Kern kam nachmittags in Prag an. Er ließ seinen Koffer am Bahnhof und ging sofort zur Polizei. Er wollte sich nicht melden; er wollte nur in Ruhe nachdenken, was er tun sollte. Dazu war das Polizeigebäude der beste Platz. Dort streiften keine Polizisten umher und fragten nach Papieren. Er setzte sich auf eine Bank im Korridor. Gegenüber lag das Büro, in dem die Fremden abgefertigt wurden. „Ist der Beamte mit dem Spitzbart noch da?“ fragte er einen Mann, der neben ihm wartete.
„Ich weiß nicht. Der, den ich kenne, hat keinen.“
„Aha! Kann sein, dass er versetzt ist. Wie sind sie denn jetzt hier?“
„Es geht“, sagte der Mann. „Ein paar Tage Aufenthalt kriegt man schon. Aber nachher wird’s schwer. Es sind zu viele hier.“
Kern überlegte. Wenn er ein paar Tage Aufenthaltserlaubnis erhielt, konnte er beim Komitee für Flüchtlingshilfe für ungefähr eine Woche Eß- und Schlafkarten bekommen, das wusste er von früher her. Wenn er sie nicht bekam, riskierte er, dass man ihn einsperrte und zurück über die Grenze schob.
„Sie sind dran“, sagte der Mann neben ihm.
Kern sah ihn an. „Wollen Sie nicht vorgehen? Ich habe Zeit.“
„Gut.“
Der Mann stand auf und ging hinein. Kern beschloss abzuwarten, was mit ihm passierte, um sich dann zu entscheiden, ob er selbst hineingehen sollte oder nicht. Unruhig wanderte er auf dem Korridor hin und her. Endlich kam der Mann wieder heraus. Kern ging rasch auf ihn zu. „Wie war es?“ fragte er.
„Zehn Tage!“ Der Mann strahlte. „So ein Glück! Und ohne zu fragen. Muss gut gelaunt sein. Oder vielleicht, weil heute nicht so viele da sind. Das letztemal hatte ich nur fünf Tage.“
Kern gab sich einen Ruck. „Dann werde ich es auch versuchen.“
Der Beamte hatte keinen Spitzbart. Trotzdem kam er Kern bekannt vor. Vielleicht hatte er sich den Bart inzwischen abnehmen lassen. Er spielte mit einem zierlichen Federmesser aus Perlmutter und warf einen müden Fischblick auf Kern. „Emigrant?“
„Ja.“
„Aus Deutschland gekommen?“
„Ja. Heute.“
„Irgendwelche Papiere?“
„Nein.“
Der Beamte nickte. Er ließ die Klingen seines Messers zuschnappen und klappte den Schraubenzieher auf. Kern sah, dass in der perlmutternen Schale außerdem noch eine Nagelfeile eingelassen war. Der Beamte begann vorsichtig damit seinen Daumennagel zu glätten.
Kern wartete. Es schien ihm, als wäre der Nagel des müden Mannes vor ihm das Wichtigste auf der Welt. Er wagte kaum zu atmen, um ihn nicht zu stören und ärgerlich zu machen. Er presste nur verstohlen die Hände auf dem Rücken fest aneinander.
Der Nagel war endlich fertig. Der Beamte besah ihn befriedigt und blickte auf. „Zehn Tage“, sagte er. „Sie können zehn Tage hier bleiben. Dann müssen Sie ’raus.“
Die Spannung in Kern löste sich jäh. Er glaubte, er fiele, aber er atmete nur tief. Dann fasste er sich rasch. Er hatte gelernt, den Zufall festzuhalten. „Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn ich vierzehn Tage haben könnte“, sagte er.
„Das geht nicht. Warum?“
„Ich warte darauf, dass mir Papiere nachgeschickt werden. Dazu muss ich eine feste Adresse haben. Ich möchte dann nach Österreich.“
Kern hatte Angst, im letzten Augenblick noch alles zu verderben; aber er konnte nicht mehr zurück. Er log glatt und schnell. Er hätte ebensogern die Wahrheit gesagt, aber er wusste, dass er lügen musste. Der Beamte dagegen wusste, dass er diese Lügen glauben musste – denn es gab keine Möglichkeit, sie zu kontrollieren. So kam es, dass beide fast glaubten, von der Wahrheit zu reden.
Der Beamte ließ den Schraubenzieher seines Messers zuschnappen. „Gut“, sagte er. „Ausnahmsweise vierzehn Tage. Aber es gibt dann keine Verlängerung.“
Er nahm einen Zettel und begann zu schreiben. Kern sah ihm zu, als schriebe ein Erzengel. Er konnte kaum fassen, dass alles so geklappt hatte. Bis zum letzten Augenblick erwartete er, dass der Beamte in der Kartothek nachsehen und feststellen könnte, dass er schon zweimal in Prag war. Zur Vorsicht gab er deshalb einen anderen Vornamen und falsche Geburtsdaten an. Er konnte dann immer noch behaupten, das damalls sei ein Bruder von ihm gewesen.
Aber der Beamte war viel zu müde, um etwas nachzusehen. Er schob Kern den Zettel hin. „Hier! Sind noch mehr draußen?“
„Nein, ich glaube nicht. Vorhin wenigstens war niemand mehr da.“
„Gut.“
Der Mann zog ein Taschentuch hervor und begann liebevoll die Perlmutterschalen seines Messers zu putzen. Er merkte kaum noch, dass Kern sich bedankte und dann so rasch hinausging, als könne ihm sein Papier noch jetzt wieder abgenommen werden.
Erst draußen vor dem Tor des Gebäudes blieb er stehen und sah sich um. Du süßer Himmel, dachte er überwältigt, du süßer, blauer Himmel! Ich bin zurückgekommen und nicht eingesperrt worden! Ich brauche vierzehn Tage lang keine Angst zu haben, vierzehn volle Tage und vierzehn Nächte, eine Ewigkeit! Gott segne den Mann mit dem Perlmuttermesser! Möge er demnächst eins finden, das noch eine versenkbare Uhr und eine goldene Schere enthält.
Neben ihm vor dem Eingang stand ein Polizist. Kern fühlte nach dem Ausweis in seiner Tasche. Mit einem Entschluss trat er dann auf den Polizisten zu. „Wie spät ist es, Wachtmeister?“ fragte er.
Er hatte selbst eine Uhr bei sich. Aber es war ein zu seltenes Erlebnis, einmal vor einem Polizisten keine Angst haben zu brauchen.
„Fünf“, brummte der Polizist.
„Danke.“ Kern ging langsam die Treppe hinunter. Er wäre am liebsten gelaufen. Jetzt erst glaubte er, dass alles wirklich wahr war.
Der Großraum des Komitees für Flüchtlingshilfe war überfüllt mit Menschen. Trotzdem wirkte er auf eine sonderbare Weise kahl. Die Leute standen und saßen im Halbdunkel herum wie Schatten. Fast niemand sprach. Jeder hatte alles, was ihn anging, schon hundertmal gesagt und besprochen. Jetzt gab es nur noch eins, zu warten. Es war die letzte Barriere vor der Verzweiflung.
Über die Hälfte der Anwesenden waren Juden. Neben Kern saß ein bleicher Mensch mit einem Birnenschädel, der einen Geigenkasten auf den Knien hielt. Auf der andern Seite hockte ein alter Mann, über dessen gebuckelte Stirn eine Narbe lief. Er öffnete und schloss ruhelos die Hände. Daneben saßen, eng zusammengeschmiegt, ein blonder, junger Mann und ein dunkles Mädchen. Sie hielten die Hände fest ineinander verschränkt, als fürchteten sie, wenn ihre Aufmerksamkeit nur einen Augenblick nachließe, auch hier noch auseinandergerissen zu werden. Sie sahen sich nicht an; sie sahen irgendwohin in den Raum und in die Vergangenheit hinein, und ihre Augen waren leer von Gefühl. Hinter ihnen saß eine dicke Frau, die lautlos weinte. Die Tränen liefen ihr aus den Augen, über die Wangen und das Kinn auf das Kleid; sie achtete nicht darauf und machte keinen Versuch, sie aufzuhalten. Ihre Hände lagen schlaff in ihrem Schoß.
In dieser schweigenden Ergebenheit und Trauer spielte unbefangen ein Kind. Es war ein Mädchen von ungefähr sechs Jahren. Lebhaft und ungeduldig, mit glänzenden Augen und schwarzen Locken, wanderte es umher.
Vor dem Mann mit dem Birnenschädel blieb es stehen. Es blickte ihn eine Zeitlang an; dann zeigte es auf den Kasten, den er auf den Knien hielt. „Hast du eine Geige darin?“ fragte es mit einer klingenden, fordernden Stimme.
Der Mann sah das Kind einen Moment an, als verstände er es nicht. Dann nickte er.
„Zeig sie mir“, sagte das Mädchen.
„Warum?“
„Ich möchte sie sehen.“
Der Geiger zögerte einen Augenblick; dann öffnete er den Kasten und nahm das Instrument heraus. Es war in ein violettes Seidentuch gewickelt. Mit behutsamen Händen faltete er es auseinander.
Das Kind starrte die Geige lange an. Vorsichtig hob es dann die Hand und berührte die Saiten.
„Warum spielst du nicht?“ fragte es.
Der Geiger antwortete nicht.
„Spiel doch etwas“, wiederholte das Mädchen.
„Mirjam!“ rief eine Frau, die einen Säugling auf dem Schoß hatte, von der andern Seite des Raumes leise und unterdrückt. „Komm her zu mir, Mirjam!“
Das Mädchen hörte nicht auf sie. Es schaute den Geiger an. „Kannst du nicht spielen?“
„Ich kann schon…“
„Warum spielst du dann nicht?“
Der Geiger sah sich verlegen um. Seine große, ausgearbeitete Hand umklammerte den Geigenhals. Ein paar Leute in der Nähe wurden aufmerksam und sahen ihn an. Er wusste nicht, wohin er blicken sollte.
„Ich kann doch hier nicht spielen“, sagte er schließlich.
„Warum denn nicht?“ fragte das Mädchen. „Spiel doch! Es ist langweilig hier.“
„Mirjam!“ rief die Mutter.
„Das Kind hat recht“, sagte der alte Mann mit der Narbe auf der Stirn, der neben dem Geiger saß. „Spielen Sie doch. Vielleicht lenkt es uns alle etwas ab. Und es wird ja wohl erlaubt sein.“
Der Geiger zögerte noch einen Augenblick. Dann nahm er den Bogen aus dem Kasten, spannte ihn und setzte die Geige an seine Schulter. Klar schwebte der erste Ton durch den Raum.
Es war Kern, als ob ihn etwas anrühre. Als ob eine Hand etwas in ihm wegschiebe. Er wollte sich wehren, aber er konnte es nicht. Seine Haut war dagegen. Sie fröstelte plötzlich und zog sich zusammen. Dann dehnte sie sich aus und war nichts mehr als Wärme.
Die Tür zum Büro öffnete sich. Der Kopf des Sekretärs erschien. Er kam herein und ließ die Tür hinter sich offenstehen. Sie war hell erleuchtet. Im Büro brannte schon Licht. Die kleine verwachsene Gestalt des Sekretärs hob sich dunkel von ihr ab. Es sah aus, als wollte er etwa sagen – doch dann legte er den Kopf schräg und lauschte. Langsam und lautlos, als drücke eine unsichtbare Hand gegen sie, schwang hinter ihm die Tür wieder zu.
Nur noch die Geige war da. Sie erfüllte die schwere, tote Luft des Raumes, und es schien, als verändere sich alles – als schmelze sie die stumme Einsamkeit der vielen, kleinen Existenzen, die im Schatten der Wände kauerten, und sammele sie zu einer großen gemeinsamen Sehnsucht und Klage.
Kern legte die Arme um seine Knie. Er senkte den Kopf und ließ die Flut über sich hinwegströmen. Er hatte das Gefühl, dass sie ihn wegschwemmte, irgendwohin – zu sich selbst und zu etwas sehr Fremdem. Das kleine, schwarzhaarige Mädchen hockte auf dem Boden neben dem Geiger. Es saß still und reglos und blickte ihn an.
Die Geige schwieg. Kern konnte etwas Klavier spielen, und er verstand so viel von Musik, um zu wissen, dass der Mann wunderbar gespielt hatte.
„Schumann?“ fragte der Alte neben dem Geiger.
Der nickte.
„Spiel weiter“, sagte das Mädchen. „Spiel etwas, dass man lachen kann. Hier ist es traurig.“
„Mirjam!“ rief die Mutter leise.
„Gut“, sagte der Geiger.
Er setzte den Bogen wieder an.
Kern blickte sich um. Er sah gebeugte Nacken und zurückgelegte, weiß schimmernde Gesichter, er sah Trauer, Verzweiflung und die sanfte Verklärung, die die Melodie der Geige für einige Augenblicke darüber breitete – er sah es, und er dachte an viele ähnliche Räume, die er schon gesehen hatte, angefüllt mit Ausgestoßenen, deren einziges Verschulden es war, geboren worden zu sein und zu leben. Das gab es, und diese Musik gab es zu gleicher Zeit. Es schien unbegreiflich. Es war ein unendlicher Trost und ein furchtbarer Hohn zugleich. Kern sah, dass der Kopf des Geigers auf der Geige lag wie auf der Schulter einer Geliebten. Ich will nicht untergehen, dachte er, indes die Dämmerung immer tiefer wurde in dem großen Raum, ich will nicht untergehen, das Leben ist wild und süß, ich kenne es noch nicht, es ist eine Melodie, ein Ruf, ein Schrei über fernen Wäldern, über unbekannten Horizonten, in unbekannten Nächten, ich will nicht untergehen!
Erst nach einiger Zeit merkte er, dass es still geworden war. „Was war das?“ fragte das Mädchen.
„Das waren die deutschen Tänze von Franz Schubert“, sagte der Geiger heiser.
Der alte Mann neben ihm lachte auf. „Deutsche Tänze!“ Er strich sich über die Narbe auf seiner Stirn. „Deutsche Tänze“, wiederholte er.
Der Sekretär schaltete das Licht von der Tür her an. „Der nächste…“, sagte er.
Kern bekam eine Anweisung für einen Schlafplatz im Hotel Bristol und zehn Eßkarten für die Mensa am Wenzelsplatz. Er lief fast durch die Straßen, aus Angst, dass er zu spät käme.
Er hatte sich nicht geirrt. Alle Plätze in der Mensa waren besetzt, und er musste noch warten. Unter den Essenden sah er einen seiner früheren Universitätsprofessoren. Er wollte schon auf ihn zugehen und ihn begrüßen; aber dann besann er sich und ließ es. Er wusste, dass viele Emigranten nicht an ihr früheres Leben erinnert werden wollten.
Nach einer Weile sah er den Geiger kommen und unschlüssig umherstehen. Er winkte ihm. Der Geiger sah ihn erstaunt an und kam langsam herüber. Kern wurde verwirrt. Er hatte, als er ihn wiedersah, geglaubt, den Geiger schon lange zu kennen; jetzt fiel ihm ein, dass sie noch nicht einmal miteinander gesprochen hatten.
„Entschuldigen Sie“, sagte er. „Ich habe Sie vorhin spielen hören, und ich dachte, Sie wüssten vielleicht nicht Bescheid hier.“
„Das weiß ich auch nicht. Sie?“
„Ja. Ich war schon zweimal hier. Sind Sie noch nicht lange draußen?“
„Vierzehn Tage. Ich bin heute hier angekommen.“
Kern sah, dass der Professor und jemand neben ihm aufstanden. „Da werden zwei Plätze frei“, sagte er rasch. „Kommen Sie!“
Sie drängten sich zwischen den Tischen durch. Der Professor kam ihnen durch den schmalen Gang entgegen. Er blickte Kern zweifelnd an und blieb stehen. „Kenne ich Sie nicht?“
„Ich war einer Ihrer Schüler“, sagte Kern.
„Ach so, ja…“ Der Professor nickte. „Sagen Sie, wissen Sie vielleicht Leute, die Staubsauger brauchen könnten? Mit zehn Prozent Rabatt und Ratenzahlung? Oder Grammophone mit eingebautem Radio?“
Kern war nur einen Augenblick überrascht. Der Professor war eine Autorität in der Krebsforschung gewesen. „Nein, leider nicht“, sagte er mitleidig. Er wusste, was es hieß, Staubsauger und Grammophone verkaufen zu wollen.
„Ich hätte es mir denken können.“ Der Professor sah ihn abwesend an. „Entschuldigen Sie bitte“, sagte er dann, als spräche er zu jemand ganz anderem, und ging weiter.
Es gab Graupensuppe mit Rindfleisch. Kern löffelte seinen Teller rasch leer. Als er aufschaute, saß der Geiger da, die Hände auf den Tisch gelegt, den Teller unberührt vor sich.
„Essen Sie nicht?“ fragte Kern erstaunt.
„Ich kann nicht.“
„Sind Sie krank?“ Der Birnenschädel des Geigers sah sehr gelb und farblos aus unter dem kalkigen Licht der schirmlosen Deckenlampen.
„Nein.“
„Sie sollten essen“, sagte Kern.
Der Geiger antwortete nicht. Er zündete sich eine Zigarette an und rauchte hastig. Dann schob er seinen Teller beiseite. „So kann man nicht leben!“ stieß er schließlich hervor.
Kern sah ihn an. „Haben Sie keinen Pass?“ fragte er.
„Doch. Aber…“ Der Geiger zerdrückte nervös eine Zigarette. „So kann man doch nicht leben! So ohne alles! Ohne Boden unter den Füßen!“
„Mein Gott!“ sagte Kern. „Sie haben einen Pass, und Sie haben Ihre Geige…“
Der Geiger blickte auf. „Das hat doch nichts damit zu tun“, erwiderte er gereizt. „Begreifen Sie das nicht?“
„Doch.“
Kern war maßlos enttäuscht. Er hatte geglaubt, wer so spielen konnte, müsste etwas Besonderes sein. Jemand, von dem etwas zu lernen war. Und nun sah er einen verbitterten Menschen da sitzen, der ihm, obwohl er sicher fünfzehn Jahre älter war als er, vorkam wie ein eigensinniges Kind. Erstes Stadium der Emigration, dachte er. Wird schon still werden.
„Essen Sie Ihre Suppe wirklich nicht?“ fragte er.
„Nein.“
„Dann geben Sie sie mir. Ich bin noch hungrig.“
Der Geiger schob sie ihm hin. Kern aß sie langsam auf. Jeder Löffel voll war Kraft, dem Elend zu widerstehen, und er wollte nichts davon verlieren. Dann stand er auf. „Ich danke Ihnen für die Suppe. Ich hätte lieber gehabt, Sie hätten sie selbst gegessen.“
Der Geiger sah ihn an. Sein Gesicht war von Falten zerrissen. „Das verstehen Sie noch nicht“, sagte er ablehnend.
„Das ist leichter zu verstehen, als Sie glauben“, erwiderte Kern. „Sie sind unglücklich, weiter nichts.“
„Weiter nichts?“
„Nein. Man meint anfangs, es sei etwas Besonderes. Aber Sie werden es schon merken, wenn Sie länger draußen sind. Unglück ist das Alltäglichste, was es gibt.“
Er ging hinaus. Zu seiner Verwunderung sah er draußen, auf der andern Seite der Straße, den Professor hin- und herwandern. Er hatte die charakteristische Haltung, die Hände auf dem Rücken, den Körper etwas vorgebeugt, die er annahm, wenn er vor dem Katheder auf- und abschritt, um irgendeine neue verwickelte Entdeckung auf dem Gebiet der Krebsforschung zu erläutern. Nur, dass er jetzt vielleicht an Staubsauger und Grammophone dachte.
Kern zögerte eine Sekunde. Er hätte den Professor nie angesprochen. Doch jetzt, nachdem er den Geiger gesehen hatte, ging er zu ihm hinüber.
„Herr Professor“, sagte er, „entschuldigen Sie, dass ich Sie anspreche. Ich hätte nicht geglaubt, dass ich Ihnen jemals einen Rat geben könnte. Aber jetzt möchte ich es tun.“
Der Professor blieb stehen. „Gerne“, erwiderte er zerstreut. „Sehr gerne. Ich bin für jeden Rat dankbar. Wie war doch Ihr Name?“
„Kern. Ludwig Kern.“
„Ich bin für jeden Rat dankbar, Herr Kern. Ganz außerordentlich dankbar, wirklich!“
„Es ist kaum ein Rat. Nur etwas Erfahrung. Sie versuchen, Staubsauger und Grammophone zu verkaufen. Lassen Sie es. Es ist Zeitverschwendung. Hunderte von Emigranten versuchen das hier. Es ist ebenso sinnlos, wie Lebensversicherungen abschließen zu wollen.“
„Das wollte ich gerade nächstens versuchen“, unterbrach ihn der Professor lebhaft. „Jemand hat mir gesagt, es wäre leicht, und es wäre etwas damit zu verdienen.“
„Er hat Ihnen eine Provision für jeden Abschluss angeboten, nicht wahr?“
„Ja, natürlich, eine gute Provision.“
„Aber sonst nichts? Keine Spesen und kein Fixum?“
„Nein, das nicht.“
„Das kann ich Ihnen auch anbieten. Es bedeutet gar nichts. Herr Professor, haben Sie schon einen Staubsauger verkauft? Oder ein Grammophon?“
Der Professor sah hilflos auf. „Nein“, sagte er sonderbar beschämt, „aber ich hoffe, in der nächsten Zeit…“
„Geben Sie es auf“, erwiderte Kern. „Das ist mein Rat. Kaufen Sie eine Handvoll Schnürsenkel. Oder ein paar Büchsen Stiefelwichse. Oder einige Pakete Sicherheitsnadeln. Kleine Sachen, die jeder brauchen kann. Handeln Sie damit. Sie werden nicht viel daran verdienen. Aber Sie werden ab und zu etwas verkaufen. Auch damit handeln Hunderte von Emigranten. Aber man verkauft Sicherheitsnadeln leichter als Staubsauger.“
Der Professor blickte ihn nachdenklich an. „Daran habe ich noch gar nicht gedacht.“
Kern lächelte verlegen. „Das glaube ich. Aber überlegen Sie es einmal. Es ist besser. Ich weiß es. Ich habe früher auch Staubsauger verkaufen wollen.“
„Vielleicht haben Sie recht.“ Der Professor reichte ihm die Hand. „Ich danke Ihnen. Sie sind sehr freundlich…“ Seine Stimme war plötzlich sonderbar leise und fast unterwürfig, als wäre er ein Schüler, der schlecht gelernt hatte.
Kern biss sich auf die Lippen. „Ich war in jeder Ihrer Vorlesungen…“, sagte er.
„Ja, ja…“ Der Professor machte eine flatternde Geste. „Ich danke Ihnen, Herr… Herr…“
„Kern. Aber es ist nicht wichtig.“
„Doch, es ist wichtig, Herr Kern. Entschuldigen Sie bitte. Ich bin etwas vergeßlich in der letzten Zeit. Und haben Sie vielen Dank. Ich glaube, ich werde es versuchen, Herr Kern.“
Das Hotel Bristol war ein baufälliger, kleiner Kasten, der von der Flüchtlingshilfe gemietet worden war. Kern bekam ein Bett in einem Zimmer angewiesen, in dem zwei andere Flüchtlinge wohnten. Er war nach dem Essen sehr müde geworden und legte sich gleich schlafen. Die beiden andern waren noch nicht da, und er hörte auch nicht, dass sie kamen.
Mitten in der Nacht wachte er auf. Er hörte Schreie und sprang sofort empor. Ohne nachzudenken, griff er nach seinem Koffer und seinen Kleidern und rannte aus der Tür, den Korridor entlang.
Draußen war alles still. Am Treppenabsatz blieb er stehen. Er stellte den Koffer ab und lauschte – dann strich er sich mit den Fäusten über das Gesicht. Wo war er? Was war los? Wo war die Polizei?
Langsam kam ihm die Erinnerung. Er blickte an sich herunter und lächelte erleichtert und entspannt. Er war in Prag im Hotel Bristol, und er hatte für vierzehn Tage eine Aufenthaltserlaubnis. Es gab keinen Grund, so zu erschrecken. Sicher hatte er irgend etwas geträumt. Er kehrte um. Das darf nicht wieder passieren, dachte er. Es fehlt noch, dass ich nervös werde. Dann ist alles aus.
Er öffnete die Tür und tastete im Dunkeln nach seinem Bett. Es war das rechte an der Wand. Er stellte seinen Koffer leise ab und hängte seine Kleider unten über den Bettpfosten. Dann tastete er nach der Decke. Plötzlich spürte er, gerade als er sich hinlegen wollte, unter seiner Hand etwas Weiches, warm Atmendes und schoss bolzengerade hoch.
„Wer ist da?“ fragte eine Mädchenstimme schlaftrunken.
Kern hielt den Atem an. Er hatte die Zimmer verwechselt.
„Ist jemand da?“ fragte die Stimme noch einmal.
Kern blieb stocksteif stehen. Er fühlte, wie ihm der Schweiß ausbrach.
Nach einiger Zeit hörte er einen Seufzer und dann, wie jemand sich umdrehte. Er wartete noch ein paar Minuten. Als alles still blieb und nur noch das tiefe Atmen im Dunkel zu hören war, griff er lautlos nach seinen Sachen und schlich vorsichtig aus dem Zimmer.
Auf dem Korridor stand jetzt ein Mann im Hemd. Er stand vor dem Zimmer, in dem Kern wohnte, und starrte ihn durch eine Brille an. Er beobachtete, wie er mit seinen Sachen aus dem Zimmer nebenan kam. Kern war zu verwirrt, um etwas zu erklären. Er ging wortlos durch die offene Tür, an dem Mann vorbei, der ihm keinen Platz machte, packte seine Sachen weg und legte sich zu Bett. Vorher strich er zur Vorsicht über die Decke. Es lag niemand darunter.
Der andere Mann stand noch eine Weile im Türausschnitt. Seine Brille blinkte im schwachen Licht des Korridors. Dann kam er herein und machte die Tür mit einem trockenen Knack zu.
Im selben Augenblick fing das Schreien wieder an. Kern verstand es jetzt. „Nicht schlagen! Nicht schlagen! Um Christi willen, nicht schlagen! Bitte, bitte! Oh…“
Das Schreien ging in ein entsetzliches Gurgeln über und erstarb. Kern richtete sich auf. „Was ist denn das?“ fragte er in das Dunkel hinein.
Ein Schalter klickte, und es wurde hell. Der Mann mit der Brille stand auf und ging zum dritten Bett. Darin lag ein keuchender, schweißüberströmter Mensch mit irren Augen. Der andere nahm ein Glas, füllte es mit Wasser und hielt es dem im Bett an den Mund. „Trinken Sie das mal. Sie haben geträumt. Sie sind in Sicherheit.“
Der Mann trank gierig. Der Adamsapfel an seinem dünnen Halse stieg auf und ab. Dann ließ er sich erschöpft zurückfallen und schloss tief atmend die Augen.
„Was ist das?“ fragte Kern noch einmal.
Der Mann mit der Brille kam an sein Bett. „Was das ist? Jemand, der träumt. Laut träumt. Vor ein paar Wochen aus dem Konzentrationslager entlassen. Nerven, verstehen Sie?“
„Ja“, sagte Kern.
„Wohnen Sie hier?“ fragte der Mann mit der Brille.
Kern nickte. „Ich scheine auch etwas nervös zu sein. Vorhin, als er schrie, bin ich hinausgelaufen. Ich dachte, es wäre Polizei im Hause. Da habe ich hinterher die Zimmer verwechselt.“
„Ach so…“
„Entschuldigen Sie, bitte“, sagte der dritte Mann. „Ich werde jetzt wach bleiben. Entschuldigen Sie.“
„Ach, Unsinn!“ Der mit der Brille ging zu seinem Bett zurück. „Das bisschen Träumen stört uns gar nicht. Nicht wahr, junger Mann?“
„Gar nicht“, wiederholte Kern.
Der Lichtschalter knackte, und es wurde wieder dunkel. Kern streckte sich aus. Er konnte lange nicht einschlafen. Sonderbar war das gewesen, vorhin, in dem Zimmer nebenan. Die weiche Brust unter dem dünnen Leinen. Er fühlte es immer noch… als wäre seine Hand anders geworden dadurch.
Später hörte er, wie der Mann, der geschrien hatte, aufstand und sich ans Fenster setzte. Sein gebeugter Kopf hob sich schwarz vor dem heraufdämmernden Grau des Morgens ab – wie das finstere Monument eines Sklaven. Kern betrachtete ihn eine Zeitlang. Dann überfiel ihn der Schlaf.
Josef Steiner kam leicht über die Grenze zurück. Er kannte sie gut und war als alter Soldat das Patrouillegehen gewohnt. Er war Kompanieführer gewesen und hatte bereits 1915 für eine schwierige Patrouille, von der er einen Gefangenen mitgebracht hatte, das Eiserne Kreuz erhalten.
Nach einer Stunde war er außer Gefahr. Er ging zum Bahnhof. Es waren nicht viele Leute im Wagen.
Der Schaffner sah ihn an. „Schon zurück?“
„Eine Fahrkarte nach Wien, einfach“, erwiderte Steiner.
„Ging ja rasch“, sagte der Schaffner.
Steiner blickte auf. „Ich kenne das“, fuhr der Schaffner fort. „Jeden Tag kommen ein paar solcher Transporte – da kennt man die Beamten bald. Es ist ein Kreuz. Sie sind in diesem Waggon herausgefahren, das wissen Sie wohl nicht mehr?“
„Ich weiß überhaupt nicht, wovon Sie reden.“
Der Schaffner lachte. „Sie werden es schon wissen. Stellen Sie sich hinten auf die Plattform. Wenn ein Kontrolleur kommt, springen Sie ab. Wahrscheinlich kommt keiner um diese Zeit. Sie sparen so die Fahrkarte.“
„Schön.“
Steiner stand auf und ging nach hinten. Er spürte den Wind und sah die Lichter der kleinen Weindörfer vorüberfliegen. Er atmete tief und genoss den stärksten Rausch, den es gibt: den Rausch der Freiheit. Er fühlte das Blut in seinen Adern und die warme Kraft seiner Muskeln. Er lebte. Er war nicht gefangen; er lebte, er war entkommen.
„Nimm eine Zigarette, Bruder“, sagte er zu dem Schaffner, der nach hinten gekommen war.
„Meinetwegen. Ich darf sie nur jetzt nicht rauchen. Dienst.“
„Aber ich darf meine jetzt rauchen?“
„Ja.“ Der Schaffner lachte gutmütig. „Das hast du mir voraus.“
„Ja“, sagte Steiner und zog den würzigen Rauch in die Lungen ein. „Das habe ich dir voraus.“
Er ging zu der Pension, in der die Polizei ihn erwischt hatte. Die Wirtin saß noch im Büro. Sie fuhr zusammen, als sie Steiner erblickte. „Sie können hier nicht wohnen“, sagte sie rasch.
„Doch!“ Steiner legte den Rucksack ab.
„Herr Steiner, es ist unmöglich! Die Polizei kann jeden Tag wiederkommen. Dann schließen sie mir die Pension!“
„Luischen“, sagte Steiner ruhig, „die beste Dekkung, die es im Kriege gab, war ein frisches Granatloch. Es kam fast nie vor, dass es gleich darauf noch einmal hineinschoss. Deshalb ist im Moment Ihre Bude eine der sichersten in Wien!“
Die Wirtin fasste verzweifelt in ihr blondes Haar. „Sie sind mein Untergang!“ erklärte sie pathetisch.
„Wie schön! Das wollte ich immer schon mal sein! Jemandes Untergang! Sie sind eine romantische Natur, Luischen!“ Steiner sah sich um. „Gibt es noch ein bisschen Kaffee? Und einen Schnaps?“
„Kaffee? Und Schnaps?“
„Ja, Luischen! Ich wusste, dass Sie mich verstehen würden. Eine so hübsche Frau! Ist da noch der Sliwowitz im Wandschrank?“
Die Wirtin blickte ihn ratlos an. „Ja, natürlich“, sagte sie dann.
„Genau das Richtige!“ Steiner nahm die Flasche und zwei Gläser heraus. „Nehmen Sie auch einen?“
„Ich?“
„Ja, Sie! Wer sonst?“
„Nein.“
„Doch, Luischen! Tun Sie mir den Gefallen. Allein trinken hat was Herzloses. Hier…“ Er füllte das Glas und hielt es ihr hin.
Die Wirtin zögerte. Dann nahm sie das Glas. „Gut, meinetwegen! Aber Sie werden nicht hier wohnen, nicht wahr?“
„Nur ein paar Tage“, sagte Steiner beruhigend, „nicht länger als ein paar Tage. Sie bringen mir Glück. Ich habe was vor.“ Er lächelte. „Und nun den Kaffee, Luischen!“
„Kaffee? Ich habe keinen Kaffee hier.“
„Doch, Kind. Da drüben steht er ja. Ich wette, dass er gut ist.“
Die Wirtin lachte ärgerlich. „Sie sind schon einer! Ich heiße übrigens nicht Luise. Ich heiße Therese.“
„Therese ist ein Traum!“
Die Wirtin holte ihm den Kaffee. „Da sind noch die Sachen vom alten Seligmann hier“, sagte sie und zeigte auf einen Koffer. „Was soll ich nur mit denen machen?“
„War das der Jude mit dem grauen Bart?“
Die Wirtin nickte. „Er ist tot, das habe ich gehört. Mehr nicht…“
„Das ist auch schon genug für einen einzelnen Menschen. Wissen Sie nicht, wo seine Kinder sind?“
„Wie soll ich das wissen? Darum kann ich mich doch nicht auch noch kümmern! —“
„Das ist wahr.“ Steiner zog den Koffer heran und öffnete ihn. Eine Anzahl Garnrollen mit verschiedenfarbenem Zwirn fiel heraus. Darunter lag sauber verpackt ein Paket Schnürriemen. Dann kamen ein Anzug, ein Paar Schuhe, ein hebräisches Buch, etwas Wäsche, ein paar Bogen mit Hornknöpfen, ein kleines Ledersäckchen mit Einschillingstücken, zwei Gebetsriemen und ein weißer Gebetsmantel, in Seidenpapier eingewickelt.
„Nicht viel für ein ganzes Leben, was, Therese?“ sagte Steiner.
„Manche haben noch weniger.“
„Auch richtig.“ Steiner untersuchte das hebräische Buch und fand zwischen den inneren Umschlagseiten einen Zettel eingeklemmt. Vorsichtig zog er ihn heraus. Er enthielt eine mit Tinte geschriebene Adresse. „Aha! Da werde ich mal nachfragen.“ Steiner stand auf. „Danke für den Kaffee und den Sliwowitz, Therese. Ich komme spät heute. Am besten quartieren Sie mich parterre nach dem Hof zu ein. Da kann ich dann rasch hinaus.“
Die Wirtin wollte noch etwas sagen. Aber Steiner hob die Hand. „Nein, nein, Therese! Wenn die Tür nicht offen ist, komme ich mit der gesamten Wiener Polizei. Aber ich bin sicher, sie wird offen sein! Die Heimatlosen beherbergen ist ein Gebot Gottes. Dafür gibt es tausend Jahre größter Glückseligkeit im Himmel. Meinen Rucksack lasse ich schon hier.“
Er ging. Er wusste, dass es zwecklos war, das Gespräch fortzusetzen, und er kannte die merkwürdig eindringliche Wirkung zurückgelassener Sachen auf bürgerliche Menschen. Sein Rucksack würde ein besserer Quartiermeister für ihn sein als alle weiteren Überredungsversuche. Er würde die letzten Widerstände der Wirtin durch sein stummes Vorhandensein besiegen.
Steiner ging zum Café Sperler. Er wollte den Russen Tschernikoff treffen. Sie hatten während der Haft verabredet, am ersten und zweiten Tag der Freilassung Steiners nach Mitternacht dort aufeinander zu warten. Die Russen hatten als Staatenlose fünfzehn Jahre Praxis mehr als die Deutschen. Tschernikoff hatte Steiner versprochen, nachzuforschen, ob in Wien falsche Papiere zu kaufen seien.
Steiner setzte sich an einen Tisch. Er wollte etwas zu trinken bestellen; aber kein Kellner kümmerte sich um ihn. Es war nicht üblich, dass man etwas bestellen musste; die meisten hatten kein Geld dafür.
Das Lokal war die typische Emigrantenbörse. Es war voll von Menschen. Viele saßen auf den Bänken und Stühlen und schliefen; andere lagen auf dem Fußboden, die Rücken gegen die Wand gelehnt. Sie nutzten die Zeit aus, umsonst zu schlafen, bis das Café wieder geöffnet wurde. Es waren meistens Intellektuelle. Sie konnten sich am wenigsten zurechtfinden.
Ein Mann in einem karierten Anzug mit einem Vollmondgesicht setzte sich neben Steiner. Er beobachtete ihn eine Weile mit flinken, schwarzen Augen. „Was zu verkaufen?“ fragte er dann. „Schmuck? Auch alten? Ich zahle bar.“
Steiner schüttelte den Kopf.
„Anzüge? Wäsche? Schuhe?“ Der Mann blickte ihn dringlich an. „Einen Trauring vielleicht?“
„Schieb ab, du Aasgeier“, knurrte Steiner. Er hasste die Händler, die den ratlosen Emigranten ihre wenigen Sachen für ein paar Groschen abjagen wollten.
Er rief einen vorüberhuschenden Kellner an. „Hallo! Einen Kognak!“
Der Kellner warf einen zweifelnden Blick auf ihn und kam heran. „Sagten Sie Anwalt? Heute sind zwei da. Drüben in der Ecke Rechtsanwalt Silber vom Kammergericht Berlin; ein Schilling die Beratung. Am runden Tisch neben der Tür Landgerichtsrat Epstein aus München; fünfzig Groschen die Konsultation. Unter uns: Silber ist besser.
„Ich will keinen Anwalt, ich will Kognak“, sagte Steiner.
Der Kellner hielt die Hand ans Ohr. „Habe ich recht verstanden? Einen Kognak?“
„Ja. Ein Getränk, das besser wird, wenn die Gläser nicht zu klein sind.“
„Sehr wohl. Verzeihen Sie, ich bin etwas schwerhörig. Und dann bin ich es nicht mehr gewohnt. Hier wird fast nur Kaffee verlangt.“
„Gut. Dann bringen Sie den Kognak in einer Kaffeetasse.“
Der Kellner holte den Kognak und blieb am Tisch stehen. „Was ist los?“ fragte Steiner. „Wollen Sie zusehen, wie ich trinke?“
„Es muss vorher gezahlt werden. Das geht hier nicht anders. Wir würden sonst pleite gehen.“
„Ach so, richtig!“
Steiner zahlte. „Das ist zuviel“, sagte der Kellner.
„Was zuviel ist, ist Ihr Trinkgeld.“
„Trinkgeld?“ Der Kellner schmeckte das Wort förmlich ab. „Mein Gott“, sagte er dann gerührt. „Das ist das erste seit Jahren hier. Danke vielmals, mein Herr! Da fühlt man sich ja direkt wieder einmal als Mensch!“
Ein paar Minuten später kam der Russe durch die Tür. Er sah Steiner sofort und setzte sich zu ihm.
„Ich dachte schon, Sie wären nicht mehr in Wien, Tschernikoff.“
Der Russe lachte. „Bei uns ist das Wahrscheinliche immer unwahrscheinlich. Ich habe alles herausbekommen, was Sie wissen wollen.“
Steiner trank seinen Kognak aus. „Gibt es Papiere?“
„Ja. Sehr gute sogar. Das Beste, was ich an Fälschungen seit langem gesehen habe.“
„Ich muss ’raus!“ sagte Steiner. „Ich muss Papiere haben! Lieber mit einem falschen Pass Zuchthaus riskieren als diese tägliche Sorge und Einsperrerei. Was haben Sie gesehen?“
„Ich war in der Hellebarde. Da verkehren die Leute jetzt. Es sind dieselben wie vor sieben Jahren. Sie sind in ihrer Art zuverlässig. Das billigste Papier kostet allerdings vierhundert Schilling.“
„Was gibt es dafür?“
„Den Pass eines toten Österreichers. Noch ein Jahr gültig.“
„Ein Jahr. Und dann?“
Tschernikoff sah Steiner an. „Im Ausland vielleicht verlängerbar. Oder von einer geschickten Hand im Datum zu ändern.“ Steiner nickte.
„Es gibt noch zwei Pässe von gestorbenen deutschen Flüchtlingen. Die kosten aber achthundert Schilling jeder. Völlig falsche sind nicht unter fünfzehnhundert zu haben. Die würde ich – Ihnen auch nicht empfehlen.“
Tschernikoff klopfte seine Zigarette ab. „Vom Völkerbund ist für Sie ja vorläufig auf nichts zu hoffen. Für illegal ohne Pass Eingereiste schon gar nicht. Nansen ist tot, der uns unsere Pässe durchgesetzt hat.“
„Vierhundert Schilling“, sagte Steiner. „Ich habe fünfundzwanzig.“
„Man wird handeln können. Auf dreihundertfünfzig, schätze ich.“
„Das ist gegen fünfundzwanzig dasselbe. Aber es hilft nichts; ich muss sehen, dass ich das Geld bekomme. Wo ist die ›Hellebarde‹?“
Der Russe zog einen Zettel aus der Tasche. „Hier ist die Adresse. Auch der Name des Kellners, der die Sache vermittelt. Er ruft die Leute an, wenn Sie ihm Bescheid sagen. Er bekommt fünf Schilling dafür.“
„Gut. Ich will sehen, wie ich es mache.“ Steiner steckte den Zettel sorgfältig weg. „Herzlichen Dank für Ihre Mühe, Tschernikoff!“
„Aber ich bitte Sie!“ Der Russe hob abwehrend die Hand. „Man hilft sich doch, wenn es möglich ist. Man kann ja jeden Tag in dieselbe Lage kommen.“
„Ja.“ Steiner stand auf. „Ich suche mal wieder nach Ihnen hier und sage Ihnen Bescheid.“
„Gut. Ich bin oft um diese Zeit hier. Spiele Schach mit dem süddeutschen Meister. Drüben der Mann mit den Locken. Hätte nie gedacht, das Glück mit einer solchen Autorität in normalen Zeiten zu haben.“ Tschernikoff lächelte. „Schach ist eine Leidenschaft von mir…“
Steiner nickte ihm zu. Dann stieg er über ein paar schlafende junge Leute weg, die mit offenen Mündern an der Wand lagen, und ging zur Tür. Am Tisch des Landgerichtsrats Epstein saß eine gedunsene Jüdin. Sie hielt die Hände gefaltet und starrte Epstein, der salbungsvoll dozierte, an wie einen unzuverlässigen Gott. Vor ihr auf dem Tisch lagen fünfzig Groschen. Epsteins haarige linke Hand lag dicht daneben wie eine große lauernde Spinne.
Draußen atmete Steiner tief auf. Die weiche Nachtluft erschien ihm wie Wein nach dem toten Rauch und dem grauen Jammer des Cafés. Ich muss da ’raus, dachte er, ich muss ’raus um jeden Preis! Er sah nach der Uhr. Es war schon spät. Er beschloss, trotzdem noch zu versuchen, den Falschspieler zu treffen.
Die kleine Bar, die der Falschspieler ihm als sein Stammlokal genannt hatte, war fast leer. Nur aufgedonnerte Mädchen hockten wie Papageien an der Nickelstange auf den hohen Stühlen.
„War Fred hier?“ fragte Steiner den Mixer.
„Fred?“ Der Mixer sah ihn scharf an. „Was wollen Sie denn von Fred?“
„Das Vaterunser mit ihm beten, Bruder. Was sonst?“ Der Mixer dachte eine Zeitlang nach. „Er ist vor einer Stunde gegangen“, sagte er dann.
„Kommt er nochmals wieder?“
„Keine Ahnung.“
„Schön. Da werde ich warten. Geben Sie mir einen Wodka.“
Steiner wartete ungefähr eine Stunde. Er überlegte, was er alles zu Geld machen könne. Aber er kam nicht höher als auf etwa siebzig Schilling.
Die Mädchen hatten ihn nur flüchtig gemustert. Sie saßen noch einige Zeit herum, dann stelzten sie hinaus. Der Mixer begann mit einem Knobelbecher vor sich hin zu würfeln. „Wollen wir einen austrudeln?“ fragte Steiner.
„Von mir aus.“
Sie würfelten und Steiner gewann. Sie spielten weiter. Steiner warf zweimal nacheinander in zwei Würfen vier Asse. „Mit Assen scheine ich Glück zu haben“, sagte er.
„Sie haben überhaupt Glück“, erwiderte der Mixer. „Was sind Sie astrologisch?“
„Das weiß ich nicht.“
„Sie scheinen ein Löwe zu sein. Mindestens haben Sie die Sonne im Löwen. Ich verstehe ein bisschen davon. Letzte Runde, was? Fred kommt doch nicht mehr. Er ist noch nie um diese Zeit gekommen. Braucht Schlaf und ruhige Hände.“
Sie knobelten, und Steiner gewann wieder. „Sehen Sie“, sagte der Mixer befriedigt und schob ihm fünf Schilling hinüber, „Sie sind bestimmt ein Löwe. Mit starkem Neptun, denke ich. In welchem Monat sind Sie geboren?“
„August.“
„Dann sind Sie ein typischer Löwe. Glänzende Chancen dieses Jahr!“
„Dafür nehme ich einen ganzen Urwald voll Löwen auf mich.“ Steiner trank sein Glas aus. „Wollen Sie Fred sagen, dass ich hier war? Steiner hätte nach ihm gefragt. Ich komme morgen wieder vorbei.“
„Schön.“
Steiner ging zur Pension zurück. Der Weg war lang, und die Straßen waren leer. Der Himmel hing voller Sterne, und über die Mauern kam ab und zu der schwere Geruch blühenden Flieders. Mein Gort, Marie, dachte er, es kann doch nicht ewig dauern…