Книга: Liebe deinen Nächsten / Возлюби ближнего своего. Книга для чтения на немецком языке
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Kern und Ruth waren in Bern. Sie wohnten in der Pension Immergrün. Sie stand auf Binders Liste. Man konnte dort zwei Tage bleiben, ohne polizeilich angemeldet zu werden.

Am zweiten Abend klopfte es sehr spät an Kerns Zimmertür. Er war schon ausgezogen und gerade dabei, zu Bett zu gehen. Ohne sich zu rühren, wartete er einen Moment. Es klopfte wieder. Lautlos, auf nackten Füßen, lief er zum Fenster. Es war zu hoch, um herunterzuspringen, und es gab auch nirgendwo eine Regenrinne, um daran hochzuklettern. Langsam ging er zurück und öffnete die Tür.

Ein Mann von etwa dreißig Jahren stand draußen. Er war einen Kopf größer als Kern, hatte ein rundes Gesicht mit wasserblauen Augen und weißblonden, krausen Haaren und hielt einen grauen Velourshut in den Händen, an dem er nervös herumfingerte.

„Entschuldigen Sie“, sagte er, „ich bin ein Emigrant wie Sie…“

Kern hatte das Gefühl, als wüchsen ihm plötzlich Flügel. Gerettet! dachte er. Keine Polizei!

„Ich bin in großer Verlegenheit“, fuhr der Mann fort. „Binding ist mein Name. Richard Binding. Ich bin unterwegs nach Zürich und habe keinen Centime mehr, um irgendwo unterzukommen für die Nacht. Ich will Sie nicht um Geld bitten. Ich wollte Sie nur fragen, ob ich die Nacht hier auf dem Fußboden schlafen kann.“

Kern sah ihn an. „In diesem Zimmer? Auf dem Fußboden?“

„Ja. Ich bin das gewohnt, und ich werde Sie bestimmt nicht stören. Ich bin jetzt seit drei Nächten unterwegs. Sie wissen, wie das ist, draußen auf den Bänken mit der ewigen Angst vor der Polizei. Da ist man froh, wenn man irgendwo ein paar Stunden sicher ist.“

„Das weiß ich. Aber sehen Sie sich doch das Zimmer an! Es ist ja nirgendwo so viel Platz, dass Sie sich lang ausstrecken können. Wie wollen Sie denn da schlafen?“

„Das macht nichts!“ erklärte Binding eifrig. „Das geht schon! Dort in der Ecke zum Beispiel! Ich kann im Sitzen schlafen und mich gegen den Schrank lehnen. Das geht sehr gut! Wenn man nur etwas Ruhe hat, kann unsereins doch überall schlafen!“

„Nein, das geht nicht.“ Kern überlegte einen Moment. „Ein Zimmer hier kostet zwei Franken. Ich kann Ihnen das Geld geben. Das ist am einfachsten. Dann können Sie gründlich ausschlafen.“

Binding hob abwehrend die Hände. Sie waren groß und rot und dick. „Ich will kein Geld von Ihnen! Dazu bin ich nicht gekommen! Wer hier wohnt, braucht seine paar Groschen selber!

Und dann – ich war schon unten und habe gefragt, ob ich nicht irgendwo schlafen könnte. Es ist kein Zimmer frei.“

„Vielleicht ist eins frei, wenn Sie zwei Franken in der Hand haben.“

„Ich glaube nicht. Der Wirt sagte mir, er würde jemand, der zwei Jahre im Konzentrationslager war, immer umsonst schlafen lassen. Aber er hätte tatsächlich kein Zimmer frei.“

„Was?“ sagte Kern, „Sie waren zwei Jahre im Konzentrationslager?“

„Ja.“ Binding klemmte seinen Velourshut zwischen die Knie und holte aus seiner Brusttasche einen zerschlissenen Ausweis hervor. Er faltete ihn auseinander und gab ihn Kern. „Hier – sehen Sie! Das ist mein Entlassungsschein aus Oranienburg.“

Kern nahm den Schein vorsichtig, um die brüchigen Faltkniffe nicht zu zerreißen. Er hatte noch nie ein Entlassungszeugnis aus dem Konzentrationslager gesehen. Er las den Aufdruck, den vorgedruckten Text, den mit Schreibmaschine eingefügten Namen Richard Binding – dann blickte er auf den Stempel mit dem Hakenkreuz und die saubere, klare Unterschrift des Beamten – es stimmte. Es stimmte sogar in einer pedantisch ordentlichen und bürokratischen Weise, und gerade das machte das Ganze fast unheimlich – als käme jemand mit einer Aufenthaltserlaubnis und einem Visum aus dem Inferno wieder.

Er gab den Schein an Binding zurück. „Hören Sie“, sagte er, „ich weiß, was wir machen! Sie nehmen mein Bett und Zimmer. Ich kenn jemand in der Pension, der ein größeres Zimmer hat. Ich kann dort sehr gut schlafen. So ist uns beiden geholfen.“

Binding starrte ihn mit runden Augen an. „Aber das ist doch ganz unmöglich!“

„Im Gegenteil! Es ist das Leichteste von der Welt!“ Kern nahm seinen Mantel und streifte ihn über seinen Pyjama. Dann legte er seinen Anzug über den Arm und griff nach seinen Schuhen. „Sehen Sie! Ich nehme das mit. So brauche ich Sie nicht einmal allzu früh zu stören. Ich kann mich drüben anziehen. Es freut mich, etwas tun zu können für jemand, der so viel mitgemacht hat.“

„Aber…“ Binding ergriff plötzlich Kerns Hände. Es sah aus, als wollte er sie küssen. „Mein Gott, Sie sind ja ein Engel!“ stammelte er. „Ein Lebensretter!“

„Ach wo!“ erwiderte Kern verlegen. „Einer hilft dem andern mal aus, das ist alles. Was sollte sonst aus uns werden? Schlafen Sie gut!“

„Das werde ich! Weiß der Himmel!“

Kern überlegte einen Moment, ob er seinen Koffer mitnehmen sollte. Er hatte in einer kleinen Seitentasche darin vierzig Franken versteckt. Aber das Geld war gut versteckt, der Koffer war abgeschlossen, und er scheute sich, einem Mann, der im Konzentrationslager gewesen war, so offen sein Misstrauen zu zeigen. Emigranten stehlen nicht untereinander. „Gute Nacht! Schlafen Sie gut!“ sagte er noch einmal und ging.

Ruth wohnte auf demselben Korridor. Kern klopfte zweimal kurz an ihrer Tür. Das war das Zeichen, das sie miteinander ausgemacht hatten. Sie öffnete sofort. „Ist etwas passiert?“ fragte sie erschrocken, als sie die Sachen in seiner Hand sah. „Müssen wir ausreißen?“

„Nein. Ich habe nur mein Zimmer so einem armen Teufel gegeben, der im Konzentrationslager war und ein paar Nächte nicht geschlafen hat. Kann ich hier bei dir auf der Chaiselongueschlafen?“

Ruth lächelte. „Die Chaiselongue ist alt und wakkelig; aber glaubst du nicht, dass das Bett groß genug ist für uns beide?“

Kern trat rasch ein und küsste sie. „Ich stelle manchmal wirklich die dümmsten Fragen der Welt“, sagte er. „Aber glaube mir, es ist nur Verlegenheit. Es ist alles noch zu neu für mich.“

Ruths Zimmer war etwas größer als das andere. Es war, abgesehen von der Chaiselongue, ähnlich möbliert – aber Kern fand, dass es völlig anders aussah. Sonderbar, dachte er – es müssen die paar Sachen sein, die sie darin hat – die schmalen Schuhe, die Bluse, der braune Rock – wieviel Zärtlichkeit darin ist! Mit meinen Sachen sieht ein Zimmer nur unordentlich aus.

„Ruth“, sagte er, „wenn wir heiraten wollten… weißt du, dass wir das gar nicht könnten? Weil wir keine Papiere haben.“

„Ich weiß. Aber das soll unsere geringste Sorge sein. Wozu haben wir überhaupt eigentlich zwei Zimmer?“

Kern lachte. „Wegen der hohen Schweizer Moral. Unangemeldet, das geht noch – aber unverheiratet, das ist unmöglich!“

Er wartete am nächsten Morgen bis zehn. Dann ging er hinüber, um seinen Koffer zu holen. Er wollte ein paar Adressen abklappern und Binding weiterschlafen lassen.

Aber das Zimmer war schon leer. Binding war vermutlich schon wieder unterwegs. Kern öffnete seinen Koffer. Er war nicht verschlossen, das wunderte ihn. Er glaubte bestimmt, ihn abends abgeschlossen zu haben. Es schien ihm auch, als ob die Flaschen anders lägen, als er es gewohnt war. Er suchte rasch. Das kleine Kuvert in der versteckten Seitentasche war da. Er klappte es auf und sah sofort, dass sein Schweizer Geld fehlte. Nur zwei einsame österreichische Fünfschillingscheine flatterten ihm entgegen.

Er suchte noch einmal alles durch; auch seinen Anzug, obschon er sicher war, das Geld nicht darin zu haben. Er trug nie etwas bei sich, für den Fall, dass er unterwegs abgefasst wurde. Ruth hatte so immer wenigstens noch den Koffer und das Geld. Aber die vierzig Franken waren verschwunden.

Er setzte sich auf den Boden neben den Koffer. „Dieser Gauner“, sagte er fassungslos. „Dieser verfluchte Gauner! Ist denn so etwas möglich?“

Er blieb eine Weile so sitzen. Dann überlegte er, ob er Ruth Bescheid sagen sollte; aber er beschloss, das erst zu tun, wenn es nicht anders mehr möglich war. Er wollte sie nicht früher als unbedingt notwendig beunruhigen.

Schließlich nahm er die Listen Binders heraus und notierte sich eine Anzahl Berner Adressen. Dann packte er seine Taschen voll Seife, Schnürsenkel, Sicherheitsnadeln und Toilettewasser und ging die Treppen hinunter.

Unten traf er den Wirt. „Kennen Sie einen Mann, der Richard Binding heißt“, fragte er.

Der Wirt dachte eine Zeitlang nach. Dann schüttelte er den Kopf.

„Ich meine jemand, der gestern abend hier war. Er hat ein Zimmer verlangt.“

„Gestern abend hat niemand ein Zimmer verlangt. Ich war ja gar nicht da. Ich war bis zwölf Uhr kegeln.“

„Ach so! Hatten Sie denn Zimmer frei?“

„Ja, drei. Die sind auch heute noch frei. Erwarten Sie noch jemand? Sie können Nummer sieben haben, auf Ihrem Korridor.“

„Nein. Ich glaube nicht, dass der, auf den ich warte, wiederkommt. Er wird schon unterwegs nach Zürich sein.“

Mittags hatte Kern drei Franken verdient. Er ging in ein billiges Restaurant, um ein Butterbrot zu essen und dann gleich weiter zu hausieren.

Er blieb an der Theke stehen und aß hungrig. Plötzlich fiel ihm das Sandwich fast aus der Hand. Er hatte an einem der entferntesten Tische Binding erkannt.

Mit einem Ruck steckte er den Rest des Butterbrotes in den Mund, schluckte es herunter und ging langsam auf den Tisch zu. Binding saß allein, die Ellenbogen aufgestemmt, vor einer großen Schüssel Schweinekoteletts mit Rotkohl und Kartoffeln und aß selbstvergessen.

Er blickte erst auf, als Kern dicht vor ihm stand. „Ah, sieh da!“ sagte er nachlässig. „Wie geht’s?“

„Mir fehlen vierzig Franken in meiner Brieftasche“, sagte Kern.

„Bedauerlich“, erwiderte Binding und schluckte ein großes Stück Braten hinunter. „Wirklich bedauerlich!“

„Geben Sie mir den Rest, den Sie noch haben, heraus, und die Sache ist erledigt.“

Binding trank einen Schluck Bier und wischte sich den Mund. „Die Sache ist auch so erledigt“, erklärte er gemütlich. „Oder was hatten Sie sonst vor zu tun?“

Kern starrte ihn an. Er hatte in seiner Wut bisher noch nicht daran gedacht, dass er tatsächlich nichts tun konnte. Wenn er zur Polizei ging, wurde er nach Papieren gefragt und selbst mit eingesperrt und ausgewiesen.

Er musterte Binding mit zusammengekniffenen Augen. „Keine Chance“, sagte dieser. „Sehr guter Boxer. Vierzig Pfund schwerer als Sie. Außerdem: bei Krach im Lokal Polizei und Ausweisung.“

Kern hätte im Augenblick wenig danach gefragt, was mit ihm selbst passiert wäre; aber er dachte an Ruth. Binding hatte recht: Es gab nicht die geringste Chance für ihn, etwas zu tun. „Machen Sie so was öfter?“ fragte er.

„Ich lebe davon. Und wie Sie sehen, gut.“

Kern erstickte fast vor ohnmächtiger Erbitterung. „Geben Sie mir wenigstens zwanzig Franken zurück“, sagte er heiser. „Ich brauche das Geld. Nicht für mich. Für jemand anders, dem es gehört.“

Binding schüttelte den Kopf. „Ich brauche das Geld selbst. Sie sind billig davongekommen. Sie haben für vierzig Franken die größte Lehre empfangen, die es im Leben gibt: nicht vertrauensselig zu sein.“

„Das stimmt.“ Kern starrte ihn an. Er wollte gehen, aber er konnte nicht. „Ihre ganzen Papiere… das war natürlich alles Schwindel!“

„Denken Sie an, nein!“ erwiderte Binding. „Ich war im Konzentrationslager.“ Er lachte. „Allerdings wegen Diebstahls bei einem Gauleiter. Seltener Fall!“

Er langte nach dem letzten Kotelett, das noch in der Schüssel lag. Im nächsten Moment hatte Kern es in der Hand. „Machen Sie ruhig Skandal“, sagte er.

Binding grinste. „Ich denke nicht daran! Ich bin ziemlich satt. Lassen Sie sich einen Teller bringen und nehmen Sie von dem Rotkohl dazu. Ich bin sogar bereit, Ihnen ein Glas Bier zu spendieren!“

Kern erwiderte nichts. Er war an der Grenze, sich zu prügeln, mit allem, was ihm in die Hand gekommen wäre. Rasch drehte er sich um und ging, das erbeutete Kotelett in der Hand. An der Theke ließ er sich etwas Papier geben, um es einzupacken. Das Servierfräulein sah ihm neugierig zu. Dann fischte es zwei Gurken aus einem Glase. „Hier“, sagte sie. „Etwas dazu.“

Kern nahm auch die Gurken. „Danke“, sagte er. „Danke vielmals.“ Ein Abendessen für Ruth, dachte er. Verdammt und verflucht, für vierzig Franken!

An der Tür drehte er sich noch einmal um. Binding beobachtete ihn. Kern spuckte aus. Binding salutierte lächelnd mit zwei Fingern der rechten Hand.

Hinter Bern begann es zu regnen. Ruth und Kern hatten nicht mehr genug Geld, um die Eisenbahn bis zum nächsten größeren Ort zu nehmen. Sie besaßen zwar noch eine kleine eiserne Reserve, aber die wollten sie erst in Frankreich angreifen. Ungefähr fünfzig Kilometer weit nahm ein vorüberkommendes Auto sie mit. Dann mussten sie zu Fuß gehen. Kern traute sich nur selten, in den Dörfern etwas zu verkaufen. Es fiel zu sehr auf. Sie schliefen im selben Ort immer nur eine Nacht. Sie kamen abends spät, wenn die Polizeibüros schon geschlossen waren, und gingen morgens, ehe sie wieder geöffnet wurden. So waren sie immer schon aus dem Ort heraus, wenn das Anmeldeformular zur Gendarmerie gegeben wurde. Binders Liste versagte für diesen Teil der Schweiz; sie enthielt nur die größeren Städte.

In der Nähe von Murten schliefen sie in einer leeren Scheune. Nachts prasselte ein Wolkenbruch hernieder. Das Dach war schadhaft, und als sie erwachten, waren sie bis auf die Haut nass. Sie versuchten, ihre Sachen zu trocknen, aber sie konnten kein Feuer machen. Alles war feucht, und sie fanden nur mit Mühe einen Fleck, wo es nicht durchgeregnet hatte. Sie schliefen eng aneinandergedrückt, um sich zu wärmen, aber ihre Mäntel, mit denen sie sich zudeckten, waren zu nass; – sie wachten vor Kälte wieder auf. So warteten sie bis zum Morgengrauen, dann brachen sie auf.

„Das Gehen wird uns warm machen“, sagte Kern. „Irgendwo werden wir in einer Stunde auch schon etwas Kaffee kriegen.“

Ruth nickte. „Vielleicht kommt die Sonne durch. Dann werden wir rasch trocken sein.“

Aber es blieb den ganzen Tag über kalt und böig. Regenschauer jagten über die Felder. Es war der erste sehr kalte Tag des Monats, die Wolken hingen faserig und tief, und nachmittags prasselte ein zweites schweres Wetter hernieder. Ruth und Kern warteten es in einer kleinen Kapelle ab. Es war sehr dunkel, und nach einer Weile begann es zu donnern, und Blitze zuckten durch die bunten Glasscheiben, auf denen Heilige in Blau und Rot Spruchbänder über den Frieden des Himmels und der Seele in ihren Händen hielten.

Kern fühlte, dass Ruth zitterte. „Ist dir sehr kalt?“ fragte er.

„Nein, nicht sehr.“

„Komm, wir gehen etwas umher, das ist besser. Ich habe Angst, dass du dich erkältest.“

„Ich erkälte mich nicht. Lass mich nur etwas so sitzen.“

„Bist du müde?“

„Nein. Ich möchte nur einen Augenblick noch so sitzen.“

„Willst du nicht doch lieber umhergehen? Nur ein paar Minuten? Man soll in nassen Sachen nicht so lange sitzen. Der Steinboden ist zu kalt.“

„Gut.“

Sie gingen langsam durch die Kapelle. Ihre Schritte hallten in dem leeren Raum. Sie gingen an den Beichtstühlen vorbei, deren grüne Vorhänge sich in der Zugluft bauschten, um den Altar herum, zur Sakristei und zurück

„Bis Murten sind es noch neun Kilometer“, sagte Kern. „Wir müssen sehen, dass wir vorher unterkommen.“

„Neun Kilometer können wir noch ganz gut schaffen.“

Kern murmelte etwas.

„Was sagst du?“ fragte Ruth.

„Nichts. Ich verfluche nur einen gewissen Binding.“

Sie schob ihre Hand unter seinen Arm. „Vergiss es! Das ist am einfachsten. Ich glaube, es hört auch schon auf zu regnen.“

Sie gingen hinaus. Es tröpfelte noch, aber über den Bergen stand ein mächtiger Regenbogen. Er überspannte das ganze Tal wie eine riesige bunte Brücke. Hinter den Wäldern, zwischen den zerborstenen Wolken, stürzte ein Schwall gelbweißen Lichts über die Landschaft. Sie konnten die Sonne nicht sehen; sie sahen nur das Licht, das wie ein leuchtender Nebel hervorbrach.

„Komm“, sagte Ruth. „Jetzt wird es besser.“

Abends kamen sie an einen Schafstall. Der Hirt, ein älterer, schweigsamer Bauer, saß vor der Tür. Zwei Schäferhunde lagen neben ihm. Sie stürzten den beiden bellend entgegen. Der Bauer nahm die Pfeife aus dem Mund und pfiff sie zurück. Kern ging auf ihn zu. „Können wir die Nacht hier schlafen? Wir sind nass und müde und können nicht weiter.“

Der Mann sah ihn lange an. „Es ist ein Heuboden oben“, sagte er dann.

„Das ist alles, was wir brauchen.“

Der Mann sah ihn wieder eine Zeitlang an. „Geben Sie mir Ihre Zündhölzer und Ihre Zigaretten“, sagte er schließlich. „Es ist viel Heu da.“

Kern gab sie ihm. „Sie müssen die Leiter drinnen emporklettern“, erklärte der Bauer. „Ich schließe den Stall hinter Ihnen ab. Ich wohne im Ort. Morgen früh lasse ich Sie dann heraus.“

„Danke. Danke vielmals.“

Sie kletterten die Leiter hinauf. Oben war es halbdunkel und warm. Nach einer Weile kam der Bauer. Er brachte ihnen Weintrauben, etwas Schafkäse und dunkles Brot. „Ich schließe jetzt ab“, sagte er. „Gute Nacht.“

„Gute Nacht. Und vielen Dank.“

Sie horchten, bis er unten war. Dann zogen sie ihre nassen Sachen aus und legten sie auf das Heu. Sie kramten ihre Nachtsachen aus den Koffern und fingen an zu essen. Sie waren sehr hungrig.

„Wie schmeckt es?“ fragte Kern.

„Wunderbar.“ Ruth lehnte sich an ihn.

„Wir haben Glück, was?“

Sie nickte.

Unten schloss der Bauer ab. Der Heuboden hatte ein rundes Fenster. Sie hockten sich daran und sahen den Bauern fortgehen. Der Himmel war klar geworden. Er spiegelte sich im See. Der Bauer ging langsam über die abgemähten Felder, mit dem bedächtigen Schritt von Menschen, die der Natur täglich nahe sind. Außer ihm war niemand zu sehen. Er ging allein über die Felder, und es schien, als trüge er auf seinen dunklen Schultern den ganzen Himmel.

Sie saßen am Fenster, bis die farblose Stunde vor der Nacht alles Licht grau machte. Das Heu wuchs hinter ihnen im Spiel der Schatten zu einem phantastischen Gebirge. Sein Geruch mischte sich mit dem Geruch von Torf und Whisky, den die Schafe ausströmen. Sie konnten sie durch die Bodenluke sehen; – undeutliches Gewimmel von flockigen Rükken mit vielen kleinen Lauten, das allmählich ruhiger und stiller wurde.

Am nächsten Morgen kam der Bauer und schloss den Stall auf. Kern ging hinunter. Ruth schlief noch. Ihr Gesicht war gerötet, und sie atmete hastig. Kern half dem Bauern die Schafe austreiben.

„Können wir wohl einen Tag hierbleiben?“ fragte er. „Wir wollen Ihnen gern dafür helfen, wenn es geht.“

„Zu helfen ist da nicht viel. Aber Sie können ruhig hierbleiben.“

„Danke.“

Kern erkundigte sich nach Adressen von Deutschen in der Stadt. Der Ort stand nicht auf Binders Liste. Der Bauer nannte ihm ein paar Leute und beschrieb ihm, wo sie wohnten.

Kern ging nachmittags, als es dunkel wurde, los. Er fand das erste Haus sehr leicht. Es war eine weiße Villa, die in einem kleinen Garten lag. Ein sauberes Hausmädchen öffnete die Tür. Es führte ihn sofort in einen kleinen Vorraum, anstatt ihn draußen stehenzulassen. Gutes Zeichen, dachte Kern. „Ist Herr Ammers zu sprechen? Oder Frau Ammers?“ frage er.

„Einen Augenblick.“

Das Mädchen verschwand und kam dann wieder. Es führte ihn in einen Salon mit neuen Mahagonimöbeln. Kern wäre fast gefallen, so glatt war der Boden gebohnert. Auf allen Möbeln lagen Spitzendecken.

Nach einer Minute erschien Herr Ammers. Er war ein kleiner Mann mit weißem Spitzbart und sah teilnahmsvoll aus. Kern entschloss sich, von den zwei Geschichten, die er auf Lager hatte, die wahre zu erzählen.

Ammers hörte ihm freundlich zu. „Also Sie sind ein Emigrant ohne Pass und ohne Aufenthaltserlaubnis?“ sagte er dann. „Und Sie haben Seife und Haushaltssachen zu verkaufen?“

„Ja.“

„Gut.“ Ammers erhob sich. „Meine Frau kann sich Ihre Sachen einmal ansehen.“

Er ging hinaus. Nach einiger Zeit kam seine Frau herein. Sie war ein ausgeblichenes Neutrum mit einem Gesicht von der Farbe zu lange gekochten Fleisches und blassen Schellfischaugen.

„Was haben Sie denn für Sachen?“ fragte sie mit zimperlicher Stimme.

Kern packte seine Dinge aus. Es war nicht mehr allzuviel. Die Frau suchte hin und her, sie betrachtete die Nähnadeln, als hätte sie nie vorher welche gesehen, sie roch an der Seife und probierte die Zahnbürste auf dem Daumen; – dann fragte sie nach den Preisen und beschloss endlich, ihre Schwester zu holen.

Die Schwester war eine Zwillingsausgabe der Frau.

Der Spitzbart Ammers musste, so klein er war, ein eisernes Regiment im Hause führen, denn auch die Schwester war wie ausgelöscht und hatte eine geduckte, ängstliche Stimme. Die Blicke beider Frauen gingen alle Augenblicke zur Tür. Sie zögerten und zauderten, so dass Kern endlich ungeduldig wurde. Er merkte, dass die Frauen sich doch nicht entschließen konnten, und packte seine Sachen zusammen. „Vielleicht überlegen Sie es sich bis morgen“, sagte er. „Ich kann ja noch einmal wiederkommen.“

Die Frau sah ihn wie erschrocken an. „Wollen Sie vielleicht eine Tasse Kaffee?“ fragte sie dann.

Kern hatte lange keinen Kaffee mehr getrunken. „Wenn Sie gerade einen da haben.“

„Ja, doch! Sofort! Einen Augenblick.“

Sie schob sich hinaus, ungeschickt wie eine schiefe Tonne, doch schnell. Die Schwester blieb im Zimmer. „Ganz gut, eine Tasse Kaffee jetzt“, sagte Kern, um etwas zu sagen.

Die Schwester gluckste ein Lachen wie ein Truthahn und schwieg plötzlich still, als hätte sie sich verschluckt. Kern sah sie erstaunt an. Sie duckte sich und stieß einen hohen pfeifenden Laut durch die Nase aus.

Die Frau kam herein und stellte die dampfende Tasse vor Kern auf den Tisch. „Trinken Sie nur in aller Ruhe“, sagte sie besorgt. „Sie haben ja Zeit, und der Kaffee ist sehr heiß.“

Die Schwester lachte kurz und hoch auf und duckte sich sofort hinterher erschrocken.

Kern kam nicht dazu, den Kaffee zu trinken. Die Tür ging auf, und Ammers trat mit kurzen, elastischen Schritten ein, gefolgt von einem missmutig aussehenden Gendarmen.

Ammers wies mit einer sakralen Geste auf Kern. „Herr Gendarm, tun Sie Ihre Pflicht! Ein vaterlandsloses Individuum ohne Pass, ausgestoßen aus dem Deutschen Reich!“

Kern erstarrte.

Der Gendarm betrachtete ihn. „Kommen Sie mit!“ knurrte er dann.

Kern hatte einen Moment lang das Gefühl, als sei sein Gehirn ausgelöscht. Er hatte alles erwartet, nur das nicht. Langsam und mechanisch wie in einer Zeitlupenaufnahme suchte er seine Sachen zusammen. Dann richtete er sich auf. „Deshalb also der Kaffee und die Freundlichkeit!“ sagte er stockend und mühsam, als müsse er es sich erst selbst klarmachen. „Alles nur, um mich hinzuhalten! Deshalb also!“ Er ballte die Fäuste und machte einen Schritt auf Ammers zu, der sofort zurückwich. „Keine Angst!“ sagte Kern sehr leise, „ich rühre Sie nicht an! Ich verfluche Sie nur. Ich verfluche Sie und Ihre Kinder und Ihre Frau mit der ganzen Kraft meiner Seele! Alles Unglück der Welt soll auf Sie fallen! Ihre Kinder sollen sich gegen Sie empören und Sie allein lassen, allein, arm, in Jammer und Elend!“

Ammers wurde blass. Sein Spitzbart zuckte.

„Schützen Sie mich!“ befahl er dem Gendarmen.

„Er hat Sie noch nicht beleidigt“, erwiderte der Beamte phlegmatisch. „Er hat Sie bis jetzt nur verflucht. Wenn er Ihnen zum Beispiel: dreckiger Denunziant gesagt hätte, so wäre das eine Beleidigung gewesen, und zwar wegen des Wortes dreckig.“

Ammers sah ihn wütend an. „Tun Sie Ihre Pflicht!“ fauchte er.

„Herr Ammers“, erklärte der Gendarm ruhig. „Sie haben mir keine Anweisungen zu geben. Das können nur meine Vorgesetzten. Sie haben einen Mann zur Anzeige gebracht; ich bin gekommen, und das Weitere werden Sie mir überlassen. Folgen Sie mir!“ sagte er zu Kern.

Die beiden gingen hinaus. Hinter ihnen klappte die Haustür zu. Kern ging stumm neben dem Beamten her. Er konnte noch immer nicht richtig denken. Er hatte irgendwo das dumpfe Gefühl: Ruth – aber er wagte einfach noch nicht weiterzudenken.

„Menschenskind“, sagte der Gendarm nach einer Weile, „manchmal besuchen die Schafe wirklich die Hyänen. Wussten Sie denn nicht, wer das ist? Der geheime Spion der deutschen Nazipartei hier am Ort. Der hat schon allerlei Leute angezeigt.“

„Mein Gott!“ sagte Kern.

„Ja“, erwiderte der Beamte. „Das nennt man Künstlerpech, was?“

Kern schwieg. „Ich weiß nicht“, sagte er dann stumpf. „Ich weiß nur, dass auf mich jemand wartet, der krank ist.“

Der Gendarm blickte die Straße entlang und zuckte die Achseln.

„Das hilft alles nichts! Es geht mich auch nichts an. Ich muss Sie zur Polizei bringen.“ Er schaute sich um. Die Straße war leer. „Ich möchte Ihnen nicht raten, zu flüchten!“ fuhr er fort. „Es hat keinen Zweck! Zwar habe ich ein verstauchtes Bein und kann nicht hinter Ihnen herlaufen, aber ich würde Sie sofort anrufen und dann meinen Revolver ziehen, wenn Sie nicht stehenbleiben.“ Er musterte Kern ein paar Sekunden lang. „Das dauert natürlich seine Zeit“, erklärte er dann. „Sie könnten mir vielleicht inzwischen entwischen, besonders an einer Stelle, an die wir gleich kommen, da sind allerhand Gäßchen und Ecken und von Schießenkönnen ist da nicht viel die Rede. Wenn Sie da fliehen würden, könnte ich Sie tatsächlich nicht fangen. Ich müsste Ihnen höchstens vorher Handschellen anlegen.“

Kern war plötzlich hellwach und von einer unsinnigen Hoffnung erfüllt. Er starrte den Beamten an.

Der Gendarm ging gleichmütig weiter. „Wissen Sie“, sagte er nach einer Weile nachdenklich, „für manche Sachen ist man sich eigentlich zu anständig.“

Kern fühlte, dass seine Hände nass vor Aufregung waren. „Hören Sie“, sagte er eilig, „auf mich wartet ein Mensch, der ohne mich kaputtgeht! Lassen Sie mich los! Wir sind auf dem Wege nach Frankreich, wir wollen ohnehin hinaus aus der Schweiz, es ist doch gleich, ob so oder so!“

„Das kann ich nicht!“ erwiderte der Beamte phlegmatisch. „Das ist gegen meine Dienstvorschrift. Ich muss Sie zur Polizei bringen, das ist meine Pflicht. Sie können mir höchstens weglaufen, dagegen kann ich natürlich nichts weiter machen.“ Er blieb stehen. „Wenn Sie zum Beispiel die Straße hier hinunterliefen, um die Ecke und dann links – da wären Sie fort, ehe ich schießen könnte.“ Er blickte Kern ungeduldig an.

„Na, dann werde ich Ihnen mal jetzt Handschellen anlegen! Donnerwetter, wo habe ich denn die Dinger?“

Er drehte sich halb um und kramte umständlich in seiner Tasche.

„Danke!“ sagte Kern und rannte.

An der Ecke sah er sich im Laufen rasch um. Der Gendarm stand da, beide Hände auf die Hüften gestützt, und grinste hinter ihm her.

In der nächsten Nacht erwachte Kern. Er hörte Ruth sehr hastig und flach atmen. Er tastete nach ihrer Stirn; sie war heiß und feucht. Er wagte sie nicht zu wecken; sie schlief tief, aber sehr unruhig. Das Heu roch stark, obschon Decken und grobe Tücher darübergebreitet waren. Nach einiger Zeit erwachte sie von selbst. Mit verschlafener, kindlicher Stimme verlangte sie nach Wasser. Kern holte ihr eine Kanne und einen Becher, und sie trank gierig.

„Ist dir heiß?“ fragte er.

„Ja, sehr. Aber vielleicht ist es das Heu. Mein Hals ist wie ausgedorrt.“

„Hoffentlich hast du kein Fieber.“

„Ich darf kein Fieber haben. Ich darf nicht krank werden. Ich bin es auch nicht. Ich bin es nicht.“

Sie drehte sich um, schob den Kopf unter seinen Arm und schlief wieder ein. Kern lag still. Er hätte gern Licht gehabt, um zu sehen, wie Ruth aussah. Er fühlte an der feuchten Hitze ihres Gesichtes, dass sie Fieber haben musste. Aber er besaß keine Taschenlampe. So lag er still und lauschte auf ihre hastigen, kurzen Atemzüge und betrachtete die unendlich langsam kreisenden Zeiger auf dem Leuchtzifferblatt seiner Uhr, die wie eine ferne, bleiche Höllenmaschine der Zeit durch das Dunkel schimmerte. Die Schafe unten stießen sich und stöhnten manchmal auf, und es schien Jahre zu dauern, bis das Fensterrund heller wurde und den Morgen anzeigte.

Ruth erwachte. „Gib mir Wasser, Ludwig.“

Kern reichte ihr den Becher. „Du hast Fieber, Ruth. Kannst du eine Stunde allein bleiben?“

„Ja.“

„Ich laufe nur in den Ort, um etwas gegen Fieber zu holen.“

Der Bauer kam und schloss auf. Kern sagte ihm, was los war. Der Bauer machte ein saures Gesicht.

„Da muss sie wohl ins Krankenhaus. Hier kann sie dann nicht bleiben.“

„Wir wollen sehen, ob es bis mittags nicht besser wird.“

Kern ging trotz seiner Furcht, dem Gendarmen oder jemand von der Familie Ammers zu begegnen, in den Ort zu einer Apotheke und bat den Apotheker, ihm ein Thermometer zu leihen. Der Assistent gab es ihm, als er das Geld dafür hinterlegte. Kern kaufte noch eine Röhre Arkanol und lief dann zurück.

Ruth hatte 38,5 Grad Fieber. Sie schluckte zwei Tabletten, und Kern packte sie in seiner Jacke und ihrem Mantel ins Heu. Mittags stieg das Fieber trotz des Mittels auf 39 Grad.

Der Bauer kratzte sich den Kopf. „Sie braucht Pflege. Ich würde sie an Ihrer Stelle ins Krankenhaus bringen.“

„Ich will nicht ins Krankenhaus“, sagte Ruth heiser und leise. „Ich bin morgen wieder gesund.“

„Das sieht nicht so aus“, sagte der Bauer. „Sie sollten in einem Zimmer liegen und nicht hier auf dem Heuboden.“

„Nein, hier ist es warm und gut. Bitte, lassen Sie mich hier liegen.“

Der Bauer ging nach unten, und Kern folgte ihm. „Weshalb will sie denn nicht fort?“ fragte der Bauer.

„Weil wir dann getrennt werden.“

„Das macht doch nichts. Sie können doch auf sie warten.“

„Das kann ich nicht. Wenn sie im Krankenhaus liegt, wird man sehen, dass sie keinen Pass hat. Vielleicht wird man sie behalten, obschon wir nicht Geld genug haben; aber hinterher wird die Polizei sie an eine Grenze bringen, und ich weiß nicht, wohin und wann.“

Der Bauer schüttelte den Kopf. „Und Sie haben nichts getan? Nichts ausgefressen?“

„Wir haben keine Pässe und können keine bekommen, das ist alles.“

„Das meine ich nicht. Sie haben nicht irgendwo etwas gestohlen oder jemand betrogen oder so etwas?“

„Nein.“

„Und trotzdem jagt man hinter Ihnen her, als wäre ein Steckbrief auf Sie ausgeschrieben?“ – „Ja.“

Der Bauer spuckte aus. „Das verstehe, wer kann. Ein einfacher Mann versteht es nicht.“

„Ich verstehe es“, sagte Kern.

„Es kann eine Lungenentzündung geben, da oben, wissen Sie das?“

„Lungenentzündung?“ Kern sah ihn erschrocken an. „Das ist unmöglich! Das wäre ja lebensgefährlich!“

„Natürlich“, sagte der Bauer. „Deshalb rede ich doch mit Ihnen.“

„Es wird eine Grippe sein.“

„Es ist Fieber, hohes Fieber, und was es wirklich ist, kann nur ein Arzt sagen.“

„Dann muss ich einen Arzt holen.“

„Hierher?“

„Vielleicht kommt einer. Ich will nachsehen, ob es einen jüdischen im Adressbuch gibt.“

Kern ging wieder zurück in den Ort. In einem Zigarettenladen kaufte er zwei Zigaretten und ließ sich das Telefonbuch geben. Er fand einen Arzt, Doktor Rudolf Beer, und ging hin. Die Sprechstunde war zu Ende, als er kam, und er musste über eine Stunde warten. Er beschäftigte sich damit, Zeitschriften und Magazine anzusehen; er starrte auf die Bilder und konnte nicht begreifen, dass es Tenniswettkämpfe gab und Empfänge und halbnackte Frauen in Florida und fröhliche Menschen und dass er hilflos da saß und dass Ruth krank war.

Endlich kam der Arzt. Es war ein noch junger Mann. Er hörte Kern schweigend an, dann packte er seine Tasche und griff nach seinem Hut. „Kommen Sie mit. Mein Wagen steht unten, wir werden hinfahren.“

Kern schluckte. „Können wir nicht gehen? Im Auto kostet es doch mehr. Wir haben nur noch sehr wenig Geld.“

„Das lassen Sie meine Sorge sein“, erwiderte Beer.

Sie fuhren zu dem Schafstall hinaus. Der Arzt behorchte Ruth. Sie blickte ängstlich auf Kern und schüttelte leise den Kopf. Sie wollte nicht fort.

Beer stand auf. „Sie müssen ins Krankenhaus. Dämpfung der rechten Lunge. Grippe und Gefahr einer Pneumonie. Ich werde Sie mitnehmen.“

„Nein! Ich will nicht ins Krankenhaus. Wir können es auch nicht bezahlen!“

„Kümmern Sie sich nicht um das Geld. Sie müssen hier heraus. Sie sind ernstlich krank.“

Ruth blickte Kern an. „Wir sprechen noch darüber“, sagte er. „Ich komme gleich wieder.“

„Ich hole Sie in einer halben Stunde ab“, erklärte der Arzt. „Haben Sie warme Sachen und Decken?“

„Wir haben nur das.“

„Ich werde etwas mitbringen. Also in einer halben Stunde.“

Kern ging mit ihm hinunter. „Ist es unbedingt notwendig?“ fragte er.

„Ja. Sie kann hier in dem Heu nicht liegenbleiben. Es hat auch keinen Zweck, sie in irgendein Zimmer zu stecken. Sie gehört ins Krankenhaus, und zwar rasch.“

„Gut“, sagte Kern. „Dann muss ich Ihnen sagen, was das für uns bedeutet.“

Beer hörte ihm zu. „Sie glauben nicht, dass Sie sie besuchen können?“ fragte er dann.

„Nein. Es würde sich in ein paar Tagen herumsprechen, und die Polizei brauchte nur auf mich zu warten. So aber habe ich die Chance, in ihrer Nähe zu bleiben, und von Ihnen zu hören, wie es ihr geht und was mit ihr geschieht, und mich danach zu richten.“

„Ich verstehe. Sie können jederzeit zu mir kommen und nachfragen.“

„Danke. Ist es gefährlich mit ihr?“

„Es kann gefährlich werden. Sie muss unbedingt fort von hier.“

Der Arzt fuhr ab. Kern stieg langsam die Leiter zum Boden wieder empor. Er war taub und ohne Gefühl. Das weiße Gesicht mit den dunklen Flecken der Augenhöhlen wendete sich aus der Dämmerung des niedrigen Raumes ihm zu. „Ich weiß, was du sagen willst“, flüsterte Ruth.

Kern nickte. „Es geht nicht anders. Wir müssen glücklich sein, dass wir diesen Arzt gefunden haben. Ich bin sicher, du kommst umsonst ins Krankenhaus.“

„Ja.“ Sie starrte vor sich hin. Dann richtete sie sich plötzlich erschrocken auf. „Mein Gott, wo bleibst du denn, wenn ich ins Krankenhaus komme? Und wie sehen wir uns wieder? Du kannst ja nicht kommen, sie verhaften dich vielleicht dort.“

Er setzte sich neben sie und nahm ihre heißen Hände fest in seine. „Ruth“, sagte er. „Wir müssen jetzt sehr klar und vernünftig sein. Ich habe alles schon überlegt. Ich bleibe hier und verstecke mich. Der Bauer hat es mir erlaubt. Ich warte einfach auf dich. Es ist besser, wenn ich nicht ins Krankenhaus komme, dich zu besuchen. So etwas spricht sich rasch herum, und sie können mich schnappen. Wir machen es anders. Ich werde jeden Abend zum Krankenhaus kommen und zu deinem Fenster hinaufschauen. Der Arzt wird mir sagen, wo du liegst. Das ist dann wie ein Besuch.“

„Um wieviel Uhr?“

„Um neun Uhr.“

„Dann ist es dunkel, dann kann ich dich nicht sehen.“

„Ich kann nur kommen, wenn es dunkel ist, sonst ist es zu gefährlich. Ich kann mich am Tage nicht blicken lassen.“

„Du sollst überhaupt nicht kommen. Lass mich nur, es wird schon gehen.“

„Doch, ich komme. Ich kann es sonst nicht aushalten. Du musst dich jetzt anziehen.“

Er wusch ihr mit einem Taschentuch und etwas Wasser aus der Zinnkanne das Gesicht und trocknete es ab. Ihre Lippen waren aufgesprungen und heiß. Sie legte ihr Gesicht in seine Hand. „Ruth“, sagte er. „Wir wollen an alles denken. Wenn du gesund bist, und ich sollte nicht mehr hier sein, oder man schiebt dich ab… lass dich nach Genf an die Grenze schikken. Wir wollen abmachen, dass wir uns dann nach Genf postlagernd schreiben. Wir können uns so immer wiedertreffen. Genf, hauptpostlagernd. Wir werden auch dem Arzt unsere Adressen schicken, wenn ich geschnappt werde. Er kann sie dann immer dem andern geben. Er hat mir versprochen, es zu tun. Ich werde durch ihn alles hören und dir durch ihn alle Nachrichten geben. Wir sind so ganz sicher, dass wir uns nie verlieren werden.“

„Ja, Ludwig“, flüsterte sie.

„Sei nicht ängstlich, Ruth. Ich sage dir das nur für den schlimmsten Fall. Es ist nur dafür, wenn man mich erwischt. Oder wenn sie dich nicht einfach aus dem Krankenhaus entlassen, ohne dass die Polizei etwas erfährt, und dann fahren wir einfach zusammen weiter.“

„Und wenn sie etwas erfährt?“

„Man kann dich nur zur Grenze schicken. Und da warte ich auf dich. In Genf, Hauptpost.“

Er sah sie zuversichtlich an. „Hier hast du Geld. Verstecke es, denn du brauchst es vielleicht für die Reise.“

Er gab ihr das wenige Geld, das er noch besaß. „Sag im Krankenhaus nicht, dass du es hast. Du musst es für die Zeit nachher behalten.“

Der Arzt rief von unten herauf. „Ruth!“ sagte Kern und nahm sie in seine Arme. „Wirst du tapfer sein, Ruth?“

Sie klammerte sich an ihn. „Ich will tapfer sein. Und ich will dich wiedersehen.“

„Postlagernd Genf, wenn alles falsch geht. Sonst hole ich dich hier ab. Jeden Abend um neun stehe ich draußen und wünsche dir alles, was es gibt.“

„Ich komme ans Fenster.“

„Du bleibst im Bett, sonst komme ich nicht! Lach noch einmal!“

„Fertig?“ rief der Arzt.

Sie lächelte unter Tränen. „Vergiss mich nicht!“

„Wie kann ich das? Du bist doch alles, was ich habe!“

Er küsste sie auf die trockenen Lippen. Der Kopf des Arztes erschien in der Bodenluke. „Macht nichts“, sagte er, „aber nun los!“ Sie brachten Ruth hinunter ins Auto und deckten sie zu. „Kann ich heute abend anfragen?“ sagte Kern.

„Natürlich. Bleiben Sie jetzt hier? Ja, es ist besser. Sie können jederzeit kommen.“

Das Auto fuhr ab. Kern blieb stehen, aber er glaubte, ein Sturmwind risse ihn nach rückwärts.

Um acht Uhr ging er zu Doktor Beer. Der Arzt war zu Hause. Er beruhigte ihn; das Fieber sei hoch, aber vorläufig sei keine große Gefahr. Es scheine eine normale Lungenentzündung zu werden.

„Wie lange dauert das?“

„Wenn es gut geht, zwei Wochen. Und dann eine Woche Rekonvaleszenz.“

„Wie ist es mit dem Geld?“ fragte Kern. „Wir haben keins.“

Beer lachte. „Vorläufig liegt sie erst einmal im Krankenhaus. Irgendeine Wohltätigkeitsinstitution wird nachher schon die Kosten übernehmen.“

Kern sah ihn an. „Und Ihr Honorar?“

Beer lachte wieder. „Behalten Sie Ihre paar Franken nur. Ich kann ohne sie leben. Sie können morgen wieder fragen kommen.“ Er stand auf.

„Wo liegt sie?“ fragte Kern. „In welchem Stock?“ Beer legte seinen knochigen Zeigefinger an die Nase. „Warten Sie mal… Zimmer 35 im zweiten Stock.“

„Welches Fenster ist das?“

Beer zwinkerte mit den Augen. „Ich glaube, es ist das zweite von rechts. Es nützt aber nichts; sie wird schon schlafen.“

„Ich meinte nicht deswegen.“

„Natürlich nicht“, erwiderte Beer.

Kern fragte sich nach dem Krankenhaus durch. Er fand es rasch und blickte auf die Uhr. Es war eine Viertelstunde vor neun. Das zweite Fenster von rechts war dunkel. Er wartete. Er hätte nie geglaubt, dass es so langsam neun Uhr werden könne. Plötzlich sah er, dass das Fenster hell wurde. Er stand angespannt und schaute auf das rötliche Viereck. Er hatte einmal etwas von Gedankenübertragung gehört und versuchte sich jetzt zu konzentrieren, um Kraft zu Ruth hinüberzuschicken. – Lass sie gesund werden, lass sie gesund werden! dachte er eindringlich und wusste nicht, zu wem er betete. Er holte tief Atem und ließ ihn langsam ausströmen; er erinnerte sich, dass tiefes Atmen als wichtig bezeichnet war in dem Buch, das er gelesen hatte. Er ballte die Fäuste und spannte die Muskeln an, er hob sich auf die Zehen, als wollte er losspringen, und flüsterte immer wieder gegen das helle Lichtkarree in die Nacht: „Werde gesund! Werde gesund! Ich liebe dich!“

Das Fenster verdunkelte sich. Er sah einen Schatten. Sie soll doch im Bett bleiben! dachte er, während ein Sturzbach von Glück ihn überströmte. Sie winkte; er winkte wild zurück. Dann erinnerte er sich, dass sie ihn nicht sehen konnte. Verzweifelt blickte er nach einer Laterne, nach einem Schein Helligkeit aus, um sich davorzustellen. Nichts war zu sehen. Da kam ihm ein Gedanke. Er riss eine Schachtel Zündhölzer aus der Tasche, die er morgens zu seinen zwei Zigaretten geschenkt bekommen hatte, zündete eins an und hielt es hoch.

Der Schatten winkte. Er winkte vorsichtig mit dem Zündholz zurück. Dann riss er ein paar neu an und hielt sie so, dass sie sein Gesicht beleuchteten. Ruth winkte heftig. Er machte Zeichen, sie solle sich niederlegen. Sie schüttelte den Kopf. Er beleuchtete sein Gesicht und nickte nachdrücklich. Sie folgte nicht. Er merkte, dass er fortgehen musste, um sie dazu zu bewegen, sich wieder ins Bett zu legen. Er machte ein paar Schritte, um zu zeigen, dass er ginge. Dann warf er alle brennenden Streichhölzer hoch. Sie fielen flackernd zu Boden und verlöschten. Das Licht brannte noch einen Augenblick. Dann erlosch es, und das Fenster schien dunkler zu sein als alles andere.

* * *

„Gratuliere, Golsbach!“ sagte Steiner. „Sie waren heute zum erstenmal gut! Ohne jeden Fehler, ruhig und überlegen. Erstklassig, wie Sie mir den Tip gegeben haben mit dem Streichholz im Busenhalter! Das war wirklich schwer.“

Goldbach sah ihn dankbar an. „Ich weiß selbst nicht, wie es gekommen ist. Plötzlich, wie eine Erleuchtung, von gestern auf heute. Passen Sie auf, ich werde noch ein gutes Medium. Morgen werde ich anfangen, mir andere Tricks auszudenken.“

Steiner lachte. „Kommen Sie, trinken wir einen Schnaps auf das freudige Ereignis.“

Er holte eine Flasche Marillengeist und schenkte ein. „Prosit, Goldbach!“

„Prosit!“

Goldbach verschluckte sich und stellte das Glas nieder. „Entschuldigen Sie“, sagte er. „Ich bin das nicht mehr gewohnt. Wenn Sie nichts dagegen haben, möchte ich jetzt gern gehen.“

„Aber natürlich! Wir sind ja fertig hier. Wollen Sie nicht wenigstens Ihr Glas noch austrinken?“

„Ja, gern.“ Goldbach trank gehorsam.

Steiner gab ihm die Hand. „Und üben Sie nicht zu viele Tricks. Sonst finde ich vor lauter Raffinement nichts mehr.“

„Nein. Nein.“

Goldbach ging rasch die Allee hinunter zur Stadt. Er fühlte sich leicht, als wäre eine schwere Last von ihm abgefallen. Aber es war eine Leichtigkeit ohne Freude… als wären seine Knochen voll Luft und sein Wille aus Gas, nicht mehr lenkbar und jedem Winde preisgegeben.

„Ist meine Frau da?“ fragte er das Mädchen an der Tür der Pension.

„Nein.“ Das Mädchen fing an zu lachen.

„Weshalb lachen Sie denn?“ fragte Goldbach befremdet.

„Warum soll ich nicht lachen? Ist es verboten zu lachen?“

Goldbach sah sie abwesend an. „So meine ich das nicht“, murmelte er. „Lachen Sie nur.“

Er ging den schmalen Korridor entlang in sein Zimmer und horchte nach nebenan. Er hörte nichts. Sorgfältig bürstete er seine Haare und seinen Anzug; dann klopfte er an die Verbindungstür, obschon das Mädchen gesagt hatte, seine Frau sei nicht da. Vielleicht ist sie inzwischen gekommen, dachte er. Vielleicht hat das Mädchen sie nicht gesehen. Er klopfte noch einmal. Niemand antwortete. Er drückte vorsichtig die Klinke herunter und trat ein. Das Licht am Spiegel brannte. Er starrte auf das Licht wie ein Schiffer auf einen Leuchtturm. Sie wird gleich wiederkommen, dachte er. Sonst würde das Licht nicht brennen.

Er wusste schon, irgendwo in seinen luftleichten Knochen, in dem grauen Aschengewirr seiner Adern, dass sie nicht wiederkommen würde. Er wusste es unterhalb seiner Gedanken, aber sein Kopf hielt mit dem Eigensinn der Angst wie an einem Balken, der ihn vor der Flut retten könne, an den sinnlosen Worten fest: Sie muss wiederkommen… sonst würde das Licht nicht brennen…

Dann entdeckte er die Leere des Zimmers. Die Bürsten und die Cremetöpfe vor dem Spiegel fehlten; eine Tür des Schrankes stand halb offen, und der rosa- und pastellfarbene Fleck der Kleider fehlte in der Öffnung; sie gähnte schwarz und verlassen. Nur der Geruch im Zimmer war noch da, ein Hauch Leben, aber auch schon dünner… Erinnerung und lauernder Schmerz. Dann fand er den Brief und wunderte sich stumpf, dass er ihn so lange nicht gesehen hatte – er lag mitten auf dem Tisch.

Es dauerte lange, ehe er ihn öffnete. Er wusste ohnehin alles – wozu ihn noch öffnen? Schließlich riss er ihn mit einer vergessenen Haarnadel, die neben ihm auf einem Sessel gelegen hatte, auf. Er las ihn, doch die Worte drangen nicht mehr durch die Eisschicht seines Gehirns; sie blieben tot, Worte aus einer Zeitung, einem Buch, zufällige Worte, die ihn nichts angingen. Die Haarnadel in seiner Hand war lebendiger.

Er saß ruhig da und wartete auf den Schmerz und wunderte sich, dass er nicht kam. Es war nur ein taubes Gefühl, eine ungeheure Dämpfung, wie der angstvolle Augenblick vor dem Einschlafen, wenn er eine zu große Dosis Brom genommen hatte.

Er saß lange Zeit so. Er sah seine Hände an – sie lagen wie weiße, tote Tiere auf seinen Knien; blasse, empfindungslose Kraken mit fünf schlaffen Tentakeln. Sie gehörten nicht zu ihm. Er gehörte überhaupt nicht zu sich selbst, er war der Körper eines andern, dessen Augen nach innen gerichtet waren und eine Lähmung anstarrten, die nur manchmal in sich erzitterte.

Schließlich stand er auf und ging in sein Zimmer zurück. Er sah die Krawatten auf dem Tisch liegen. Mechanisch suchte er eine Schere heraus und begann die Binder zu zerschneiden, sorgfältig, Streifen um Streifen. Er ließ die abgeschnittenen Stücke nicht auf den Boden fallen, sondern sammelte sie pedantisch in der hohlen Hand und schichtete sie auf dem Tisch zu einem bunten Häufchen. Mitten in dieser automatischen Tätigkeit überraschte er sich dabei, was er tat; er legte die Schere beiseite und hörte auf. Gleich darauf hatte er vergessen, was er getan hatte. Er ging mit steifen Schritten durch das Zimmer und setzte sich in eine Ecke. Dort blieb er hocken und rieb sich die Hände, immer wieder, mit einer sonderbar müden, greisen Bewegung, als fröre er und hätte nicht mehr die Kraft, sich wirklich zu wärmen.

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