Книга: Liebe deinen Nächsten / Возлюби ближнего своего. Книга для чтения на немецком языке
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Marill saß auf der Zementterrasse des Hotels und fächelte sich mit einer Zeitung. Er hatte einige Bücher vor sich. „Kommen Sie her, Kern!“ rief er. „Der Abend naht. Da sucht das Tier die Einsamkeit und der Mensch die Gesellschaft. Was macht die Aufenthaltserlaubnis?“

„Noch eine Woche.“ Kern setzte sich zu ihm.

„Eine Woche im Gefängnis ist lang. In der Freizeit kurz.“ Marill schlug auf die Bücher vor ihm. „Die Emigration bildet! Auf meine alten Tage lerne ich noch Französisch und Englisch.“

„Ich kann das Wort Emigrant manchmal nicht mehr hören“, sagte Kern verdrießlich.

Marill lachte. „Unsinn! Sie sind in der besten Gesellschaft. Dante war ein Emigrant. Schiller musste ausreißen. Heine. Victor Hugo. Das sind nur ein paar. Sehen Sie da oben den blassen Bruder Mond – ein Emigrant der Erde. Und Mutter Erde selbst – eine alte Emigrantin der Sonne.“ Er blinzelte. „Vielleicht wäre es besser gewesen, diese Emigration wäre unterblieben und wir sausten da noch als feuriges Gas herum. Oder als Sonnenflecken. Meinen Sie nicht?“ – „Nein“, sagte Kern.

„Richtig.“ Marill fächelte sich wieder mit der Zeitung. „Wissen Sie, was ich eben gelesen habe?“

„Dass die Juden daran schuld sind, dass es nicht regnet.“

„Nein.“

„Dass ein Granatsplitter im Bauch erst das volle Glück für den echten Mann bedeutet.“

„Auch nicht.“

„Dass die Juden deshalb alle Bolschewisten sind, weil sie so gierig Vermögen anhäufen.“

„Nicht schlecht! Weiter.“

„Dass Christus ein Arier war. Der uneheliche Sohn eines germanischen Legionärs…“

Marill lachte. „Nein, Sie werden es nicht erraten. Heiratsanzeigen. Hören Sie mal zu: Wo ist der liebe, sympathische Mann, der mich glücklich machen will? Ebensolches Fräulein, tiefinnerliches Gemüt, vornehmer, edler Charakter, mit Liebe für alles Gute und Schöne und erstklassigen Kenntnissen im Hotelfach sucht gleichgestimmte Seele zwischen fünfunddreißig und vierzig Jahren in guter Position…“ Er blickte auf. „Zwischen fünfunddreißig und vierzig! Einundvierzig scheidet schon aus. Das ist Glaube, was? Oder hier: Wo finde ich Dich, meine Ergänzung? Tiefschürfende Frohnatur, Lady und Hausmütterchen, mit vom Alltag unzerbrochenen Schwingen, Temperament und Geist, innerlicher Schönheit und kameradschaftlichem Verständnis wünscht sich Gentleman mit entsprechendem Einkommen, kunst- und sportliebend, der gleichzeitig ein lieber Bub sein soll. – Herrlich, wie? Oder nehmen wir dieses: Seelisch vereinsamter Fünfziger, sensitive Natur, jünger aussehend, Vollwaise…“ Marill hielt inne. „Vollwaise!“ wiederholte er. „Mit fünfzig! Welch bedauernswertes Geschöpf, dieser weiche Fünfziger!“

„Hier, mein Lieber!“ Er hielt Kern die Zeitung hin. „Zwei Seiten! Jede Woche zwei volle Seiten, nur in dieser einen Zeitung. Sehen Sie bloß die Überschriften, wie es da von Seele, Güte, Kameradschaft, Liebe, Freundschaft wimmelt! Ein wahres Paradies! Der Garten Eden in der Wüste der Politik! Das belebt und erfrischt! Da sieht man, dass es in diesen jämmerlichen Zeiten doch auch noch gute Menschen gibt. Richtet immer auf, so was…“

Er warf die Blätter hin. „Warum sollte nicht auch mal drinstehen: Kommandant eines Konzentrationslagers, tiefes Gemüt, zarte Seele…“

„Er hält sich gewiss dafür“, sagte Kern.

„Sicher! Je primitiver ein Mensch ist, für um so besser hält er sich, das sehen Sie ja an den Anzeigen hier. Das gibt“ – Marill grinste – „die Stoßkraft! Die blinde Überzeugung! Zweifel und Toleranz sind die Eigenschaften des Kulturmenschen. Daran geht er immer aufs neue zugrunde. Die alte Sisyphusarbeit. Eines der tiefsten Gleichnisse der Menschheit.“

„Herr Kern, da ist jemand, der will Sie sprechen“, meldete plötzlich der Pikkolo des Hotels aufgeregt. „Scheint keine Polizei zu sein!“

Kern stand rasch auf. „Gut, ich komme.“

* * *

Er erkannte den dürftigen älteren Mann auf den ersten Blick nicht wieder. Es war ihm, als sähe er eine unscharfe, verwischte Einstellung auf einer fotografischen Mattscheibe, die erst allmählich schärfer wurde und vertrautere Züge annahm.

„Vater!“ sagte er dann tief erschrocken.

„Ja, Ludwig.“

Der alte Kern wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Heiß ist es“, sagte er mit einem matten Lächeln.

„Ja, sehr heiß. Komm, wir gehen hier in das Zimmer mit dem Klavier. Da ist es kühl.“

Sie setzten sich. Kern stand gleich wieder auf, um seinem Vater eine Zitronenlimonade zu holen. Er war sehr beunruhigt. „Wir haben uns lange nicht gesehen, Vater“, sagte er vorsichtig, als er zurückkam.

Der alte Kern nickte. „Darfst du hierbleiben, Ludwig?“

„Ich glaube nicht. Du kennst es ja. Sie sind ganz anständig. Vierzehn Tage Aufenthaltserlaubnis und noch vielleicht zwei oder drei Tage dazu… aber dann ist es aus.“

„Und willst du dann illegal hierbleiben?“

„Nein, Vater. Es sind jetzt zu viele Emigranten hier. Das wusste ich nicht. Ich werde sehen, dass ich wieder nach Wien zurückkomme. Da ist es leichter, unterzutauchen. Was machst du denn?“

„Ich war krank, Ludwig. Grippe. Vor ein paar Tagen bin ich erst wieder aufgestanden.“

„Ach so…“ Kern atmete befreit auf. „Krank warst du! Bist du denn jetzt wieder ganz gesund?“

„Ja, du siehst es ja…“

„Und was tust du, Vater?“

„Ich bin irgendwo untergekommen.“

„Du wirst gut bewacht“, sagte Kern und lächelte.

Der Alte blickte ihn so gequält und verlegen an, dass er stutzte. „Geht’s dir nicht gut, Vater?“ fragte er.

„Gut, Ludwig, was heißt für uns gut? Ein bisschen Ruhe, das ist schon gut. Ich mache etwas; ich führe Bücher. Es ist nicht viel. Aber es ist eine Beschäftigung. In einer Kohlenhandlung.“

„Das ist doch großartig. Wieviel verdienst du denn da?“

„Ich verdiene nichts; nur ein Taschengeld. Ich habe dafür das Essen und die Wohnung.“

„Das ist auch schon etwas. Morgen komme ich dich besuchen, Vater!“

„Ja – ja – oder ich kann auch hierher kommen.“

„Aber wozu sollst du laufen? Ich komme schon…“

„Ludwig…“ Der alte Kern schluckte. „Ich möchte lieber hierher kommen.“

Kern sah ihn erstaunt an. Und plötzlich verstand er alles. Das kräftige Weib an der Tür. – Sein Herz schlug einen Augenblick wie ein Hammer gegen seine Rippen. Er wollte aufspringen, seinen Vater nehmen, mit ihm fortrennen, er dachte in einem Wirbel an seine Mutter, an Dresden, an die stillen Sonntagvormittage zusammen – dann sah er den vom Schicksal zerschlagenen Mann vor sich, der ihn mit entsetzlicher Demut anblickte, und er dachte: Kaputt! Fertig! Und der Krampf löste sich, und er war nichts mehr als grenzenloses Mitleid.

„Sie haben mich zweimal ausgewiesen, Ludwig. Wenn ich nur einen Tag wieder da war, haben sie mich gefunden. Sie waren nicht böse. Aber sie können uns ja nicht alle hierbehalten. Ich wurde krank; es regnete immerfort. Lungenentzündung mit einem Rückfall. Und da… sie hat mich gepflegt – ich wäre sonst umgekommen, Ludwig. Und sie meint es nicht schlecht…“

„Sicher, Vater“, sagte Kern ruhig.

„Ich arbeite auch etwas. Ich verdiene das, was ich koste. Es ist nicht so… du weißt… so nicht. Aber ich kann nicht mehr auf Bänken schlafen und immer die Angst haben, Ludwig…“

„Ich verstehe das, Vater.“

Der Alte sah vor sich hin. „Ich denke manchmal, Mutter sollte sich scheiden lassen. Dann könnte sie doch wieder zurück nach Deutschland.“

„Möchtest du denn das?“

„Nein, nicht für mich. Für sie. Ich bin doch schuld an allem. Wenn sie nicht mehr mit mir verheiratet ist, kann sie doch zurück. Ich bin doch schuld. An dir auch. Meinetwegen hast du keine Heimat mehr.“

Es war Kern schrecklich zumute. Das war nicht mehr sein heiterer, lebensfroher Vater aus Dresden; – das war ein rührender, älterer, hilfloser Mann, der mit ihm verwandt war, und der mit dem Leben nicht mehr fertig werden konnte. Er stand in seiner Verwirrung auf und tat etwas, was er noch nie getan hatte. Er nahm ihn um die schmalen, gebeugten Schultern und küsste ihn.

„Du verstehst es, Ludwig?“ murmelte Siegmund Kern.

„Ja, Vater. Es ist nichts dabei. Gar nichts dabei.“ Er klopfte ihm zart mit der Handfläche auf den knochigen Rücken und starrte über seine Schulter hinweg auf das Bild der Schneeschmelze in Tirol, das über dem Klavier hing.

„Ich werde dann jetzt gehen…“

„Ja.“

„Ich will nur noch die Zitrone bezahlen. Ich habe dir auch eine Schachtel Zigaretten mitgebracht. Du bist groß geworden, Ludwig, groß und kräftig.“

Ja, und du alt und zittrig, dachte Kern. Hätte ich doch nur einen von denen drüben, die dich soweit gebracht haben, hier, um ihm das satte, zufriedene, dumme Gesicht zu zerschlagen!

„Du hast dich auch gut gehalten, Vater“, sagte er. „Die Zitrone ist schon bezahlt. Ich verdiene jetzt etwas Geld. Und weißt du, womit? Mit unseren alten eigenen Sachen. Mit deiner Mandelcreme und deinem Farr-Toilettewasser. Ein Drogist hier hat noch einen Stock davon, bei dem kaufe ich es ein.“

Die Augen Siegmund Kerns belebten sich etwas. Dann lächelte er traurig. „Und nun musst du damit hausieren. Du musst mir verzeihen, Ludwig.“

„Ach wo!“ Kern schluckte etwas jäh in seinem Halse Aufsteigendes hinunter. „Es ist die beste Schule der Welt, Vater. Man lernt das Leben von unten kennen. Die Menschen auch. Man kann später nie mehr enttäuscht werden.“

„Werde nur nicht krank.“

„Nein, ich bin sehr abgehärtet.“

Sie gingen hinaus. „Du hast so viel Hoffnung, Ludwig…“ Mein Gott, Hoffnung nennt er das, dachte Kern. „Es wird auch alles wieder in Ordnung kommen“, sagte er. „So kann es ja nicht bleiben.“

„Ja…“ Der Alte blickte vor sich hin. „Ludwig“, sagte er dann leise, „wenn wir wieder zusammen sind – und wenn Mutter auch wieder da ist – “ er machte eine Bewegung hinter sich – „das ist dann alles vergessen – wir denken nicht mehr daran, was?“

Er sprach leise und kindlich und zutraulich; es war wie das Gezwitscher eines müden Vogels. „Ohne mich könntest du nun studieren, Ludwig“, sagte er ein wenig klagend und mechanisch, wie jemand, der so oft darüber nachgegrübelt hat, dass sein Schuldbewusstsein mit der Zeit etwas Automatisches angenommen hat.

„Ohne dich wäre ich gar nicht am Leben, Vater“, erwiderte Kern.

„Bleib gesund, Ludwig. Willst du nicht die Zigaretten nehmen? Ich bin doch dein Vater, ich möchte dir gern etwas geben.“

„Gut, Vater. Ich werde sie behalten.“

„Vergiss mich nicht ganz“, sagte der alte Mann, und seine Lippen zitterten plötzlich. „Ich habe es gut gewollt, Ludwig.“ Es schien, als könne er sich von dem Namen nicht trennen; er wiederholte ihn immer wieder. „Wenn ich es auch nicht fertiggebracht habe, Ludwig. Ich wollte für euch sorgen, Ludwig.“

„Du hast für uns gesorgt, solange du es konntest.“

„Dann werde ich jetzt gehen. Alles Gute für dich, mein Kind.“

Kind, dachte Kern. Wer von uns beiden ist das Kind? Er sah seinen Vater langsam die Straße hinuntergehen, er hatte ihm versprochen, er würde ihm schreiben und ihn wiedersehen, aber er wusste, es war das letztemal, dass er ihn sah. Er blickte ihm mit weiten Augen nach, bis er nicht mehr zu sehen war. Dann wurde es leer.

Er ging zurück. Auf der Terrasse saß Marill und las mit einem Gesicht voll Abscheu und Hohn noch immer in seiner Zeitung. Merkwürdig, wie schnell etwas einstürzen kann, dachte Kern… schon, während ein anderer immer noch die Zeitung liest. Vollwaise, Fünfzigjähriger – er lächelte krampfhaft und mit trübem Spott – Vollwaise… als ob man es nicht werden könnte, ohne dass Vater und Mutter tot waren…

Drei Tage später reiste Ruth Holland nach Wien. Sie hatte ein Telegramm einer Freundin erhalten, bei der sie wohnen konnte, und sie wollte versuchen, Arbeit zu bekommen und zur Universität zu gehen.

Am Abend ihrer Abreise ging sie mit Kern in das Restaurant „Zum schwarzen Ferkel“. Beide hatten bislang jeden Tag in der Volksküche gegessen; für den letzten Abend jedoch hatte ihr Kern vorgeschlagen, etwas Besonderes zu unternehmen.

Das „Schwarze Ferkel“ war ein kleines, verräuchertes Lokal, das nicht teuer, aber sehr gut war. Marill hatte es Kern genannt. Er hatte ihm auch die genauen Preise gesagt und ihm besonders die Spezialität des Wirtes, Kalbsgulasch, empfohlen. Kern hatte sein Geld gezählt und ausgerechnet, dass es sogar noch für Käsekuchen hinterher als Dessert reichen musste. Ruth hatte ihm einmal gesagt, das sei eine Leidenschaft von ihr. Als sie ankamen, erwartete sie jedoch eine peinliche Überraschung. Es gab kein Gulasch mehr. Sie waren zu spät gekommen. Sorgenvoll studierte Kern die Speisekarte. Die meisten anderen Sachen waren teurer. Neben ihm leierte der Kellner seine Litanei herunter. „Geselchtes mit Kraut, Schweinskotelett mit Salat, Paprikahuhn, frische Gansleber…“

Gansleber, dachte Kern – der Narr scheint uns für Multimillionäre zu halten. Er gab Ruth die Karte. „Was möchtest du statt Gulasch haben?“ fragte er. Er hatte festgestellt, dass, wenn er Koteletts bestellte, die Käsekuchen dahin waren.

Ruth warf einen kurzen Blick auf die Karte. „Würstchen mit Kartoffelsalat“, sagte sie. Es war das Billigste.

„Ausgeschlossen“, erklärte Kern. „Das ist kein Abschiedsessen.“

„Ich esse sie sehr gerne. Nach den Suppen der Volksküche sind sie schon ein Fest.“

„Und was meinst du zu einem Fest mit Schweinskoteletts. Aber große!“

„Sind alle eins wie’s andere“, erwiderte der Kellner ungerührt.

„Was vorher? Suppe, Hors d’œuvre, Sülze?“

„Nein“, sagte Ruth, bevor Kern sie fragen konnte. Sie bestellten noch eine Karaffe billigen Wein, dann zog der Kellner ziemlich verächtlich ab – als ahnte er, dass Kern bereits eine halbe Krone an seinem Trinkgeld fehlte.

Das Lokal war fast leer. An einem Tisch in der Ecke saß nur noch ein einziger Gast. Es war ein Mann mit einem Monokel und mit Schmissen im breiten, roten Gesicht. Er saß vor einem Glase Bier und betrachtete Kern und Ruth.

„Schade, dass der da sitzt“, sagte Kern.

Ruth nickte. „Wenn es noch jemand anderes wäre! Aber das… das erinnert einen…“

„Ja, das ist bestimmt kein Emigrant“, sagte Kern. „Eher das Gegenteil.“

„Wir wollen gar nicht hinsehen…“

Er tat es aber doch. Und er bemerkte, dass der Mann sie unentwegt weiter ansah.

„Ich weiß nicht, was er will“, sagte er ärgerlich. „Er läßt ja kein Auge von uns.“

„Vielleicht ist es ein Agent der Gestapo. Ich habe gehört, dass es hier von Spitzeln wimmelt.“

„Soll ich hingehen und ihn fragen, was er von uns will?“

„Nein!“ Ruth legte erschreckt die Hand auf Kerns Arm.

Die Koteletts kamen. Sie waren knusprig und zart, und es gab frischen grünen Salat dazu. Trotzdem schmeckte es beiden nicht so, wie sie erwartet hatten. Sie waren zu unruhig.

„Er kann nicht unsertwegen hier sein“, sagte Kern. „Niemand wusste, dass wir hierher gehen würden.“

„Das nicht“, erwiderte Ruth. „Vielleicht war er zufällig hier. Aber er beobachtet uns, das sieht man…“

Der Kellner trug die Schüsseln ab. Kern blickte missmutig hinterher. Er hatte Ruth eine Freude damit machen wollen, und nun hatte die Angst vor dem Kerl mit dem Monokel alles verdorben. Ärgerlich stand er auf; er hatte einen Entschluss gefasst. „Einen Augenblick, Ruth…“

„Was willst du tun?“ fragte sie angstvoll. „Bleib hier!“

„Nein, nein, nichts mit dem da drüben. Ich will nur einmal den Wirt sprechen.“

Er hatte zur Vorsicht, als sie fortgingen, zwei kleine Flaschen Parfüm eingesteckt. Jetzt wollte er versuchen, eine davon gegen zwei Käsekuchen beim Wirt umzutauschen. Sie waren zwar bedeutend mehr wert, aber das war ihm gleich. Nach den missglückten Koteletts sollte Ruth wenigstens den Nachtisch haben, den sie liebte. Vielleicht konnte er auch noch einen Kaffee dazu einhandeln.

Er ging hinaus und machte dem Wirt seinen Vorschlag. Der lief sofort rot an. „Aha, Zechpreller! Fressen und dann nicht bezahlen können! Nee, mein Lieber, da gibt’s nur eins: Polizei!“

„Ich kann bezahlen, was ich verzehrt habe!“ Kern hieb ärgerlich sein Geld auf den Tisch.

„Zählen Sie es nach“, sagte der Wirt zum Kellner. „Stecken Sie Ihr Gepansche ein“, schnaubte er dann Kern an. „Was wollen Sie überhaupt? Sind Sie ein Gast oder ein Hausierer?“

„Vorläufig bin ich ein Gast“, erklärte Kern wütend. „Und Sie sind…“

„Einen Augenblick!“ sagte eine Stimme hinter ihm.

Kern fuhr herum. Der Fremde mit dem Monokel stand direkt hinter ihm. „Kann ich Sie einmal etwas fragen?“

Der Mann ging ein paar Schritte von der Theke weg. Kern folgte ihm. Sein Herz klopfte plötzlich wie rasend. „Sie sind deutsche Emigranten, nicht wahr?“ fragte der Mann.

Kern starrte ihn an. „Was geht Sie das an!“

„Nichts“, erwiderte der Mann ruhig. „Ich habe nur gehört, worüber Sie eben verhandelten. Wollen Sie mir die Flasche verkaufen?“

Kern glaubte jetzt zu wissen, worauf der Mann hinauswollte. Wenn er ihm die Flasche verkaufte, hatte er sich unerlaubten Handels schuldig gemacht und konnte sofort verhaftet und ausgewiesen werden.

„Nein“, sagte er.

„Warum nicht?“

„Ich habe nichts zu verkaufen. Ich treibe keinen Handel.“

„Dann lassen Sie uns tauschen. Ich gebe Ihnen das dafür, was der Wirt nicht geben will: den Kuchen und den Kaffee.“

„Ich verstehe überhaupt nicht, was Sie wollen“, sagte Kern.

Der Mann lächelte. „Und ich verstehe, dass Sie misstrauisch sind. Hören Sie zu. Ich bin aus Berlin und fahre in einer Stunde wieder dahin zurück. Sie können nicht zurück…“

„Nein“, sagte Kern.

Der Mann sah ihn an. „Das ist der Grund, weshalb ich hier stehe. Und weshalb ich Ihnen gern mit dieser Kleinigkeit helfen möchte. Ich war Kompanieführer im Kriege. Einer meiner besten Leute war ein Jude. Wollen Sie mir nun die kleine Flasche geben?“

Kern reichte sie ihm. „Entschuldigen Sie“, sagte er. „Ich habe etwas ganz anderes von Ihnen gedacht.“

„Das kann ich mir vorstellen.“ Der Mann lachte. „Und nun lassen Sie das junge Fräulein nicht länger allein. Es hat sicher schon Angst. Ich wünsche Ihnen beiden alles Gute!“ Er gab Kern die Hand.

„Danke. Danke vielmals.“

Kern ging verwirrt zurück. „Ruth“, sagte er, „entweder ist Weihnachten, oder ich bin verrückt.“

Gleich darauf erschien der Kellner. Er trug ein Tablett mit Kaffee und einen silbernen Ständer mit Kuchen, drei Etagen übereinander.

„Was ist denn das?“ fragte Ruth erstaunt.

„Das sind die Wunder von Kerns Farr-Parfüm!“

Kern strahlte und schenkte den Kaffee ein. „Wir haben jeder das Recht auf ein beliebiges’ Stück Kuchen. Was möchtest du haben, Ruth?“

„Ein Stück Käsekuchen.“

„Hier hast du ein Stück Käsekuchen. Ich nehme einen Mohrenkopf.“

„Soll ich Ihnen den Rest einpacken?“ fragte der Kellner.

„Welchen Rest? Wieso?“

Der Kellner machte eine Handbewegung über die drei Etagen. „Das ist doch alles für Sie bestellt!“

Kern sah ihn erstaunt an. „Alles für uns? Wo ist denn… kommt der Herr denn nicht…“

„Der ist längst weggegangen. Alles schon erledigt. Also…“

„Halt“, sagte Kern eilig, „halt um Himmels willen! Ruth, noch eine Cremeschnitte? Ein Schweinsohr? Oder ein Stück Streuselkuchen?“

Er packte ihr den Teller voll und nahm sich selbst auch noch ein paar Stücke. „So“, sagte er dann aufatmend, „den Rest packen Sie bitte in zwei Pakete. Eins bekommst du mit, Ruth. Wie herrlich, einmal für dich sorgen zu können!“

„Der Champagner ist schon kalt gestellt“, erwiderte der Kellner und ergriff das silberne Meisterwerk.

„Champagner! Ein guter Witz!“ Kern lachte.

„Kein Witz.“ Der Kellner zeigte zur Tür. Dort erschien der Wirt persönlich und trug einen mit Eis gefüllten Kübel vor sich her, aus dem der Hals einer Champagnerflasche ragte.

„Nichts für ungut“, grinste er süßlich. „War natürlich nur ein Scherz, vorhin…“

Kern lehnte sich mit aufgerissenen Augen zurück.

Der Kellner nickte. „Alles schon bezahlt.“

„Ich träume“, sagte Kern und strich sich über die Augen. „Hast du jemals Champagner getrunken, Ruth?“

„Nein. Das habe ich bis jetzt nur im Film gesehen.“

Kern fasste sich mühsam. „Herr Wirt“, sagte er mit Würde, „Sie sehen, welch vorteilhaften Tausch ich Ihnen vorgeschlagen habe. Eine Flasche des weltberühmten Kern-Farr gegen zwei lächerliche Käsekuchen! Hier sehen Sie, was Kenner dafür geben!“

„Man kann nicht alles wissen“, erklärte der Wirt. „Ich verstehe mehr von Getränken.“

„Ruth“, sagte Kern, „von heute an glaube ich an Wunder. Wenn jetzt hier durchs Fenster eine weiße Taube hereinflöge, im Schnabel zwei gültige Pässe für uns auf fünf Jahre oder eine unbegrenzte Arbeitserlaubnis – es würde mich nicht erstaunen!“

Sie tranken die Flasche leer. Es wäre ihnen als Sünde erschienen, wenn sie einen Tropfen dringelassen hätten. Es schmeckte ihnen nicht einmal so besonders; aber sie tranken und wurden immer heiterer und waren zum Schluss beide ein wenig betrunken.

Sie brachen auf. Kern nahm die Kuchenpakete und wollte die Koteletts bezahlen. Aber der Kellner wehrte ab. „Alles schon erledigt…“

„Ruth“, sagte Kern mit etwas stockender Stimme, „das Leben überwältigt uns. Noch ein solcher Tag, und ich werde zum Romantiker.“

Der Wirt hielt sie auf. „Haben Sie noch was von dem Parfüm? Ich dachte, für meine Frau…“

Kern wurde wieder wach. „Zufällig habe ich noch eine da. Die letzte.“ Er zog die zweite Flasche aus der Tasche. „Aber nicht mehr wie vorhin, mein Lieber. Die Gelegenheit haben Sie verpasst! Zwanzig Kronen!“ Er hielt den Atem an. „Weil Sie es sind!“

Der Wirt rechnete blitzschnell. Dreißig Kronen hatte er dem Rittmeister bei dem Champagner und dem Kuchen zuviel gerechnet. Blieben also noch zehn Kronen Überverdienst. „Fünfzehn“, bot er.

„Zwanzig.“ Kern machte Miene, die Flasche wieder einzustecken.

„Also gut.“ Der Wirt holte einen zerknitterten Schein aus der Tasche. Er beschloss, seiner Geliebten, der strammen Barbara, zu sagen, die Flasche hätte fünfzig gekostet. Er konnte so einen Hut für sie sparen, den sie seit Wochen verlangte, und der achtundvierzig Kronen kosten sollte. Ein doppeltes Geschäft.

Kern und Ruth gingen zum Hotel. Sie holten Ruths Koffer und gingen dann zum Bahnhof.

Ruth war still geworden. „Sei nicht traurig“, sagte Kern. „Ich komme bald nach. In einer Woche spätestens muss ich hier hinaus. Ich kenne das. Dann komme ich nach Wien. Willst du, dass ich nach Wien komme?“

„Ja, komm! Aber nur, wenn es richtig für dich ist.“

„Warum sagst du nicht einfach: Ja, komm?“ Sie sah ihn etwas schuldbewusst an. „Ist das andere nicht mehr?“

„Ich weiß nicht. Es klingt vorsichtiger.“

„Ja“, erwiderte sie, plötzlich traurig, „vorsichtiger, das ist es.“

„Sei doch nicht traurig“, sagte Kern. „Vorhin warst du noch so froh!“

Sie blickte hilflos zu ihm auf. „Hör nicht auf mich“, murmelte sie. „Manchmal bin ich ganz durcheinander. Vielleicht ist es der Wein. Denk, es wäre der Wein. Komm, wir haben noch ein paar Minuten Zeit.“

Sie setzten sich auf eine Bank in den Anlagen. Kern legte den Arm um ihre Schultern. „Sei doch froh, Ruth. Das andere nützt ja nichts. Das klingt dumm, aber für uns ist es nicht dumm. Wir haben unser bisschen Fröhlichkeit bitter nötig. Gerade wir.“

Sie starrte vor sich hin. „Ich möchte ja froh sein, Ludwig. Aber ich bin so schwer. Ich möchte so gern leicht sein. Ich möchte alles gut machen. Aber es ist immer ungeschickt und schwer.“ Sie stieß die Worte zornig hervor, und Kern sah plötzlich, dass ihr Gesicht überströmt war von Tränen. Sie weinte ohne Laut, zornig und hilflos. „Ich weiß nicht, weshalb ich weine“, sagte sie, „ich habe doch gerade jetzt so wenig Grund. Aber vielleicht weine ich deshalb. Sieh nicht hin… sieh mich nicht an…“

„Doch“, erwiderte Kern. – Sie beugte ihr Gesicht vor und legte ihm ihre Hände auf die Schulter. Er zog sie an sich, und sie küsste ihn – blind, mit geschlossenen Augen und hartem, geschlossenem Mund, wild und zornig, als stieße sie ihn weg.

„Ach…“ Sie wurde ruhiger. „Was weißt du…“ Ihr Kopf fiel an seine Schulter, ihre Augen blieben geschlossen, „was weißt du…“ Ihr Mund öffnete sich, und ihre Lippen wurden weich wie eine Frucht.

Sie gingen weiter. Am Bahnhof verschwand Kern und kaufte einen Strauß Rosen. Er segnete dabei den Mann mit dem Monokel und den Wirt des „Schwarzen Ferkels“.

Ruth war völlig verwirrt, als er mit den Blumen ankam. Sie errötete, und aller Kummer wich aus ihrem Gesicht. „Blumen“, sagte sie, „Rosen! Ich reise ab wie ein Filmstar.“

„Du reist ab wie die Frau eines äußerst erfolgreichen Geschäftsmannes“, erklärte Kern stolz.

„Geschäftsleute schenken keine Blumen, Ludwig.“

„Doch, die jüngste Generation tut es wieder.“

Er legte ihren Koffer und das Kuchenpaket in das Gepäcknetz. Sie stieg mit ihm aus. Auf dem Bahnhof nahm sie seinen Kopf in die Hände und sah ihn ernst an. „Es war gut, dass du da warst.“ Sie küsste ihn. „Und nun geh. Geh fort, während ich einsteige. Ich will jetzt nicht wieder weinen. Sonst glaubst du, ich könnte gar nichts anderes. Geh…“

Er blieb stehen. „Ich fürchte mich nicht vor einem Abschied“, sagte er. „Ich habe schon viele mitgemacht. Dies ist kein Abschied.“

Der Zug fuhr an. Ruth winkte. Kern blieb stehen, bis der Zug nicht mehr zu sehen war. Dann ging er zurück. Er hatte das Gefühl, die ganze Stadt wäre ausgestorben.

Vor dem Eingang des Hotels traf er Rabe. „Guten Abend“, sagte er, zog die Zigarettenschachtel heraus und hielt sie ihm hin. Rabe fuhr zurück und hob den Arm, als wollte er sich vor einem Schlage schützen. Kern blickte ihn erstaunt an. „Verzeihen Sie“, sagte Rabe sehr verlegen. „Das ist noch so eine… eine unwillkürliche Bewegung…“

Er nahm eine Zigarette.

* * *

Steiner war seit vierzehn Tagen Kellner in der Gastwirtschaft „Zum Grünen Baum“. Es war spät nachts. Der Wirt schlief seit zwei Stunden, und nur noch ein paar Gäste saßen herum.

Steiner ließ die Läden herunter. „Feierabend!“ sagte er.

„Trinken wir noch einen, Johann“, erwiderte einer der Gäste, ein Tischlermeister mit einem Gesicht wie eine Gurke.

„Gut“, erwiderte Steiner. „Mikolasch?“

„Nein, keinen Ungarischen mehr. Fangen wir jetzt mit einem guten Zwetschgenwasser an.“

Steiner brachte die Flasche und die Gläser. „Trink einen mit“, sagte der Tischlermeister.

„Heute nicht. Entweder nichts mehr, oder ich müsste mich besaufen.“

„Dann besauf dich.“ Der Tischlermeister rieb seine Gurke. „Ich besaufe mich auch! Stell dir vor: Die dritte Tochter! Kommt da heute morgen die Hebamme heraus und sagt: Gratuliere, Herr Blau, die dritte gesunde Tochter! Und ich hab’ mir gedacht, diesmal wird’s bestimmt ein Bub! Drei Mädchen und kein Stammhalter! Ist das nicht zum Wahnsinnigwerden? Ist das nicht zum Wahnsinnigwerden, Johann? Du bist doch ein Mensch, du musst das doch verstehen!“

„Na und wie“, sagte Steiner. „Nehmen wir größere Gläser?“

Der Tischlermeister schlug mit der Faust auf den Tisch. „Verflucht noch einmal, da hast du verdammt recht! Das ist es! Größere Gläser, das ist eine Idee! Dass ich darauf noch nicht gekommen bin!“

Sie nahmen größere Gläser und tranken eine Stunde lang. Dann verwechselte der Tischlermeister alles und beschwerte sich darüber, dass seine Frau drei Jungen geboren hätte. Mit Mühe zahlte er und schwankte mit seinen Kumpanen hinaus.

Steiner räumte ab. Er schenkte sich noch ein Wasserglas voll Zwetschengeist ein und trank es aus. Sein Kopf dröhnte. Er setzte sich an den Tisch und brütete vor sich hin. Dann stand er auf und ging in seine Kammer. Er kramte aus seinen Sachen eine Fotografie seiner Frau hervor und sah sie lange an. Er hatte nie etwas von ihr gehört. Er hatte ihr auch nie geschrieben, weil er annahm, ihre Post würde überwacht. Er glaubte, dass sie sich hatte scheiden lassen.

„Verdammt!“ Er stand auf. „Vielleicht lebt sie längst mit einem andern und hat mich vergessen!“ Er riss mit einem Ruck die Fotografie durch und warf sie zu Boden. „Ich muss auch da ’raus! Es macht mich sonst kaputt. Ich bin ein Mann, der allein lebt, ich bin Johann Huber und nicht mehr Steiner, fertig!“

Er trank noch ein Glas, dann schloss er ab und ging auf die Straße. In der Nähe des Rings sprach ihn ein Mädchen an. „Gehst du mit mir, Schatz?“

„Ja.“

Sie gingen nebeneinander her. Das Mädchen betrachtete Steiner forschend von der Seite. „Du hast mich ja nicht einmal angesehen.“

„Doch“, erwiderte Steiner, ohne den Blick zu heben.

„Ich glaube nicht. Gefall’ ich dir?“

„Ja, du gefällst mir.“

„Das geht ja schnell bei dir.“

„Ja“, sagte er, „das geht schnell.“

Sie schob ihren Arm unter seinen. „Was schenkst du mir denn, Schatz?“

„Ich weiß nicht. Was willst du haben?“

„Bleibst du die ganze Nacht?“

„Nein.“

„Wie wäre es mit zwanzig Schilling?“

„Zehn. Ich bin ein Kellner, der nicht viel verdient.“

„Du siehst nicht aus wie ein Kellner.“

„Es gibt auch Leute, die sehn nicht aus wie Staatspräsidenten und sind es doch.“

Das Mädchen lachte. „Du bist lustig. Ich mag lustige Leute gern. Also zehn, meinetwegen. Ich habe ein schönes Zimmer. Pass auf, ich werde dich glücklich machen.“

„So?“ sagte Steiner.

Das Zimmer war eine rote Plüschbude mit Nippesfiguren und Deckchen über Tischen und Sesseln. Auf dem Sofa saß eine Reihe von Teddybären, Fastnachtspuppen und Stoffaffen. Über dem Sofa hing die vergrößerte Fotografie eines Feldwebels in voller Uniform mit glotzendem Blick und gewichstem Schnurrbart.

„Ist das dein Mann?“ fragte Steiner.

„Nein, der Selige von der Alten.“

„Die ist wohl froh, dass sie ihn los ist, was?“

„Hast du eine Ahnung!“ Das Mädchen nestelte sich die Bluse los. „Die heult ihm heute noch nach, so fabelhaft soll er gewesen sein. Stramm, weißt du?“

„Weshalb hängt sie ihn denn dann hier zu dir herein?“

„Sie hat bei sich noch ein anderes Bild von ihm. Größer und bunt. Natürlich nur die Uniform bunt, verstehst du? Komm, mach mir die Hafteln hinten auf!“

Steiner spürte feste Schultern unter seinen Händen. Er hatte das nicht erwartet. Er wusste aus seiner Militärzeit, wie Huren sich anfühlten – immer etwas zu weich und grau.

Das Mädchen warf die Bluse auf das Sofa. Die Brüste waren voll und fest. Sie passten zu den kräftigen Schultern und dem Hals. „Setz dich, Schatz“, sagte sie. „Mach dir’s bequem. Kellner und unsereins haben immer müde Füße.“

Sie streifte den Rock ab.

„Verdammt“, sagte Steiner, „du bist ja schön!“

„Das hat mir schon mancher gesagt.“ Das Mädchen legte seinen Rock sorgfältig zusammen. „Wenn’s dich nicht stört…“

„Doch, es stört mich.“

Sie wandte sich halb um. „Du machst Witze… bist halt ein lustiger Patron!“

Steiner sah sie an.

„Was siehst du mich denn so an?“ sagte das Mädchen. „Man könnte sich ja vor dir furchten. Jesus, wie ein Messerstecher! Hast lange keine Frau gehabt, was?“

„Wie heißt du?“ fragte Steiner.

„Du wirst lachen… Elvira. War so eine Idee von meiner Mutter. Die hat immer hoch hinaus wollen. Komm ins Bett.“

„Nein“, sagte Steiner, „lass uns noch was trinken.“ „Hast du Geld?“ fragte sie rasch.

Steiner nickte. Elvira ging nackt und unbekümmert zur Tür. „Frau Poschnigg!“ schrie sie. „Was zu trinken.“

Die Wirtin erschien so schnell, als hätte sie hinter der Tür gelauscht. Sie war rund, in schwarzen Samt gepresst und hatte rote Backen und glänzende Kugelaugen. „Wir hätten einen Champagner“, sagte sie dienstfertig, „wie Zucker!“

„Schnaps“, erwiderte Steiner, ohne sie anzusehen. „Zwetschgenwasser, Kirsch, Enzian, ganz egal.“

Die beiden Frauen wechselten einen Blick. „Kirsch“, sagte Elvira. „Von dem guten auf dem obersten Brett. Kostet zehn Schilling, Schatz.“

Steiner gab ihr das Geld. „Wo hast du die Haut her?“ fragte er.

„Kein Wimmerl, was?“ Elvira drehte sich vor ihm hin und her. „Das findest du nur bei Rothaarigen.“

„Ja“, sagte Steiner, „das habe ich vorhin nicht gesehen, dass du rote Haare hast.“

„Das kommt vom Hut, Liebling.“ Elvira nahm der Wirtin die Flasche ab. „Trinken Sie einen mit, Frau Poschnigg?“

„Wenn ich darf?“ Die Wirtin setzte sich. „Gut haben Sie’s, Fräulein Elvira!“ Sie seufzte. „Unsereins, eine arme Witwe… immer einsam…“

Die arme Witwe kippte das Glas hinunter und goss sich sofort neu ein. „Gesundheit, fescher Herr!“

Sie erhob sich und blitzte Steiner kokett an. „Alsdann besten Dank! Und viel Vergnügen.“

„Bei der hast du Chancen, Schatz“, erklärte Elvira.

„Gib mir mal das Wasserglas da her“, sagte Steiner. Er goss es voll und trank es aus.

„Jesus!“ Elvira blickte ihn besorgt an. „Du wirst doch nichts kaputtschlagen, Liebling? Die Wohnung ist kostbar, verstehst du? So was ist teuer, Schatzi!“

„Setz dich hierher“, sagte Steiner. „Neben mich.“

„Wir hätten lieber ’rausfahren sollen. In den Prater oder in den Wald.“

Steiner hob den Kopf. Er spürte den Kirsch mit weichem Hämmern hinter seiner Stirn gegen die Augäpfel schlagen. „In den Wald?“ fragte er.

„Ja, in den Wald. Oder in ein Kornfeld, jetzt im Sommer.“

„Ein Kornfeld – im Sommer? Wie kommst du auf ein Kornfeld?“

„Wie man eben so drauf kommt“, plapperte Elvira eifrig und besorgt. „Weil halt Sommer ist, Schatz! Da geht man gern in ein Kornfeld, weißt du?“

„Versteck die Flasche nicht, ich hau’ dir deine Bude nicht kaputt. Ein Kornfeld sagst du… im Sommer?“

„Natürlich im Sommer, Schatz, im Winter ist’s ja kalt.“

Steiner goss sein Glas voll. „Verdammt, wie du riechst…“

„Rothaarige riechen alle ähnlich, Schatzi.“

Die Hämmer hämmerten schneller. Das Zimmer schwankte. „Ein Kornfeld…“ sagte Steiner langsam und schwer, „und der Wind nachts…“

„Komm jetzt ins Bett, Liebling, zieh dich aus…“

„Mach das Fenster auf…“

„Das Fenster ist ja offen, Schatzi. Komm, ich mach’ dich glücklich!“

Steiner trank. „Warst du mal glücklich?“ fragte er und starrte auf den Tisch.

„Natürlich, oft.“

„Ach, halt den Schnabel. Mach das Licht aus.“

„Zieh dich doch erst aus.“

„Mach das Licht aus.“

Elvira gehorchte. Das Zimmer wurde dunkel. „Komm ins Bett, Schatz.“

„Nein. Bett, nein. Bett ist was anderes. Verdammt! Bett, nein!“

Steiner goss mit schwankender Hand Kirschwasser in sein Glas. Sein Kopf toste. Das Mädchen ging durchs Zimmer. Es kam am Fenster vorbei und blieb einen Augenblick stehen und blickte hinaus. Das schwache Licht der Laternen von draußen fiel über ihre dunklen Schultern. Hinter ihrem Kopf stand die Nacht. Sie hob eine Hand in ihr Haar… „Komm her“, sagte Steiner heiser.

Sie drehte sich um und kam weich und lautlos auf ihn zu. Sie kam, reif wie ein Kornfeld, dunkel und unerkennbar, mit dem Geruch und der Haut von tausend Frauen und einer…

„Marie“, murmelte Steiner.

Das Mädchen lachte tief und zärtlich. „Da sieht man, wie besoffen du bist, Schatz… ich heiß’ doch Elvira…“

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