Книга: Liebe deinen Nächsten / Возлюби ближнего своего. Книга для чтения на немецком языке
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Kern unterschrieb seine zweite Ausweisung aus Österreich. Sie war lebenslänglich. Er fühlte diesmal nichts mehr dabei. Er dachte nur daran, dass er wahrscheinlich am nächsten Vormittag wieder im Prater sein würde.

„Haben Sie in Wien noch irgendwelche Sachen mitzunehmen?“ fragte der Beamte.

„Nein, nichts.“

„Sie wissen, dass Sie mindestens drei Monate Gefängnis riskieren, wenn Sie wieder nach Österreich kommen?“

„Ja.“

Der Beamte sah Kern eine Weile an. Dann griff er in die Tasche und schob ihm einen Fünfschillingschein zu. „Hier, trinken Sie eins dafür. Ich kann die Gesetze auch nicht ändern. Nehmen Sie Gumpoldskirchner. Der ist dieses Jahr am besten. Und nun los!“

„Danke!“ sagte Kern überrascht. Es war das erstemal, dass er auf der Polizei etwas geschenkt bekam. „Danke vielmals! Ich kann Geld gut brauchen.“

„Schon gut, schon gut! Schauen Sie jetzt, dass Sie hinauskommen! Ihr Begleitmann wartet schon im Vorzimmer.“

Kern steckte das Geld ein. Er konnte damit nicht nur zwei Viertel Gumpoldskirchner bezahlen, sondern auch ein Stück mit der Bahn nach Wien zurückfahren. Das war weniger gefährlich.

Sie fuhren denselben Weg hinaus wie das erstemal mit Steiner. Kern hatte das Gefühl, dass es seitdem zehn Jahre her waren.

Von der Station aus mussten sie noch ein Stück gehen. Nach einiger Zeit kamen sie an einer Heurigenkneipe vorbei. Ein paar Tische und Stühle standen draußen im Vorgarten. Kern erinnerte sich an den Rat des Beamten. „Wollen wir ein Glas trinken?“ fragte er den Begleitmann.

„Was?“

„Gumpoldskirchner. Der ist am besten dieses Jahr.“

„Können wir machen! Es ist sowieso noch zu hell für den Zoll.“

Sie setzten sich in den Vorgarten und tranken den herben, klaren Gumpoldskirchner. Es war sehr still und friedlich rundumher. Der Himmel war klar und hoch und apfelgrün. Ein Flugzeug summte wie ein Falke in der Richtung nach Deutschland. Der Wirt brachte ein Windlicht und stellte es auf den Tisch. Es war Kerns erster Abend im Freien. Er hatte seit zwei Monaten keinen offenen Himmel und kein offenes Land mehr gesehen. Es schien ihm, als ob er zum erstenmal wieder atmete. Er saß still und genoss das bisschen Frieden, das er jetzt noch hatte. In ein, zwei Stunden würden die Sorge und die Hetze wieder losgehen.

„Es ist doch wirklich zum Speiben!“ knurrte der Beamte plötzlich.

Kern sah auf. „Das finde ich auch!“

„Ich meine das anders.“ „Kann ich mir denken.“

„Ich meine mit euch Emigranten“, erklärte der Beamte mürrisch. „Ihr bringt einem ja direkt die Berufsehre ins Wanken! Nichts als Emigranten hat man mehr zu eskortieren! Jeden Tag dasselbe! Immer von Wien zur Grenze. Was ist das schon für ein Leben! Nie mehr ein ehrlicher, schöner Handschellentransport!“

„Vielleicht werden Sie uns in ein, zwei Jahren auch in Handschellen zur Grenze bringen“, erwiderte Kern trocken.

„Das ist doch kein Ersatz!“ Der Beamte sah ihn ziemlich verächtlich an. „Ihr seid doch nichts, im polizeilichen Sinne! Ich habe den vierfachen Raubmörder Müller II zu eskortieren gehabt, Revolver schussbereit – und dann vor zwei Jahren den Frauenschlächter Bergmann und später den Aufschlitzer Brust – gar nicht zu reden von dem Leichenschänder Teddy Blümel! Ja, das waren noch Zeiten! Aber heute, ihr – mit euch krepiert man ja vor Langeweile!“ Er seufzte und trank sein Glas aus. „Immerhin – Sie verstehen wenigstens etwas von Wein. Wollen noch ein Viertel trinken! Diesmal zahle ich.“

„Gut.“

Sie tranken einträchtig das zweite Viertel. Dann brachen sie auf. Es war inzwischen dunkel geworden. Fledermäuse und Nachtschmetterlinge huschten über den Weg.

Das Zollhaus war hell erleuchtet. Die alten Beamten waren noch da. Der Begleitmann lieferte Kern ab. „Setzen Sie sich derweil herein“, sagte einer der Beamten. „Es ist noch zu früh.“

„Ich weiß“, erwiderte Kern.

„So, Sie wissen das schon?“

„Natürlich. Die Grenzen sind ja unsere Heimat.“

* * *

Beim Morgengrauen war Kern wieder im Prater. Er wagte nicht, zum Wohnwagen Steiners zu gehen, um ihn zu wecken, weil er nicht wusste, was inzwischen passiert war. Er wanderte umher. Die Bäume standen bunt im Nebel. Es war Herbst geworden, während er im Gefängnis war. Vor dem grau verhängten Karussell blieb er eine Zeitlang stehen. Dann hob er die Zeltplane auf und kroch hinein. Er setzte sich in eine Gondel. So war er sicher vor umherstreifenden Polizisten.

Er erwachte, als er jemand lachen hörte. Es war hell, und die Zeltplanen waren zurückgeschoben. Rasch fuhr er hoch. Steiner stand im blauen Overall vor ihm.

Kern sprang mit einem Satz aus der Gondel. Er war plötzlich zu Hause. „Steiner!“ rief er strahlend. „Gottlob, ich bin wieder da!“

„Das sehe ich. Der verlorene Sohn, heimgekehrt aus den Verliesen der Polizei! Komm, lass dich anschauen! Ein bisschen blass und mager geworden vom Gefängnisfraß! Warum bist du denn nicht ’reingekommen?“

„Ich wusste nicht, ob du noch da warst.“

„Vorläufig noch. Aber nun wollen wir erst mal frühstücken. Danach sieht die Welt anders aus. Lilo!“ rief Steiner zum Wagen hinüber. „Unser Kleiner ist wieder da! Er braucht ein kräftiges Frühstück!“ Er wandte sich wieder Kern zu. „Gewachsen und etwas männlicher geworden! Was gelernt, Baby, in der Zeit?“

„Ja. Dass man hart werden muss, wenn man nicht krepieren will. Und dass sie mich nicht kaputtkriegen werden! Außerdem Säcke nähen und Französisch. Und dass befehlen oft mehr nützt als bitten.“

„Allerhand!“ Steiner schmunzelte. „Allerhand, Kindchen!“

„Wo ist Ruth?“ fragte Kern.

„In Zürich. Sie ist ausgewiesen worden. Sonst ist ihr nichts passiert. Lilo hat Briefe für dich. Sie ist unser Postamt. Hat ja als einzige richtige Papiere. Ruth hat an sie für dich geschrieben.“

„In Zürich…“, sagte Kern.

„Ja, Baby. Ist das schlimm?“

Kern sah ihn an. „Nein.“

„Sie wohnt da bei Bekannten. Du wirst eben auch bald in Zürich sein, das ist alles. Hier wird es ohnedies langsam heiß.“

„Ja…“

Lilo kam. Sie begrüßte Kern, als sei er auf einem Spaziergang gewesen. Für sie waren zwei Monate nichts, was zu erörtern war. Sie lebte seit fast zwanzig Jahren außerhalb Russlands und hatte Menschen von China und Sibirien wiederkommen sehen, die zehn, fünfzehn Jahre verschollen gewesen waren. Mit ruhigen Bewegungen stellte sie ein Tablett mit Tassen und einer Kanne Kaffee auf den Tisch.

„Gib ihm seine Briefe, Lilo“, sagte Steiner. „Er frühstückt doch nicht eher.“

Lilo zeigte auf das Tablett. Die Briefe lehnten dort an einer Tasse. Kern riss sie auf. Er begann zu lesen, und plötzlich vergaß er alles. Es waren die ersten Briefe, die er von Ruth bekam. Es waren die ersten Liebesbriefe seines Lebens. Alles fiel durch Zauberei von ihm ab – die Enttäuschung, dass sie nicht da war, die Unruhe, die Angst, die Unsicherheit, das Alleinsein —, er las und die schwarzen Tintenstriche begannen zu leuchten und zu phosphoreszieren – da war auf einmal ein Mensch, der sich um ihn sorgte, der verzweifelt war über das, was geschehen war, und der ihm sagte, dass er ihn liebe. Deine Ruth. Deine Ruth. Mein Gott, dachte er, deine Ruth! Deine! Es schien fast unmöglich. Deine Ruth. Was hatte ihm bisher schon gehört? Was war sein gewesen? Ein paar Flaschen, etwas Seife und die Sachen, die er trug. Und jetzt ein Mensch? Ein ganzer Mensch? Das schwere, schwarze Haar, die Augen! Es war fast unmöglich!

Er blickte auf. Lilo war zum Wagen gegangen. Steiner rauchte eine Zigarette. „Alles in Ordnung, Baby?“ fragte er.

„Ja. Sie schreibt, ich solle nicht kommen. Ich solle nicht noch einmal ihretwegen etwas riskieren.“

Steiner lachte. „Was sie alles so schreiben, was?“ Er goss ihm eine Tasse Kaffee ein. „Komm, trink das erst einmal und iß.“

Er lehnte sich an den Wagen und sah Kern zu, wie er aß und trank. Die Sonne kam durch den dünnen, weißen Nebel. Kern fühlte sie auf seinem Gesicht; er fühlte sie, als atme er Wein ein. Am Morgen vorher hatte er aus einer abgestoßenen Blechschale in einem stinkenden Raum eine lauwarme Brühe gelöffelt, und der Landstreicher Leo hatte dazu ein Furzkonzert gegeben – seine Spezialität nach dem Aufwachen. Jetzt wehte ein leichter, frischer Morgenwind über seine Hände, er aß weißes Brot und trank guten Kaffee dazu, ein Brief Ruths knisterte in seiner Tasche, und Steiner lehnte neben ihm am Wagen.

„Einen Vorteil hat es, wenn man im Kasten war“, sagte er. „Alles nachher ist wunderbar.“

Steiner nickte. „Du möchtest am liebsten heute abend los, was?“ fragte er.

Kern sah ihn an. „Ich möchte weg, und ich möchte hierbleiben. Ich wollte, wir könnten alle zusammen gehen.“

Steiner gab ihm eine Zigarette. „Bleib vorläufig mal zwei, drei Tage hier“, sagte er. „Du siehst erbärmlich aus. Der Gefängnisfraß hat dich ’runtergebracht. Futtere dich hier etwas heraus. Du brauchst Mark in den Knochen für die Landstraße. Besser, du wartest ein paar Tage, als dass du unterwegs zusammenklappst und geschnappt wirst. Die Schweiz ist kein Kinderspiel. Fremdes Land – da muss man gut beieinander sein.“ „Kann ich hier denn irgend etwas tun?“

„Du kannst in der Schießbude helfen. Und abends beim Hellsehen. Dafür habe ich zwar schon jemand anders nehmen müssen; aber zwei sind immer besser.“

„Gut“, sagte Kern. „Du hast sicher recht. Ich muss mich wohl erst etwas zurechtfinden, bevor ich losgehe. Ich habe irgendwie einen entsetzlichen Hunger. Nicht nur im Magen – in den Augen, im Kopf, überall. Besser, ich werde erst einmal ein bisschen klarer.“

Steiner lachte. „Richtig! Da kommt Lilo mit heißen Piroggen. Iss gründlich, Baby. Ich gehe inzwischen Potzloch aufwecken.“

Lilo stellte die Platte vor Kern hin. Er begann aufs neue zu essen. Zwischendurch tastete er nach seinen Briefen.

„Bleiben Sie hier?“ fragte Lilo in ihrem langsamen, etwas harten Deutsch.

Kern nickte.

„Keine Angst“, sagte Lilo. „Sie müssen keine Angst haben um Ruth. Sie kommt durch. Ich kenne Gesichter.“ – Kern wollte ihr sagen, dass er deswegen keine Angst habe. Dass er nur Sorge habe, sie könne in Zürich gefasst werden, bevor er ankäme… Doch ein Blick in das dunkle, von einer ungeheuren Trauer überschattete Gesicht der Russin ließ ihn verstummen. Alles war klein und belanglos dagegen. Aber sie schien trotzdem etwas gespürt zu haben. „Nicht schlimm“, sagte sie. „Solange anderer lebt, nie schlimm.“

Es war zwei Tage später, nachmittags. Ein paar Leute schlenderten auf die Schießbude zu. Lilo war mit einer Gruppe junger Burschen beschäftigt, und die Leute kamen zu Kern. „Los! Schießen wir einmal!“

Kern gab dem ersten eine Büchse. Die Leute schössen zunächst ein paarmal auf Figuren, die herunterrasselten, und auf dünne Glaskugeln, die im Strahl eines kleinen Springbrunnens tanzten. Dann begannen sie die Prämientafel zu studieren und forderten Scheiben, um sich Gewinne zu erschießen.

Die ersten beiden schössen vierunddreißig und vierundvierzig Punkte. Sie gewannen einen Plüschbären und ein versilbertes Zigarettenetui. Der dritte, ein untersetzter Mann mit hochstehenden Haaren und einer dichten, braunen Schnurrbartbürste, zielte lange und sorgfältig und kam auf 48 Ringe. Seine Freunde brüllten Beifall. Lilo warf einen kurzen Blick herüber. „Noch mal fünf Schuss!“ forderte der Mann und schob den Hut zurück. „Mit demselben Gewehr.“

Kern lud. Der Mann machte mit drei Schuss 36 Ringe. Jedesmal eine Zwölf. Kern sah den silbernen Obstkorb mit den Bestecken, das Erb- und Familienstück, das ungewinnbar war, in Gefahr. Er nahm eine von Direktor Potzlochs Glückskugeln. Der nächste Schuss war eine Sechs.

„Holla!“ Der Mann setzte das Gewehr ab. „Da stimmt was nicht. Ich bin tadellos abgekommen.“

„Vielleicht haben Sie doch etwas gezuckt“, sagte Kern. „Es ist ja dasselbe Gewehr.“

„Ich zucke nicht“, erwiderte der Mann gereizt. „Ein alter Polizeifeldwebel zuckt nicht. Ich weiß, wie ich schieße.“

Diesmal zuckte Kern. Ein Polizist, auch in Zivil, ging ihm auf die Nerven. Der Mann starrte ihn an. „Da stimmt was nicht, Sie!“ sagte er drohend.

Kern erwiderte nichts. Er reichte ihm das geladene Gewehr wieder hin. Diesmal hatte er eine normale Kugel hineingegeben. Der Feldwebel sah ihn noch einmal an, ehe er zu zielen begann. Er schoss eine Zwölf und setzte das Gewehr ab. „Na?“

„Kommt vor“, sagte Kern.

„Kommt vor? Kommt nicht vor! Vier Zwölfer und einen Sechser! Das glauben Sie doch wohl selber nicht, was?“

Kern schwieg. Der Mann näherte ihm sein rotes Gesicht. „Ich kenne Sie doch irgendwoher…“

Seine Freunde unterbrachen ihn. Lärmend verlangten sie einen Freischuss. Der Sechser sei ungültig. „Ihr habt was mit den Kugeln, ihr Brüder!“ schrien sie.

Lilo kam heran. „Was ist los?“ fragte sie. „Kann ich Ihnen helfen? Der junge Mann ist noch neu hier.“

Die anderen redeten auf sie ein. Der Polizist sprach nicht mit. Er blickte Kern an und in seinem Kopf arbeitete es. Kern hielt den Blick aus. Er erinnerte sich an alle Lehren, die ihm sein unruhiges Leben gegeben hatte. „Ich will mit dem Direktor sprechen“, sagte er nachlässig. „Ich kann hier nichts entscheiden.“ Er dachte daran, dem Polizisten einen Schuss frei zu geben. Aber er sah Potzloch bereits tosen, wenn das Erbstück der Familie seiner Frau zum Teufel ging. Er stand zwischen Skyllaund Charybdis. Langsam holte er eine Zigarette hervor und zündete sie an. Er zwang sich eisern, dass seine Hände nicht zitterten. Dann drehte er sich um und schlenderte zu Lilos Platz hinüber.

Lilo blieb an seiner Stelle stehen. Sie schlug einen Vergleich vor. Der Polizist solle noch einmal fünf Schüsse machen. Umsonst natürlich. Die anderen wollten nicht. Lilo blickte zu Kern hinüber. Sie sah, dass er blass war, und sie merkte, dass mehr los war als nur ein Streit um Potzlochs Zauberkugeln. Sie lächelte plötzlich und setzte sich auf den Tisch, dem Polizisten gegenüber.

„So ein fescher Mann wird auch zum zweitenmal gut schießen“, sagte sie. „Kommen Sie, probieren Sie es! Fünf Freischüsse für den Schützenkönig!“

Der Polizist reckte geschmeichelt den Kopf aus dem Kragen. „Wer so eine Hand hat, der hat keine Angst“, sagte Lilo und legte ihre schmale Hand auf die kräftige, rötlich behaarte des Feldwebels.

„Angst! Kennen wir nicht!“ Der Polizist warf sich in die Brust und lachte hölzern. „Wäre ja noch schöner!“

„Das habe ich mir gedacht!“ Lilo sah ihn bewundernd an und reichte ihm das Gewehr.

Der Polizist nahm es, zielte sorgfältig und schoss. Eine Zwölf. Befriedigt blickte er Lilo an. Sie lächelte und lud das Gewehr wieder. Der Polizist schoss 58 Ringe.

Lilo strahlte ihn an. „Sie sind der beste Schütze seit Jahren hier“, erklärte sie. „Ihre Frau braucht wahrhaftig keine Angst zu haben.“

„Hab’ noch keine Frau.“

Sie sah ihm in die Augen. „Wohl nur, weil Sie nicht wollen.“

Er schmunzelte. Seine Freunde lärmten. Lilo ging, ihm den Picknickkorb holen, den er gewonnen hatte. Er strich sich den Schnurrbart und sagte mit kleinen, kalten Augen plötzlich zu Kern: „Ich krieg’s schon ’raus mit Ihnen! Ich komme einmal in Uniform wieder!“

Dann nahm er grinsend seinen Korb und zog mit seinen Freunden weiter.

„Hat er Sie erkannt?“ fragte Lilo rasch.

„Ich weiß nicht. Ich glaube nicht. Ich habe ihn nie gesehen. Aber vielleicht er mich irgendwann.“

„Gehen Sie vorläufig wieder weg. Besser, er sieht Sie nicht mehr. Sagen Sie es Steiner.“

Der Polizist kam am selben Tag nicht wieder. Aber Kern beschloss, noch abends abzufahren.

„Ich muss weg“, sagte er zu Steiner. „Ich habe das Gefühl, dass sonst etwas passiert. Ich war jetzt zwei Tage hier. Ich bin wieder in Ordnung, glaube ich, meinst du nicht auch?“

Steiner nickte. „Fahr ab, Baby. Ich will in ein paar Wochen auch weiter. Mein Pass ist überall besser als hier. In Österreich wird es gefährlich. Ich habe so allerhand gehört in den letzten Tagen. Komm, wir gehen zu Potzloch.“

Direktor Potzloch war wütend wegen des Picknickkorbes. „Ein Wert von dreißig Schilling, junger Mann, netto, Einkauf en gros“, trompetete er. „Sie ruinieren mich!“

„Er geht ja“, sagte Steiner und erklärte ihm die Sachlage. „Es war reine Notwehr“, schloss er. „Ihr Familienerbstück wäre verloren gewesen.“

Potzloch erschrak nachträglich und verklärte sich dann. „Also gut, das ist was anderes.“ Er zahlte Kern seine Gage aus und führte ihn darauf vor die Schießbude. „Junger Mann“, sagte er, „Sie sollen Leopold Potzloch kennenlernen, den letzten Menschenfreund! Suchen Sie sich hier von den Sachen was aus! Als Andenken. Zum Verkaufen natürlich. Ein ordentlicher Mensch behält keine Andenken. Verbittern nur das Leben. Sie werden doch etwas handeln, wie? Suchen Sie aus! À discrétion…“

Er verschwand in der Richtung des Panoramas der Sensationen. „Tue es ruhig“, sagte Steiner. „Schund geht immer. Nimm kleine, leichte Sachen. Tue es rasch, ehe Potzloch es bereut.“

Aber Potzloch bereute nicht. Im Gegenteil: er gab auf die Aschbecher, Kämme und Würfel, die Kern sich ausgesucht hatte, freiwillig noch drei kleine nackte Göttinnen aus echtem Bronzeersatz hinzu. „Wird Ihr größter Erfolg sein in kleineren Städten“, erläuterte er und griff hohnlachend nach seinem Zwicker. „Der Mensch der Kleinstadt kennt die dumpfe Brunst. Kleinstadt ohne Bordell natürlich! Und nun Gott befohlen, Kern! Ich muss zu einer Konferenz gegen die hohe Lustbarkeitssteuer. Lustbarkeitssteuer! Typisch für dies Jahrhundert! Anstatt eine Prämie dafür auszusetzen!“

Kern packte seine Koffer. Er wusch seine Strümpfe und seine Hemden und hängte sie zum Trocknen auf. Dann aß er mit Lilo und Steiner zu Abend.

„Sei traurig, Kleiner“, sagte Steiner. „Es ist dein Recht. Die alten griechischen Helden weinten mehr als eine sentimentale Närrin unserer Tage. Sie wussten, dass man es nicht herunterfressen soll. Wir haben als Ideal die unbeugsame Courage einer Statue. Gar nicht nötig. Sei traurig, dann bist du es bald los.“

„Traurigkeit ist manchmal – letztes Glück“, sagte Lilo ruhig und gab Kern einen Teller Borschtsch mit Sahne.

Steiner lächelte und strich ihr übers Haar. „Letztes Glück für dich, kleiner Kosmopolit, soll vorläufig eine gute Mahlzeit sein. Die alte Soldatenweisheit. Und du bist ein Soldat, vergiss das nicht. Ein Vorposten. Eine Patrouille. Ein Pionier des Weltbürgertums. Zehn Zollgrenzen kannst du mit einem Flugzeug an einem Tage überfliegen; jede hat die andere nötig – und alle panzern sich mit Eisen und Pulver bis an den Hals gegeneinander. Das bleibt nicht. Du bist einer der ersten Europäer – vergiss das nicht. Sei stolz darauf.“

Kern lächelte. „Alles ganz schön. Ich bin auch stolz darauf. Aber was mache ich heute abend, wenn ich allein bin?“

* * *

Er fuhr mit dem Nachtzuge ab. Er nahm die billigste Klasse und den billigsten Zug und kam auf Umwegen bis Innsbruck. Von da ging er zu Fuß weiter und wartete auf ein Auto, das ihn mitnehmen sollte. Er fand keins. Abends ging er in ein kleines Gasthaus und aß eine Portion Bratkartoffeln; das sättigte und kostete wenig. Nachts schlief er in einem Heustadel. Er wandte dabei die Technik an, die der Dieb im Gefängnis ihm beigebracht hatte. Sie war erstklassig. Am nächsten Morgen fand er ein Auto, das ihn bis Landeck mitnahm. Der Besitzer kaufte ihm für fünf Schilling eine der Göttinnen Direktor Potzlochs ab. Abends begann es zu regnen. Kern blieb in einem kleinen Gasthof und spielte Tarock mit ein paar Holzfällern. Dabei verlor er drei Schilling. Er ärgerte sich so darüber, dass er bis Mitternacht nicht einschlafen konnte. Aber dann fand er es noch ärgerlicher, dass er zwei Schilling für den Schlaf bezahlt hatte und auch noch darum kam; darüber schlief er ein. Morgens ging er weiter. Er hielt ein Auto an, aber der Fahrer verlangte fünf Schilling Fahrgeld von ihm. Es war ein Austro-Daimler im Werte von 15 000 Schilling. Kern verzichtete. Später nahm ihn ein Bauer ein Stück auf seinem Wagen mit und schenkte ihm ein großes Butterbrot. Abends schlief er im Heu. Es regnete, und er lauschte lange auf das monotone Geräusch und roch den herben und erregenden Duft des nassen, gärenden Heus. Am nächsten Tag erkletterte und überschritt er den Arlbergpass. Er war sehr müde, als er oben von einem Gendarmen abgefasst wurde. Trotzdem musste er den Weg zurück neben dem Fahrrad des Gendarmen her bis St. Anton machen. Dort sperrte man ihn eine Nacht ein. Er schlief keine Minute, weil er fürchtete, man würde herausbekommen, dass er in Wien gewesen sei, und ihn zurückschicken und dort verurteilen. Aber man glaubte ihm, dass er über die Grenze wollte und ließ ihn am nächsten Morgen laufen. Er gab jetzt seinen Koffer als Frachtgut bis Feldkirch auf, weil der Gendarm ihn daran erkannt hätte. Einen Tag später war er in Feldkirch, holte seinen Koffer, wartete bis nachts, zog sich aus und überschritt den Rhein, Koffer und Kleider in den hoch erhobenen Händen. Er war jetzt in der Schweiz. Er marschierte zwei Nächte, bis er die gefährliche Zone hinter sich hatte. Dann gab er seinen Koffer auf der Bahn auf und fand bald darauf ein Auto, das ihn bis Zürich mitnahm.

* * *

Es war nachmittags, als er am Hauptbahnhof ankam. Er ließ seinen Koffer an der Gepäckaufbewahrungsstelle. Er wusste Ruths Adresse; aber er wollte nicht tagsüber zu ihrer Wohnung gehen. Eine Zeitlang blieb er am Bahnhof; dann erkundigte er sich in einigen jüdischen Geschäften nach der Flüchtlingsfürsorge. In einer Strumpfwarenhandlung bekam er die Adresse der Kultusgemeinde und ging hin.

Ein junger Mensch empfing ihn. Kern erklärte ihm, dass er gestern über die Grenze gekommen sei.

„Legal?“ fragte der junge Mann.

„Nein.“

„Haben Sie Papiere?“

Kern sah ihn erstaunt an. „Wenn ich Papiere hätte, wäre ich nicht hier.“

„Jude?“

„Nein. Halbjude.“

„Religion?“

„Evangelisch.“

„Evangelisch, ach so! Da können wir wenig für Sie tun. Unsere Mittel sind sehr beschränkt, und als religiöse Gemeinde sind unsere Hauptsorge natürlich die – Sie verstehen – Juden unseres Glaubens.“

„Ich verstehe“, sagte Kern. „Aus Deutschland bin ich ’rausgeflogen, weil ich einen jüdischen Vater habe. Sie hier können mir nicht helfen, weil ich eine christliche Mutter habe. Komische Welt!“

Der junge Mann zuckte die Achseln. „Es tut mir leid. Aber wir haben nur private Spenden zur Verfügung.“

„Können Sie mir wenigstens sagen, wo ich ein paar Tage unangemeldet wohnen kann?“ fragte Kern.

„Leider nicht. Ich kann es nicht und darf es auch nicht. Die Vorschriften sind sehr streng, und wir haben uns genau daran zu halten. Sie müssen zur Polizei gehen und um eine Aufenthaltserlaubnis ersuchen.“

„Na“, sagte Kern, „darin habe ich schon eine gewisse Erfahrung.“

Der junge Mann sah ihn an. „Warten Sie doch bitte noch einen Augenblick.“ Er ging in ein Büro im Hintergrunde und kam bald darauf wieder. „Wir können Ihnen ausnahmsweise mit zwanzig Franken helfen. Mehr können wir leider nicht für Sie tun.“

„Danke vielmals! So viel habe ich gar nicht erwartet!“

Kern faltete den Schein sehr sorgfältig zusammen und steckte ihn in seine Brieftasche. Es war das einzige Schweizer Geld, das er hatte.

Auf der Straße blieb er stehen. Er wusste nicht, wohin er gehen sollte.

„Nun, Herr Kern“, sagte da jemand hinter ihm etwas spöttisch.

Kern fuhr herum. Ein junger, ziemlich elegant angezogener Mensch, ungefähr in seinem Alter, stand hinter ihm. Er lächelte. „Erschrecken Sie nicht! Ich war auch eben dort oben.“ Er wies auf die Tür der Kultusgemeinde. „Sie sind das erstemal in Zürich, wie?“

Kern sah ihn eine Sekunde misstrauisch an. „Ja“, sagte er dann. „Ich bin sogar das erstemal in der Schweiz.“

„Das habe ich mir gedacht. Ihre Geschichte war so. Etwas ungeschickt – verzeihen Sie. Es war nicht notwendig, dass Sie sagten, Sie wären evangelisch. Aber Sie haben ja auch so eine Unterstützung bekommen. Wenn Sie wollen, kann ich Ihnen ein paar Aufklärungen geben. Ich heiße Binder. Wollen wir einen Kaffee trinken?“

„Ja, gern. Gibt es hier ein Emigrantencafé oder so etwas?“

„Mehrere. Wir gehen am besten ins Café Greif. Das ist nicht weit von hier, und die Polizei kennt es noch nicht so genau. Bis jetzt war wenigstens noch keine Razzia da.“

Sie gingen zum Café Greif. Es glich dem Café Sperler in Wien wie ein Ei dem andern.

„Woher kommen Sie?“ fragte Binder.

„Aus Wien.“

„Da müssen Sie einiges umlernen. Passen Sie auf! Sie können natürlich bei der Polizei eine kurze Aufenthaltserlaubnis bekommen. Nur für ein paar Tage selbstverständlich, dann müssen Sie ’raus. Die Chance, ohne Papiere eine zu bekommen, ist augenblicklich keine zwei Prozent; die Chance, sofort ausgewiesen zu werden, etwa achtundneunzig. Wollen Sie das riskieren?“

„Auf keinen Fall.“

„Richtig! Sie riskieren nämlich außerdem, dass Ihnen sofort die Einreise gesperrt wird – auf ein Jahr, drei Jahre, fünf und mehr, je nachdem. Wenn Sie danach erwischt werden, gibt es Gefängnis.“

„Das weiß ich“, sagte Kern. „Wie überall.“

„Gut. Sie schieben das hinaus, wenn Sie illegal bleiben. Natürlich nur, bis Sie zum erstenmal erwischt werden. Das ist Geschicklichkeits- und Glückssache.“

Kern nickte. „Wie steht es mit Arbeitsmöglichkeiten?“

Binder lachte. „Ausgeschlossen. Die Schweiz ist ein kleines Land und hat selbst genug Arbeitslose.“

„Also das Übliche: legal oder illegal verhungern oder gegen die Gesetze verstoßen.“

„Exakt!“ erwiderte Binder glatt und gewandt. „Nun zur Frage der Zonen. Zürich ist sehr heiß. Sehr eifrige Polizei. In Zivil, das ist das Unangenehme. Hier halten sich nur Routiniers. Keine Dilettanten. Gut ist augenblicklich die französische Schweiz. Genf vor allem. Sozialistische Regierung. Das Tessin ist auch nicht schlecht, aber die Städte sind zu klein. Wie arbeiten Sie? Glatt oder mit Pelle?“

„Was heißt das?“

„Das heißt, ob Sie nur versuchen, eine Unterstützung zu bekommen, oder ob Sie dasselbe tun, indem Sie etwas zu verkaufen bei sich haben.“

„Ich möchte etwas verkaufen.“

„Gefährlich. Gilt als Arbeit. Doppelt strafbar. Illegaler Aufenthalt und illegale Arbeit. Besonders, wenn Sie angezeigt werden.“

„Angezeigt?“

„Mein Lieber“, erwiderte der Fachmann Binder geduldig belehrend, „ich bin schon einmal von einem Juden angezeigt worden, der mehr Millionen hat als Sie Franken. Er war entrüstet, weil ich ihn um Geld für eine Fahrkarte nach Basel bat. Also, wenn Sie etwas verkaufen, nur kleine Sachen: Bleistifte, Schnürsenkel, Knöpfe, Radiergummi, Zahnbürsten und so etwas. Nie einen Koffer, einen Kasten, nicht einmal eine Aktentasche mitnehmen. Selbst damit sind schon Leute ’reingefallen. Alles am besten in den Taschen bei sich tragen. Das wird jetzt im Herbst leichter, weil Sie einen Mantel anziehen können. Womit handeln Sie?“

„Seife, Parfüms, Toilettewasser, Kämme, Sicherheitsnadeln und so was Ähnliches.“

„Gut. Je wertloser ein Gegenstand, desto besser ist der Verdienst. Ich selbst handle grundsätzlich nicht. Ich bin ein einfacher Unterstützungstiger. Vermeide so den Paragraphen wegen illegaler Arbeit und falle nur unter Bettelei und Landstreicherei. Wie ist es mit Adressen? Haben Sie welche?“

„Was für Adressen?“

Binder lehnte sich zurück und sah Kern erstaunt an. „Um des Himmels willen!“ sagte er. „Das ist doch das wichtigste! Adressen von Leuten, an die Sie sich wenden können, natürlich. Sie können doch nicht aufs Geratewohl von Haus zu Haus laufen! Dann sind Sie ja in drei Tagen erledigt.“

Er bot Kern eine Zigarette an. „Ich werde Ihnen eine Anzahl zuverlässiger Adressen geben“, fuhr er fort. „Drei Serien – fromm jüdische, gemischte und christliche. Sie bekommen sie umsonst. Ich selbst habe für meine ersten zwanzig Franken zahlen müssen. Die Leute sind natürlich zum Teil furchtbar überlaufen; aber sie machen Ihnen wenigstens keine Schwierigkeiten.“

Er musterte Kerns Anzug. „Ihre Kleidung ist in Ordnung. Man muss in der Schweiz darauf halten. Wegen der Detektive. Wenigstens der Mantel muss gut sein; er deckt unter Umständen einen zerfetzten Anzug, der Argwohn erwecken könnte. Allerdings gibt es eine Menge Leute, die einem eine Unterstützung verweigern, wenn man noch einen Anzug trägt, den man schont und pflegt. Haben Sie eine gute Geschichte, die Sie erzählen können?“

Er sah auf und bemerkte Kerns Blick. „Mein Lieber“, sagte er, „ich weiß, was Sie jetzt denken. Ich habe es auch einmal gedacht. Aber glauben Sie mir; selbst sich im Elend zu erhalten, ist schon eine Kunst. Und die Wohltätigkeit ist eine Kuh, die wenig und schwer Milch gibt. Ich kenne Leute, die drei verschiedene Geschichten auf Lager haben, eine sentimentale, eine brutale und eine sachliche; je nachdem, was der Mann, der seine paar Franken Unterstützung ’rausrücken soll, hören will. Sie lügen, gewiss. Aber nur, weil sie müssen. Die Grundgeschichte ist immer dieselbe: Not, Flucht und Hunger.“

„Ich weiß“, erwiderte Kern. „Daran habe ich auch gar nicht gedacht. Ich war nur verblüfft, dass Sie so viel und alles so genau wissen.“

„Konzentrierte Erfahrung von drei Jahren aufmerksamsten Lebenskampfes. Ich bin gerissen, ja. Das sind wenige. Mein Bruder war es nicht. Er hat sich vor einem Jahr erschossen.“

Binders Gesicht war einen Augenblick verzerrt. Dann wurde es wieder glatt. Er stand auf. „Wenn Sie nicht wissen, wohin Sie sollen, können Sie die Nacht bei mir schlafen. Ich habe zufallig für eine Woche eine sichere Bude. Das Zimmer eines Züricher Bekannten, der auf Urlaub ist. Ich bin ab elf Uhr hier. Um zwölf ist Polizeistunde. Seien Sie vorsichtig nach zwölf. Es wimmelt dann von Detektiven auf den Straßen.“

„Die Schweiz scheint verdammt heiß zu sein“, sagte Kern. „Gott sei Dank, dass ich Sie getroffen habe. Ohne Sie wäre ich wahrscheinlich schon am ersten Tage erwischt worden. Ich danke Ihnen herzlich! Sie haben mir sehr geholfen!“

Binder wehrte ab. „Das ist doch selbstverständlich bei Leuten, die ganz unten sind. Kameraderie der Illegalen – fast wie bei Verbrechern. Jeder von uns kann morgen in der Patsche sein und auch Hilfe brauchen. Also eventuell um elf hier!“

Er bezahlte den Kaffee, gab Kern die Hand und ging sicher und elegant hinaus.

Kern wartete im Café Greif, bis es dunkel wurde. Er ließ sich einen Stadtplan geben und zeichnete sich den Weg zu Ruths Wohnung auf. Dann brach er auf und ging rasch, in einer unruhigen Spannung, die Straßen entlang. Es dauerte ungefähr eine halbe Stunde, ehe er das Haus fand. Es lag in einem verwinkelten, ruhigen Stadtteil und schimmerte groß und weiß im Mondlicht. Vor der Tür blieb er stehen. Er blickte auf die breite Messingklinke, und die Spannung erlosch plötzlich. Er glaubte auf einmal nicht, dass er nur eine Treppe hinaufzugehen brauchte, um Ruth zu finden. Es war zu einfach, nach all den Monaten. Er war nicht gewohnt, dass etwas einfach war. Er starrte zu den Fenstern empor. Vielleicht war sie gar nicht im Hause. Vielleicht war sie auch schon nicht mehr in Zürich.

Er ging an dem Haus vorbei. Ein paar Ecken weiter war ein Tabakladen. Er trat ein. Eine mürrische Frau kam hinter dem Aufbau der Theke hervor. – „Ein Paket Parisiennes“, sagte Kern.

Die Frau schob das Päckchen vor ihn hin. Dann griff sie in einen Kasten unter der Theke, holte Streichhölzer hervor und legte sie auf die Zigaretten. Es waren zwei Pakete, die aneinanderklebten. Die Frau sah es, löste sie voneinander und warf eins zurück in den Kasten. „Fünfzig Rappen“, sagte sie.

Kern bezahlte. „Kann ich einmal telefonieren?“ fragte er.

Die Frau nickte. „Da links in der Ecke steht der Apparat.“

Kern suchte im Telefonbuch die Nummer Neumann – es schien Hunderte von Neumanns in dieser Stadt zu geben. Endlich fand er den richtigen. Er hob den Hörer ab und nannte die Nummer. Die Frau blieb an der Theke stehen und beobachtete ihn. Kern drehte ihr ärgerlich den Rücken zu. Es dauerte lange, bis sich jemand meldete.

„Kann ich mit Fräulein Holland sprechen?“ fragte er in den schwarzen Trichter hinein.

„Wer ist dort?“

„Ludwig Kern.“

Die Stimme im Telefon schwieg einen Augenblick. „Ludwig…“, sagte sie dann wie atemlos. „Du, Ludwig?“

„Ja…“ Kern fühlte plötzlich sein Herz hart schlagen, als wäre es ein Hammer. „Ja, bist du es, Ruth? Ich habe deine Stimme nicht erkannt. Wir haben ja noch nie miteinander telefoniert.“

„Wo bist du denn? Von wo rufst du an?“

„Ich bin hier. In Zürich. In einem Zigarettenladen.“

„Hier?“

„Ja, in derselben Straße wie du.“

„Warum kommst du denn nicht her? Ist etwas passiert?“

„Nein, nichts. Ich bin heute angekommen. Ich dachte schon, du wärst nicht mehr da. Wo können wir uns treffen?“

„Hier! Komm her. Rasch! Weißt du das Haus? Es ist in der zweiten Etage.“

„Ja, ich weiß. Aber geht es denn? Ich meine wegen der Leute, bei denen du wohnst?“

„Es ist niemand hier. Ich bin allein. Alle sind fort über das Wochenende. Komm!“

„Ja.“

Kern legte den Hörer auf. Er sah sich abwesend um. Es schien nicht mehr derselbe Laden zu sein wie vorher. Dann ging er zur Theke zurück. „Was kostet das Gespräch?“ fragte er.

„Zehn Rappen.“

„Nur zehn Rappen?“

„Teuer genug.“ Die Frau klaubte das Nickelstück auf. „Vergessen Sie Ihre Zigaretten nicht.“

„Ach so… ja…“

Kern trat auf die Straße. Ich will jetzt nicht laufen, dachte er. Wer läuft, ist verdächtig. Ich will mich zusammenhalten. Steiner würde auch nicht laufen. Ich will gehen. Niemand soll mir etwas anmerken. Aber ich kann schnell gehen. Ich kann sehr schnell gehen. Das ist ebenso rasch, als wenn ich laufe.

Ruth stand auf der Treppe. Es war dunkel, und Kern konnte sie nur undeutlich sehen. „Nimm dich in acht!“ sagte er heiser und eilig, „ich bin schmutzig! Meine Sachen sind noch am Bahnhof. Ich konnte mich nicht waschen und umziehen!“

Sie erwiderte nichts. Sie stand vorgebeugt am Treppenabsatz und wartete auf ihn. Er lief die Stufen hinauf, und plötzlich war sie bei ihm, warm und wirklich, das Leben und mehr als das Leben.

Sie lag still in seinem Arm. Er hörte sie atmen und fühlte ihr Haar. Er stand regungslos, und die undeutliche Dunkelheit um ihn herum schien zu schwanken. Dann merkte er, dass sie weinte. Er machte eine Bewegung. Sie schüttelte den Kopf an seiner Schulter, ohne ihn loszulassen. „Lass mich nur. Ich bin gleich durch.“

Unten ging eine Tür. Kern drehte sich vorsichtig und fast unmerklich zur Seite, um die Treppe übersehen zu können. Er hörte Schritte. Dann klickte ein Schalter, und es wurde hell. Ruth schreckte auf. „Komm! Komm rasch herein!“ Sie zog ihn zur Tür.

Sie saßen im Wohnzimmer der Familie Neumann. Es war das erstemal seit langer Zeit, dass Kern wieder in einer Wohnung war. Das Zimmer war bürgerlich und ohne viel Geschmack eingerichtet, mit gediegenen Mahagonimöbeln, einem modernen Perserteppich, ein paar mit Rips überzogenen Sesseln und einigen Lampen mit Schirmen aus farbiger Seide – aber Kern erschien es wie eine Vision des Friedens und eine Insel der Sicherheit.

„Seit wann ist dein Pass abgelaufen?“ fragte er.

„Seit sieben Wochen, Ludwig.“ Ruth nahm zwei Gläser und eine Flasche aus dem Büfett.

„Hast du eine Verlängerung beantragt?“

„Ja. Ich war auf dem Konsulat hier in Zürich. Sie haben es abgelehnt. Ich habe auch nichts anderes erwartet.“

„Ich eigentlich auch nicht. Obschon ich immer noch auf irgendein Wunder gehofft habe. Wir sind ja Staatsfeinde. Gefährliche Staatsfeinde. Sollten uns eigentlich wichtig damit vorkommen, was?“

„Mir ist es egal“, sagte Ruth und stellte die Gläser und die Flasche auf den Tisch. „Ich habe vor dir jetzt nichts mehr voraus, das ist auch etwas.“

Kern lachte. Er nahm sie um die Schultern und zeigte auf die Flasche. „Was ist denn das? Kognak?“

„Ja. Der beste Kognak der Familie Neumann. Ich will mit dir trinken, weil du wieder da bist. Es war eine schreckliche Zeit ohne dich. Und es war schrecklich zu wissen, dass du im Gefängnis warst. Sie haben dich geschlagen, diese Verbrecher! Und alles war meine Schuld!“

Sie sah ihn an. Sie lächelte, aber Kern merkte, dass sie erregt war. Ihre Stimme war fast zornig, und ihre Hand zitterte, als sie die Gläser vollschenkte. „Es war schrecklich!“ sagte sie noch einmal und gab ihm sein Glas. „Aber jetzt bist du wieder da!“

Sie tranken. „Es war gar nicht schlimm“, sagte Kern. „Wirklich nicht!“

Ruth stellte ihr Glas weg. Sie hatte es mit einem Ruck ausgetrunken. Sie legte ihre Arme um Kerns Nacken und küsste ihn. „Jetzt lasse ich dich nicht wieder weg“, murmelte sie. „Nie!“

Kern sah sie an. Er hatte sie noch nie so gesehen. Sie war völlig verändert. Etwas Fremdes, das früher oft schattenhaft zwischen ihnen gestanden hatte, war gewichen. Sie war jetzt aufgeschlossen und ganz da, und er fühlte zum erstenmal, dass sie zu ihm gehörte. Er hatte es früher nie sicher gewusst.

„Ruth“, sagte er, „ich wollte, die Decke bräche auseinander und ein Flugzeug käme, und wir flögen zu einer Insel mit Palmen und Korallen, wo keiner weiß, was ein Pass und eine Aufenthaltserlaubnis ist!“

Sie küsste ihn wieder. „Ich fürchte, sie wissen es auch da, Ludwig. Unter Palmen und Korallen haben sie sicher Forts und Kanonen und Kriegsschiffe und passen noch mehr auf als in Zürich.“

„Ja, bestimmt! Lass uns noch ein Glas trinken.“ Er nahm die Flasche und schenkte ein. „Aber Zürich ist auch schon gefährlich. Man kann sich hier nicht lange verstecken.“

„Dann lass uns weggehen!“

Kern sah auf das Zimmer, auf die Damastvorhänge, die Sessel und die gelbseidenen Lampen. „Ruth“, sagte er und machte eine Gebärde über das alles hin, „es ist wunderbar, mit dir zusammen wegzugehen, und ich habe mir auch nie etwas anderes vorstellen können. Aber dies hier gibt es dann nicht mehr, das musst du wissen. Es gibt nur noch Verstecken und Landstraße und Heuschober und kleine jämmerliche Pensionszimmer mit Angst vor der Polizei, wenn wir Glück haben. Und Gefängnis.“

„Das weiß ich. Es ist mir egal. Und du brauchst dir keine Gedanken deswegen zu machen. Ich muss ohnehin hier fort. Ich kann nicht mehr bleiben. Die Leute haben Angst vor der Polizei, weil ich nicht angemeldet bin. Sie sind froh, wenn ich weg bin. Ich habe auch noch etwas Geld, Ludwig. Und ich werde dir handeln helfen. Ich werde nicht viel kosten. Ich glaube, ich bin ganz praktisch.“

„So“, sagte Kern, „etwas Geld hast du sogar, und verkaufen helfen willst du! Noch ein Wort mehr, und ich fange an zu heulen wie ein altes Weib. Hast du viele Sachen mitzunehmen?“

„Nicht viel. Was ich nicht brauche, lasse ich hier.“

„Gut. Was machen wir mit deinen Büchern? Besonders mit den dicken über Chemie? Lassen wir die vorläufig hier?“

„Meine Bücher habe ich verkauft. Ich habe den Rat befolgt, den du mir in Prag gegeben hast. Man soll nichts mitnehmen von früher. Nichts. Und man soll auch nicht zurückschauen, das macht nur müde und kaputt. Die Bücher haben uns Unglück gebracht. Ich habe sie verkauft. Sie wären auch viel zu schwer zu schleppen gewesen.“

Kern lächelte. „Du hast recht, du bist praktisch, Ruth. Ich denke, wir gehen zuerst nach Luzern. Georg Binder, ein Professional für die Schweiz, hat mir das geraten. Es sind viele Fremde da, man fällt deshalb nicht auf, und die Polizei ist nicht so scharf. Wann wollen wir los?“

„Übermorgen früh. Solange können wir hier bleiben.“

„Gut. Ich habe eine Bude zum Schlafen. Ich muss nur bis zwölf im Café Greif sein.“

„Du wirst nicht bis zwölf im Café Greif sein! Du bleibst hier, Ludwig! Wir gehen nicht vor übermorgen früh auf die Straße. Ich würde sonst umkommen vor Angst!“

Kern starrte sie an. „Geht denn das? Ist da nicht ein Dienstmädchen oder so was, das uns verraten kann?“

„Das Dienstmädchen hat Urlaub bis Montag mittag. Es kommt mit dem Zuge um elf Uhr vierzig zurück. Die andern um drei Uhr nachmittags. Solange haben wir Zeit.“

„Herr des Himmels“, sagte Kern. „So lange haben wir diese ganze Wohnung für uns?“

„Ja.“

„Und wir können darin leben, als wenn sie uns gehörte, mit diesem Salon und Schlafzimmern und einem eigenen Eßzimmer und einem blütenweißen Tischtuch und Porzellan und womöglich silbernen Gabeln und Messern und Extramessern für Äpfel und Kaffee aus kleinen Mokkatassen und einem Radio.“

„Mit allem! Und ich werde kochen und braten und ein Abendkleid von Sylvia Neumann für dich anziehen!“

„Und ich den Smoking des Herrn Neumann heute abend! Und wenn er noch so groß ist! Ich habe aus der „Eleganten Welt“ im Gefängnis gelernt, wie man sich zu kleiden hat!“

„Er wird dir sogar passen!“

„Großartig! Das müssen wir feiern!“ Kern sprang begeistert auf.

„Dann kann ich ja auch ein heißes Bad mit viel Seife haben, was? Das habe ich lange entbehrt. Im Gefängnis gab’s nur so eine Art Lysolschauer.“

„Natürlich! Ein heißes Bad mit dem weltbekannten Kern-Farr-Parfüm drin sogar!“

„Das habe ich gerade ausverkauft.“

„Aber ich habe noch eine Flasche! Die, die du mir im Kino in Prag geschenkt hast. An unserem ersten Abend. Ich habe sie aufbewahrt.“

„Das ist der Gipfel!“ sagte Kern. „Gesegnetes Zürich! Du überwältigst mich, Ruth! Es fängt gut mit uns an!“

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