Книга: Liebe deinen Nächsten / Возлюби ближнего своего. Книга для чтения на немецком языке
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Kern warf die letzten Streichhölzer in die Luft. Da legte sich eine Hand auf seine Schulter. „Was machen Sie denn da?“

Er zuckte zusammen, wandte sich um und sah eine Uniform. „Nichts“, stammelte er. „Entschuldigen Sie! Eine Spielerei, weiter nichts.“

Der Beamte sah ihm aufmerksam ins Gesicht. Es war nicht derselbe, der ihn bei Ammers verhaftet hatte. Kern sah rasch zum Fenster hinauf. Ruth war nicht mehr zu sehen. Sie konnte auch wohl nichts bemerkt haben; es war zu dunkel.

Kern versuchte ein treuherziges Lächeln. „Entschuldigen Sie vielmals“, sagte er leichthin. „Es war nur ein kleiner Spaß. Sie sehen sicher selbst, dass nichts dadurch geschehen konnte. Ein paar Streichhölzer, weiter nichts. Ich wollte mir eine Zigarette anzünden. Sie brannte nicht recht, da habe ich gleich ein halbes Dutzend genommen und mir fast die Finger verbrannt.“

Er lachte, schlenkerte die Hand und wollte weitergehen. Doch der Beamte hielt ihn fest. „Einen Moment! Sie sind kein Schweizer, was?“

„Warum nicht?“

„Das hört man doch! Warum leugnen Sie?“

„Ich leugne ja gar nicht“, erwiderte Kern. „Es interessiert mich nur, woher Sie das sofort wussten.“

Der Beamte betrachtete ihn äußerst misstrauisch. „Sollten wir da vielleicht…?“ murmelte er und ließ eine Taschenlampe aufblitzen. „Hören Sie!“ sagte er dann, und seine Stimme hatte plötzlich einen anderen Klang. „Kennen Sie Herrn Ammers?“

„Keine Ahnung“, erwiderte Kern, so ruhig er konnte.

„Wo wohnen Sie?“

„Ich bin erst seit heute morgen hier, wollte mir gerade einen Gasthof suchen. Können Sie mir einen empfehlen? Nicht zu teuer.“

„Zunächst kommen Sie mal mit. Da liegt eine Anzeige von Herrn Ammers vor, die passt genau auf Sie. Das wollen wir erst mal aufklären!“

Kern ging mit. Er verfluchte sich selbst, dass er nicht besser aufgepasst hatte. Der Beamte musste auf Gummisohlen von hinten herangeschlichen sein. Eine Woche lang war es gut gegangen, daran lag es wahrscheinlich. Er war zu sicher geworden. Verstohlen blickte er umher, um eine Gelegenheit zum Weglaufen zu finden. Aber der Weg war zu kurz; wenige Minuten später war er schon auf der Polizeiwache.

Der Beamte, der ihn das erstemal hatte laufenlassen, saß an einem Tisch und schrieb. Kern schöpfte Mut. „Ist er das?“ fragte der Polizist, der ihn gebracht hatte.

Der erste sah Kern flüchtig an. „Möglich. Kann’s nicht genau sagen. Es war zu dunkel.“

„Dann werde ich Ammers mal anrufen, der muss ihn ja kennen.“

Er ging hinaus. „Menschenskind!“ sagte der erste Beamte zu Kern, „ich dachte, Sie wären längst weg. Jetzt wird’s böse. Ammers hat Sie damals angezeigt.“

„Kann ich nicht wieder weglaufen?“ fragte Kern rasch. „Sie wissen doch…“

„Ausgeschlossen. Der einzige Weg geht durch das Vorzimmer drüben. Und da steht Ihr Freund und telefoniert. Nein… jetzt sitzen Sie drin. Gerade unserm schärfsten Mann, der befördert werden will, sind Sie in die Finger gefallen.“

„Verdammt!“

„Ja. Besonders, weil Sie schon einmal ausgerissen sind. Ich musste das seinerzeit rapportieren, weil ich wusste, dass Ammers nachspionieren würde.“

„Jesus!“ Kern trat einen Schritt zurück.

„Sie können sogar Jesus Christus sagen!“ erklärte der Beamte. „Diesmal hilft es nichts, Sie kriegen ein paar Wochen.“

Einige Minuten später kam Ammers. Er keuchte, so war er gelaufen. Sein Spitzbart glänzte. „Natürlich!“ sagte er. „Das ist er! In Lebensgröße, dieser Frechling!“

Kern sah ihn an. „Diesmal wird er ja wohl nicht entwischen, wie?“ fragte Ammers.

„Diesmal nicht“, bestätigte der Gendarm.

„Gottes Mühlen mahlen langsam“, deklamierte Ammers salbungsvoll und triumphierend. „Langsam, aber treffich fein. Der Krug geht so lange zu Wasser, bis er bricht.“

„Wissen Sie, dass Sie Leberkrebs haben?“ unterbrach Kern ihn. Er wusste kaum, was er sagte. Er wusste auch nicht, wie er auf den Gedanken kam. Er war nun plötzlich rasend vor Wut, und ohne sein Unglück noch ganz zu fassen, richtete sich all sein Denken im Augenblick automatisch nur auf den Punkt, Ammers durch irgend etwas zu treffen. Schlagen konnte er ihn nicht, das hätte seine Strafe vergrößert.

„Was?“ Ammers vergaß vor Überraschung den Mund zu schließen.

„Leberkrebs! Typischen Leberkrebs!“ Kern sah, dass er getroffen hatte. Sofort stürzte er sich weiter darauf. „Ich bin Mediziner, ich weiß das! In einem Jahr geht es los mit rasenden Schmerzen! Sie werden einen furchtbaren Tod haben! Es ist nichts dagegen zu machen! Nichts!“

„Das ist doch…!“

„Gottes Mühlen!“ zischte Kern. „Wie sagten Sie? Langsam, langsam! Jahrelang!“

„Herr Gendarm!“ zeterte Ammers. „Ich verlange, dass Sie mich schützen vor diesem Individuum!“

„Machen Sie Ihr Testament“, fauchte Kern. „Es ist das einzige, was Ihnen noch übrigbleibt! Von innen zerfressen und verfaulen werden Sie!“

„Herr Gendarm!“ Ammers blickte hilfesuchend und wild um sich. „Sie haben mich vor dieser Beleidigung zu schützen.“

Der erste Beamte sah ihn interessiert an. „Bis jetzt beleidigt er Sie noch nicht“, erklärte er dann. „Bis jetzt macht er nur medizinische Feststellungen.“

„Ich verlange, dass das alles zu den Akten genommen wird!“ schrie Ammers.

„Sehen Sie nur!“ Kern zeigte mit dem Finger auf Ammers, der zurückzuckte, als wäre dieser Finger eine Schlange. „Die bleigraue Gesichtshaut in der Erregung, die gelblichen Augäpfel… ganz sichere Anzeichen! Ein Todeskandidat! Man kann nur noch für ihn beten!“

„Todeskandidat!“ tobte Ammers, „nehmen Sie Todeskandidat zu den Akten!“

„Todeskandidat ist ebenfalls keine Beleidigung“, erklärte der erste Beamte mit offener Schadenfreude. „Sie werden nicht darauf klagen können. Wir sind alle Todeskandidaten.“

„Die Leber zersetzt sich bei lebendigem Leibe!“ Kern sah, dass Ammers plötzlich blass geworden war. Er machte einen Schritt vorwärts. Ammers wich vor ihm zurück wie vor dem Satan. „Anfangs merkt man nichts!“ erklärte Kern mit wütendem Triumph. „Es ist auch kaum etwas festzustellen. Wenn man es aber merkt, ist es schon zu spät. Leberkrebs! Der langsamste und fürchterlichste Tod, den es gibt!“

Ammers starrte Kern nur noch an. Er erwiderte nichts mehr. Unwillkürlich griff er mit der Hand in die Gegend der Leber.

„Seien Sie jetzt ruhig!“ schnauzte der zweite Beamte auf einmal scharf. „Es ist genug damit! Setzen Sie sich dorthin und antworten Sie auf unsere Fragen. Seit wann sind Sie in der Schweiz?“

Kern wurde am nächsten Morgen dem Bezirksgericht vorgeführt. Der Richter war ein älterer, dikker Mann mit einem runden, roten Gesicht. Er war menschlich, aber er konnte Kern nicht helfen. Die Paragraphen waren eindeutig.

„Warum haben Sie sich nicht bei der Polizei gemeldet, als Sie illegal über die Grenze kamen?“ fragte er.

„Weil ich dann sofort wieder ausgewiesen worden wäre“, erwiderte Kern müde. – „Ja, natürlich, das wären Sie.“

„Und drüben auf der anderen Seite hätte ich mich wieder sofort beim nächsten Polizeiposten melden müssen, wenn ich nicht das Gesetz hätte verletzen wollen. Von dort wäre ich dann in der nächsten Nacht zurück in die Schweiz gebracht worden. Und von der Schweiz wieder nach drüben. Und von drüben wieder zurück. So wäre ich langsam zwischen den Grenzposten verhungert. Zumindest wäre ich ewig von einer Polizeiwache zur andern gewandert. Was sollen wir denn anderes machen, als gegen das Gesetz verstoßen?“

Der Richter hob die Schultern. „Ich kann Ihnen nicht helfen. Ich muss Sie verurteilen. Die Mindeststrafe ist vierzehn Tage Gefängnis. Es ist das Gesetz. Wir müssen unser Land vor der Überschwemmung durch Flüchtlinge schützen.“

„Ich weiß.“

Der Richter sah in seine Akten. „Alles, was ich tun kann, ist für Sie eine Eingabe zu machen an das Obergericht, dass Sie nur Haft bekommen und kein Gefängnis.“

„Danke vielmals“, sagte Kern. „Aber das ist mir gleich. Darin habe ich keinen Ehrgeiz mehr.“

„Das ist gar nicht gleich“, erklärte der Richter mit einem gewissen Eifer. „Im Gegenteil, es ist sogar sehr wichtig für die bürgerlichen Ehrenrechte. Wenn Sie Haft bekommen, gelten Sie nicht als vorbestraft, das wissen Sie vielleicht noch nicht!“

Kern blickte den ahnungslosen, gutmütigen Menschen eine Weile an. „Bürgerliche Ehrenrechte“, sagte er dann. „Was soll ich damit? Ich habe ja nicht einmal die einfachsten bürgerlichen Rechte! Ich bin ein Schatten, ein Gespenst, ein bürgerlicher Toter. Was sollen mir da die Dinge, die Sie Ehrenrechte nennen?“

Der Richter schwieg eine Weile. „Sie müssen doch irgendwelche Papiere bekommen können“, sagte er schließlich. „Vielleicht kann man über ein deutsches Konsulat einen Ausweis für Sie beantragen!“

„Das hat ein tschechisches Gericht vor einem Jahr bereits getan. Der Antrag ist abgelehnt worden. Wir existieren für Deutschland nicht mehr. Für die übrige Welt nur noch als Subjekte für die Polizei.“

Der Richter schüttelte den Kopf. „Hat denn der Völkerbund noch nichts für Sie getan? Sie sind doch viele Tausende; und Sie müssen doch irgendwie existieren dürfen!“

„Der Völkerbund berät seit ein paar Jahren darüber, uns Identitätspapiere zu geben“, erwiderte Kern geduldig. „Jedes Land versucht auch da, uns dem andern zuzuschieben. Es wird wohl also noch eine Anzahl von Jahren dauern.“

„Und inzwischen…“

„Inzwischen… Sie sehen ja…“

„Aber mein Gott!“ sagte der Richter plötzlich ziemlich ratlos in seinem breiten, weichen Schweizer Dialekt „Das ist ja ein Problem! Was soll denn nur aus Ihnen werden?“

„Das weiß ich nicht. Wichtiger ist, was jetzt mit mir geschieht.“

Der Richter fuhr sich über das glänzende Gesicht und sah Kern an. „Ich habe einen Sohn“, sagte er, „der ist ungefähr so alt wie Sie. Wenn ich mir vorstellen sollte, dass er herumgejagt würde, ohne irgendeinen anderen Grund, als dass er geboren worden ist…“

„Ich habe einen Vater“, erwiderte Kern. „Wenn Sie ihn sähen…“

Er blickte zum Fenster hinaus. Die Herbstsonne schien friedlich auf einen Apfelbaum, der voll von Früchten hing. Da draußen war die Freiheit. Da draußen war Ruth.

„Ich möchte Sie etwas fragen“, sagte der Richter nach einer Weile. „Es gehört nicht mehr dazu. Aber ich möchte Sie es doch fragen. Glauben Sie noch an irgend etwas?“

„O ja; ich glaube an den heiligen Egoismus! An die Unbarmherzigkeit! An die Lüge! An die Trägheit des Herzens!“

„Das habe ich gefürchtet. Wie sollten Sie auch anders…“

„Es ist noch nicht alles“, erwiderte Kern ruhig. „Ich glaube auch an Güte, an Kameradschaft, an Liebe und an Hilfsbereitschaft! Ich habe sie kennengelernt. Mehr vielleicht als mancher, dem es gut geht.“

Der Richter stand auf und kam schwerfällig um seinen Stuhl herum auf Kern zu. „Gut, so was zu hören“, murmelte er. „Wenn ich nur wüßte, was ich für Sie tun könnte!“

„Nichts“, sagte Kern. „Ich kenne die Gesetze auch schon, und ich habe einen Bekannten, der ist sogar Spezialist darin. Schicken Sie mich ins Gefängnis.“

„Ich schicke Sie in Untersuchungshaft und gebe Ihren Fall an das Obergericht weiter.“

„Wenn es Ihnen das Urteil erleichtert, gern. Wenn es aber länger dauert, möchte ich lieber ins Gefängnis.“

„Es dauert nicht länger, dafür werde ich sorgen.“

Der Richter nahm ein riesiges Portemonnaie aus der Tasche. „Es gibt ja leider nur diese primitive Form von Hilfe“, sagte er zögernd und nahm einen zusammengefalteten Schein heraus. „Es ist mir peinlich, nichts anderes für Sie tun zu können…“

Kern nahm das Geld. „Es ist das einzige, was uns wirklich hilft“, erwiderte er und dachte: Zwanzig Franken! Welch ein Glück! Damit kommt Ruth bis zur Grenze!

Er wagte nicht, ihr zu schreiben. Es wäre dadurch herausgekommen, dass sie schon langer im Lande war, und sie hätte verurteilt werden können. So hatte sie immer noch die Möglichkeit, einfach ausgewiesen zu werden oder, wenn sie Glück hatte, ohne weiteres aus dem Krankenhaus entlassen zu werden.

Am ersten Abend war er unglücklich und unruhig und konnte nicht schlafen. Er sah Ruth fiebernd im Bett liegen und schreckte auf, weil er geträumt hatte, sie würde begraben. Er hockte sich auf die Pritsche und saß lange Zeit so, die Arme um die Knie gepresst. Er wollte sich nicht unterkriegen lassen, aber er fühlte, dass es stärker sein könnte als er. Es ist die Nacht, dachte er, die Nacht und die Angst der Nacht. Die Angst am Tage ist vernünftig; die Angst der Nacht ist ohne Grenzen.

Er stand auf und ging in dem kleinen Raum hin und her. Er atmete lang und tief. Dann zog er seine Jacke aus und begann, Freiübungen zu machen. Ich darf die Nerven nicht verlieren, dachte er; dann bin ich verloren. Ich muss gesund bleiben. Er machte Kniebeugen und Rumpfdrehungen, und allmählich gelang es ihm, sich auf seinen Körper zu konzentrieren. Dann kam ihm die Erinnerung an den Abend auf der Polizeiwache in Wien und den Studenten, der Boxunterricht gegeben hatte. Er verzog das Gesicht. Ohne den Studenten wäre ich heute abend sicher nicht so gegen Ammers gewesen, dachte er. Ohne ihn nicht und ohne Steiner nicht. Ohne dieses ganze harte Leben nicht; es soll mich hart machen, aber es soll mich nicht kaputtschlagen. Ich will mich wehren. Er begann auszuholen, weich in den Beinen federnd, und schlug lange Gerade mit dem ganzen Körperschwung in das Dunkel, rechts und links, dann ein paar kurze Uppercuts dazwischen, rascher und rascher… und plötzlich schimmerte vor ihm geisterhaft der weiße Spitzbart des leberkranken Ammers durch die Finsternis, und die Sache bekam Saft und Kraft. Er schlug ihm kurze Gerade und gewaltige Schwinger um Kinn und Ohren, er pfefferte zwei wüste Herzhaken und einen grauenhaften Schlag auf den Solarplexus hinterher, und es schien ihm, als hörte er Ammers mit einem Ächzen zu Boden krachen. Aber das war ihm noch nicht genug. Er ließ ihn immer aufs neue hochkommen, und er zerschlug systematisch den Schatten des Feindes, keuchend vor Erregung, wobei ihm zum Schluss als besondere Delikatesse schwere Leberhaken einfielen. So wurde es Morgen, und er war so erschöpft und müde, dass er auf seine Pritsche fiel und sofort einschlief und die Angst der Nacht hinter sich gebracht hatte.

Zwei Tage später trat Doktor Beer in die Zelle. Kern sprang auf. „Wie geht es ihr?“

„Ganz gut; das heißt normal.“

Kern atmete auf. „Woher wussten Sie, dass ich hier bin?“

„Das war einfach. Sie kamen nicht mehr. Also mussten Sie hier sein.“

„Das stimmt. Weiß sie es?“

„Ja. Als Sie gestern abend nicht als Prometheus auftraten, hat sie Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, mich zu erreichen. Eine Stunde später wussten wir Bescheid. Übrigens eine verrückte Idee, das mit den Streichhölzern!“

„Ja, das war es! Manchmal glaubt man, schon sehr gerissen zu sein; dann macht man gewöhnlich Dummheiten. Ich bin vorläufig zu vierzehn Tagen verurteilt. Ich komme wahrscheinlich in zwölf Tagen heraus. Ist sie dann gesund?“

„Nein. Jedenfalls noch nicht so, dass sie reisen kann. Ich denke, wir lassen sie so lange im Krankenhaus, wie es eben geht.“

„Natürlich!“ Kern dachte nach. „Ich muss dann eben in Genf auf sie warten. Ich kann sie ja ohnehin nicht mitnehmen. Ich werde ja abgeschoben.“

Beer zog einen Brief aus der Tasche. „Hier! Ich habe Ihnen etwas mitgebracht.“

Kern griff hastig nach dem Brief – aber dann steckte er ihn in die Tasche. „Sie können ihn ruhig jetzt lesen“, sagte Beer. „Ich habe Zeit.“

„Nein, ich lese ihn nachher.“

„Dann gehe ich jetzt zum Krankenhaus zurück. Ich will ihr Bescheid sagen, dass ich Sie gesehen habe. Wollen Sie mir etwas mitgeben?“ Beer zog einen Füllfederhalter und Briefpapier aus dem Mantel. „Ich habe alles mitgebracht.“

„Danke. Danke vielmals!“ Kern schrieb rasch einen Brief; es ginge ihm gut, Ruth möge rasch gesund werden. Wenn er vorher abgeschoben werde, wolle er auf sie in Genf warten. Jeden Mittag um zwölf Uhr vor der Hauptpost. Beer werde ihr alles noch genau sagen.

Er legte den Zwanzigfrankenschein des Richters hinein und klebte den Umschlag zu. „Hier!“

„Wollen Sie nicht erst den anderen Brief lesen?“ fragte Beer.

„Nein! Noch nicht. So schnell nicht. Ich habe doch den ganzen Tag nichts anderes.“

Beer sah ihn überrascht an; dann steckte er den Brief ein. „Gut. Ich werde Sie in ein paar Tagen wieder besuchen.“

„Bestimmt?“

Beer lachte. „Warum denn nicht?“

„Ja, das ist wahr! Jetzt ist ja alles in Ordnung. Wenigstens in der Beziehung. Die nächsten zwölf Tage kann nichts mehr dazwischenkommen. Keine Überraschungen. Das ist eigentlich ganz beruhigend.“

Kern nahm den Brief Ruths in die Hände, als Beer draußen war. So leicht, dachte er, ein bisschen Papier und ein paar Tintenstriche und so viel Glück.

Er legte den Brief auf die Kante seiner Pritsche. Dann machte er seine Übungen. Er boxte Ammers erneut nieder und gab ihm diesmal auch ein paar verbotene kräftige Nierenschläge. „Wir lassen uns mal nicht unterkriegen“, sagte er zu dem Brief hinüber und schickte Ammers mit einem schönen Schwinger gegen den Spitzbart abermals zu Boden. Er ruhte sich aus und unterhielt sich weiter mit dem Brief. Erst nachmittags, als es dämmerig wurde, öffnete er ihn und las die ersten Zeilen. Jede Stunde las er ein Stück weiter. Abends war er bis zur Unterschrift gekommen. Er sah die Sorge Ruths, ihre Angst, ihre Liebe und ihre Tapferkeit, und er sprang auf und schlug aufs neue auf Ammers ein. Dieser Kampf war allerdings nicht sehr sportgerecht… Ammers erhielt Ohrfeigen, Fußtritte, und zum Schluss wurde ihm der weiße Spitzbart ausgerissen.

* * *

Steiner hatte seine Sachen gepackt. Er wollte nach Frankreich. Es war gefährlich in Österreich geworden, und der Anschluss an Deutschland war nur noch eine Frage der Zeit. Außerdem rüstete der Prater und das Unternehmen Direktor Potzlochs zum großen Winterschlaf.

Potzloch schüttelte Steiner die Hand. „Wir fahrenden Leute sind ja gewohnt, dass man sich trennt. Irgendwo trifft man sich immer mal wieder.“

„Bestimmt.“

„Na also!“ Potzloch griff nach seinem Kneifer. „Kommen Sie gut durch den Winter. Ich bin kein Freund von Abschiedsszenen.“

„Ich auch nicht“, erwiderte Steiner.

„Wissen Sie“, Potzloch zwinkerte, „es ist eine reine Gewohnheitssache. Wenn man so viele Leute hat kommen und gehen sehen wie ich… reine Gewohnheitssache zum Schluss. Als wenn man bloß mal von der Schießbude zum Ringelspiel hinübergeht.“

„Ein schönes Bild! Von der Schießbude zum Ringelspiel… und vom Ringelspiel wieder zur Schießbude… sogar ein Bild zum Verlieben!“

Potzloch schmunzelte geschmeichelt. „Unter uns gesprochen, Steiner… wissen Sie, was das Furchtbarste ist auf der Welt? Im Vertrauen gesagt: dass alles zum Schluss Gewohnheitssache wird.“ Er hakte seinen Kneifer auf die Nase. „Sogar die sogenannten Ekstasen!“

„Sogar der Krieg“, sagte Steiner. „Sogar der Schmerz! Sogar der Tod! Ich kenne jemand, dem sind in zehn Jahren vier Frauen gestorben. Jetzt hat er die fünfte. Sie kränkelt schon. Was soll ich Ihnen sagen, er schaut bereits in aller Ruhe nach der sechsten aus. Alles Gewohnheitssache! Nur der eigene Tod nicht.“

Potzloch winkte flüchtig ab. „An den glaubt man ja nie ernstlich, Steiner. Nicht einmal im Krieg; denn sonst gab’s keinen mehr. Jeder glaubt immer, gerade er käme dran vorbei. Stimmt’s?“

Er sah Steiner mit schiefem Kopf an. Steiner nickte amüsiert. Potzloch streckte ihm noch einmal die Hand hin. „Also Servus! Ich muss rasch zur Schießbude hinüber, nachsehen, ob die das Service gut einpacken.“

„Servus! Ich gehe dafür wieder einmal ins Ringelspiel.“

Potzloch grinste und sauste davon.

Steiner ging zum Wagen hinüber. Das trockene Laub knisterte unter seinen Füßen. Die Nacht stand schweigend und unbarmherzig über dem Walde. Von der Schießbude klang Hämmern herüber. Im halb abgebrochenen Karussell schwankten ein paar Lampen.

Steiner ging, sich von Lilo zu verabschieden. Sie blieb in Wien. Ihre Ausweise und ihre Arbeitserlaubnis galten nur für Österreich. Sie wäre auch nicht mitgegangen, wenn sie gekonnt hätte. Steiner und sie waren Kameraden des Schicksals, zusammengeweht vom Wind der Zeit… sie wussten das beide.

Sie stand im Wohnwagen und deckte den Tisch. Als er eintrat, wandte sie sich um. „Es ist Post für dich gekommen“, sagte sie.

Steiner nahm den Brief und sah auf die Marke. „Aus der Schweiz. Sicher von unserem Kleinen.“ Er riss den Umschlag auf und las. „Ruth ist im Krankenhaus“, sagte er dann.

„Was hat sie?“ fragte Lilo.

„Lungenentzündung. Aber anscheinend nicht schwer. Sie sind in Murten. Der Kleine gibt abends Feuerzeichen vor dem Hospital. Vielleicht treffe ich sie noch, wenn ich durch die Schweiz komme.“

Steiner steckte den Brief in seine Brusttasche. „Hoffentlich weiß der Kleine, was er machen muss, damit sie wieder zusammenkommen.“

„Er wird es wissen“, sagte Lilo. „Er hat viel gelernt.“

„Ja, trotzdem…“

Steiner wollte Lilo erklären, dass es schwierig für Kern sei, wenn Ruth aus dem Krankenhaus zur Grenze gebracht würde. Aber dann dachte er daran, dass sie beide sich heute abend zum letztenmal sähen – und dass es besser sei, nicht von zwei Menschen zu sprechen, die beieinander bleiben und sich wiedersehen wollten.

Er ging zum Fenster und sah hinaus. Auf dem mit Karbidlampen erleuchteten Platz packten Arbeiter die Schwäne, die Pferde und Giraffen des Karussells in graue Säcke. Die Tiere lagen und standen auf dem Boden herum, als hätte eine Bombe das paradiesische Zusammenleben plötzlich zerstört. In einer der abmontierten Gondeln saßen zwei Arbeiter und tranken Bier aus Flaschen. Sie hatten ihre Jakken und ihre Mützen über das Geweih eines weißen Hirsches gestülpt, der mit weitgestreckten Beinen, wie erstarrt zu ewigem Aufbruch, an einer Kiste lehnte.

„Komm“, sagte Lilo hinter ihm, „das Essen ist fertig. Ich habe dir Piroggen gemacht.“

Steiner drehte sich um und nahm sie um die Schulter. „Essen“, sagte er. „Piroggen. Für uns unstete Teufel ist zusammen essen schon so etwas wie eine Heimat, wie?“

„Es gibt noch etwas anderes. Aber das weißt du nicht.“ Sie wartete einen Augenblick. „Du weißt es nicht, weil du nicht weinen kannst und nicht verstehst, was das ist… zusammen traurig zu sein.“

„Ja, das kenne ich nicht“, sagte Steiner. „Wir waren nicht oft traurig, Lilo.“

„Nein. Du nicht. Du bist wild oder gleichgültig, oder du lachst oder bist das, was ihr tapfer nennt. Es ist es nicht.“

„Was ist es denn, Lilo?“

„Furcht davor, sich dem Gefühl auszuliefern. Furcht vor Tränen. Furcht davor, kein Mann zu sein. In Russland konnten Männer weinen und doch Männer bleiben und tapfer sein. Du hast dein Herz nie gelöst.“

„Nein“, sagte Steiner. „Worauf wartest du?“

„Ich weiß es nicht. Ich will es auch nicht wissen.“

Lilo betrachtete ihn aufmerksam. „Komm essen“, sagte sie dann. „Ich werde dir Brot und Salz mitgeben wie in Russland und dich segnen, ehe du gehst – du Unruhe ohne Fließen, vielleicht wirst du auch darüber lachen.“

„Nein.“

Sie stellte die Schüssel mit den Piroggen auf den Tisch.

„Setz dich zu mir, Lilo.“

Sie schüttelte den Kopf. „Du isst heute allein. Ich werde dich bedienen und dir geben, was du isst. Es ist deine letzte Mahlzeit.“ Sie blieb stehen und reichte ihm die Piroggen, das Brot, das Fleisch und die Gurken. Sie sah zu, wie er aß, und breitete ihm schweigend den Tee. Sie ging biegsam mit ihren weiten Schritten durch den kleinen Wagen wie ein Panther, der einen zu engen Käfig schon gewohnt ist. Ihre schmalen, bronzenen Hände schnitten ihm das Fleisch, ihr Gesicht hatte einen gesammelten, undeutbaren Ausdruck, und sie erschien Steiner plötzlich wie eine biblische Gestalt.

Er erhob sich und holte seine Sachen. Seinen Rucksack hatte er gegen einen Koffer vertauscht, seit er einen Pass hatte. Er öffnete die Tür des Wagens, ging die Stufen langsam hinunter und stellte den Koffer draußen nieder. Dann ging er wieder zurück.

Lilo stand am Tisch. Sie hatte eine Hand aufgestützt, und ihre Augen spiegelten eine so blinde Leere, als sähen sie nichts und sie wäre schon allein. Steiner ging auf sie zu. „Lilo…“

Sie rührte sich und sah ihn an. Ihre Augen veränderten ihren Ausdruck. „Es ist schwer, fortzugehen“, sagte Steiner.

Sie nickte und legte eine Hand um seinen Nakken. „Ich werde allein sein ohne dich.“

„Wohin wirst du gehen?“

„Du wirst sicher sein in Österreich. Auch wenn es deutsch wird.“

„Ja.“

Sie blickte ihn ernst an. Ihre Augen waren sehr tief und glänzend.

„Schade, Lilo“, murmelte Steiner.

„Ja.“

„Du weißt warum?“

„Ich weiß es, und du weißt es auch von mir.“

Sie sahen sich immer noch an. „Sonderbar“, sagte Steiner, „nur ein Stück Zeit und ein Stück Leben, das zwischen uns steht. Alles andere ist da.“

„Alle Zeit, Steiner“, erwiderte Lilo sanft, „alle Zeit und unser ganzes Leben…“

Er nickte. Lilo legte ihre Hände um sein Gesicht und sprach einige russische Worte. Dann gab sie ihm ein Stück Brot und etwas Salz. „Iss es, wenn du fort bist. Es soll dir Brot ohne Kummer in der Fremde geben. Und nun geh.“

Steiner wollte sie küssen, aber er unterließ es, als er sie ansah. „Geh jetzt!“ sagte sie leise. „Geh!“

Er ging durch den Wald. Nach einiger Zeit blickte er sich um. Die Budenstadt war in der Nacht versunken, und es war nichts mehr da als die ungeheure, saugende Dunkelheit mit dem Lichtviereck einer fernen, offenen Tür und eine kleine Gestalt, die nicht winkte.

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