Kern belagerte in Luzern zwei Tage lang die Villa des Kommerzienrates Arnold Oppenheim. Das weiße Haus lag wie eine Burg auf einer Anhöhe über dem Vierwaldstätter See. In den Adressen, die der Professional Binder Kern geschenkt hatte, stand als Anmerkung hinter Oppenheim: Deutscher, Jude. Gibt, aber nur auf Druck. National. Nicht von Zionismus reden.
Am dritten Tage wurde Kern vorgelassen. Oppenheim empfing ihn in einem großen Garten, der voll war von Astern, Sonnenblumen und Chrysanthemen. Er war ein gutgelaunter, kräftiger Mann mit dicken kurzen Fingern und einem kleinen, dichten Schnurrbart. „Kommen Sie jetzt aus Deutschland?“ fragte er.
„Nein. Ich bin schon über zwei Jahre fort.“
„Und woher sind Sie?“
„Aus Dresden.“
„Ach, Dresden!“ Oppenheim strich sich über den glänzenden, kahlen Schädel und seufzte schwärmerisch. „Dresden ist eine herrliche Stadt! Ein Juwel! Diese Brühlsche Terrasse! Etwas Einzigartiges, wie?“
„Ja“, sagte Kern. Ihm war heiß, und er hätte gern ein Glas von dem Traubensaft gehabt, der vor Oppenheim auf dem Steintisch stand. Aber Oppenheim kam nicht auf den Gedanken, ihm eins anzubieten. Versonnen schaute er in die klare Luft. „Und der Zwinger – das Schloss – die Galerien – das kennen Sie natürlich alles genau, wie?“
„Nicht so genau. Mehr von außen.“
„Aber, lieber junger Freund!“ Oppenheim sah ihn vorwurfsvoll an. „So etwas nicht zu kennen! Edelstes deutsches Barock! Haben Sie nie etwas von Daniel Pöppelmanngehört?“
„Doch, selbstverständlich!“ Kern hatte keine Ahnung von dem Baumeister des Barocks, aber er wollte Oppenheim gefällig sein.
„Na, sehen Sie!“ Oppenheim lehnte sich in seinem Sessel zurück. „Ja, unser Deutschland! Das macht uns keiner nach, wie?“
„Sicher nicht. Das ist auch ganz gut.“
„Gut? Wieso? Wie meinen Sie das?“
„Ganz einfach. Es ist gut für die Juden. Wir wären sonst verloren.“
„Ach so! Sie meinen das politisch! Na, hören Sie… verloren… verloren, was sind das für große Worte! Glauben Sie mir, es wird heute auch sehr viel übertrieben. Ich weiß es aus bester Quelle: So schlimm ist es gar nicht.“
„So?“
„Bestimmt!“ Oppenheim beugte sich vor und dämpfte vertraulich seine Stimme. „Unter uns gesagt, die Juden haben selbst viel Schuld an dem, was heute passiert. Eine Menge Schuld haben sie, das sage ich Ihnen, und ich weiß, was ich sage. Es war vieles nicht notwendig, was sie gemacht haben, und ich verstehe was davon!“
Wieviel mag er mir geben, dachte Kern. Ob es ausreichen wird, dass wir bis Bern kommen?
„Nehmen Sie zum Beispiel die Sache mit den Ostjuden, den galizischen und polnischen Einwanderern“, erklärte Oppenheim und nahm einen Schluck Traubensaft. „Mussten die alle hineingelassen werden? Was haben diese Leute wirklich in Deutschland zu suchen? Ich bin genauso dagegen wie die Regierung. Juden sind Juden, heißt es da immer – aber was besteht schon für eine Gemeinschaft zwischen so einem schmutzigen Hausierer mit speckigem Kaftan und Peieslöckchen und einer alten, seit Jahrhunderten eingesessenen bürgerlich-jüdischen Familie?“
„Die einen sind früher eingewandert, die andern später“, sagte Kern gedankenlos und erschrak nachträglich etwas. Er wollte Oppenheim auf keinen Fall reizen.
Doch der merkte nichts; er war zu sehr mit seinem Problem beschäftigt. „Die einen sind assimiliert, sind wertvolle, wichtige, national erstklassige Bürger – und die anderen sind fremde Einwanderer! Das ist es, mein Lieber! Was haben wir mit diesen Leuten zu tun? Gar nichts, überhaupt nichts! Man hätte die in Polen lassen sollen!“
„Da will man sie aber auch nicht haben.“
Oppenheim machte eine weit ausholende Bewegung und sah Kern ärgerlich an. „Das hat doch nichts mit Deutschland zu tun! Das ist doch ganz was anderes! Man muss objektiv sein! Ich hasse es, alles in Bausch und Bogen zu verdammen. Man kann gegen Deutschland sagen, was man will, die Leute jetzt drüben tun was! Und sie erreichen was! Das müssen Sie wohl zugeben, wie?“
„Natürlich.“. Zwanzig Franken, dachte Kern, sind vier Tage Pension. Vielleicht gibt er auch mehr.
„Dass es dem einzelnen dabei mal schlecht geht, oder bestimmten Gruppen…“, Oppenheim schnaufte kurz, „nun, das sind harte politische Notwendigkeiten! Große Politik kennt keine Sentimentalität. Das müssen wir hinnehmen…“
„Gewiss…“
„Sehen Sie“, sagte Oppenheim, „das Volk wird beschäftigt. Die nationale Würde gehoben. Gewiss, es gibt da Übertreibungen, aber das kommt immer im Anfang vor. Das wird sich geben. Betrachten Sie nur, was aus unserer Wehrmacht geworden ist! So was ist doch einzigartig! Wir sind plötzlich wieder vollwertig. Ein Volk ohne große, schlagkräftige Armee ist nichts, gar nichts!“
„Davon verstehe ich nichts“, erwiderte Kern.
Oppenheim gab ihm einen schiefen Blick. „Das sollten Sie aber!“ erklärte er und stand auf. „Gerade im Ausland!“ Er haschte nach einer Mücke und zerdrückte sie sorgfältig. „Die andern haben schon wieder Angst vor uns! Und Angst ist alles, glauben Sie mir das! Nur wenn der andere Angst hat, erreicht man was!“
„Das verstehe ich“, sagte Kern.
Oppenheim trank seinen Traubensaft aus und machte einige Schritte durch seinen Garten. Unten leuchtete der See wie ein blauer, vom Himmel gefallener Schild. „Und was ist mit Ihnen los?“ fragte er in verändertem Ton. „Wohin wollen Sie?“
„Nach Paris.“
„Warum gerade nach Paris?“
„Ich weiß nicht. Um ein Ziel zu haben. Es soll besser sein, dort unterzukommen.“
„Warum bleiben Sie nicht in der Schweiz?“
„Herr Kommerzienrat!“ Kern war plötzlich atemlos. „Wenn ich das könnte! Wenn Sie mir dazu verhelfen könnten, dass ich hierbliebe! Eine Empfehlung vielleicht, oder dass Sie bereit wären, mir Arbeit zu geben… wenn Sie mit Ihrem Namen…“
„Ich kann gar nichts machen“, unterbrach Oppenheim ihn eilig. „Gar nichts! Überhaupt nichts. So meinte ich das auch gar nicht. Es war nur eine Frage. Ich muss politisch völlig neutral sein, in jeder Beziehung. Ich kann mich in nichts einmischen!“
„Es ist doch nicht politisch…“
„Heute ist alles politisch! Die Schweiz ist mein Gastland. Nein, nein, kommen Sie mir nicht mit so was!“ Oppenheim wurde immer missmutiger. „Was wollten Sie denn sonst noch?“
„Ich wollte fragen, ob Sie etwas von diesen Kleinigkeiten brauchen könnten.“ Kern zog ein paar Sachen aus der Tasche.
„Was haben Sie denn? Parfüm? Toilettewasser? Kommt nicht in Frage.“ Oppenheim schob die Flaschen beiseite. „Seife? Na, ja. Seife kann man ja wohl immer brauchen. Zeigen Sie mal her! Schön. Lassen Sie ein Stück hier. Warten Sie…“ Er griff in die Tasche, zögerte einen Augenblick, schob ein paar Geldstücke zurück und legte zwei Franken auf den Tisch. „So, ist ja wohl sehr gut bezahlt, was?“
„Es ist sogar zuviel. Die Seife koste nur einen Franken.“
„Na, lassen Sie nur“, erklärte Oppenheim großzügig. „Aber erzählen Sie es nicht weiter. Man wird sowieso schon furchtbar überlaufen.“
„Herr Kommerzienrat“, sagte Kern ruhig, „eben deshalb möchte ich nur das haben, was die Seife kostet.“
Oppenheim sah ihn etwas überrascht an. „Na, wie Sie wollen. Ein gutes Prinzip übrigens. Nichts schenken lassen. Das war auch immer mein Wahlspruch.“
Kern verkaufte nachmittags noch zwei Stück Seife, einen Kamm und drei Pakete Sicherheitsnadeln. Er verdiente damit insgesamt drei Franken. Mehr aus Gleichgültigkeit ging er schließlich in ein kleines Wäschegeschäft, das einer Frau Sarah Grünberg gehörte.
Frau Grünberg, eine Frau mit wirrem Haar und einem Zwicker, hörte ihn geduldig an.
„Das ist nicht Ihr Beruf, wie?“ fragte sie.
„Nein“, sagte Kern. „Ich glaube, ich bin auch nicht sehr geschickt dafür.“
„Wollen Sie arbeiten? Ich mache gerade Inventur. Zwei bis drei Tage hätte ich zu tun. Sieben Franken am Tag und gutes Essen. Sie können morgen um acht kommen.“
„Gern“, sagte Kern, „aber…“
„Ich weiß schon… von mir erfährt keiner was. Und nun geben Sie mir ein Stück Seife. Reicht das, drei Franken?“
„Es ist zuviel.“
„Es ist nicht zuviel. Es ist zuwenig. Verlieren Sie den Mut nicht.“
„Mit Mut allein kommt man nicht weit“, sagte Kern und nahm das Geld. „Aber es gibt immer wieder Glück. Das ist besser.“
„Sie können mir jetzt noch ein paar Stunden aufräumen helfen. Einen Franken die Stunde. Nennen Sie das auch Glück?“
„Ja“, sagte Kern. „Mit Glück kann man gar nicht weit genug unten anfangen. Um so öfter kommt es.“
„Lernen Sie so was unterwegs?“ fragte Frau Grünberg.
„Unterwegs nicht; aber in den Pausen, wenn ich nicht unterwegs bin. Dann denke ich darüber nach und versuche, etwas daraus zu lernen. Man lernt jeden Tag etwas. Manchmal sogar von Kommerzienräten.“
„Verstehen Sie auch was von Wäsche?“ fragte Frau Grünberg.
„Nur von sehr grober. Ich habe kürzlich in einem Institut zwei Monate lang nähen gelernt. Allerdings nur sehr einfache Sachen.“
„Kann nie schaden“, erklärte Frau Grünberg. „Ich kann sogar Zähne ziehen. Habe es vor zwanzig Jahren mal von einem Dentisten gelernt. Wer weiß… vielleicht mache ich damit noch gelegentlich mein Glück!“
Kern arbeitet bis zehn Uhr und bekam außer einem guten Abendessen noch fünf Franken ausgezahlt. Das reichte mit dem andern für zwei Tage und gab ein besseres Gefühl als hundert Franken des Kommerzienrates Oppenheim.
Ruth wartete auf ihn in einer kleinen Pension, die aus dem Adressenverzeichnis von Binder stammte. Man konnte dort ein paar Tage wohnen, ohne angemeldet zu sein. Sie war nicht allein. Neben ihr am Tisch auf der kleinen Terrasse saß ein schlanker, älterer Mann.
„Gottlob, dass du da bist“, sagte Ruth und stand auf. „Ich habe schon Angst um dich gehabt.“
„Du musst keine Angst haben. Wenn man Angst hat, passiert meistens nichts. Es passiert nur etwas, wenn man gar nicht damit rechnet.“
„Das ist ein Sophismus, aber keine Philosophie“, sagte der Mann, der mit Ruth am Tisch gesessen hatte.
Kern drehte sich nach ihm um. Der Mann lächelte. „Kommen Sie und trinken Sie mit mir ein Glas Wein. Fräulein Holland wird Ihnen sagen, dass ich harmlos bin. Ich heiße Vogt und war irgendwann einmal Privatdozent in Deutschland. Leisten Sie mir etwas Gesellschaft bei meiner letzten Flasche.“
„Warum bei Ihrer letzten Flasche?“
„Weil ich morgen für eine Zeitlang in Pension gehe. Ich bin müde. Ich muss mich etwas ausruhen.“
„Pension?“ fragte Kern verständnislos.
„Ich nenne es so. Man kann auch Gefängnis dazu sagen. Ich werde mich morgen bei der Polizei melden und erklären, dass ich mich seit zwei Monaten illegal in der Schweiz aufhalte. Dafür bekomme ich dann ein paar Wochen Gefängnis, weil ich schon zweimal ausgewiesen worden bin. Staatspension. Es ist wichtig zu sagen, dass man schon einige Zeit wieder im Lande ist; sonst gilt der Bruch der Einreisesperre als Notstand und man wird nur über die Grenze abgeschoben.“
Kern sah Ruth an.
„Wenn Sie etwas Geld brauchen… ich habe heute ganz gut verdient.“
Vogt wehrte ab. „Danke, nein, ich habe noch zehn Franken. Das reicht für den Wein und die Nacht. Ich bin nur müde; ich will mich wieder einmal ausruhen. Und das können wir doch nur im Gefängnis. Ich bin zweiundfünfzig Jahre alt und nicht sehr gesund. Ich bin wirklich sehr müde vom Herumlaufen und Verstecken. Kommen Sie, setzen Sie sich beide zu mir. Wenn man so viel allein ist, freut man sich an Gesellschaft.“
Er goss Wein in die Gläser. „Es ist Neuchâteler; herb und rein wie Gletscherwasser.“
„Aber Gefängnis…“, sagte Kern.
„Das Gefängnis in Luzern ist gut. Ich kenne es… das ist der Luxus, den ich mir gönne; dass ich mir aussuche, wo ich ins Gefängnis möchte. Meine Angst besteht nur darin, dass ich nicht hineinkomme. Dass ich allzu menschliche Richter finde, die mich einfach zur Grenze abschieben lassen. Dann geht es wieder von vorn an. Und für uns sogenannte Arier ist das noch schwerer als für Juden. Wir haben keine Kultusgemeinden, die uns unterstützen – und keine Glaubensgenossen. Aber sprechen wir nicht von diesen Dingen…“
Er hob sein Glas. „Wir wollen auf das Schöne trinken in der Welt… das ist unzerstörbar.“
Sie stießen miteinander an. Die Gläser gaben einen reinen Klang. Kern trank den kühlen Wein. Traubensaft, dachte er. Oppenheim. Er setzte sich zu Vogt und Ruth an den Tisch.
„Ich dachte schon, ich müsste allein sein“, sagte Vogt. „Und nun sind Sie hier. Wie schön der Abend ist! Dieses klare herbstliche Licht.“
Sie saßen lange schweigend auf der halb erleuchteten Terrasse. Ein paar späte Nachtschmetterlinge stießen mit ihren schweren Leibern beharrlich gegen das heiße Glas der elektrischen Glühbirne. Vogt lehnte etwas abwesend und sehr friedlich in seinem Stuhl, mit schmalem Gesicht und klaren Augen, und es erschien den beiden andern plötzlich, als nähme da ein Mensch aus einem versunkenen Jahrhundert gelassen und gefasst Abschied von seinem Leben und der Welt.
„Heiterkeit“, sagte Vogt nachdenklich, als spräche er zu sich selbst. „Heiterkeit, die gelassene Tochter der Toleranz… sie ist unserer Zeit verlorengegangen. Es gehört zu vieles dazu – Wissen, Überlegenheit, Bescheidenheit und die ruhige Resignation vor dem Unmöglichen. Das alles ist geflohen vor dem wilden Kasernenidealismus, der heute unduldsam die Welt verbessern will. Weltverbesserer waren immer Weltverschlechterer – und Diktatoren sind nie heiter.“
„Die, denen sie diktieren, auch nicht“, sagte Kern.
Vogt nickte und trank langsam einen Schluck des hellen Weines. Dann zeigte er auf den See, der im Licht des halben Mondes silbern glänzte und den die Berge umrahmten wie die Wände einer kostbaren Schale. „Denen kann man nicht diktieren“, sagte er. „Den Schmetterlingen auch nicht und dem Laub der Bäume. Und denen auch nicht…“ Er wies auf ein paar zerlesene Bücher. „Hölderlin und Nietzsche. Der eine hat die reinsten Hymnen auf das Leben geschrieben… der andere erträumte die göttlichen Tänze dionysischer Heiterkeit – und beide endeten im Wahnsinn… als wenn die Natur irgendwo eine Grenze gesetzt hätte.“
„Diktatoren werden nicht wahnsinnig“, sagte Kern.
„Natürlich nicht.“ Vogt stand auf und lächelte. „Aber auch nicht vernünftig.“
„Wollen Sie wirklich morgen zur Polizei?“ fragte Kern.
„Ja, ich will. Leben Sie wohl und Dank dafür, dass Sie mir helfen wollten. Ich gehe noch eine Stunde zum See hinunter.“
Er ging langsam die Straße entlang. Sie war leer, und man hörte seine Schritte noch eine Weile, nachdem er nicht mehr zu sehen war.
Kern sah Ruth an. Sie lächelte ihm zu. „Hast du Angst?“ fragte er.
Sie schüttelte den Kopf.
„Mit uns ist das anders“, sagte er. „Wir sind jung. Wir kommen durch.“
Zwei Tage später tauchte Binder aus Zürich auf; kühl, elegant und sicher.
„Wie geht’s?“ fragte er. „Hat alles geklappt?“
Kern berichtete sein Erlebnis mit dem Kommerzienrat Oppenheim. Binder hörte aufmerksam zu. Er lachte, als Kern ihm erzählte, er hätte Oppenheim gebeten, sich für ihn zu verwenden. „Das war Ihr Fehler“, sagte er. „Der Mann ist die feigste Kröte, die ich kenne. Aber ich werde einmal eine Strafexpedition gegen ihn unternehmen.“
Er verschwand und kam abends wieder, einen Zwanzigfrankenschein in der Hand.
„Alle Achtung“, sagte Kern.
Binder schüttelte sich. „Es war nicht schön, das können Sie mir glauben. Der nationale Herr Oppenheim, der alles versteht, seiner Millionen wegen. Geld macht verdammt charakterlos, was?“
„Kein Geld auch.“
„Stimmt, aber seltener. Ich habe ihn gründlich erschreckt mit wilden Nachrichten aus Deutschland. Er gibt nur aus Angst. Um sich vom Schicksal loszukaufen. Steht das nicht in der Liste?“
„Nein. Da steht: Gibt, aber nur auf Druck.“
„Das ist dasselbe. Na, vielleicht treffen wir den Kommerzienrat noch einmal als Kollegen auf der Landstraße wieder. Das würde mich für vieles entschädigen.
Kern lachte. „Der findet schon ’raus. Aber weshalb sind Sie in Luzern?“
„Es wurde etwas zu heiß in Zürich. Ein Detektiv war hinter mir her. Und dann…“ sein Gesicht verschattete sich, „komme ich von Zeit zu Zeit her, um Briefe aus Deutschland abzuholen.“
„Von Ihren Eltern?“
„Von meiner Mutter.“
Kern schwieg. Er dachte an seine Mutter. Er hatte ihr ab und zu geschrieben. Aber er konnte keine Antwort bekommen, weil seine Adresse ständig wechselte.
„Essen Sie gern Kuchen?“ fragte Binder nach einer Weile.
„Ja, natürlich. Haben Sie welchen?“
„Ja. Warten Sie einen Augenblick.“
Er kam mit einem Paket zurück. Es war ein Pappkarton, in dem, sorgfältig in Seidenpapier gewickelt, eine kleine Sandtorte lag.
„Heute vom Zoll gekommen“, sagte Binder. „Die Leute hier haben sie abgeholt.“
„Aber die essen Sie doch selber“, sagte Kern. „Ihre Mutter hat sie selbst gebacken, das sieht man sofort!“
„Ja, sie hat sie selbst gebacken. Deshalb will ich sie ja nicht essen. Ich kann es nicht. Nicht ein Stück!“
„Das verstehe ich nicht. Mein Gott, wenn ich von meiner Mutter einen Kuchen bekäme! Einen Monat würde ich daran essen! Jeden Abend ein kleines Stück.“
„Aber verstehen Sie doch!“ sagte Binder mit unterdrückter, heftiger Stimme. „Sie hat ihn nicht für mich geschickt! Er ist für meinen Bruder.“
Kern starrte ihn an. „Sie haben doch gesagt, Ihr Bruder sei tot.“
„Ja, natürlich. Aber sie weiß es noch nicht.“ „Sie weiß es nicht?“
„Nein. Ich kann es ihr nicht schreiben. Ich kann es einfach nicht. Sie stirbt, wenn sie es erfährt. Er war ihr Liebling. Mich mochte sie nie besonders. Er war auch besser als ich. Deshalb hat er auch nicht ausgehalten. Ich komme durch! Natürlich! Sie sehen es ja!“ Er schleuderte das Geld Oppenheims auf den Fußboden.
Kern hob den Schein auf und legte ihn wieder auf den Tisch, Binder setzte sich auf einen Stuhl und zündete sich eine Zigarette an. Dann zog er einen Brief aus der Tasche. „Hier… das ist ihr letzter Brief. Er lag dabei. Wenn Sie das lesen, werden Sie verstehen, dass es einem an die Knochen geht.“
Es war ein Brief auf blassblauem Papier, mit einer weichen, schrägen Handschrift, wie von einem jungen Mädchen geschrieben. „Mein innigstgeliebter Leopold. Deinen Brief habe ich gestern erhalten, und ich habe mich so darüber gefreut, dass ich mich erst einmal hinsetzen musste und abwarten, bis ich ruhiger wurde. Dann habe ich ihn aufgemacht und angefangen zu lesen. Mein Herz ist nicht mehr so gut durch alle die Aufregungen, das kannst Du Dir sicher wohl denken. Wie froh bin ich, dass Du nun endlich Arbeit gefunden hast! Wenn Du auch nicht viel verdienst, mach Dir nichts daraus; wenn Du fleißig bist, wird es schon vorwärtsgehen. Dann kannst Du später auch wohl wieder studieren. Lieber Leopold, achte doch auf Georg. Er ist so schnell und unbedacht! Aber solange Du da bist, bin ich ruhig. Ich habe Dir heute morgen einen Kuchen gebacken von der Sandtorte, die Du immer so gerne gegessen hast. Ich schicke ihn Dir, hoffentlich kommt er nicht zu trocken an. Obwohl, Sandtorte darf ja ruhig etwas trocken sein, deshalb habe ich. Dir die gebacken, sonst hätte ich Dir einen Frankfurter Kranz geschickt, den magst Du ja am liebsten. Aber der verdirbt sicher unterwegs. Lieber Leopold, schreib mir bald wieder, wenn Du Zeit hast. Ich bin immer so unruhig. Hast Du nicht ein Bild von Dir? Hoffentlich sind wir bald alle wieder zusammen. Vergiss mich nicht. Deine Dich liebende Mutter. Grüße Georg.“
Kern legte den Brief auf den Tisch. Er gab ihn Binder nicht in die Hand; er legte ihn neben ihm auf den Tisch.
„Ein Bild“, sagte Binder. „Wo soll ich denn ein Bild herkriegen?“
„Hat sie den letzten Brief Ihres Bruders erst jetzt bekommen?“
Binder schüttelte den Kopf. „Er hat sich vor einem Jahr erschossen. Seitdem schreibe ich ihr. Alle paar Wochen. In der Handschrift meines Bruders. Ich habe gelernt, sie nachzumachen. Sie darf nichts wissen. Es ist unmöglich. Finden Sie nicht auch, dass sie nichts wissen darf?“ Er sah Kern drängend an. „Sagen Sie doch, was Sie meinen!“
„Ja. Ich glaube, es ist besser so.“
„Sie ist sechzig. Sechzig, und ihr Herz ist kaputt. Sie lebt nicht mehr lange. Ich werde es wohl schaffen, dass sie es nicht erfährt. Dass er es selbst getan hat, verstehen Sie, das könnte sie nie begreifen.“
„Ja.“
Binder stand auf. „Ich muss ihr jetzt wieder einen Brief schreiben. Von ihm. Dann habe ich es hinter mir.
Ein Bild – woher soll ich nur ein Bild nehmen?“
Er nahm den Brief vom Tisch. „Nehmen Sie den Kuchen, ich bitte Sie! Wenn Sie ihn nicht haben wollen, geben Sie ihn Ruth. Sie brauchen ihr ja nicht zu sagen, was es damit auf sich hat.“
Kern zögerte. „Es ist ein guter Kuchen. Ich möchte nur ein kleines Stückchen abschneiden… gerade nur so…“
Binder zog ein Messer aus der Tasche, schnitt einen schmalen Streifen vom Rand der Sandtorte ab und legte ihn in den Brief seiner Mutter. „Wissen Sie was?“ sagte er dann, mit einem sonderbar zerfallenen Gesicht. „Mein Bruder hat meine Mutter nie sehr geliebt. Aber ich… ich; komisch, was?“
Er ging auf sein Zimmer.
Es war abends gegen elf Uhr. Ruth und Kern saßen auf der Terrasse. Binder kam die Treppe herunter. Er war wieder kühl und elegant wie früher.
„Kommen Sie mit mir noch irgendwohin?“ sagte er. „Ich kann noch nicht schlafen. Und ich möchte heute nicht allein sein. Nur eine Stunde. Ich weiß ein Lokal, das sicher ist. Tun Sie mir den Gefallen.“
Kern sah Ruth an. „Bist du müde?“ fragte er.
Sie schüttelte den Kopf.
„Tun Sie mir den Gefallen“, sagte Binder. „Nur eine Stunde. Um etwas anderes zu sehen.“
„Gut.“
Er führte sie zu einer Café-Bar, in der getanzt wurde. Ruth sah hinein. „Das ist zu elegant“, sagte sie. „Das ist nichts für uns!“
„Für wen sollte es denn sonst sein, wenn nicht für uns Kosmopoliten“, erwiderte Binder mit trübem Spott. „Es ist auch gar nicht so elegant, wenn Sie wirklich hinsehen. Nur gerade genug, um sicher vor Detektiven zu sein. Und ein Kognak ist hier nicht teurer als anderswo. Die Musik aber viel besser. So was braucht man manchmal auch. Kommen Sie, bitte. Da ist schon ein Platz.“
Sie setzten sich und bestellten etwas zu trinken. „Was nützt alles“, sagte Binder und hob sein Glas. „Wir wollen fröhlich sein! Das Leben ist bald zu Ende, und nachher gibt uns niemand etwas dafür, ob wir fröhlich oder traurig waren.“
„Richtig.“ Kern nahm ebenfalls sein Glas. „Wir wollen einfach annehmen, wir wären einmal richtige Inländer, nicht wahr, Ruth? Leute, die eine Wohnung in Zürich haben und einen Ausflug nach Luzern machen.“
Ruth nickte und lächelte ihm zu.
„Oder Touristen“, sagte Binder. „Reiche Touristen!“
Er trank sein Glas aus und bestellte ein neues. „Nehmen Sie auch noch eins?“ fragte er Kern.
„Später.“
„Nehmen Sie noch eins. Man kommt schneller in Stimmung. Bitte tun Sie es.“
„Gut.“
Sie saßen an ihrem Tisch und sahen den Tanzenden zu. Es war eine Menge junger Leute da, die auch nicht älter waren als sie… aber trotzdem wirkten sie auf eine sonderbare Art wie drei verirrte Kinder, die mit großen Augen dasaßen und nicht dazugehörten. Es war nicht ihre Heimatlosigkeit allein, die wie ein grauer Ring um sie lag – es war auch die Freudlosigkeit einer Jugend, die ohne viel Hoffnung und Zukunft war. Was ist das nur mit uns? dachte Kern, wir wollten doch froh sein! Ich habe doch alles, was ich nur haben kann, und fast noch mehr, was ist das nur?
„Gefällt es dir?“ fragte Ruth.
„Ja, sehr“, erwiderte sie.
Das Lokal verdunkelte sich, ein bunter Scheinwerfer huschte über die Tanzfläche, und eine hübsche schlanke Tänzerin wirbelte über das Parkett.
„Wunderbar, was?“ fragte Binder und klatschte.
„Hervorragend!“ Kern klatschte mit.
„Die Musik ist großartig, nicht wahr?“
„Erstklassig!“
Sie saßen da und waren sehr bereit, alles herrlich zu finden und leicht und fröhlich zu sein; aber es war etwas wie Staub und Asche in allem, und sie wussten nicht, woher es kam.
„Warum tanzen Sie nicht einmal zusammen?“ fragte Binder.
„Wollen wir?“ Kern stand auf.
„Ich glaube nicht, dass ich es kann“, sagte Ruth. „Ich kann es auch nicht. Das macht es einfacher.“
Ruth zögerte einen Augenblick; dann ging sie mit Kern zur Tanzfläche. Die bunten Scheinwerfer glitten über die Tanzenden. „Da kommt gerade violettes Licht“, sagte Kern. „Eine gute Gelegenheit, unterzutauchen!“
Sie tanzten vorsichtig und etwas scheu miteinander. Allmählich wurden sie sicherer, besonders als sie merkten, dass niemand sie beobachtete. „Wie schön das ist, mit dir zu tanzen“, sagte Kern. „Es gibt immer neue schöne Dinge mit dir. Nicht allein, dass du da bist… alles rundherum wird auch anders und schön.“
Sie rückte ihre Hand näher an seine Schulter und lehnte sich an ihn. Langsam glitten sie in den Rhythmus der Musik. Die Scheinwerfer spielten wie farbiges Wasser über sie hin, und einen Augenblick vergaßen sie alles andere – sie waren nur noch weiches, junges Leben, das zueinanderstrebte und gelöst war von den Schatten der Angst, des Versteckens und des Misstrauens.
Die Musik brach ab. Sie gingen zu ihrem Tisch zurück. Kern sah Ruth an. Ihre Augen glänzten, und ihr Gesicht war bewegt. Es hatte plötzlich einen strahlenden, selbstvergessenen und fast kühnen Ausdruck. Verdammt, dachte er, leben zu können, wie man wollte… und war eine Sekunde furchtbar erbittert.
„Sehen Sie mal, wer da kommt!“ sagte Binder.
Kern blickte auf. Der Kommerzienrat Arnold Oppenheim durchquerte den Raum und ging dem Ausgang zu. Neben ihrem Tisch stutzte er und blieb stehen. Eine Weile starrte er die drei an. „Ganz interessant!“ knurrte er dann. „Äußerst lehrreich!“
Niemand antwortete. „Das hat man also für seine Güte und Unterstützung!“ fuhr Oppenheim empört fort. „In Bars wird das Geld sofort wieder verjubelt!“
„Ein bisschen Vergessen ist manchmal notwendiger als ein Abendessen, Herr Kommerzienrat“, erwiderte Binder ruhig.
„Redensarten! So junge Leute haben in Bars nichts zu suchen.“
„Auf der Landstraße auch nicht“, antwortete Binder.
„Darf ich bekannt machen?“ sagte Kern. Er wandte sich an Ruth. „Der Herr, der sich hier über uns aufregt, ist der Kommerzienrat Oppenheim. Er hat mir ein Stück Seife abgekauft. Ich habe daran vierzig Centimes verdient.“
Oppenheim sah ihn verdutzt an. Dann schnaufte er etwas, das wie „Frechheit“ klang, und stapfte davon.
„Was war denn das?“ fragte Ruth.
„Das Alltäglichste von der Welt“, erwiderte Binder mit einer Stimme voll Hohn. „Bewusste Wohltätigkeit. Härter als Stahl.“
Ruth stand auf. „Er wird doch sicher die Polizei holen! Wir müssen fort.“
„Dazu ist er viel zu feige. Es würde ihm Unbequemlichkeiten machen.“
„Wir wollen doch lieber gehen!“ – „Gut.“
Binder bezahlte, und sie brachen auf und gingen zu ihrer Pension. In der Nähe des Bahnhofs kamen ihnen zwei Männer entgegen. „Achtung!“ flüsterte Binder. „Ein Detektiv! Unbefangen bleiben.“
Kern fing leise an zu pfeifen, nahm Ruths Arm und ging langsamer. Er spürte, dass Ruth schneller gehen wollte. Er drückte ihren Arm, lachte und schlenderte langsam weiter.
Die beiden Männer gingen vorüber. Einer von ihnen trug einen steifen Hut und rauchte gleichmütig eine Zigarre. Der andere war Vogt. Er erkannte sie und machte ein fast unmerkliches bedauerndes Zeichen mit den Augen.
Kern sah sich nach einer Weile um. Die beiden Männer waren verschwunden. „Richtung Basel, Zug zwölf Uhr fünfzehn zur Grenze“, erklärte Binder fachmännisch.
Kern nickte. „Hat einen zu menschlichen Richter gehabt.“
Sie gingen weiter. Ruth fröstelte. „Es ist auf einmal etwas unheimlich hier“, sagte sie.
„Frankreich“, erwiderte Binder. „Paris. Eine große Stadt ist das beste.“
„Warum gehen Sie nicht auch hin?“
„Ich kann kein Wort Französisch. Und dann bin ich Spezialist für die Schweiz. Außerdem…“ Er brach ab.
Sie gingen schweigend weiter. Ein kühler Wind kam vom See. Der Himmel stand groß und eisengrau und fremd über ihnen.
Vor Steiner saß der ehemalige Rechtsanwalt Dr. Goldbach II vom Kammergericht Berlin. Er war das neue telepathische Medium. Steiner hatte ihn im Café Sperler gefunden.
Goldbach war etwa fünfzig Jahre alt und als Jude aus Deutschland ausgewiesen worden. Er handelte mit Krawatten und schwarzen juristischen Ratschlägen. Damit verdiente er aber nur gerade so viel, um nicht zu verhungern. Er hatte eine sehr schöne Frau von dreißig Jahren, die er liebte. Sie lebte vorläufig vom Verkauf ihres Schmuckes; aber er wusste, dass er sie wahrscheinlich nicht behalten würde. Steiner hatte seine Geschichte angehört und ihm die Stelle für die Abendvorstellungen verschafft. Tagsüber konnte er dann seinen übrigen Berufen nachgehen.
Nach kurzer Zeit zeigte es sich, dass Goldbach als Medium ungeeignet war. Er verwechselte alles und schmiss die Vorstellungen. Nachts saß er dann verzweifelt vor Steiner und flehte ihn an, ihn nicht hinauszuwerfen.
„Goldbach“, sagte Steiner, „heute war es besonders schlimm! So geht es wirklich nicht weiter! Sie zwingen mich ja, tatsächlich hellzusehen!“
Goldbach blickte ihn an wie ein sterbender Schäferhund.
„Es ist doch so einfach“, fuhr Steiner fort. „Die Anzahl Ihrer Schritte bis zur ersten Zeltstange bedeutet, die wievielte Stuhlreihe es ist. Rechtes Auge geschlossen bedeutet Dame – linkes Herr. Anzahl der Finger, unauffällig gezeigt, der wievielte von links. Vorgesetzter rechter Fuß: am Oberkörper versteckt – linker: Unterkörper. Je weiter vorgesetzt, desto höher oder tiefer. – Wir haben das System schon Ihretwegen geändert, weil Sie so zappelig sind.“
Der Anwalt fingerte nervös an seinem Kragen herum. „Herr Stemer“, sagte er dann schuldbewusst, „ich habe es auswendig gelernt, probe es jeden Tag… weiß der Himmel, es ist wie verhext…“
„Aber Goldbach!“ sagte Steiner geduldig. „In Ihrer Praxis mussten Sie doch viel mehr im Kopf behalten.“
Goldbach rang die Hände. „Ich kann das Bürgerliche Gesetzbuch auswendig, ich kenne Hunderte von Zusätzen, Entscheidungen, glauben Sie mir, Herr Steiner, ich war mit meinem Gedächtnis der Schrecken der Richter… aber dieses hier ist wie verhext…“
Steiner schüttelte den Kopf. „Ein Kind kann das doch behalten. Acht verschiedene Zeichen, nicht mehr! Und dann noch vier für seltene Fälle.“
„Ich kenne sie ja! Mein Gott, ich übe sie ja täglich. Es ist nur die Aufregung…“
Goldbach saß klein und geduckt auf seiner Kiste und sah ratlos vor sich hin.
Steiner lachte.
„Aber Sie waren doch im Gerichtssaal nie aufgeregt! Sie haben doch große Prozesse durchgeführt, bei denen Sie eine schwierige Materie vollkommen und kaltblütig beherrschen mussten!“
„Jaja, das war leicht. Aber hier! Bevor es anfängt, weiß ich jede Einzelheit genau – doch sowie ich in die Bude trete, verwechsle ich alles in meiner Aufregung…“
„Weshalb, um Himmels willen, sind Sie denn so aufgeregt?“
Goldbach schwieg eine Weile. „Ich weiß es nicht“, sagte er dann leise. „Da kommt wohl vieles zusammen.“
Er erhob sich. „Wollen Sie es morgen noch einmal mit mir probieren, Herr Steiner?“
„Natürlich. Aber morgen muss es klappen. Sonst kommt uns Potzloch auf den Kopf!“
Goldbach fischte in der Tasche seines Jacketts umher und holte eine in Seidenpapier gewickelte Krawatte hervor. Er hielt sie Steiner hin. „Ich habe Ihnen hier eine Kleinigkeit mitgebracht. Sie haben so viel Mühe mit mir…“
Steiner wehrte ab. „Ausgeschlossen! Das gibt’s bei uns nicht…“
„Sie kostet mich nichts.“
Steiner klopfte Goldbach auf die Schulter. „Bestechungsversuch durch einen Juristen. Was bringt das mehr an Strafe in einem Prozess?“
Goldbach lächelte schwach. „Das müssen Sie den Staatsanwalt fragen. Einen guten Rechtsanwalt fragt man nur: Was bringt es weniger. Das Strafmaß ist übrigens gleich; nur mildernde Umstände sind ausgeschlossen. Der letzte größere Fall dieser Art war die Affäre Hauer und Konsorten.“
Er belebte sich etwas. „Die Verteidigung damals hatte Freygang. Ein geschickter Mann mit etwas zuviel Freude an Paradoxen. Ein Paradox als Detail ist unschätzbar, weil es verblüfft; nicht aber als Grundlage der Verteidigung. Daran scheiterte Freygang. Er wollte für einen Landgerichtsrat auf mildernde Umstände plädieren wegen…“, er lachte angeregt, „Unkenntnis der Gesetze.“
„Guter Einfall“, sagte Steiner.
„Für einen Witz – nicht für einen Prozess.“
Goldbach stand da, den Kopf etwas schräggelegt, das Auge plötzlich scharf, die Lider eingekniffen – er war auf einmal nicht mehr der armselige Emigrant und Krawattenhändler, er war wieder Dr. Goldbach II vom Kammergericht, der gefürchtete Tiger im Dschungel der Paragraphen.
Schnell, gerade, aufgerichtet, wie lange nicht, ging er die Hauptallee des Praters hinunter. Er sah nichts von der Schwermut der klaren Herbsmacht – er stand wieder im überfüllten Gerichtssaal, seine Notizen vor sich, er war an der Stelle des Rechtsanwalts Freygang, er sah, wie der Staatsanwalt, der seine Anklagerede beendet hatte, sich setzte, er schob seinen Talar zurecht, er stützte die Knöchel der Hände leicht auf, wiegte sich ein wenig wie ein Fechter und begann mit metallener Stimme: „Hoher Gerichtshof – der Angeklagte Hauer…“
Satz folgte auf Satz, kurz und scharf, unanfechtbar in seiner Logik. Er nahm die Motive des Staatsanwaltes auf, eines nach dem andern, er schien der Beweisführung zu folgen, er schien anzuklagen und nicht zu verteidigen, der Saal wurde still, die Richter hoben die Köpfe – aber plötzlich, mit einer virtuosen Wendung, drehte er um, zitierte den Bestechungsparagraphen und beleuchtete in vier harten Fragesätzen seine Zweideutigkeit, um dann, peitschend und rasch, das Entlastungsmaterial zu bringen, das jetzt eine ganz neue Wirkung hatte.
Er stand vor dem Haus, in dem er wohnte. Langsam ging er die Treppe hinauf – immer zögernder, immer langsamer.
„Ist meine Frau schon da?“ fragte er das verschlafene Mädchen, das ihm öffnete.
„Sie ist vor einer Viertelstunde gekommen.“
„Danke.“ Goldbach ging den Korridor entlang in sein Zimmer. Es war schmal und hatte ein kleines Fenster zum Hof.
Er bürstete sich die Haare. Dann klopfte er an die Zwischentür.
„Ja…“
Die Frau saß vor dem Spiegel und betrachtete aufmerksam ihr Gesicht. Sie wandte sich nicht um. „Was gibt’s?“ fragte sie.
„Wie geht es dir, Lena?“
„Wie soll es schon gehen bei dem Leben! Schlecht! Wozu fragst du eigentlich so was?“ Die Frau prüfte ihre Augenlider.
„Warst du fort?“
„Ja.“
„Wo warst du?“
„Irgendwo. Ich kann doch nicht den ganzen Tag hier sitzen und die Wände anstarren.“
„Das sollst du ja auch nicht. Ich bin doch froh, wenn du Unterhaltung hast.“
„Na also, dann ist es ja gut.“
Die Frau begann langsam und sorgfältig eine Creme auf ihre Haut zu reiben. Sie sprach mit Goldbach wie mit einem Stück Holz – ohne jede Erregung, mit einer entsetzlichen Gleichgültigkeit. Er stand an der Tür und sah ihr zu – hungrig nach einem guten Wort. Sie hatte eine fleckenlose, rosige Haut, die im Lichte der Lampe schimmerte. Ihr Körper war üppig und weich. „Hast du etwas gefunden?“ fragte sie.
Goldbach sank in sich zusammen. „Du weißt doch, Lena – ich habe noch keine Arbeitserlaubnis. Ich war beim Kollegen Höpfner; er kann auch nichts machen. Es dauert alles so furchtbar lange…“
„Ja, es dauert schon zu lange.“
„Ich tue, was ich kann, Lena.“
„Ja, ich weiß. Ich bin müde.“
„Ich gehe schon, gute Nacht.“
Goldbach schloss die Tür. Er wusste nicht, was er tun sollte. Hineinstürzen und sie anflehen, ihn zu verstehen, sie anbetteln, mit ihm zu schlafen, eine Nacht… oder? Er ballte kraftlos die Fäuste. Verprügeln, dachte er, alle Demütigung und alle Beschämung hineinschlagen in dieses rosige Fleisch, einmal sich loslassen, alle Wut, das Zimmer zertrümmern und schlagen, bis dieser gleichmütige, hochmütige Mund schrie und wimmerte und der weiche Körper sich am Boden krümmte.
Er zitterte und lauschte, Karbatke, nein, richtig, Karbutke, hatte der Mann damals geheißen; es war ein untersetzter Kerl gewesen, mit tief in die Stirn gewachsenem Haar und einem Gesicht, wie der Laie es sich bei einem Mörder vorstellt – es war schwer gewesen, gerade für dieses Gesicht auf Freispruch wegen Handlung im Affekt zu plädieren. Der Mann hatte seinem Mädchen die Zähne eingeschlagen, den Arm gebrochen und den Mund tief eingerissen; ihre Augen waren bei der Verhandlung noch verschwollen, so war sie verprügelt worden; aber trotzdem hing sie an dem Vieh von Kerl in hündischer Ergebenheit – vielleicht auch gerade deshalb. Es war ein großer Erfolg gewesen damals, dieser Freispruch, den er erreicht hatte, eine psychologisch tiefschürfende Meisterverteidigung, wie Kollege Cohn III ihn damals beglückwünscht hatte.
Goldbach ließ die Hände sinken. Er sah die Auswahl billiger, kunstseidener Krawatten, die auf dem Tisch lagen. Ja, damals im Anwaltszimmer unter den Kollegen… wie scharfsinnig hatte er da nachgewiesen, dass die Liebe der Frau nach dem Herrn und Meister verlange; damals, als er sechzigtausend Mark im Jahr verdiente und Lena Schmuck schenkte, dessen Erlös sie jetzt für sich verbrauchte.
Er horchte darauf, wie sie sich zu Bett legte. Er tat es jeden Abend und hasste sich deswegen, aber er konnte es nicht lassen. Seine Wangen wurden flekkig, als er das Knarren der Federn hörte. Er biss die Zähne zusammen, ging zum Spiegel und sah sich an. Dann nahm er einen Stuhl und stellte ihn in die Mitte des Zimmers. „Nehmen wir an, neunte Reihe, die dritte Frau, einen Schlüssel im Schuh versteckt“, murmelte er. Aufmerksam machte er neun kurze Schritte bis zum Stuhl, blinzelte mit dem rechten Auge, fuhr sich mit drei Fingern über die Stirn und schob den linken Fuß vor – weiter; er war jetzt ganz konzentriert, er sah Steiner suchen und schob den Fuß noch weiter vor.
Im rötlichen Licht der Glühbirne schwankte sein Schatten armselig und verschroben an der Wand mit.
„Was unser kleiner wohl macht, Lilo?“ sagte um dieselbe Zeit Steiner. „Weiß der Himmel, es ist nicht allein wegen des dämlichen Goldbach… er fehlt mir tatsächlich oft, der Kleine!“