Книга: Liebe deinen Nächsten / Возлюби ближнего своего. Книга для чтения на немецком языке
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Kern wurde nach vierzehn Tagen dem Bezirksgericht wieder vorgeführt. Der dicke Mann mit dem Apfelgesicht blickte ihn bekümmert an. „Ich muss Ihnen etwas Unangenehmes mitteilen, Herr Kern…“

Kern richtete sich gerade auf. Vier Wochen, dachte er, hoffentlich nicht mehr als vier Wochen! So lange kann Beer Ruth zur Not noch im Krankenhaus behalten.

„Der Rekurs für Sie ist vom Obergericht verworfen worden. Sie waren zu lange in der Schweiz. Der Begriff eines Notstandes war nicht mehr gerechtfertigt. Außerdem war da die Sache mit dem Gendarmen. Sie sind zu vierzehn Tagen Gefängnis verurteilt worden.“

„Zu vierzehn Tagen mehr?“

„Nein. Nur vierzehn Tage. Die Untersuchungshaft wird darauf angerechnet.“

Kern tat einen tiefen Atemzug. „Danach käme ich also heute heraus?“

„Ja. Sie haben in Ihrer Erinnerung lediglich statt in Haft im Gefängnis gesessen. Schlimm ist nur, dass Sie jetzt als vorbestraft gelten.“

„Das werde ich aushalten.“

Der Richter sah ihn an. „Es wäre besser, Sie hätten nichts im Strafregister. Aber es war nicht zu machen.“

„Werde ich heute abgeschoben?“ fragte Kern.

„Ja. Über Basel.“

„Über Basel? Nach Deutschland?“ Kern blickte sich blitzschnell um. Er war bereit, sofort aus dem Fenster zu springen und zu flüchten. Er hatte einige Male davon gehört, dass man Emigranten nach Deutschland abgeschoben hatte. Aber es waren meistens Flüchtlinge gewesen, die gerade aus Deutschland gekommen waren.

Das Fenster war offen, und der Gerichtsraum lag zu ebener Erde. Draußen schien die Sonne. Draußen wiegte der Apfelbaum seine Zweige, und dahinter war eine Hecke, die man überspringen konnte, und dahinter war die Freiheit.

Der Richter schüttelte den Kopf. „Sie werden nach Frankreich gebracht. Nicht nach Deutschland. Basel ist unsere deutsche und unsere französische Grenze.“

„Kann ich denn nicht in Genf über die Grenze geschoben werden?“

„Nein, das geht leider nicht. Basel ist der nächste Platz. Wir haben unsere Anweisungen dafür. Genf ist viel weiter.“

Kern schwieg einen Moment. „Es ist bestimmt, dass ich nach Frankreich abgeschoben werde?“ fragte er dann.

„Ganz bestimmt.“

„Wird niemand, der hier ohne Papiere gefasst wird, nach Deutschland abgeschoben?“

„Niemand, soviel ich weiß. Das kann höchstens in den Grenzstädten einmal passieren. Aber ich habe auch davon kaum etwas gehört.“

„Eine Frau würde doch bestimmt nicht nach Deutschland zurückgeschickt werden?“

„Sicher nicht. Ich würde es jedenfalls niemals tun. Warum wollen Sie das wissen?“

„Es hat keinen besonderen Grund. Ich habe nur unterwegs auch manchmal Frauen ohne Papiere gesehen. Für die war alles noch viel schwerer. Deshalb fragte ich.“

Der Richter nahm ein Schreiben aus den Akten und zeigte es Kern. „Hier ist Ihr Ausweisungsbefehl. Glauben Sie nun, dass Sie nach Frankreich gebracht werden?“ – „Ja.“

Der Richter legte das Papier in den Aktendeckel zurück. „Ihr Zug geht in zwei Stunden.“

„Es ist völlig unmöglich, nach Genf gebracht zu werden?“

„Völlig. Die Flüchtlinge kosten uns eine Menge Eisenbahnfahrten. Es besteht eine strikte Anweisung, sie zur nächsten Grenze zu bringen. Ich kann Ihnen da wirklich nicht helfen.“

„Wenn ich die Reise selbst bezahlen würde, könnte ich dann nach Genf gebracht werden?“

„Ja, das wäre möglich. Wollen Sie denn das?“

„Nein, dazu habe ich nicht genug Geld. Es war nur so eine Frage.“

„Fragen Sie nicht zuviel“, sagte der Richter. „Eigentlich müsste Sie auch die Fahrt nach Basel schon bezahlen, wenn Sie Geld bei sich hätten. Ich habe davon abgesehen, das zu inquirieren.“ Er stand auf. „Leben Sie wohl! Ich wünsche Ihnen alles Gute! Und hoffentlich wird alles bald anders!“

„Ja, vielleicht! Ohne das könnten wir uns ja sofort aufhängen.“

* * *

Kern hatte keine Gelegenheit mehr, Ruth Nachricht zu geben. Beer war am Tage vorher dagewesen und hatte ihm erklärt, sie müsse noch ungefähr eine Woche im Hospital bleiben. Er beschloss, ihm sofort von der französischen Grenze aus zu schreiben. Er wusste jetzt das Wichtigste – dass Ruth auf keinen Fall nach Deutschland abgeschoben wurde und dass sie, wenn sie Reisegeld hatte, nach Genf gebracht werden konnte.

Pünktlich nach zwei Stunden holte ihn ein Detektiv in Zivil ab. Sie gingen zum Bahnhof. Kern trug seinen Koffer. Beer hatte ihn am Tage vorher aus dem Schafstall geholt und ihm gebracht.

Sie kamen an einem Gasthof vorbei. Die Fenster der Wirtsstube, die zu ebener Erde lag, standen weit offen. Eine Zitherkapelle spielte einen Ländler, und ein Männerchor sang dazu. Neben dem Fenster standen zwei Sänger in Älplertracht und jodelten. Sie wiegten sich dabei hin und her, einer den Arm um die Schulter des andern.

Der Detektiv blieb stehen. Einer der Jodler brach ab. Es war der Tenor. „Wo bleibst du denn so lange, Max?“ fragte er. „Alle warten schon.“

„Dienst!“ erwiderte der Detektiv.

Der Jodler streifte Kern mit einem Blick. „So ein Mist!“ brummte er mit plötzlich tiefer Stimme. „Dann ist unser Quartett heute abend geschmissen.“

„Ausgeschlossen. Ich bin in zwanzig Minuten zurück.“

„Bestimmt?“

„Bestimmt!“

„Gut! Wir müssen den neuen Doppeljodler heute unbedingt hinkriegen. Erkälte dich nicht!“

„Nein, nein!“

Sie gingen weiter. „Fahren Sie denn nicht mit zur Grenze?“ fragte Kern nach einiger Zeit.

„Nein. Wir haben ein neues Patent für euch.“

Sie kamen zum Bahnhof. Der Detektiv suchte den Zugführer. „Hier ist er“, erklärte er und zeigte auf Kern. Dann übergab er dem Zugführer den Ausweisungsbefehl. „Gute Reise, mein Herr“, sagte er auf einmal sehr höflich und stapfte von dannen.

„Kommen Sie mit!“

Der Zugführer brachte Kern zu dem Bremserhäuschen eines Güterwagens. „Steigen Sie hier ein.“

Die kleine Kabine enthielt nichts als einen hölzernen Sitz. Kern schob seinen Koffer darunter auf den Boden. Der Zugführer schloss die Tür von außen ab. „So! In Basel werden Sie ’rausgelassen.“

Er ging weiter, den schwach beleuchteten Bahnsteig entlang. Kern schaute aus dem Fenster der Kabine. Er probierte vorsichtig, ob er sich hindurchzwängen könne. Es ging nicht; das Fenster war schmal.

Ein paar Minuten später fuhr der Zug an. Die hellen Wartesäle glitten vorüber mit leeren Tischen und dem leeren, sinnlosen Licht. Der Stationsvorsteher mit der roten Mütze blieb im Dunkel zurück. Ein paar geduckte Straßen schwangen vorüber, eine Bahnschranke mit wartenden Automobilen, ein kleines Café, in dem ein paar Leute Karten spielten – dann war die Stadt verschwunden.

Kern setzte sich auf das hölzerne Brett. Er stellte seine Füße auf den Koffer. Er presste sie fest dagegen und sah aus dem Fenster. Die Nacht draußen war dunkel und unbekannt und windig, und er fühlte sich plötzlich sehr elend.

In Basel wurde er von einem Polizisten abgeholt und zur Zollwache gebracht. Man gab ihm zu essen. Dann fuhr er mit einem Beamten mit der Straßenbahn nach Burgfelden. Sie kamen im Dunkel an einem jüdischen Friedhof vorbei. Dann passierten sie eine Ziegelei und bogen von der Chaussee ab. Nach einiger Zeit blieb der Beamte stehen. „Hier weiter – immer geradeaus.“

Kern ging weiter. Er wusste ungefähr, wo er war, und hielt sich in der Richtung auf St. Louis. Er versteckte sich nicht; es war ihm gleich, ob man ihn sofort fasste.

Er verfehlte die Richtung. Erst gegen Morgen kam er in St. Louis an. Er meldete sich sofort bei der französischen Polizei und erklärte, nachts von Basel herübergeschoben worden zu sein. Er musste vermeiden, dass man ihn ins Gefängnis steckte. Das konnte er nur, wenn er sich stets am selben Tage bei der Polizei oder beim Zoll meldete. Dann war er nicht strafbar, und man konnte ihn nur zurückschicken.

Die Polizei behielt ihn tagsüber in Haft. Abends schickte sie ihn zum Grenzzollamt.

Es waren zwei Zollbeamte da. Einer saß an einem Tisch und schrieb. Der andere hockte auf einer Bank neben dem Ofen. Er rauchte Zigaretten aus schwerem algerischem Tabak und musterte Kern von Zeit zu Zeit.

„Was haben Sie in Ihrem Koffer?“ fragte er nach einer Weile.

„Ein paar Sachen, die mir gehören.“

„Machen Sie ihn mal auf.“

Kern öffnete den Deckel. Der Zöllner stand auf und kam faul heran. Dann beugte er sich interessiert über den Koffer. „Toilettewasser, Seife, Parfüm! Sieh an – haben Sie das alles aus der Schweiz mitgebracht?“

„Sie wollen doch nicht sagen, dass Sie das alles selbst gebrauchen – für ihren persönlichen Bedarf?“

„Nein. Ich habe damit gehandelt.“

„Dann müssen Sie es verzollen!“ erklärte der Beamte. „Packen Sie es aus! Diesen Kram da“, er zeigte auf die Nadeln, Schnürsenkel und die andern kleinen Sachen, „will ich Ihnen erlassen.“

Kern glaubte, er träume. „Verzollen?“ frage er. „Ich soll etwas verzollen?“

„Selbstverständlich! Sie sind doch kein diplomatischer Kurier, was? Oder dachten Sie, ich wollte die Flaschen kaufen? Sie haben Zollgut nach Frankreich gebracht. Los, ’raus damit jetzt!“

Der Beamte griff nach einem Zolltarif und rückte eine Waage heran.

„Ich habe kein Geld“, sagte Kern.

„Kein Geld?“ Der Beamte steckte die Hände in die Hosentaschen und wiegte sich in den Knien. „Gut, dann werden die Sachen eben beschlagnahmt. Geben Sie sie her.“

Kern blieb auf dem Boden hocken und hielt seinen Koffer fest. „Ich habe mich hier gemeldet, um zurück in die Schweiz zu gehen. Ich brauche nichts zu verzollen.“

„Sieh mal an! Sie wollen mich wohl noch belehren, was?“

„Lass den Jungen doch in Ruhe, François!“ sagte der Zöllner, der am Tisch saß und schrieb.

„Ich denke gar reicht daran! Ein Boche, der alles besser weiß, wie die ganze Bande drüben! Los, ’raus mit den Falschen!“

„Ich bin kein Boche!“ sagte Kern.

In diesem Augenblick trat ein dritter Beamter ein. Kern sah, dass er einen höheren Rang hatte als die beiden andern. „Was gibt’s hier?“ fragte er kurz.

Der Zöllner erklärte, was los war. Der Inspektor betrachtete Kern. „Haben Sie sich sofort bei der Polizei gemeldet?“ fragte er.

„Ja.“

„Und Sie wollen zurück in die Schweiz?“

„Ja. Deshalb bin ich ja hier.“

Der Inspektor dachte einen Augenblick nach. „Dann kann er nichts dafür“, entschied er. „Er ist kein Schmuggler. Er ist selbst geschmuggelt worden.

Schickt ihn zurück und damit basta.“

Er verließ den Raum. „Siehst du, François“, sagte der Zöllner, der am Tisch saß. „Wozu regst du dich immer so auf? Es schadet nur deiner Galle.“

François erwiderte nichts. Er starrte Kern ängstlich an. Kern starrte zurück. Es fiel ihm plötzlich ein, dass er französisch gesprochen hatte und Franzosen verstanden hatte, und er segnete im geheimen den russischen Professor aus dem Gefängnis in Wien.

Am nächsten Morgen war er wieder in Basel. Er änderte jetzt seine Taktik. Er ging nicht sofort morgens wieder zur Polizei. Es konnte ihm nicht viel passieren, wenn er tagsüber in Basel blieb und sich erst abends meldete. Für Basel aber hatte er die Adressenliste Binders. Es war zwar der von Emigranten überlaufenste Platz der Schweiz, aber er beschloss trotzdem, zu versuchen, etwas zu verdienen.

Er fing mit den Pastoren an. Es war ziemlich sicher, dass sie ihn nicht denunzierten. Beim ersten wurde er sofort hinausgeworfen; beim zweiten erhielt er ein Butterbrot; beim dritten fünf Franken. Er arbeitete weiter und hatte Glück – bis mittags hatte er siebzehn Franken verdient. Er versuchte vor allem sein letztes Parfüm und sein Toilettewasser loszuwerden, für den Fall, dass er François noch einmal begegnen würde. Das war schwer bei den Pastoren – aber es gelang bei den andern Adressen. Nachmittags hatte er achtundzwanzig Franken verdient. Er ging in die katholische Kirche. Sie war offen, und sie war der sicherste Platz, sich auszuruhen. Er hatte zwei Nächte nicht geschlafen.

Die Kirche war halbdunkel und leer. Sie roch nach Weihrauch und Kerzen. Kern setzte sich in eine Bank und schrieb einen Brief an Doktor Beer. Er legte einen Brief für Ruth und Geld für sie hinein. Dann klebte er ihn zu und steckte ihn in die Tasche. Er fühlte sich sehr müde. Langsam rutschte er auf die Kniebank und legte den Kopf auf das Betpult. Er wollte nur einen Augenblick ausruhen; aber er schlief ein.

Als er erwachte, wusste er überhaupt nicht, wo er war. Er blinzelte in den matten, roten Schein des Ewigen Lichtes und fand sich allmählich zurecht. Als er Schritte hörte, wurde er sofort völlig wach.

Ein Geistlicher in schwarzer Priestertracht kam langsam den Mittelgang herunter. Er blieb bei Kern stehen und sah ihn an. Kern faltete zur Vorsicht die Hände.

„Ich wollte Sie nicht stören“, sagte der Geistliche.

„Ich wollte gerade gehen“, erwiderte Kern.

„Ich sah Sie von der Sakristei aus. Sie sind schon zwei Stunden hier. Haben Sie für etwas Besonderes gebetet?“

„O ja“, sagte Kern, etwas überrascht, aber schnell gefasst.

„Sie sind nicht von hier?“ Der Geistliche blickte auf Kerns Koffer.

„Nein.“ Kern sah ihn an. Der Priester machte einen vertrauenerweckenden Eindruck. „Ich bin Emigrant. Ich muss heute nacht über die Grenze. In dem Koffer dort habe ich Sachen, die ich verkaufe.“

Er hatte nachmittags noch eine Flasche Toilettewasser übrigbehalten und fasste plötzlich die irrsinnige Idee, sie dem Geistlichen in der Kirche zu verkaufen. Es war unwahrscheinlich; aber er war an unwahrscheinliche Dinge gewöhnt. „Toilettewasser“, sagte er. „Sehr gutes. Und sehr billig. Ich verkaufe es gerade aus.“

Er wollte seinen Koffer öffnen.

Der Priester wehrte ab. „Lassen Sie nur. Ich glaube Ihnen. Wir wollen die Wechsler im Tempel nicht nachahmen. Ich freue mich, dass Sie so lange gebetet haben. Kommen Sie mit in die Sakristei. Wir haben einen kleinen Fond für bedürftige Gläubige.

Kern bekam zehn Franken. Er war etwas beschämt, aber nicht lange. Es war ein Stück französische Eisenbahn für ihn und Ruth. Die Pechsträhne scheint zu Ende zu sein, dachte er. Er ging in die Kirche zurück und betete nun tatsächlich. Er wusste nicht genau zu wem – er selbst war protestantisch, sein Vater war Jude, und er kniete in einer katholischen Kirche – aber er fand, dass in Zeiten wie diesen wahrscheinlich auch im Himmel ein ziemliches Durcheinander sein musste, und er nahm an, dass sein Gebet schon den richtigen Weg finden würde.

Abends fuhr er mit der Eisenbahn nach Genf. Er hatte plötzlich das Gefühl, Ruth könne schon früher aus dem Hospital entlassen werden. Er kam morgens an, deponierte seinen Koffer am Bahnhof und ging zur Polizei. Dem Beamten erklärte er, gerade aus Frankreich herübergeschoben worden zu sein. Da er seinen Ausweisungsbefehl aus der Schweiz bei sich hatte, der nur ein paar Tage alt war, glaubte man ihm; man behielt ihn tagsüber da und schob ihn nachts in der Richtung Cologny über die Grenze.

Er meldete sich sofort beim französischen Zollamt. „Gehen Sie ’rein“, sagte ein schläfriger Beamter. „Es ist schon jemand anders da. Wir schicken euch gegen vier Uhr zurück.“

Kern ging in die Zollbude. „Vogt!“ sagte er erstaunt. „Wie kommen Sie denn hierher?“

Vogt hob die Schultern. „Ich belagere wieder einmal die Schweizer Grenze.“

„Seit damals? Seit Sie zum Bahnhof in Luzern gebracht wurden?“

„Seit damals.“

Vogt sah schlecht aus. Er war mager, und seine Haut war wie graues Papier. „Ich habe Pech“, sagte er. „Es gelingt mir nicht, ins Gefängnis zu kommen. Dabei sind die Nächte schon so kalt, dass ich sie nicht mehr vertrage.“

Kern setzte sich zu ihm. „Ich war im Gefängnis“, sagte er. „Und ich bin froh, dass ich wieder draußen bin. So ist das Leben!“

Ein Gendarm brachte ihnen etwas Brot und Rotwein. Sie aßen und schliefen sofort auf der Bank ein. Um vier Uhr morgens wurden sie geweckt und zur Grenze gebracht. Es war noch völlig dunkel. Die bereiften Felder schimmerten bleich am Wegrande.

Vogt zitterte vor Kälte. Kern zog seinen Sweater aus. „Hier, ziehen Sie das an. Mir ist nicht kalt.“

„Wirklich nicht?“

„Nein.“

„Sie sind jung“, sagte Vogt, „das ist es.“ Er streifte den Sweater über. „Nur für die paar Stunden, bis die Sonne kommt.“

Kurz vor Genf verabschiedeten sie sich. Vogt wollte versuchen, über Lausanne tiefer in die Schweiz zu kommen. Solange er in der Nähe der Grenze war, schickte man ihn einfach zurück, und er konnte nicht auf ein Gefängnis rechnen.

„Behalten Sie den Sweater“, sagte Kern.

„Ausgeschlossen! Das ist doch ein Kapital!“

„Ich habe noch einen. Geschenk eines Gefängnisgeistlichen in Wien. In der Gepäckaufbewahrung in Genf.“

„Ist das wahr?“

„Natürlich. Es ist ein blauer Sweater mit einem roten Rand. Glauben Sie es nun?“

Vogt lächelte. Er zog ein schmales Buch aus der Tasche. „Nehmen Sie das dafür.“

Es waren die Gedichte Hölderlins. „Das können Sie doch noch viel weniger entbehren“, sagte Kern.

„Doch. Ich kann die meisten auswendig.“

Kern ging nach Genf hinein. Er schlief zwei Stunden in der Kirche und stand um zwölf Uhr an der Hauptpost. Er wusste, dass Ruth noch nicht kommen konnte, aber er wartete trotzdem bis zwei Uhr. Dann zog er die Adressenliste Binders zu Rate. Er hatte wieder Glück. Bis abends hatte er siebzehn Franken verdient, und damit ging er zur Polizei.

Es war Sonnabend. Die Nacht war unruhig. Schon um elf Uhr wurden zwei völlig Betrunkene eingeliefert. Sie kotzten das Lokal an und begannen dann zu singen. Gegen ein Uhr waren sie zu fünft. Um zwei Uhr brachte man Vogt.

„Es ist wie verhext“, sagte er melancholisch. „Immerhin, wir sind wenigstens zu zweit.“

Eine Stunde später wurden sie abgeholt. Die Nacht war kalt. Die Sterne flimmerten und waren sehr fern. Der halbe Mond war klar wie geschmolzenes Metall.

Der Gendarm blieb stehen. „Sie biegen hier rechts ab, dann…“

„Ich weiß“, unterbrach Kern ihn. „Ich kenne den Weg.“

„Dann alles Gute.“

Sie gingen weiter, über den schmalen Streifen Niemandsland zwischen Grenze und Grenze.

Wider Erwarten schickte man sie nicht in derselben Nacht zurück. Man brachte sie auf die Präfektur und nahm ein Protokoll mit ihnen auf. Dann gab man ihnen zu essen. In der folgenden Nacht schob man sie wieder ab.

Es war windig und trübe geworden. Vogt war sehr müde. Er sprach kaum und machte einen fast verzweifelten Eindruck. Als sie ein Stück weit über die Grenze waren, rasteten sie in einem Heustadel. Vogt schlief bis zum Morgen wie ein Toter.

Er wachte auf, als die Sonne aufging. Er rührte sich nicht; er öffnete nur die Augen. Es hatte etwas sonderbar Erschütterndes für Kern, diese schmale regungslose Gestalt unter dem dünnen Mantel, dieses bisschen Mensch mit den groß geöffneten, stillen Augen zu sehen.

Sie lagen auf einem sanft abfallenden Hang, von dem man einen Blick auf die morgendliche Stadt und auf den See hatte. Der Rauch der Schornsteine stieg von den Häusern in die frische Luft und erweckte das Gefühl von Wärme, Geborgenheit, Frühstück und Betten. Der See blinkte in einer weichen Unruhe herauf. Vogt betrachtete schweigend, wie die leichten, wehenden Nebel von der Sonne eingeatmet wurden und verschwanden, und wie das weiße Massiv des Montblanc langsam hinter den Wolkenfetzen hervortrat und zu schimmern begann wie die hellen Mauern eines hochgebauten, himmlischen Jerusalem.

Gegen neun Uhr brachen sie auf. Sie kamen nach Genf und nahmen den Weg am See entlang. Nach einiger Zeit blieb Vogt stehen. „Sehen Sie sich das einmal an!“ sagte er.

„Was?“

Vogt zeigte auf ein palastartiges Gebäude, das in einem großen Park lag. Das mächtige Haus leuchtete in der Sonne wie ein Schloss der Sicherheit und des wohlgefügten Lebens. Der herrliche Park funkelte im Gold und Rot des Herbstlaubes. Lange Reihen von Automobilen standen gestaffelt in dem breit angelegten Einfahrtshof, und Scharen vergnügter Menschen gingen aus und ein.

„Wunderbar“, sagte Kern. „Sieht aus, als ob der Kaiser der Schweiz hier wohnte.“

„Wissen Sie nicht, was das ist?“

Kern schüttelte den Kopf.

„Das ist der Palast des Völkerbundes“, sagte Vogt mit einer Stimme voller Trauer und Ironie.

Kern sah ihn überrascht an.

Vogt nickte. „Das ist der Platz, wo seit Jahren über unser Schicksal beraten wird. Ob man uns Ausweispapiere geben und uns wieder zu Menschen machen soll oder nicht.“

Ein offener Cadillac löste sich aus der Reihe der Automobile und glitt der Ausfahrt zu. Eine Anzahl eleganter, jüngerer Leute saß darin, darunter ein sehr schönes Mädchen in einem Nerzmantel. Sie lachten und winkten einem zweiten Wagen zu und verabredeten ein Frühstück am See.

„Ja“, sagte Vogt nach einer Weile. „Verstehen Sie nun, weshalb es so lange dauert?“ – „Ja“, erwiderte Kern.

„Hoffnungslos, was?“

Kern hob die Schultern. „Ich glaube nicht, dass die es sehr eilig haben.“ Ein Pförtner kam heran und musterte Kern und Vogt misstrauisch. „Suchen Sie jemand?“

Kern schüttelte den Kopf.

„Was möchten Sie denn?“ fragte der Pförtner.

Vogt sah Kern an. In seinen Augen blinkte ein müder Funken Spott auf. „Nichts“, sagte er dann zu dem Pförtner. “Wir sind nur Touristen. Einfache Wanderer auf Gottes Erde.“

„Dann ist es wohl besser, Sie gehen weiter“, sagte der Pförtner, dem Gedanken an verrückte Anarchisten durch den Kopf schossen.

„Ja“, sagte Vogt. „Das ist wohl besser.“

In der Rue de Montblanc sahen sie sich die Auslagen der Geschäfte an. Vor einem Juwelierladen blieb Vogt stehen. „Ich will mich hier verabschieden.“

„Wohin wollen Sie diesmal?“ fragte Kern.

„Nicht mehr weit. Ich gehe in dieses Geschäft.“

Kern blickte verständnislos durch die Scheibe der Auslage, in der auf grauem Samt Brillanten, Rubine und Smaragden ausgestellt waren.

„Ich glaube, Sie werden kein Glück haben“, sagte er. „Juweliere sind bekannt hartherzig. Vielleicht, weil sie dauernd mit Steinen umgehen. Sie geben nie etwas.“

„Ich will nichts haben. Ich will nur etwas stehlen.“

„Was?“ Kern sah Vogt zweifelnd an. „Meinen Sie das im Ernst? Damit werden Sie nicht weit kommen, so wie Sie jetzt sind.“

„Das will ich auch nicht. Deshalb tue ich es ja.“

„Das verstehe ich nicht“, sagte Kern.

„Sie werden es gleich verstehen. Ich habe es mir genau überlegt. Es ist die einzige Möglichkeit für mich, über den Winter zu kommen. Ich bekomme mindestens ein paar Monate dafür. Ich habe keine Wahl mehr. Ich bin ziemlich kaputt. Noch ein paar Wochen Grenze geben mir den Rest. Ich muss es tun.“

„Aber…“, begann Kern.

„Ich weiß alles, was Sie sagen wollen.“ Vogts Gesicht fiel plötzlich zusammen, als wären die Fäden gerissen, die es gehalten hatten. „Ich kann nicht mehr…“, murmelte er. „Leben Sie wohl.“

Kern sah, dass es vergeblich war, noch etwas zu sagen. Er drückte die schwache Hand Vogts. „Hoffentlich erholen Sie sich bald.“

„Ja, hoffentlich. Das Gefängnis hier ist ganz gut.“ Vogt wartete, bis Kern ein Stück weitergegangen war. Dann betrat er das Geschäft. Kern blieb an der Straßenecke stehen und beobachtete den Eingang, indem er tat, als warte er auf die elektrische Bahn. Nach kurzer Zeit sah er einen jungen Mann aus dem Geschäft stürzen und bald darauf mit einem Polizisten zurückkehren. Hoffentlich hat er nun Ruhe, dachte er und ging weiter.

* * *

Steiner fand kurz hinter Wien ein Auto, das ihn bis zur Grenze mitnahm. Er wollte nicht riskieren, seinen Pass österreichischen Zollbeamten vorzuzeigen – deshalb stieg er ein Stück vor der Grenze aus und ging den Rest des Weges zu Fuß. Gegen zehn Uhr abends meldete er sich am Zollamt. Er erklärte, gerade aus der Schweiz herübergeschoben worden zu sein.

„Schön“, sagte ein alter Zollbeamter mit einem Kaiser-Franz-Joseph-Bart. „Das kennen wir. Morgen früh schicken wir Sie zurück. Setzen Sie sich nur irgendwohin.“

Steiner setzte sich draußen vor die Zollbude und rauchte. Es war sehr ruhig. Der Beamte, der gerade Dienst hatte, döste vor sich hin. Nur ab und zu fuhr ein Auto durch. Ungefähr eine Stunde später kam der Beamte mit dem Kaiserbart heraus. „Sagen Sie“, fragte er Steiner: „Sind Sie Österreicher?“.

Steiner war sofort in Alarm. Er hatte seinen Pass in seinen Hut eingenäht. Wie kommen Sie darauf“, sagte er ruhig. „Wenn ich Österreicher wäre, wäre ich doch kein Emigrant.“

Der Beamte schlug sich vor die Stirn, dass sein silberner Bart wackelte. „Richtig! Richtig! Was man so manchmal alles vergisst! Ich fragte Sie nur, weil ich dachte, wenn Sie Österreicher wären, könnten Sie vielleicht Tarock spielen.“

„Tarock spielen kann ich. Das habe ich als Kind schon gelernt, im Krieg. Ich war eine Zeitlang in einer österreichischen Division.“

„Großartig! Großartig!“ Der Kaiser Franz Joseph klopfte Steiner auf die Schulter. „Da sind Sie ja fast ein Landsmann. Wie ist es denn? Spielen wir eine Partie? Es passt gerade mit der Zahl.“

„Natürlich.“

Sie gingen hinein. Eine Stunde später hatte Steiner sieben Schilling gewonnen. Er spielte nicht nach den Methoden des Falschspielers Fred – er spielte ehrlich. Aber er spielte viel besser als die Zollbeamten, so dass er gewinnen musste, wenn sein Blatt nur einigermaßen gut war.

Um elf Uhr aßen sie zusammen zu Abend. Die Zollbeamten erklärten, es sei ihr Frühstück; ihr Dienst gehe bis morgens acht Uhr. Das Frühstück war kräftig und gut. Dann spielten sie weiter.

Steiner bekam ein sehr gutes Blatt. Der österreichische Zoll spielte mit dem Mute der Verzweiflung gegen ihn. Sie kämpften, aber sie waren fair. Um drei Uhr duzten sie sich. Und um vier Uhr waren sie völlig familiär; die Bezeichnungen Schweinehund, Mistvieh und Arschloch galten nicht mehr als Beleidigungen, sondern als spontane Ausdrücke des Erstaunens, der Bewunderung und der Zuneigung.

Um fünf Uhr kam der Zöllner vom Dienst herein. „Kinder, es ist die höchste Zeit, Josef über die Grenze zu bringen.“

Es entstand ein allgemeines Schweigen. Aller Augen richteten sich auf das Geld, das vor Steiner lag. Schließlich machte der Kaiser Franz Joseph eine Bewegung. „Gewonnen ist gewonnen“, sagte er resigniert. „Er hat uns ausgemistet. Nun zieht er davon wie eine Herbstschwalbe, dieser Galgenstrick!“

„Ich hatte gute Karten“, erwiderte Steiner. „Verdammt gute Karten.“

„Das ist es ja gerade“, sagte Kaiser Franz Joseph melancholisch. „Du hast gute Karten gehabt. Morgen hätten wir vielleicht gute Karten. Dann bist du aber nicht mehr da. Darin liegt irgendeine Ungerechtigkeit.“

„Das stimmt. Aber wo gibt es schon Gerechtigkeit, Brüder?“

„Die Gerechtigkeit beim Kartenspielen liegt darin, dass der Gewinner Revanche geben muss. Wenn er dann wieder gewinnt, kannst du nichts machen. Aber so…“ Kaiser Franz Joseph hob die Hände und hielt sie flach in die Luft. „Es hat was Unbefriedigendes so…“

„Aber Kinder“, sagte Steiner. „Wenn es das allein ist! Ihr schiebt mich über die Grenze, morgen abend schieben die Schweizer mich zurück – und ich gebe euch Revanche!“

Kaiser Franz Joseph klappte seine ausgestreckten Hände zusammen. Es schallte nur so durch den Raum. „Das war es!“ stöhnte er erlöst. „Wir selbst konnten es dir nicht vorschlagen, verstehst du? Weil wir ja eine Behörde sind. Wir dürfen dich nicht verleiten, die Grenze wieder zu überschreiten. Wenn du von selbst kommst, das ist was andres!“

„Ich komme“, sagte Steiner. „Ihr könnt euch drauf verlassen.“

Er meldete sich beim Schweizer Grenzposten und erklärte, nachts wieder nach Österreich zurückzuwollen. Man schickte ihn nicht zur Polizei, sondern behielt ihn da. Es war Sonntag. Gleich neben der Zollwache war ein kleines Wirtshaus. Nachmittags war viel zu tun; aber abends nach acht Uhr wurde es still.

Ein paar Zollbeamte, die Urlaub hatten, hockten in der Wirtsstube herum. Sie hatten ihre Kameraden besucht und begannen, nun Jass zu spielen. Ehe Steiner sich dessen versah, war er dabei.

Die Schweizer waren wunderbare Spieler. Sie hatten eine eiserne Ruhe und enormes Glück. Um zehn Uhr hatten sie Steiner bereits acht Franken abgenommen; gegen Mitternacht holte er fünf auf. Aber um zwei Uhr nachts, als das Restaurant geschlossen wurde, hatte er dreizehn Franken verloren.

Die Schweizer traktierten ihn mit ein paar großen Gläsern Kirschwasser. Er konnte sie brauchen; denn die Nacht war sehr frisch, und er musste den Rhein durchwaten.

Auf der andern Seite gewahrte er vor dem Himmel eine dunkle Gestalt. Es war der Kaiser Franz Joseph. Der Mond stand hinter seinem Kopf wie ein Heiligenschein.

Steiner trocknete sich ab. Ihm klapperten die Zähne. Er trank den Rest des Kirschwassers aus, das ihm die Schweizer gegeben hatten, und zog sich an. Dann ging er auf die einsame Gestalt zu.

„Wo bleibst du nur?“ begrüßte ihn Franz Joseph.

„Ich warte schon seit eins auf dich. Wir dachten, du könntest dich verirren, deshalb stehe ich hier!“

Steiner lachte. „Die Schweizer haben mich aufgehalten.“

„Na, dann komm rasch! Wir haben ja nur noch zweieinhalb Stunden.“

Die Schlacht begann sofort. Um fünf Uhr war sie noch unentschieden; die Österreicher hatten gerade gute Karten bekommen. Der Kaiser Franz Joseph warf sein Blatt auf den Tisch. „So eine Gemeinheit. Gerade jetzt!“

Er zog seinen Mantel an und schnallte sein Koppel um. „Komm, Sepp! Es hilft nichts. Dienst ist Dienst! Wir müssen dich abschieben!“

Steiner und er gingen der Grenze zu. Franz Joseph paffte eine würzige Virginia. „Weißt du“, sagte er nach einer Weile, „ich habe das Gefühl, die Schweizer passen heute nacht besonders scharf auf. Sie warten, dass du wieder ’rüberkommst, glaubst du nicht?“

„Leicht möglich“, erwiderte Steiner.

„Es könnte sein, dass es vernünftig wäre, dich erst morgen nacht zu schicken. Dann glauben sie, dass du bei uns durchgekommen bist, und passen nicht mehr so auf.“

„Das ist klar.“

Franz Joseph blieb stehen. „Siehst du da hinten? Da hat was geblitzt! Das war eine Taschenlampe. Da, jetzt drüben auch! Hast du gesehen?“

„Ganz deutlich!“ Steiner grinste. Er hatte nichts gesehen. Aber er wusste, was der alte Zollbeamte wollte.

Franz Joseph kratzte seinen silbernen Bart. Dann blinzelte er Steiner schlau zu. „Du kommst nicht durch, das ist klar, meinst du nicht auch? Wir müssen zurück, Sepp! Es tut mir leid, aber die ganze Grenze ist schwer besetzt. Wir können gar nichts anderes machen, als bis morgen warten. Ich werde eine Meldung machen!“

„Gut.“

Sie spielten bis acht Uhr morgens. Steiner verlor siebzehn Schilling, aber er hatte noch zweiundzwanzig im voraus. Franz Joseph schrieb seine Meldung und übergab Steiner dann den ablösenden Zöllnern.

Die Tageszöllner waren dienstlich und sehr förmlich. Sie sperrten Steiner in die Polizeiwache. Er schlief dort den ganzen Tag. Punkt acht Uhr erschien Kaiser Franz Joseph, um ihn im Triumph zur Zollbude zurückzuholen.

Es wurde kurz, aber kräftig gegessen – dann begann der Kampf. Alle zwei Stunden wurde einer der Zöllner ausgewechselt gegen den, der dann vom Dienst zurückkam. Steiner blieb bis morgens um fünf Uhr am Tisch sitzen. Um zwölf Uhr fünfzehn verbrannte Kaiser Franz Joseph in der Aufregung die obere Krause seines Bartes. Er hatte gedacht, es wäre eine Zigarette in seinem Mund, und hatte versucht, sie anzuzünden. Es war eine Sinnestäuschung, weil er eine Stunde lang nur Pik und Kreuz bekommen hatte. Er sah schwarz, wo gar nichts war.

Steiner schlachtete den Zoll ab. Er weidete ihn aus, besonders zwischen drei und fünf Uhr. Franz Joseph holte in seiner Verzweiflung Verstärkung heran. Er telefonierte dem Tarockchampion von Buchs, der mit seinem Motorrad angebraust kam. Es nützte nichts; Steiner nahm auch ihn aus. Zum erstenmal, seit er ihn kannte, war Gott mit dem Bedürftigen; Steiner hatte eine Karte, dass er nur eins bedauerte: nicht mit Millionären zu spielen.

Um fünf Uhr ging es in die letzten Runden. Dann wurden die Karten eingesammelt. Steiner hatte einhundertsechs Schilling gewonnen.

Der Champion von Buchs sauste grüßlos mit seinem Motorrad ab. Steiner und der Kaiser Franz Joseph gingen zur Grenze. Franz Joseph zeigte ihm einen anderen Weg als zwei Nächte vorher. „Nimm diese Richtung“, sagte er. „Sieh zu, dass du dich morgens versteckst. Nachmittags kannst du dann zum Bahnhof weitergehen. Du hast ja jetzt Geld. Und lass dich nie wieder hier blicken, du Straßenräuber!“ fügte er mit Grabesstimme hinzu. „Wir müssen sonst um eine Gehaltserhöhung einkommen.“

„Gut. Ich gebe euch noch mal irgendwann Revanche.“

„Nicht im Tarock. Davon haben wir genug. In Schach meinetwegen oder Blindekuh.“

Steiner passierte die Grenze. Er überlegte, ob er noch zum Schweizer Zoll gehen und Revanche verlangen sollte. Aber er wusste, dass er verlieren würde. Er beschloss, nach Murten zu fahren und nach Kern zu sehen. Es lag am Wege nach Paris und war kein großer Umweg.

* * *

Kern ging langsam auf die Hauptpost zu. Er war müde. Die letzten Nächte hatte er kaum schlafen können. Ruth hätte schon vor drei Tagen da sein müssen. Er hatte die ganze Zeit nichts von ihr gehört. Sie hatte nicht geschrieben. Er hatte immer geglaubt, es hätte irgendeine andere Ursache, und sich tausend Gründe dafür ausgedacht – aber jetzt, auf einmal, glaubte er, dass sie nicht mehr käme. Er fühlte sich sonderbar ausgelöscht. Der Lärm der Straße sickerte von weit her in seine dumpfe, gestaltlose Traurigkeit, und automatisch setzte er Fuß vor Fuß.

Es dauerte eine Weile, ehe er den blauen Mantel erkannte. Er blieb stehen. Irgendein blauer Mantel, dachte er, einer von den hundert blauen Mänteln, die mich in dieser Woche verrückt gemacht haben! Er sah weg und wieder hin. Kassenboten und eine dicke Frau, die mit Paketen beladen war, versperrten ihm den Blick. Er hielt den Atem an. Er spürte, dass er zitterte. Der blaue Mantel tanzte vor seinen Augen zwischen roten Gesichtern, Hüten, Fahrrädern, Paketen, Menschen, die sich unablässig dazwischenschoben. Er ging vorsichtig weiter, als schritte er über ein Seil und fürchtete jede Sekunde abzustürzen. Selbst als Ruth sich umdrehte und er ihr Gesicht sah, glaubte er noch an eine entsetzliche Ähnlichkeit und eine Täuschung der Phantasie. Erst als ihr Gesicht sich veränderte, stürzte er vorwärts, ihr entgegen.

„Ruth! Du bist da! Du bist da! Du wartest und ich bin nicht da!“

Er hielt sie fest in seinen Armen und fühlte, wie sie ihn hielt. Sie klammerten sich aneinander, als stünden sie auf einer schmalen Bergeskuppe und der Sturm reiße an ihnen, um sie herunterzuwehen. Sie standen mitten in der Tür der Hauptpost von Genf, zur Zeit des größten Verkehrs, und Leute drängten an ihnen vorüber, stießen sie an, drehten sich erstaunt um und lachten – sie merkten es nicht. Sie waren allein. Erst als Kern in seinem Blickfeld eine Uniform auftauchen sah, wurde er sofort wach. Er ließ Ruth los.

„Komm rasch!“ flüsterte er. „In die Post! Ehe etwas passiert!“

Sie tauchten eilig im Gedränge unter. „Komm hierher!“

Sie stellten sich an das Ende einer Reihe von Leuten, die vor einem Briefmarkenschalter warteten. „Wann bist du angekommen?“ fragte Kern. Die Hauptpost in Genf war ihm noch nie so hell erschienen.

„Heute morgen.“

„Haben sie dich erst nach Basel gebracht? Oder direkt hierher?“

„Nein. Man hat mir in Murten eine Aufenthaltserlaubnis für drei Tage gegeben. Da bin ich gleich hierhergefahren.“

„Wunderbar! Eine Aufenthaltserlaubnis sogar! Da brauchst du überhaupt keine Angst zu haben! Ich sah dich schon allein an der Grenze. Du bist blass und schmal geworden, Ruth!“

„Ich bin aber wieder ganz gesund. Sehe ich häßlicher aus?“

„Nein, viel schöner! Du bist jedesmal schöner, wenn ich dich wiedersehe! Hast du Hunger?“

„Ja“, sagte Ruth. „Hunger nach allem; dich zu sehen, über Straßen zu gehen, nach Luft und Sprechen.“

„Dann wollen wir gleich essen gehen. Ich weiß ein kleines Restaurant. Da gibt es frische Fische aus dem See. Wie in Luzern.“ Kern strahlte. „Die Schweiz hat so viele Seen. Wo ist dein Gepäck?“

„Am Bahnhof natürlich! Ich bin doch ein alter, gelernter Vagabund.“

„Ja! Ich bin stolz auf dich! Ruth, jetzt kommt deine erste illegale Grenze. Das ist ungefähr wie das Abitur. Hast du Angst?“

„Überhaupt nicht.“

„Das brauchst du auch nicht. Diese Grenze kenne ich wie meine Brieftasche. Ich weiß alles. Ich habe sogar schon Fahrkarten. In Frankreich gekauft, vorgestern. Alles ist vorbereitet. Ich kenne den Bahnhof ganz genau. Wir bleiben in einer kleinen Kneipe, die sicher ist, und gehen erst im letzten Moment direkt zum Zug.“

„Du hast schon Fahrkarten? Wo hast du denn das Geld dazu her? Du hast mir doch so viel geschickt?“

„Ich habe in meiner Verzweiflung die Schweizer Geistlichkeit ausgeplündert. Ich bin wie ein Gangster durch Basel und Genf gebraust. Für ein halbes Jahr darf ich mich jetzt hier nicht mehr sehen lassen.“

Ruth lachte. „Ich bringe auch etwas Geld mit. Doktor Beer hat es von einer Flüchtlingshilfe für mich geholt.“

Sie standen dicht nebeneinander und rückten langsam in der Kette der Wartenden vor. Kern hielt Ruths herabhängende Hand fest in der seinen. Sie sprachen leise, mit unterdrückten Stimmen, und bemühten sich, möglichst gleichmütig und unbeteiligt auszusehen.

„Wir scheinen ein unheimliches Glück zu haben“, sagte Kern. „Du kommst nicht nur wieder – mit einer Aufenthaltsgenehmigung – du bringst sogar noch Geld mit! Weshalb hast du mir denn nicht geschrieben. Konntest du es nicht?“

„Ich hatte Angst! Ich dachte, man könnte dich fassen, wenn du die Briefe abholtest. Beer hat mir die Sache mit Ammers erzählt. Er glaubte auch, es wäre besser, nicht zu schreiben. Ich habe dir viele Briefe geschrieben, Ludwig. Ich habe immerfort an dich geschrieben – ohne Bleistift und Papier. Du weißt das, nicht wahr?“ Sie sah ihn an.

Kern drückte ihre Hand. „Ich weiß es. Hast du schon ein Zimmer?“

„Nein. Ich bin gleich von der Bahn hierhergegangen.“

„Ja, nur…“ Kern zögerte einen Moment. „Weißt du, ich bin in den letzten Tagen so eine Art Nachtwandler geworden. Ich wollte nichts riskieren. Da habe ich mehr die staatlichen Pensionen benutzt.“ Er bemerkte Ruths Blick. „Nein, nein“, sagte er, „nicht das Gefängnis. Die Zollwachen. Man schläft dort sehr gut. Warm vor allem. Alle Zollwachen sind prima geheizt, wenn es kalt wird. Das ist aber nichts für dich. Du hast eine Aufenthaltserlaubnis – für dich könnten wir großartig ein Zimmer im Grand Hotel Bellevue nehmen. Da wohnen die Vertreter des Völkerbundes. Minister und ähnlich unnützes Volk.“

„Das werden wir nicht tun. Ich bleibe bei dir. Wenn du glaubst, dass es gefährlich ist, lass uns heute nacht noch weggehen.“

„Was?“ fragte der Postbeamte hinter dem Schalter ungeduldig.

Sie waren bis zum Fenster vorgerückt, ohne darauf zu achten.

„Eine Briefmarke für zehn Centimes“, sagte Kern, rasch gefasst.

Der Beamte schob die Marke hinüber. Kern zahlte, und sie gingen dem Ausgang zu. „Was willst du denn mit der Marke machen?“ fragte Ruth.

„Ich weiß nicht. Ich habe sie nur so gekauft. Ich reagiere automatisch, wenn ich eine Uniform sehe.“ Kern betrachtete die Marke. Die Teufelsfälle am Gotthard waren darauf abgebildet. „Ich könnte einen anonymen Schmähbrief an Ammers schreiben“, erklärte er.

„Ammers…“, sagte Ruth. „Weißt du, dass er bei Beer in Behandlung ist?“

„Was? Ist das wahr?“ Kern starrte sie an. „Jetzt sag noch wegen Leberbeschwerden, und ich stehe vor Jubel kopf.“

Ruth lachte. Sie lachte so, dass sie sich bog wie eine Weide im Wind. „Ja – es ist wahr! Deshalb ist er ja bei Beer! Beer ist der einzige Spezialist in Murten. Denk dir, das macht dem Ammers noch Gewissensbeschwerden dazu – dass er zu einem jüdischen Arzt gehen muss!“

„Großer Gott! Das ist ein stolzer Moment in meinem Leben! Steiner hat mir einmal gesagt, Liebe und Rache gleichzeitig wäre das Seltenste in der Welt. Hier stehe ich, auf den Stufen der Hauptpost in Genf, und habe es! Vielleicht sitzt auch Binding jetzt gerade im Gefängnis oder hat sich ein Bein gebrochen!“

„Oder man hat ihm sein Geld gestohlen.“

„Noch besser! Du hast gute Ideen, Ruth!“

Sie gingen die Stufen hinunter. „Dicker Verkehr ist am besten“, sagte Kern. „Da kann einem kaum was passieren.“

„Gehen wir heute nacht über die Grenze?“ fragte Ruth.

„Nein. Du musst dich erst ausruhen und schlafen. Es ist ein langer Weg.“

„Und du! Musst du nicht schlafen? Wir können doch eine Pension nehmen, die in Binders Liste steht.

Ist es wirklich so gefährlich?“

„Ich weiß es nicht mehr“, sagte Kern. „Ich glaube nicht. So dicht an der Grenze kann nicht viel passieren. Ich bin schon zu oft hin und her gegangen. Sie können uns höchstens zum Zoll bringen, das ist alles. Und wenn es auch etwas gefährlich wäre – ich würde heute nicht allein noch einmal losgehen, glaube ich. Mittags um zwölf Uhr fünfzehn mitten im Verkehr ist man noch stark in seinen Vorsätzen – aber abends, wenn es dunkel wird, ist alles anders. Es wird ohnehin jede Minute unwahrscheinlicher. Du bist wieder da – wie kann man da freiwillig weggehen!“

„Ich wäre auch nicht allein hiergeblieben“, sagte Ruth.

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