Nach fünf Tagen wurde der Falschspieler entlassen. Man hatte nichts gegen ihn finden können. Steiner und er schieden als Freunde. Der Falschspieler hatte die Zeit dazu benützt, die Methode seines Schülers Katscher bei Steiner zu vollenden. Zum Abschied schenkte er ihm das Spiel Karten, und Steiner begann mit dem Unterricht Kerns. Er brachte ihm Skat, Jass, Tarock und Poker bei – Skat für Emigranten; Jass für die Schweiz; Tarock für Österreich und Poker für alle anderen Fälle.
Nach vierzehn Tagen wurde Kern heraufgeholt. Ein Inspektor führte ihn in einen Raum, in dem ein älterer Mann saß. Das Zimmer erschien Kern riesig groß und so hell, dass er blinzeln musste; er war schon an die Zelle gewöhnt.
„Sie sind Ludwig Kern, staatenlos, Student, geboren 30. November 1914 in Dresden?“ fragte der Mann gleichgültig und blickte in ein Papier.
Kern nickte. Er konnte nicht sprechen. Seine Kehle war plötzlich trocken. Der Mann sah auf.
„Ja“, sagte Kern heiser.
„Sie haben sich ohne Papiere und unangemeldet in Österreich aufgehalten…“ Der Mann las rasch das Protokoll herunter. „Sie sind zu vierzehn Tagen Haft verurteilt, die inzwischen verbüßt worden sind. Sie werden aus Österreich ausgewiesen. Jede Rückkehr ist strafbar. Hier ist der gerichtliche Ausweisungsbeschluss. Und hier haben Sie zu unterschreiben, dass Sie den Ausweisungsbeschluss zur Kenntnis genommen haben und wissen, dass jede Rückkehr strafbar ist. Hier rechts.“
Der Mann zündete sich eine Zigarette an. Kern sah wie gebannt auf die etwas schwammige Hand mit den dicken Adern, die das Streichholz hielt. Dieser Mann würde in zwei Stunden seinen Schreibtisch abschließen und zum Abendessen gehen – nachher würde er vielleicht ein Tarock spielen und ein paar Gläser Heurigen trinken – gegen elf Uhr würde er gähnen, seine Zeche zahlen und erklären: „Ich bin müde. Ich gehe nach Hause. Schlafen.“ Nach Hause. Schlafen. Um dieselbe Zeit würde die Dunkelheit dicht über den Wäldern und Feldern an der Grenze liegen, die Dunkelheit, die Fremde, die Angst, und verloren darin, allein, stolpernd, müde, mit Sehnsucht nach Menschen und Angst vor Menschen, das winzige, flackernde Fünkchen Leben Ludwig Kern. Und all das nur, weil ihn und den gelangweilten Beamten hinter dem Schreibtisch ein Stück Papier trennte, Pass genannt. Ihr Blut hatte die gleiche Temperatur, ihre Augen hatten die gleiche Konstruktion, ihre Nerven reagierten auf die gleichen Reize, ihre Gedanken liefen in den gleichen Bahnen – und doch trennte sie ein Abgrund, nichts war gleich bei ihnen, das Behagen des einen war die Qual des andern, sie waren Besitzender und Ausgestoßener, und der Abgrund, der sie trennte, war nur ein kleines Stück Papier, auf dem nichts weiter stand als ein Name und ein paar belanglose Daten.
„Hier rechts“, sagte der Beamte. „Vor- und Zuname.“
Kern riss sich zusammen und unterschrieb.
„An welche Grenze wollen Sie gestellt werden?“ fragte der Beamte.
„An die tschechische.“
„Gut. In einer Stunde geht’s los. Es wird Sie jemand hinbringen.“
„Ich habe noch ein paar Sachen in dem Hause, wo ich gewohnt habe. Kann ich die vorher abholen?“
„Was für Sachen?“
„Einen Koffer mit Wäsche und so was.“
„Gut. Sagen Sie es dem Beamten, der Sie an die Grenze bringt. Sie können vorbeigehen.“
Der Inspektor führte Kern wieder hinunter und nahm Steiner mit hinauf. „Was war los?“ fragte das Poulet neugierig.
„In einer Stunde kommen wir ’raus.“
„Jesus Christus!“ sagte der Pole. „Geht Scheiße dann wieder los.“
„Möchtest du hier bleiben?“ fragte das Poulet.
„Wenn Essen bessärr – und kleine Posten als Kalfaktor – gärrne.“
Kern nahm sein Taschentuch hervor und rieb seinen Anzug sauber, so gut es ging. Sein Hemd war sehr schmutzig geworden in den vierzehn Tagen. Er drehte die Manschetten um. Er hatte sie die ganze Zeit geschont. Der Pole sah ihm zu. „In ein, zwei Jahren das dirr ganz eggal“, prophezeite er.
„Wohin gehst du?“ fragte das Poulet.
„Tschechei. Und du? Nach Ungarn?“
„Schweiz. Hab’s mir überlegt. Komm mit. Von da lassen wir uns dann nach Frankreich schieben.“
Kern schüttelte den Kopf. „Nein, ich will sehen, dass ich nach Prag komme.“
Ein paar Minuten später wurde Steiner wieder hereingebracht. „Weißt du, wie der Polizist heißt, der mich bei der Verhaftung ins Gesicht geschlagen hat?“ fragte er Kern. „Leopold Schäfer. Er wohnt Trautenaugasse 27. Sie haben es mir aus dem Protokoll vorgelesen. Natürlich nicht, dass er mich geschlagen hat. Nur dass ich ihn bedroht hätte.“ Er sah Kern an. „Glaubst du, dass ich den Namen und die Adresse vergessen werde?“
„Nein“, sagte Kern. „Bestimmt nicht.“
„Das meine ich auch!“
Ein Kriminalbeamter in Zivil holte Steiner und Kern ab. Kern war aufgeregt. Vor der Tür blieb er unwillkürlich stehen. Das Bild, das er sah, prallte wie ein weicher, südlicher Wind gegen seine Stirn. Der Himmel war blau und ein wenig dämmerig über den Häusern, die Giebel leuchteten im letzten, roten Schein der Sonne, der Donaukanal schimmerte, und auf der Straße schoben sich beglänzte Autobusse durch den Strom heimkehrender und spazierender Menschen. Eine Schar Mädchen in hellen Kleidern drängte lachend und eilig dicht vorbei. Kern glaubte, noch nie etwas so Schönes gesehen zu haben.
„Los, gehen wir“, sagte der Kriminalbeamte.
Kern zuckte zusammen. Beschämt sah er an sich herunter. Er bemerkte, dass ein Vorbeigehender ihn ungeniert musterte. Sie gingen durch die Straßen, der Beamte in der Mitte. Die Cafés hatten Tische und Stühle herausgestellt, und überall saßen fröhliche, plaudernde Menschen. Kern senkte den Kopf und begann, schneller zu gehen. Steiner sah ihn mit gutmütigem Spott an. „Na, Kleiner, ist nichts für uns, was? Das da.“
„Nein“, erwiderte Kern und presste die Lippen zusammen.
Sie kamen zu ihrer Pension. Die Wirtin empfing sie mit einer Mischung von Ärger und Mitleid. Sie gab ihnen ihre Sachen gleich heraus. Es war nichts gestohlen worden. Kern hatte in der Zelle die Absicht gehabt, ein sauberes Hemd anzuziehen, aber jetzt, nachdem er durch die Straßen gegangen war, tat er es nicht. Er nahm den zerstoßenen Koffer unter den Arm und bedankte sich bei der Wirtin.
„Es tut mir leid, dass Sie solche Unannehmlichkeiten hatten“, sagte er.
Die Wirtin wehrte ab. „Lassen Sie sich’s nur gut gehen. Und Sie auch, Herr Steiner. Wo soll’s denn hin?“
Steiner machte eine ziellose Geste. „Den Weg der Grenzwanzen. Von Gebüsch zu Gebüsch.“
Die Wirtin stand einen Augenblick unentschlossen. Dann trat sie mit energischem Schritt an ein Wandschränkchen aus Nussbaumholz, das in Form einer mittelalterlichen Burg gearbeitet war. „Nehmen Sie noch einen auf den Weg…“
Sie holte drei Gläser und eine Flasche hervor und schenkte ein.
„Sliwowitz?“ fragte Steiner.
Sie nickte und bot dem Beamten auch ein Glas an.
Der wischte sich den Schnurrbart. „Unsereins tut schließlich nur seine Pflicht“, erklärte er.
„Natürlich!“ Die Wirtin goss sein Glas wieder voll. „Warum trinken Sie denn nicht?“ fragte sie Kern.
„Ich kann nicht. So auf den leeren Magen…“
„Ach so!“ Die Wirtin blickte ihn prüfend an. Sie hatte ein schwammiges, kaltes Gesicht, das jetzt unversehens wärmer wurde. „Gott ja, er wächst wohl noch“, murmelte sie. „Franzi“, rief sie dann. „Ein belegtes Brot!“
„Danke, das ist nicht nötig“, Kern errötete. „Ich habe keinen Hunger.“
Die Kellnerin brachte ein großes doppeltes Schinkenbrot. „Zieren Sie sich nicht“, sagte die Wirtin. „Vorwärts.“
„Willst du nicht die Hälfte?“ fragte Kern Steiner. „Es ist zuviel für mich.“
„Rede nicht! Iß!“ erwiderte Steiner.
Kern aß das Schinkenbrot auf und trank ein Glas Sliwowitz.
Dann verabschiedeten sie sich. Sie fuhren mit der Straßenbahn zum Ostbahnhof. Im Zug fühlte sich Kern plötzlich sehr müde. Das Rattern des Wagens schläferte ihn ein. Er sah die Häuser wie im Traum vorübergleiten, Fabrikhöfe, Straßen, Wirtsgärten mit hohen Nussbäumen, Wiesen, Felder und die sanfte, blaue Dämmerung des Abends. Er war satt, das wirkte auf ihn wie ein Rausch. Seine Gedanken wurden unscharf, sie verloren sich in Träumen – von einem weißen Hause zwischen blühenden Kastanien, von einer Deputation feierlicher Menschen in Gehröcken, die ihm einen Ehrenbürgerbrief überreichten, und von einem uniformierten Diktator, der ihn weinend kniefällig um Entschuldigung bat.
Es war fast dunkel, als sie am Zollhaus ankamen. Der Kriminalbeamte übergab sie der Zollwache und stapfte dann zurück durch die fliederfarbene Dämmerung.
„Es ist noch zu früh“, sagte der Zollbeamte, der die Automobile abfertigte. „So um halb zehn ist die beste Zeit.“
Kern und Steiner setzten sich vor die Tür auf eine Bank und sahen zu, wie die Automobile ankamen. Nach einiger Zeit kam ein zweiter Zollbeamter heraus. Er führte sie rechts vom Zollhaus einen Fußweg entlang. Sie kamen durch Felder, die stark nach Erde und Tau rochen, an ein paar Häusern mit erleuchteten Fenstern und einem Waldstreifen vorbei. Nach einiger Zeit blieb der Beamte stehen. „Geht hier weiter und haltet euch links, damit ihr durch die Büsche gedeckt seid, bis ihr an die March kommt. Sie ist jetzt nicht tief. Ihr könnt leicht hindurchwaten.“
Die beiden gingen. Es war sehr still. Nach einer Weile sah Kern sich um. Die schwarze Silhouette des Beamten hob sich vom Horizont ab. Er beobachtete sie. Sie gingen weiter.
An der March zogen sie sich aus. Sie packten ihre Kleider und ihr Gepäck zu einem Bündel zusammen. Das Wasser war moorig und schimmerte braun und silbern. Es waren Sterne und Wolken am Himmel, und der Mond brach manchmal durch.
„Ich werde vorangehen“, sagte Steiner. „Ich bin größer als du.“
Sie wateten durch den Fluß. Kern fühlte das Wasser kühl und geheimnisvoll an seinem Körper hochsteigen, als wollte es ihn nie mehr freigeben. Vor ihm tastete sich Steiner langsam und vorsichtig vorwärts. Er hielt seinen Rucksack und seine Kleider über den Kopf. Seine breiten Schultern waren weiß vom Mond überschienen. In der Mitte des Flusses blieb er stehen und sah sich um. Kern war dicht hinter ihm. Er lächelte und nickte ihm zu.
Sie kletterten ans gegenüberliegende Ufer und trockneten sich mit ihren Taschentüchern flüchtig ab. Dann zogen sie sich an und gingen weiter. Nach einer Weile blieb Steiner stehen. „Jetzt sind wir über die Grenze“, sagte er. Seine Augen waren hell und fast gläsern in dem durchscheinenden Licht. Er sah Kern an. „Wachsen die Bäume anders? Riecht der Wind anders? Sind es nicht dieselben Sterne? Sterben die Menschen anders?“
„Nein“, sagte Kern. „Das nicht. Aber ich fühle mich anders.“
Sie suchten sich einen Platz unter einer alten Buche, wo sie vor Sicht geschützt waren. Vor ihnen lag eine langsam abfallende Wiese. In der Ferne schimmerten die Lichter eines slowakischen Dorfes. Steiner band seinen Rucksack auf, um nach Zigaretten zu suchen. Dabei sah er auf Kerns Koffer. „Ich habe gefunden, dass ein Rucksack praktischer ist als ein Koffer. Er fällt nicht so auf. Man hält dich für einen harmlosen Wandervogel.“
„Wandervögel revidiert man auch“, erwiderte Kern. „Alles, was arm aussieht, revidiert man. Ein Auto wäre das beste.“
Sie zündeten sich Zigaretten an. „Ich gehe in einer Stunde zurück“, sagte Steiner. „Und du?“
„Ich will versuchen, nach Prag zu kommen. Die Polizei ist da besser. Man bekommt leicht ein paar Tage Aufenthaltserlaubnis, und dann muss man weitersehen. Vielleicht finde ich auch meinen Vater, und er kann mir helfen. Ich habe gehört, er wäre da.“
„Weißt du, wo er wohnt?“
„Nein.“
„Wieviel Geld hast du?“
„Zwölf Schilling.“
Steiner kramte in seiner Rocktasche. „Hier hast du etwas dazu. Das reicht ungefähr bis Prag.“
Kern blickte auf. „Nimm’s ruhig“, sagte Steiner. „Ich habe noch genug für mich.“
Er zeigte ein paar Scheine. Kern konnte es im Schatten der Bäume nicht sehen, was für welche es waren. Er zauderte einen Augenblick. Dann nahm er das Geld.
„Danke“, sagte er.
Steiner erwiderte nichts. Er rauchte. Die Zigarette glomm auf, wenn er zog, und beleuchtete sein verschattetes Gesicht. „Weshalb bist du eigentlich unterwegs?“ fragte Kern zögernd. „Du bist doch kein Jude!“
Steiner schwieg eine Zeitlang. „Nein, ich bin kein Jude“, sagte er endlich.
Es raschelte im Gebüsch hinter ihnen. Kern sprang auf. „Ein Hase oder ein Kaninchen“, sagte Steiner. Dann wandte er sich Kern zu. „Damit du daran denken kannst, Kleiner, wenn du mal verzweifelst. Du bist draußen, dein Vater ist draußen, deine Mutter ist draußen. Ich bin draußen – aber meine Frau ist in Deutschland. Und ich weiß nichts von ihr.“
Es raschelte wieder hinter ihnen. Steiner drückte seine Zigarette aus und lehnte sich an den Stamm der Buche. Es begann zu wehen. Der Mond hing über dem Horizont. Ein Mond, kreidig und unbarmherzig wie in jener letzten Nacht.
Nach seiner Flucht aus dem Konzentrationslager hatte Steiner sich eine Woche lang bei einem Freunde verborgen gehalten. Er hatte in einer abgeschlossenen Dachkammer gesessen, immer bereit, über das Dach zu fliehen, wenn er ein verdächtiges Geräusch hören würde. Nachts brachte ihm der Freund Brot, Konserven und ein paar Flaschen Wasser. In der zweiten Nacht ein paar Bücher. Steiner las sie tagsüber immer wieder, um sich abzulenken. Seine Notdurft musste er in einen Topf verrichten, der in einem Pappkarton verborgen war. Der Freund holte ihn nachts herunter und brachte ihn wieder hinauf. Sie mussten so vorsichtig sein, dass sie kaum miteinander flüsterten; die Dienstmädchen, die nebenan schliefen, hätten sie hören und verraten können.
„Weiß Marie es?“ fragte Steiner in der ersten Nacht.
„Nein. Das Haus ist bewacht.“
„Ist ihr etwas passiert?“
Der Freund schüttelte den Kopf und ging.
Steiner fragte immer dasselbe. Jede Nacht. In der vierten Nacht brachte der Freund endlich die Nachricht, dass er sie gesehen habe. Sie wisse jetzt, wo er sei. Er habe es ihr zuflüstern können. Morgen sähe er sie wieder. Auf dem Wochenmarkt im Gedränge. Steiner verbrachte den nächsten Tag damit, ihr einen Brief zu schreiben, den der Freund ihr zustecken sollte. Abends zerriss er ihn. Er wusste nicht, ob man sie beobachtete. Nachts bat er aus demselben Grunde den Freund, sie nicht mehr zu treffen. Er blieb noch drei Nächte in der Kammer. Endlich kam der Freund mit Geld, einer Fahrkarte und einem Anzug. Steiner schnitt sich das Haar und wusch es mit Wasserstoffsuperoxyd hell. Dann rasierte er sich den Schnurrbart ab. Vormittags verließ er das Haus. Er trug eine Monteurjacke und einen Kasten mit Werkzeug. Er sollte sofort aus der Stadt hinaus; aber er wurde schwach. Es war zwei Jahre her, dass er seine Frau gesehen hatte. Er ging zum Wochenmarkt. Nach einer Stunde kam sie. Er fing an zu zittern. Sie ging an ihm vorüber, aber sie sah ihn nicht. Er folgte ihr, und als er dicht hinter ihr war, sagte er: „Sieh dich nicht um! Ich bin’s! Geh weiter! Geh weiter!“
Ihre Schultern zuckten, und sie warf den Kopf zurück. Dann ging sie weiter. Aber es war, als wäre sie nur noch ein einziges Lauschen nach rückwärts.
„Hat man dir etwas getan?“ fragte die Stimme hinter ihr.
Sie schüttelte den Kopf.
„Beobachtet man dich?“
Sie nickte.
„Jetzt?“
Sie zögerte. Dann schüttelte sie den Kopf.
„Ich gehe jetzt gleich. Will versuchen, durchzukommen. Ich kann dir nicht schreiben. Es ist zu gefährlich für dich.“
Sie nickte.
„Du musst dich von mir scheiden lassen.“
Die Frau verhielt eine Sekunde den Schritt. Dann ging sie weiter.
„Du musst dich von mir scheiden lassen. Du musst morgen hingehen. Du musst sagen, dass du dich wegen meiner Gesinnung scheiden lassen willst. Du hättest das alles früher nicht gewusst. Hast du es verstanden?“
Die Frau rührte den Kopf nicht. Sie ging steif aufgerichtet weiter.
„Versteh mich doch“, flüsterte Steiner. „Es ist nur, damit du in Sicherheit bist! Es würde mich verrückt machen, wenn sie dir was täten! Du musst dich scheiden lassen – dann lassen sie dich in Ruhe!“
Die Frau antwortete nicht.
„Ich liebe dich, Marie“, sagte Steiner leise, zwischen den Zähnen hindurch, und die Augen flimmerten ihm vor Erregung. „Ich liebe dich, und ich gehe nicht weg, wenn du es nicht versprichst! Ich gehe zurück, wenn du es nicht versprichst! Verstehst du mich?“
Nach einer Ewigkeit, schien ihm, nickte die Frau.
„Versprichst du es mir?“
Die Frau nickte langsam. Ihre Schultern sanken zusammen.
„Ich biege jetzt ab und komme den Gang rechts herauf. Geh links herum und komme mir entgegen. Sprich nichts, tu nichts! Ich will dich nur noch einmal sehen. Dann gehe ich. Wenn du nichts hörst, bin ich durchgekommen.“
Die Frau nickte und ging rascher.
Steiner bog ab und ging die Gasse rechts hinauf. Sie war eingesäumt von den Buden der Schlächter. Frauen mit Körben feilschten vor den Ständen. Das Fleisch glänzte blutig und weiß in der Sonne. Es roch unerträglich. Die Schlächter schrien. Aber plötzlich versank alles. Das Hacken der Beile auf den Holzklötzen wurde zum feinen Dengeln von Sensen. Eine Wiese war da, ein Kornfeld, Freiheit, Birken, Wind und der geliebte Schritt und das geliebte Gesicht. Ihre Augen fassten sich und ließen sich nicht los, und in ihnen war alles: Schmerz und Glück und Liebe und Trennung, das Leben schwankend hoch über ihren Gesichtern, voll und süß und wild, und der Verzicht, das rasende Kreisen der tausend flimmernden Messer.
Sie gingen und standen still zugleich, und sie gingen und wussten es nicht. Dann stürzte die Leere grell in Steiners Augen, und erst nach einer Weile unterschied er wieder die Farben und das Kaleidoskop, das sinnlos vor seinen Augäpfeln abrollte und nicht eindrang.
Er stolperte weiter, dann ging er rasch, so schnell er konnte, ohne aufzufallen. Er stieß die Hälfte eines geschlachteten Schweines von einem mit Wachstuch belegten Tisch, er hörte das Schimpfen des Schlächters wie das Rasseln einer Trommel, er lief um die Ecke der Budengasse und blieb stehen.
Er sah sie fortgehen vom Markt. Sie ging sehr langsam. An der Ecke der Straße blieb sie stehen und drehte sich um. So stand sie lange Zeit, das Gesicht etwas emporgehoben, die Augen weit offen. Der Wind zerrte an ihren Kleidern und drückte sie gegen ihren Körper. Steiner wusste nicht, ob sie ihn sah. Er wagte nicht, sich ihr noch einmal zu zeigen. Er ahnte, dass sie vielleicht zurücklaufen würde zu ihm. Nach einer Weile hob sie die Hände und legte sie um ihre Brüste. Sie hielt sie ihm hin. Sie hielt sich ihm hin. Sie hielt sich ihm hin in einer schmerzvoll leeren, blinden Umarmung, den Mund geöffnet, mit geschlossenen Augen. Dann wandte sie sich langsam ab, und die Schattenschlucht der Straße verschluckte sie.
Drei Tage später kam Steiner über die Grenze. Die Nacht war hell und windig, und der Mond stand kreidig am Himmel. Steiner war ein harter Mensch, aber als er die Grenze überquert hatte, nass von kaltem Schweiß, drehte er sich um und sagte wie irrsinnig in die Richtung, aus der er kam, den Namen seiner Frau.
Er nahm eine neue Zigarette heraus. Kern gab ihm Feuer.
„Wie alt bist du?“ fragte Steiner.
„Einundzwanzig. Bald zweiundzwanzig.“
„So, bald zweiundzwanzig. Kein Spaß, Baby, was?“
Kern schüttelte den Kopf.
Steiner schwieg eine Zeitlang. Dann sagte er: „Mit einundzwanzig war ich im Krieg. In Flandern. War auch kein Spaß. Da ist dieses hier hundertmal besser. Verstehst du?“
„Ja.“ Kern drehte sich um. „Es ist auch besser, als tot zu sein. Das weiß ich alles.“
„Dann weißt du schon viel. Vor dem Kriege wussten nur wenige Leute so was.“
„Vor dem Kriege – das war vor hundert Jahren.“ „Vor tausend. Mit zweiundzwanzig Jahren lag ich im Lazarett. Da habe ich etwas gelernt. Willst du wissen, was?“
„Ja.“
„Schön.“ Steiner zog an seiner Zigarette. „Ich hatte nichts Besonderes. Fleischdurchschuss ohne viel Schmerzen. Aber neben mir lag mein Freund. Nicht irgendein Freund. Mein Freund.
Ein Splitter hatte ihm den Bauch aufgerissen. Er lag da und schrie. Kein Morphium, verstehst du? Hatten sogar für die Offiziere zuwenig. Am zweiten Tag war er so heiser, dass er nur noch stöhnte. Flehte mich an, ein Ende zu machen. Hätte es getan, wenn ich gewusst hätte, wie. Am dritten Tag gab’s mittags auf einmal Erbsensuppe. Dicke Friedenssuppe mit Speck. Vorher hatten wir nur so eine Art Aufwaschwasser gekriegt. Wir aßen sie. Waren furchtbar hungrig. Und während ich fraß wie ein heißhungriges Vieh, selbstvergessen mit Genuss fraß, sah ich über den Rand der Schüssel das Gesicht meines Freundes, die zerborstenen, aufgerissenen Lippen, ich sah, dass er unter Qualen starb, zwei Stunden später war er tot, und ich fraß und es schmeckte mir wie nie in meinem Leben.“
Er machte eine Pause.
„Ihr hattet eben schrecklichen Hunger“, sagte Kern.
„Nein, das war es nicht. Es war etwas anderes: dass neben dir jemand verrecken kann – und du nichts davon spürst. Mitleid, gut – aber die Schmerzen spürst du trotzdem nicht! Dein Bauch ist heil, das ist es. Einen halben Meter neben dir geht für einen andern die Welt unter in Gebrüll und Qual – und du spürst nichts. Das ist das Elend der Welt! Merk dir das, Baby. Deshalb geht es so langsam vorwärts. Und so schnell rückwärts. Glaubst du’s?“
„Nein“, sagte Kern.
Steiner lächelte. „Klar. Aber denk mal gelegentlich dran. Vielleicht hilft dir’s.“
Er stand auf. „Ich will los. Zurück. Der Zöllner glaubt nicht, dass ich jetzt kommen werde. Er hat die erste halbe Stunde aufgepasst. Morgen früh wird er wieder aufpassen. Dass ich inzwischen ’rüberrücken könnte, geht nicht in seinen Kopf. Zöllnerpsychologie. Gottlob ist der Gejagte meistens nach einiger Zeit klüger als der Jäger. Weißt du warum?“
„Nein.“
„Weil für ihn mehr auf dem Spiel steht.“ Er schlug Kern auf die Schulter. „Deshalb sind die Juden das schlaueste Volk der Erde geworden. Erstes Gesetz des Lebens: Gefahr schärft die Sinne.“
Er gab Kern die Hand. Sie war groß und trocken und warm. „Mach’s gut. Vielleicht sehen wir uns mal wieder. Ich werde abends öfter im Café Sperle sein. Kannst da nach mir fragen.“
Kern nickte.
„Also mach’s gut. Und vergiss das Kartenspielen nicht. Es lenkt ab, ohne dass man denken muss. Ein hohes Ziel für Leute ohne Bleibe. Du bist nicht schlecht in Jass und Tarock. Im Poker musst du noch mehr riskieren. Mehr bluffen.“
„Gut“, sagte Kern. „Ich werde mehr bluffen. Und ich danke dir auch. Für alles.“
„Dankbarkeit musst du dir abgewöhnen. Nein, gewöhn sie dir nicht ab. Kommst besser damit durch. Ich meine nicht bei den Leuten, das ist gleichgültig. Bei dir. Wärmt dir das Herz, wenn du’s mal sein kannst. Und denk dran: alles besser als Krieg!“
„Und besser als tot.“
„Tot weiß ich nicht. Aber besser als sterben auf jeden Fall. Servus, Baby!“
„Servus, Steiner!“
Kern blieb noch eine Zeitlang sitzen. Der Himmel war klar geworden und die Landschaft war voll Frieden. Sie war ohne Menschen.
Kern saß schweigend im Schatten der Buche. Das helle durchscheinende Grün der Blätter bauschte sich über ihm wie ein großes Segel – als triebe der Wind die Erde sanft durch den unendlichen blauen Raum – vorbei an den Signallichtern der Sterne und der Leuchtboje des Mondes.
Kern beschloss zu versuchen, nachts noch bis Pressburg zu kommen und von da nach Prag. Eine Stadt war immer am sichersten. Er öffnete seinen Koffer und nahm das saubere Hemd und ein Paar Strümpfe hervor, um sich umzuziehen. Er wusste, dass es wichtig war, wenn ihm jemand begegnete. Er wollte es auch, um das Gefängnis loszuwerden.
Es war ihm sonderbar zumute, als er nackt im Mondlicht dastand. Er kam sich wie ein verlorenes Kind vor. Rasch nahm er das frische Hemd, das im Grase vor ihm lag, und streifte es über. Es war ein blaues Hemd und das war praktisch, denn es schmutzte nicht so leicht. Im Mondlicht sah es fahlgrau und violett aus. Er nahm sich vor, mutig zu bleiben.