Nach den Kindern sehen. Hatte es ihm mal versprochen. Er war noch jung. Knapp sechzig. Dachte nicht, dass es so kommen würde. Aber er war immer etwas kopflos, seit Rachel tot ist.“ Moritz Rosenthal blickte Steiner an. „Er hatte viele Kinder. Das ist oft so bei Juden. Sie lieben Familie. Aber sie sollten eigentlich keine haben.“ Er zog den Havelock um die Schultern, als fröre ihn, und sah plötzlich sehr alt und müde aus.

Steiner holte ein Paket Zigaretten hervor. „Wie lange sind Sie schon hier, Vater Moritz?“ fragte er.

„Seit drei Tagen. Wurden an der Grenze einmal erwischt. Bin mit einem jungen Mann ’rübergekommen, den Sie kennen. Er erzählte mir von Ihnen. Kern hieß er.“

„Kern? Ja, den kenne ich. Wo ist er?“

„Auch hier irgendwo in Wien. Ich weiß nicht wo.“

Steiner stand auf. „Ich will mal sehen, ob ich ihn nicht finde. Auf Wiedersehen, Vater Moritz, alter Wanderer. Weiß der Himmel, wo wir uns wiedersehen werden.“

Er ging zu der Kammer, um sich von den Kindern zu verabschieden. Die drei saßen auf einer der Matratzen und hatten den Inhalt des Koffers vor sich ausgebreitet. Sorgfältig geordnet lagen die Garnrollen auf einem Häufchen; daneben die Schnürriemen, das Säckchen mit Schillingstücken und einige Pakete Nähseide. Die Wäsche, die Schuhe, der Anzug und die übrigen Sachen des alten Seligmann lagen noch im Koffer. Der älteste sah auf, als Steiner mit Moritz Rosenthal hereinkam. Unwillkürlich breitete er die Hände über die Dinge auf der Matratze. Steiner blieb stehen.

Der Junge blickte Moritz Rosenthal an. Seine Wangen waren gerötet, und seine Augen glänzten. „Wenn wir das da verkaufen“, sagte er aufgeregt und wies auf die Sachen im Koffer, „werden wir noch ungefähr dreißig Schilling mehr haben. Wir können das ganze Geld anlegen und Stoffe dazu nehmen – Manchester, Buckskin und auch noch Strümpfe —, damit verdient man mehr. Ich fange morgen gleich an. Morgen um sieben Uhr fange ich an.“ Er sah ernst und sehr gespannt den alten Mann an.

„Gut!“ Moritz Rosenthal streichelte ihm den schmalen Kopf. „Morgen um sieben Uhr fängst du an.“

„Walter braucht dann nicht nach Rumänien“, sagte der Junge. „Er kann mir helfen. Wir kommen schon durch. Nur Max muss dann weg.“

Die drei Kinder sahen Moritz Rosenthal an. Max, der jüngste, nickte. Er fand es richtig so.

„Wir werden sehen. Wir sprechen nachher noch darüber.“

Moritz Rosenthal begleitete Steiner zur Tür. „Keine Zeit zum Kummer“, sagte er. „Zuviel Not, Steiner.“

Steiner nickte. „Hoffentlich erwischt man den Jungen nicht sofort…“

Moritz Rosenthal schüttelte den Kopf. „Er wird schon aufpassen. Er weiß genug. Wir lernen früh.“

* * *

Steiner ging zum Café Sperler. Er war lange nicht mehr dagewesen. Seit er den falschen Pass hatte, vermied er Plätze, wo er von früher her bekannt war.

Kern saß an der Wand auf einem Stuhl. Er hatte die Füße auf seinen Koffer gestellt, den Kopf zurückgelehnt und schlief. Steiner setzte sich behutsam neben ihn; er wollte ihn nicht wecken. Etwas älter geworden, dachte er. Älter und reifer.

Er sah sich im Lokal um. Neben der Tür hockte der Landgerichtsrat Epstein, ein paar Bücher und ein Glas Wasser vor sich auf dem Tisch. Er saß allein und unzufrieden da; niemand saß vor ihm, angstvoll, fünfzig Groschen in der Hand. Steiner blickte sich um; anscheinend hatte die Konkurrenz, Rechtsanwalt Silber, die Kundschaft an sich gerissen. Aber Silber war gar nicht da.

Der Kellner kam heran, ohne gerufen zu werden. Sein Gesicht war verklärt. „Auch wieder einmal da?“ fragte er familiär.

„Erinnern Sie sich an mich?“

„Und ob! Ich hatte schon Sorgen um Sie. Ist ja alles viel schärfer geworden jetzt. Wieder einen Kognak, mein Herr?“

„Ja. Wo ist denn der Rechtsanwalt Silber geblieben?“

„Das ist auch ein Opfer, mein Herr. Verhaftet und ausgewiesen.“

„Aha! War Herr Tschernikoff kürzlich hier?“

„In dieser Woche nicht!“

Der Kellner brachte den Kognak und stellte das Tablett auf den Tisch. Im selben Moment öffnete Kern die Augen. Er blinzelte; dann sprang er auf. „Steiner!“

„Komm“, erwiderte der ruhig. „Trink mal gleich diesen Kognak hier. Nichts erfrischt so, wenn man sitzend geschlafen hat, wie ein Schnaps.“

Kern trank den Kognak aus. „Ich war schon zweimal hier, dich zu suchen“, sagte er.

Steiner lächelte. „Die Füße auf dem Koffer. Also ohne Bleibe, was?“

„Ja.“

„Du kannst bei mir schlafen.“

„Wirklich? Das wäre wunderbar. Ich hatte bis jetzt ein Zimmer bei einer jüdischen Familie. Aber heute musste ich ’raus. Sie haben zuviel Angst, jemand länger als zwei Tage zu behalten.“

„Bei mir brauchst du keine Angst zu haben. Ich wohne weit draußen. Wir können gleich aufbrechen. Du siehst aus, als brauchtest du Schlaf.“

„Ja“, sagte Kern. „Ich bin müde. Ich weiß nicht, warum.“

Steiner winkte dem Kellner. Der kam angaloppiert wie ein altes Schlachtross, das schon lange Karren gezogen hat, beim Signal zum Sammeln. „Danke“, sagte er erwartungsvoll, schon bevor Steiner gezahlt hatte, „danke herzlichst, mein Herr!“

Er besah das Trinkgeld. „Küß’ die Hand“, stammelte er überwältigt. „Ergebenster Diener, Herr Graf!“

„Wir müssen in den Prater“, sagte Steiner draußen.

„Ich gehe überall hin“, erwiderte Kern. „Ich bin schon wieder ganz munter.“

„Wir werden die Trambahn nehmen. Besser, wegen deines Koffers. Immer noch Toilettewasser und Seife?“

Kern nickte.

„Ich heiße inzwischen anders; kannst mich aber ruhig weiter Steiner nennen. Ich führe den Namen für alle Zufälle als Künstlernamen. Kann dann immer behaupten, er sei ein Pseudonym. Oder der andere sei eines. Je nachdem.“

„Was bist du denn jetzt?“

Steiner lachte. „Eine Zeitlang war ich Aushilfskellner. Als der frühere dann aus dem Hospital zurückkam, musste ich ’raus. Jetzt bin ich Assistent des VergnügungsetablissementsPotzloch. Schießbudenhengst und Hellseher. Was hast du vor, hier?“

„Nichts.“

„Vielleicht kann ich dich bei uns unterbringen. Es werden gelegentlich immer Leute zur Aushilfe gebraucht. Werde morgen mal dem alten Potzloch auf die Bude rücken. Der Vorteil ist, dass niemand im Prater kontrolliert. Brauchst nicht einmal angemeldet zu werden.“

„Mein Gott“, sagte Kern, „das wäre großartig. Ich möchte jetzt gern eine Zeitlang in Wien bleiben.“

„So?“ Steiner sah ihn schräg von der Seite an. „Möchtest du?“

„Ja.“

Sie stiegen aus und gingen durch den nächtlichen Prater. Vor einem Wohnwagen, etwas abseits von der Rummelplatzstadt, blieb Steiner stehen. Er schloss auf und zündete eine Lampe an.

„So, Baby, da sind wir. Jetzt werden wir dir zunächst einmal eine Art Bett zaubern.“

Er holte ein paar Decken und eine alte Matratze aus einem Winkel und breitete sie neben seinem Bett auf dem Boden aus. „Du hast sicher Hunger, was?“ fragte er.

„Ich weiß es schon nicht mehr.“

„In dem kleinen Kasten ist Brot, Butter und ein Stück Salami. Mach mir auch ein Brot zurecht.“

Es klopfte leise an die Tür. Kern legte das Messer weg und lauschte. Seine Augen suchten das Fenster. Steiner lachte. „Die alte Angst, Kleiner, was? Werden wir sicher nie wieder los. Komm herein, Lilo!“ rief er.

Eine schlanke Frau trat ein und blieb an der Tür stehen. „Ich habe Besuch“, sagte Steiner. „Ludwig Kern. Jung, aber schon erfahren in der Fremde. Er bleibt hier. Kannst du uns etwas Kaffee machen, Lilo?“

„Ja.“

Die Frau nahm einen Spirituskocher, zündete ihn an, stellte einen kleinen Kessel mit Wasser darauf und begann, Kaffee zu mahlen. Sie machte das alles fast geräuschlos, mit langsamen, gleitenden Bewegungen.

„Ich dachte, du schliefest längst, Lilo“, sagte Steiner.

„Ich kann nicht schlafen.“

Die Frau hatte eine tiefe, heisere Stimme. Ihr Gesicht war schmal und regelmäßig. Das schwarze Haar hatte sie in der Mitte gescheitelt. Sie sah aus wie eine Italienerin, aber sie sprach das harte Deutsch der Slawen.

Kern saß auf einem zerbrochenen Rohrstuhl. Er war sehr müde, nicht nur im Kopf – eine schläfrige Entspannung, wie seit langem nicht, war über ihn gekommen. Er fühlte sich geborgen.

„Ein Kissen“, sagte Steiner. „Das einzige, was fehlt, ist ein Kissen.“

„Das macht nichts“, erwiderte Kern. „Ich lege meine Jacke zusammen oder etwas Unterzeug aus meinem Koffer.“

„Ich habe ein Kissen“, sagte die Frau.

Sie brühte den Kaffee auf, dann erhob sie sich und ging mit ihren schattenhaften, lautlosen Bewegungen hinaus.

„Komm, iss!“ sagte Steiner und goss Kaffee in zwei henkellose Tassen mit blauem Zwiebelmuster.

Sie aßen das Brot und die Wurst… Die Frau kam wieder herein und brachte ein Kissen mit. Sie legte es auf das Lager Kerns und setzte sich an den Tisch.

„Willst du keinen Kaffee, Lilo?“ fragte Steiner.

Sie schüttelte den Kopf. Sie sah still den beiden zu, während sie aßen und tranken. Dann stand Steiner auf. „Zeit zum Schlafen. Bist doch müde, Kleiner, was?“

„Ja. Jetzt allmählich wieder.“

Steiner strich der Frau über das Haar. „Geh auch schlafen, Lilo…“

„Ja.“ Sie stand gehorsam auf. „Gute Nacht…“

Kern und Steiner legten sich zu Bett. Steiner löschte die Lampe aus. „Weißt du“, sagte er nach einer Weile aus dem warmen Dunkel hervor, „man soll so leben, als ob man nie mehr zurückkäme nach drüben.“

„Ja“, erwiderte Kern. „Für mich ist das nicht schwer.“

Steiner zündete sich eine Zigarette an. Er rauchte langsam. Der rötliche Lichtpunkt glomm jedesmal heller auf, wenn er den Rauch einatmete. „Willst du auch eine haben?“ fragte er. „Sie schmecken ganz anders im Dunkeln.“

„Ja.“ Kern fühlte Steiners Hand, die ihm das Paket und die Streichhölzer hinüberreichte.

„Wie war es in Prag?“ fragte Steiner.

„Gut.“ Kern wartete und rauchte. Dann sagte er: „Ich habe jemand da getroffen.“

„Bist du deshalb jetzt nach Wien gekommen?“

„Nicht nur deshalb. Aber sie ist auch in Wien.“

Steiner lächelte im Dunkeln. „Bedenke, dass du ein Wanderer bist, Baby. Wanderer sollen Abenteuer haben; aber nichts, was ihnen ein Stück Herz wegreißt, wenn sie fort müssen.“

Kern schwieg.

„Das sagt nichts gegen die Abenteuer“, fügte Steiner hinzu. „Auch nichts gegen das Herz. Am allerwenigsten aber gegen die, die uns ein bisschen Wärme unterwegs geben. Nur etwas gegen uns, vielleicht. Weil man nimmt – und wenig zurückgeben kann.“

„Ich glaube, ich kann gar nichts zurückgeben.“ Kern fühlte sich plötzlich sehr mutlos. Was wusste er schon? Und was konnte er Ruth schon geben? Nur sein Gefühl. Und das schien ihm nichts zu sein. Er war jung und unwissend, das war alles.

„Gar nichts ist viel mehr als ein wenig, Baby“, sagte Steiner ruhig. „Es ist schon beinahe alles.“

„Es kommt darauf an, von wem…“

Steiner lächelte. „Hab keine Angst, Baby. Alles ist richtig, was man fühlt. Wirf dich hinein. Aber bleib nicht hängen.“ Er drückte seine Zigarette aus. „Schlaf gut. Morgen gehen wir zu Potzloch…“

„Danke. Ich werde sicher gut schlafen hier…“

Kern legte seine Zigarette beiseite und wühlte den Kopf in das Kissen der fremden Frau. Er war immer noch mutlos; aber auch fast glücklich.

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