Комментарии и словарь Л. М. Бузиновой
Впервые опубликовано на немецком языке как “Liebe deinen Nächsten” von Erich Maria Remarque
© Erich Maria Remarque,1941
© Kiepenheuer&Witsch, 1978, 1991, 1998
© Издательско-полиграфический центр КАРО, 2011
Man braucht ein starkes Herz, um ohne Wurzel zu leben —
Kern fuhr mit einem Ruck aus schwarzem, brodelndem Schlaf empor und lauschte. Er war, wie alle Gehetzten, sofort ganz wach, gespannt und bereit zur Flucht. Während er unbeweglich, den schmalen Körper schräg vorgeneigt, im Bette saß, überlegte er, wie er entkommen könnte, wenn der Aufgang schon besetzt wäre.
Das Zimmer lag im vierten Stock. Es hatte ein Fenster nach der Hofseite, aber keinen Balkon und kein Gesims, von denen aus die Dachrinne zu erreichen gewesen wäre. Nach dem Hofe zu war eine Flucht also unmöglich. Es gab nur noch einen Weg: über den Korridor zum Dachboden und über das Dach hinweg zum nächsten Hause.
Kern sah auf das Leuchtzifferblatt seiner Uhr. Es war kurz nach fünf. Das Zimmer war noch fast finster. Grau und undeutlich schimmerten die Laken der beiden anderen Betten durch die Dunkelheit. Der Pole, der an der Wand schlief, schnarchte.
Vorsichtig glitt Kern aus dem Bett und schlich zur Tür. Im selben Augenblick rührte sich der Mann, der im mittleren Bette lag. „Ist was los?“ flüsterte er.
Kern gab keine Antwort; er hielt das Ohr an die Tür gepresst.
Der andere richtete sich auf. Er wühlte in den Sachen, die am Pfosten des eisernen Bettgestells hingen. Eine Taschenlampe blitzte auf und fing in ihrem fahlen, zitternden Lichtkreis ein Stück der braunen, abgeblätterten Tür und die Gestalt Kerns, der mit wirrem Haar und zerdrücktem Unterzeug am Schlüsselloch lauschte.
„Verdammt, sag, was los ist!“ zischte der Mann im Bett.
Kern richtete sich auf. „Ich weiß nicht. Bin aufgewacht, weil ich irgendwas gehört habe.
„Irgendwas! Was irgendwas, du Dummkopf?“
„Irgendwas unten. Stimmen, Schritte oder so was.“
Der Mann stand auf und kam zur Tür. Er hatte ein gelbliches Hemd an, unter dem im Schein der Taschenlampe ein Paar stark behaarte, muskulöse Beine hervorkamen. Er horchte eine Weile. „Wie lange wohnst du schon hier?“ fragte er dann.
„Zwei Monate.“
„War in der Zeit schon mal ’ne Razzia?“
Kern schüttelte den Kopf.
„Aha! Wirst dich dann wohl verhört haben. Ein Furz im Schlaf klingt ja manchmal wie ein Donnerschlag.“
Er leuchtete Kern ins Gesicht. „Na ja, knapp zwanzig, was? Emigrant?“
„Natürlich.“
„Jesus Christus tso siem stalo…“ gurgelte plötzlich der Pole in der Ecke.
Der Mann im Hemd ließ den Lichtkreis hinüberwandern. Ein schwarzes Bartgestrüpp mit aufgerissener Mundhöhle und aufgerissenen Augen unter buschigen Brauen tauchte aus dem Dunkel auf.
„Halt’s Maul mit deinem Jesu Christo, Polack“, knurrte der Mann mit der Taschenlampe. „Der lebt nicht mehr. Ist als Kriegsfreiwilliger an der Sommegefallen.“
„Tso?“
„Da ist es wieder!“ Kern sprang zum Bett. „Sie kommen von unten! Wir müssen übers Dach!“
Der andere drehte sich wie ein Kreisel. Man hörte Türen klappen und gedämpfte Stimmen. „Verflucht! ’raus! Polski, ’raus! Polizei!“
Er riss seine Sachen vom Bett. „Weißt du den Weg?“ fragte er Kern.
„Ja. Rechts, den Korridor entlang! Die Treppe hinter dem Ausguss ’rauf!“
„Los!“ Der Mann im Hemd öffnete lautlos die Tür.
„Matka boska!“ gurgelte der Pole.
„Halt’s Maul! Verrat nichts!“
Der Mann zog die Tür zu. Kern und er huschten den schmalen, schmutzigen Korridor entlang. Sie liefen so leise, dass sie den schlecht zugedrehten Wasserhahn über dem Ausguss tröpfeln hörten.
„Hier ’rum!“ flüsterte Kern, bog um die Ecke und rannte gegen etwas. Er taumelte, sah eine Uniform und wollte zurück.
Im gleichen Augenblick bekam er einen Schlag auf den Arm. „Stehenbleiben! Hände hoch!“ kommandierte jemand aus dem Dunkel.
Kern ließ seine Sachen zu Boden rutschen. Sein linker Arm war taub von dem Schlag, der den Ellenbogen getroffen hatte. Der Mann im Hemd sah eine Sekunde lang so aus, als wolle er sich in das Dunkel auf die Stimme stürzen. Aber dann blickte er auf den Lauf des Revolvers, der ihm von einem zweiten Beamten gegen die Brust gehalten wurde, und hob langsam die Arme.
„Umdrehen!“ kommandierte die Stimme. „Ans Fenster stellen!“
Die beiden gehorchten.
„Sieh nach, was in den Taschen ist“, sagte der Polizist mit dem Revolver.
Der zweite Beamte untersuchte die Kleider, die auf dem Boden lagen. „Fünfunddreißig Schilling – eine Taschenlampe – eine Pfeife – ein Taschenmesser – ein Lauskamm – sonst nichts…“
„Keine Papiere?“
„Paar Briefe oder so was…“
„Keine Pässe?“
„Nein.“
„Wo habt ihr eure Pässe?“ fragte der Polizist mit dem Revolver.
„Ich habe keinen“, erwiderte Kern.
„Natürlich!“ Der Polizist stieß dem Mann im Hemd den Revolver in den Rücken. „Und du? Muss man dich extra fragen, du Hurenbankert?“ sagte er.
Die beiden Polizisten sahen sich an. Der ohne Revolver fing an zu lachen. Der andere leckte sich die Lippen. „Ah, da schau her, ein feiner Herr!“ sagte er langsam. „Exzellenz, der Stromer! General Stinktier!“ Er holte plötzlich aus und schlug dem Mann die Faust gegen das Kinn. „Hände hoch!“ brüllte er, als der andere taumelte.
Der Mann sah ihn an. Kern glaubte noch nie einen solchen Blick gesehen zu haben. „Dich meine ich, du Scheißer!“ sagte der Polizist. „Wird’s bald? Oder soll ich dir dein Gehirn noch einmal aufschütteln?“
„Ich habe keinen Pass“, sagte der Mann.
„Ich habe keinen Pass“, äffte der Polizist nach. „Natürlich, Herr Hurenbankert hat keinen Pass. Konnte man sich ja wohl denken! Los, anziehen, aber flott!“
Eine Gruppe Polizisten lief den Korridor entlang. Sie rissen die Türen auf. Einer mit Schulterstücken kam heran. „Was habt ihr denn da?“
„Zwei Vögel, die übers Dach verduften wollten.“ Der Offizier betrachtete die beiden. Er war jung.
Sein Gesicht war schmal und blass. Er trug einen sorgfältig gestutzten, kleinen Schnurrbart und roch nach Toilettewasser. Kern erkannte es; es war Eau de Cologne 4711. Sein Vater hatte eine Parfümfabrik gehabt, daher wusste er so etwas.
„Die beiden werden wir uns besonders vornehmen“, sagte der Offizier. „Handschellen!“
„Ist es der Wiener Polizei erlaubt, bei Verhaftungen zu schlagen?“ fragte der Mann im Hemd.
Der Offizier sah auf. „Wie heißen Sie?“
„Steiner. Josef Steiner.“
„Er hat keinen Pass und hat uns bedroht“, erklärte der Polizist mit dem Revolver.
„Es ist noch viel mehr erlaubt, als Sie denken“, sagte der Offizier kurz.
„Marsch, ’runter!“
Die beiden zogen sich an. Der Polizist holte Handschellen hervor. „Kommt, ihr Lieblinge! So, jetzt seht ihr schon besser aus. Passen wie nach Maß.“
Kern spürte den Stahl kühl an seinen Gelenken. Es war das erste Mal in seinem Leben, dass er gefesselt wurde. Die Stahlreifen hinderten ihn beim Gehen nicht sehr. Aber ihm schien, als fesselten sie mehr als nur seine Hände.
Draußen war es früher Morgen. Vor dem Hause hielten zwei Polizeiautos. Steiner verzog das Gesicht. „Begräbnis erster Klasse! Nobel, was, Kleiner?“
Kern antwortete nicht. Er versteckte die Handschellen, so gut es ging, unter seinem Rock. Ein paar Milchkutscher standen neugierig auf der Straße. Gegenüber in den Häusern waren Fenster offen. Gesichter schimmerten wie Teig aus den dunklen Öffnungen. Eine Frau kicherte.
Ungefähr dreißig Verhaftete wurden auf die Wagen gebracht. Es waren offene Polizeiflitzer. Die meisten der Leute stiegen ohne ein Wort hinauf. Auch die Besitzerin des Hauses war darunter, eine dicke, hellblonde Frau von etwa fünfzig Jahren. Sie war die einzige, die erregt protestierte. Seit einigen Monaten hatte sie zwei leerstehende Etagen ihres baufälligen Hauses auf billigste Weise in eine Art Pension verwandelt. Es hatte sich bald herumgesprochen, dass man dort schwarz schlafen konnte, ohne bei der Polizei gemeldet zu werden. Die Frau hatte nur vier richtige Mieter mit polizeilicher Anmeldung – einen Hausdiener, einen Kammerjäger und zwei Huren. Die übrigen kamen abends, wenn es dunkel wurde. Fast alle waren Emigranten und Flüchtlinge aus Deutschland, Polen, Russland und Italien.
„Los, los!“ sagte der Offizier zu der Vermieterin. „Sie können das alles auf der Wache erklären. Da haben Sie Zeit genug dazu.“
„Ich protestiere!“ schrie die Frau.
„Protestieren können Sie, soviel Sie wollen. Vorläufig kommen Sie mit.“
Zwei Polizisten fassten die Frau unter die Arme und hoben sie auf den Wagen.
Der Offizier wandte sich zu Kern und Steiner. „So, jetzt diese beiden. Extra aufpassen auf sie.“
„Merci“, sagte Steiner und stieg auf. Kern folgte ihm.
Die Autos fuhren los. „Auf Wiedersehen!“ kreischte eine Frauenstimme aus den Fenstern.
„Schlagt das Emigrantenpack tot!“ brüllte ein Mann hinterher. „Dann spart ihr das Futter.“
Die Polizeiautos fuhren ziemlich schnell, denn die Straßen waren noch fast leer. Der Himmel hinter den Häusern wich zurück, er wurde heller und weiter und durchsichtig blau, aber die Verhafteten standen dunkel auf den Wagen wie Weiden im Herbstregen. Ein paar Polizisten aßen belegte Brote. Sie tranken Kaffee aus flachen Blechflaschen.
In der Nähe der Aspernbrücke kreuzte ein Gemüseauto die Straße. Die Polizeiwagen bremsten und zogen dann wieder an. Im gleichen Augenblick kletterte einer der Verhafteten über den Rand des zweiten Wagens und sprang ab. Er fiel schräg auf den Kotflügel, verfing sich mit dem Mantel und schlug mit einem trockenen Knack auf das Pflaster.
„Anhalten! Hinterher!“ schrie der Führer. „Schießt, wenn er nicht stehenbleibt!“
Der Wagen bremste scharf. Die Polizisten sprangen herunter. Sie liefen zu der Stelle, wo der Mann hingefallen war. Der Chauffeur sah sich um. Als er bemerkte, dass der Mann nicht flüchtete, fuhr er den Wagen langsam zurück.
Der Mann lag auf dem Rücken. Er war mit dem Hinterkopf auf die Steine geschlagen. In seinem offenen Mantel lag er da, mit ausgebreiteten Armen und Beinen, wie eine große heruntergeklatschte Fledermaus.
„Bringt ihn ’rauf!“ rief der Offizier.
Die Polizisten bückten sich. Dann richtete sich einer auf. „Er muss sich was gebrochen haben. Kann nicht aufstehen.“
„Natürlich kann er aufstehen! Hebt ihn hoch!“
„Gebt ihm einen gehörigen Tritt, dann wird er schon munter“, sagte der Polizist, der Steiner geschlagen hatte, träge.
Der Mann stöhnte. „Er kann tatsächlich nicht aufstehen“, meldete der andere. „Blutet auch am Kopf.“
„Verflucht!“ Der Führer kletterte herunter. „Dass sich keiner von euch rührt!“ schrie er zu den Verhafteten hinauf. „Verdammte Bande! Nichts als Scherereien!“
Der Wagen stand jetzt dicht neben dem Verunglückten. Kern konnte ihn von oben genau sehen. Er kannte ihn. Es war ein schmächtiger polnischer Jude mit schütterem, grauem Bart. Er erinnerte sich deutlich des alten Mannes, wie er morgens in aller Frühe, die Gebetsriemen über den Schultern, am Fenster gestanden und gebetet hatte, während er den Körper leise hin- und herwiegte. Er hatte mit Garnrollen, Schnürriemen und Zwirn gehandelt und war schon dreimal aus Österreich ausgewiesen worden.
„Aufstehen! Los!“ kommandierte der Offizier. „Wozu springen Sie denn vom Wagen? Zuviel auf dem Kerbholz, wie? Gestohlen, und wer weiß was noch!“
Der alte Mann bewegte die Lippen. Seine Augen waren groß auf den Offizier gerichtet.
„Was?“ fragte der. „Hat er was gesagt?“
„Er sagt, es wäre aus Angst gewesen“, erwiderte der Polizist, der neben ihm kniete.
„Angst? Natürlich aus Angst! Weil er was ausgefressen hat! Was sagt er?“
„Er sagt, er hätte nichts ausgefressen.“
„Das sagt jeder. Aber was machen wir jetzt mit ihm? Was hat er denn?“
„Man sollte einen Arzt holen“, sagte Steiner vom Wagen herab.
„Seien Sie ruhig!“ schnauzte der Offizier nervös. „Wo soll man denn um diese Zeit einen Arzt herkriegen? Er kann doch nicht solange auf der Straße liegen. Nachher heißt es dann wieder, wir hätten ihn so zugerichtet. Geht ja immer alles auf die Polizei!“
„Er gehört ins Krankenhaus“, sagte Steiner. „Sogar schnell!“
Der Offizier war verwirrt. Er sah jetzt, dass der Mann schwer verletzt war und vergaß darüber, Steiner den Mund zu verbieten.
„Krankenhaus! Da nehmen sie ihn doch – nicht einfach so auf. Dazu braucht er doch einen Überweisungsschein. Ich kann das auch gar nicht allein machen. Ich muss ihn erst zum Rapport bringen.“
„Bringen Sie ihn zum jüdischen Krankenhaus“, sagte Steiner. „Da nehmen sie ihn ohne Überweisungsschein und Rapport. Sogar ohne Geld.“
Der Offizier starrte ihn an. „Woher wissen Sie denn das, Sie?“
„Man sollte ihn zur Rettungsgesellschaft bringen“, schlug einer der Polizisten vor. „Da ist immer ein Sanitäter oder ein Arzt. Die könnten dann weitersehen. Damit wären wir ihn auch los.“
Der Offizier hatte seinen Entschluss gefasst. „Gut, hebt ihn auf! Wir fahren bei der Rettungswache vorbei. Dann bleibt einer mit ihm da. Verdammte Schweinerei!“
Die Polizisten hoben den Mann hoch. Er stöhnte und wurde sehr blass. Sie legten ihn auf den Boden des Wagens. Er zuckte und öffnete die Augen. Sie glänzten unnatürlich in dem verfallenen Gesicht. Der Offizier biss sich auf die Lippen. „So ein Blödsinn! ’runterspringen, solch ein alter Mann! Los, langsam fahren!“
Unter dem Kopf des Verletzten bildete sich langsam eine Blutlache. Die knotigen Finger scharrten über das Bodenholz des Wagens. Die Lippen zogen sich allmählich von den Zähnen zurück und gaben sie frei. Es sah aus, als lache hinter der geisterhaft verschatteten Maske des Schmerzes jemand anders lautlos und voll Hohn.
„Was sagt er?“ fragte der Offizier.
Der Polizist von vorher kniete wieder neben den Alten hin und hielt ihm beim Rattern des Wagens den Kopf fest. „Er sagt, er hätte zu seinen Kindern gewollt. Sie müsste jetzt verhungern“, berichtete er.
„Ach, Unsinn! Werden nicht verhungern. Wo sind sie denn?“
Der Polizist beugte sich herunter. „Er will es nicht sagen. Sie würden dann ausgewiesen. Hätten alle keine Aufenthaltserlaubnis.“
„Das sind doch Phantasien. Was sagt er jetzt?“
„Er sagt, Sie möchten ihm verzeihen.“
„Was?“ fragte der Offizier erstaunt.
„Er sagt, Sie möchten ihm verzeihen wegen der Scherereien, die er macht.“
„Verzeihen? Was soll denn das nun wieder?“ Kopfschüttelnd starrte der Offizier den Mann am Boden an.
Der Wagen hielt vor der Rettungswache. „Tragt ihn ’rein!“ kommandierte der Offizier. „Aber vorsichtig. Und Sie, Rohde, bleiben bei ihm, bis ich telefoniere.“
Sie hoben den Verunglückten hoch. Steiner bückte sich. „Wir finden deine Kinder. Wir werden ihnen helfen“, sagte er. „Verstehst du, Alter?“
Der Jude schloss die Augen und öffnete sie wieder. Dann trugen ihn drei Polizisten in das Haus. Seine Arme hingen herunter und schleiften widerstandslos über das Pflaster, als wären sie schon ohne Leben. Nach einiger Zeit kamen zwei Polizisten zurück und stiegen wieder auf. „Hat er noch etwas gesagt?“ fragte der Offizier.
„Nein. Er war schon ganz grün im Gesicht. Wenn’s die Wirbelsäule ist, macht er’s nicht mehr lange.“
„Na ja, halt ein Jud weniger“, sagte der Polizist, der Steiner geschlagen hatte.
„Verzeihen“, murmelte der Offizier. „So was! Komische Menschen…“
„Besonders in diesen Zeiten“, sagte Steiner.
Der Offizier straffte sich. „Halten Sie’s Maul gefälligst, Sie Bolschewist!“ brüllte er. „Ihnen werden wir Ihre Frechheiten schon austreiben!“
Man brachte die Verhafteten zur Polizeistation an der Elisabethpromenade. Steiner und Kern wurden die Handschellen abgenommen, dann kamen sie zu den andern in einen großen, halbdunklen Raum. Die meisten saßen schweigend herum. Sie waren gewohnt zu warten. Nur die dicke blonde Wirtin lamentierte unentwegt weiter.
Gegen neun Uhr wurde einer nach dem andern heraufgeholt. Kern wurde in ein Zimmer geführt, in dem sich zwei Polizisten, ein Schreiber in Zivil, der Offizier und ein älterer Polizeioberkommissär befanden. Der Oberkommissar saß in einem hölzernen Sessel und rauchte Zigaretten. „Personalien“, sagte er zu dem Mann am Tisch.
Der Schreiber war ein schmaler, pickliger Mensch, der an einen Hering erinnerte. „Name?“ fragte er mit einer überraschend tiefen Stimme.
„Ludwig Kern.“
„Geboren?“
„30. November 1914 in Dresden.“
„Also Deutscher?“
„Nein. Staatenlos. Ausgebürgert.“
Der Oberkommissär blickte auf. „Mit einundzwanzig? Was haben’s denn angestellt?“
„Nichts. Mein Vater ist ausgebürgert worden. Da ich damals minderjährig war, ich auch.“
„Und weshalb Ihr Vater?“
Kern schwieg einen Augenblick. Ein Jahr Emigration hatte ihn Vorsicht mit jedem Wort bei Behörden gelehrt. „Er wurde zu Unrecht als politisch unzuverlässig denunziert“, sagte er schließlich.
„Jude?“ fragte der Schreiber.
„Mein Vater. Meine Mutter nicht.“
„Aha!“
Der Oberkommissär schnippte die Asche seiner Zigarette auf den Boden. „Warum sind Sie denn nicht in Deutschland geblieben?“
„Man hat uns unsere Pässe abgenommen und uns ausgewiesen. Wir wären eingesperrt worden, wenn wir geblieben wären. Und wenn wir eingesperrt werden mussten, wollten wir es lieber in einem anderen Lande als in Deutschland.“
Der Oberkommissär lachte trocken. „Kann ich verstehen. Wie sind Sie denn ohne Pass über die Grenze gekommen?“
„An der tschechischen Grenze genügte damals für den kleinen Grenzverkehr ein einfacher Einwohner-Meldeschein. Den hatten wir noch. Man konnte damit drei Tage in der Tschechoslowakei bleiben.“
„Und nachher?“
„Wir bekamen drei Monate Aufenthaltserlaubnis. Dann mussten wir fort.“
„Wie lange sind Sie schon in Österreich?“
„Drei Monate.“
„Warum haben Sie sich nicht bei der Polizei gemeldet?“
„Weil ich dann sofort ausgewiesen worden wäre.“ „Na, na!“ Der Oberkommissär schlug mit der flachen Hand auf die Sessellehne. „Woher wissen Sie das so genau?“
Kern verschwieg, dass er und seine Eltern sich das erste Mal, als sie über die österreichische Grenze gegangen waren, sofort bei der Polizei gemeldet hatten. Sie waren am gleichen Tage über die Grenze zurückgeschoben worden. Als sie dann wiederkamen, hatten sie sich nicht mehr gemeldet.
„Ist es vielleicht nicht wahr?“ fragte er.
„Sie haben hier nicht zu fragen; Sie haben nur zu antworten“, sagte der Schreiber grob.
„Wo sind Ihre Eltern jetzt?“ fragte der Oberkommissär.
„Meine Mutter ist in Ungarn. Sie hat dort eine Aufenthaltserlaubnis bekommen, weil sie ungarischer Herkunft ist. Mein Vater ist verhaftet und ausgewiesen worden, als ich nicht im Hotel war. Ich weiß nicht, wo er ist!“
„Was sind Sie von Beruf?“
„Ich war Student.“
„Wovon haben Sie gelebt?“
„Ich habe etwas Geld.“
„Wieviel?“
„Ich habe zwölf Schilling hier. Das andere habe ich bei Bekannten.“
Kern besaß nicht mehr als die zwölf Schilling. Er hatte sie verdient durch Handel mit Seife, Parfüm und Toilettewasser. Hätte er das jedoch zugegeben, wäre er auch wegen verbotener Arbeit strafbar gewesen.
Der Oberkommissär erhob sich und gähnte. „Sind wir durch?“
„Es ist noch einer unten“, sagte der Schreiber.
„Wird auch dasselbe sein. Viel Gescher und wenig Wolle.“ Der Oberkommissär warf einen schiefen Blick auf den Offizier. „Alles Leute, die illegal eingereist sind. Sieht nicht nach kommunistischem Komplott aus, was? Wer hat denn die Anzeige gemacht?“
„Jemand, der auch so eine Bude hat. Nur mit Wanzen“, sagte der Schreiber. „Geschäftsneid wahrscheinlich.“
Der Oberkommissär lachte. Dann sah er, dass Kern noch im Zimmer war. „Bringt ihn hinunter. Sie wissen ja, was es gibt: vierzehn Tage Haft und Ausweisung.“ Er gähnte nochmals. „Na, ich geh’ auf ein Gulasch und ein Bier.“
Man brachte Kern in eine kleinere Zelle als vorher. Außer ihm befanden sich noch fünf der Verhafteten darin; darunter der Pole, der mit im Zimmer geschlafen hatte. Nach einer Viertelstunde brachte man auch Steiner. Er setzte sich neben Kern. „Das erstemal im Kasten, Kleiner?“
Kern nickte.
„Und? Fühlst dich wie ein Mörder, was?“
Kern verzog die Lippen. „Ungefähr. Gefängnis – ich habe da noch so Vorstellungen von früher her.“
„Das hier ist nicht Gefängnis“, belehrte Steiner ihn. „Es ist Haft. Gefängnis kommt später.“
„Warst du schon drin?“
„Ja. Wirst es dir das erstemal zu Herzen nehmen. Dann nicht mehr. Besonders im Winter nicht. Hast wenigstens Ruhe während der Zeit. Ein Mensch ohne Pass ist eine Leiche auf Urlaub. Hat sich eigentlich nur umzubringen, sonst nichts.“
„Und mit Pass? Mit Pass bekommst du doch auch nirgendwo im Ausland Arbeitserlaubnis.“
„Natürlich nicht. Du hast damit nur das Recht, in Ruhe zu verhungern. Nicht auf der Flucht. Das ist schon viel.“
Kern starrte vor sich hin.
Steiner schlug ihm auf die Schulter.
„Kopf hoch, Baby! Du hast dafür das Glück, im zwanzigsten Jahrhundert zu leben – im Jahrhundert der Kultur, des Fortschritts und der Menschlichkeit.“
„Gibt es hier eigentlich nichts zu essen?“ fragte ein kleiner Mann mit einem Glatzkopf, der in der Ecke auf einer Pritsche saß. „Keinen Kaffee wenigstens?“
„Sie brauchen nur dem Kellner zu klingeln“, erwiderte Steiner. „Er soll die Karte bringen. Es gibt hier vier Menüs zur Auswahl. Kaviar à discretion selbstverständlich.“
„Essen särrschlecht hierr“, sagte der Pole.
„Ach, da ist ja unser Jesu Christo!“ Steiner betrachtete ihn interessiert. „Bist du Professional hier?“
„Särr schlecht“, wiederholte der Pole. „Und so wenig…“
„O Gott!“ sagte der Glatzkopf in der Ecke. „Und ich habe ein gebratenes Huhn in meinem Koffer. Wann werden sie uns hier bloß ’rauslassen?“
„In vierzehn Tagen“, erwiderte Steiner. „Das ist die übliche Strafe für Emigranten ohne Papiere. Nicht wahr, Jesu Christo? Du kennst das doch!“
„Vierzehn Tage“, bestätigte der Pole. „Odärr länger. Essen särr wennig. Särr schlecht. Dünne Suppe.“
„Verflucht! In der Zeit ist das Huhn verfault.“ Der Glatzkopf stöhnte. „Mein erstes Poulet seit zwei Jahren. Zusammengespart, Groschen für Groschen. Heute mittag wollte ich es essen.“
„Warten Sie bis heute abend mit Ihrem Schmerz“, sagte Steiner. „Dann können Sie annehmen, Sie hätten es schon gegessen, und Sie haben es leichter.“
„Was? Was reden Sie da für Unsinn?“ Der Mann starrte Steiner aufgewühlt an. „Das soll dasselbe sein, Sie Quatschkopf? Wenn ich es doch nicht gegessen habe? Und außerdem hätte ich mir eine Keule noch für morgen früh aufgehoben.“
„Dann warten Sie bis morgen mittag.“
„Fürr mich das nicht schlimm“, mischte sich der Pole ein. „Esse nie Poulet.“
„Für dich kann’s doch auch nicht schlimm sein. Du hast doch keins gebraten im Koffer liegen“, schimpfte der Mann in der Ecke.
„Auch wenn ich hätte, nicht schlimm! Esse nie derselbe! Vertrage nicht Poulet. Kotze hinterher!“ Der Pole sah sehr zufrieden aus und strählte seinen Bart. „Fürr mich gar nicht schlimm, der Poulet!“
„Mann Gottes, das will ja niemand wissen!“ schrie der Glatzkopf ärgerlich.
„Sogar wenn Poulet hierr – ich demselben nicht essen!“ verkündete der Pole triumphierend.
„Herrgott! Hat man so was schon mal gehört!“ Der Besitzer des Huhns im Koffer drückte verzweifelt die Hände gegen die Augen.
„Mit gebratenen Poulets kann ihm scheinbar nichts passieren“, sagte Steiner. „Unser Jesu Christo ist da immun. Ein Diogenes der Brathühner. Wie ist es denn mit Suppenhuhn?“
„Auch nicht“, erklärte der Pole fest.
„Und Paprikahuhn?“
„Ibberhaupt kein Huhn!“ Der Pole strahlte.
„Ich werde verrückt!“ heulte der gemarterte Besitzer des Poulets.
Steiner drehte sich um. „Und Eier, Jesu Christo? Hühnereier?“
Das Strahlen verschwand. „Eierchen. Ja! Eierchen gärne!“ Ein Schimmer von Sehnsucht umflog den zerrauften Bart. „Särr gärne.“
„Dem Himmel sei Dank! Endlich ein Loch in der Vollkommenheit!“
„Eierchen särr gärne“, beteuerte der Pole. „Vierr Stück, sechs Stück, zwölf Stück, gekocht sechs Stück, andere gebraten. Mit Bratkartoffelchens. Bratkartoffelchens mit Speck.“
„Ich kann das nicht mehr mit anhören! Schlagt ihn ans Kreuz, den gefräßigen Christus!“ tobte das Huhn im Koffer.
„Meine Herren“, sagte eine warme Bassstimme mit russischem Akzent, „wozu so viel Aufregung um eine Illusion. Ich habe eine Flasche Wodka mit durchgebracht. Darf ich anbieten? Wodka wärmt das Herz und beruhigt das Gemüt.“
Der Russe entkorkte die Flasche, trank und reichte sie Steiner. Der nahm einen Schluck und gab sie an Kern weiter. Kern schüttelte den Kopf.
„Trink, Baby“, sagte Steiner. „Gehört dazu. Musst es lernen.“
„Wodka särr gutt!“ bestätigte der Pole.
Kern nahm einen Schluck und gab die Flasche an den Polen, der sie mit geübtem Griff in die Gurgel schwenkte.
„Er säuft sie aus, der Eierfetischist!“ knurrte der Mann mit dem Poulet und entriss ihm die Flasche. „Es ist nicht mehr viel drin“, sagte er bedauernd zu dem Russen, nachdem er getrunken hatte.
Der wehrte ab. „Macht nichts. Ich komme spätestens heute abend ’raus.“
„Sind Sie dessen so sicher?“ fragte Steiner.
Der Russe machte eine kleine Verbeugung. „Leider, möchte ich fast sagen. Ich besitze als Russe einen Nansenpass.“
„Nansenpass!“ wiederholte das Poulet ehrfürchtig. „Da gehören Sie natürlich zur Aristokratie der Vaterlandslosen.“
„Es tut mir leid, dass es bei Ihnen noch nicht soweit ist“, sagte der Russe höflich.
„Sie hatten den Vorrang“, erwiderte Steiner. „Sie waren die ersten. Sie hatten das große Mitleid der Welt. Wir haben nur noch das kleine. Man bedauert uns; aber wir sind lästig und unerwünscht.“
Der Russe hob die Schultern. Dann reichte er die Flasche dem letzten Mann in der Zelle, der bisher schweigend dagesessen hatte. „Bitte, nehmen Sie doch auch einen Schluck.“
„Danke“, sagte der Mann ablehnend. „Ich gehöre nicht zu Ihnen.“
Alle sahen ihn an.
„Ich besitze einen gültigen Pass, ein Vaterland. Aufenthaltserlaubnis und Arbeitserlaubnis.“
Alle schwiegen. „Verzeihen Sie die Frage“, sagte der Russe nach einer Weile zögernd, „weshalb sind Sie denn dann hier?“
„Wegen meines Berufes“, erwiderte der Mann hochmütig. „Ich bin kein windiger Flüchtling ohne Papiere. Ich bin ein anständiger Taschendieb und Falschspieler mit vollem Bürgerrecht.“
Mittags gab es dünne Bohnensuppe ohne Bohnen. Abends dasselbe, nur hieß es diesmal Kaffee, und es gab ein Stück Brot dazu. Um sieben Uhr klapperte die Tür. Der Russe wurde abgeholt, wie er es vorausgesagt hatte. Er verabschiedete sich wie von alten Bekannten. „Ich werde in vierzehn Tagen ins Café Sperler schauen“, sagte er zu Steiner. „Vielleicht sind Sie dann schon dort und ich weiß schon etwas. Auf Wiedersehen!“
Um acht Uhr war der Vollbürger und Falschspieler reif für den Anschluss. Er holte eine Schachtel Zigaretten hervor und ließ sie herumgehen. Alle rauchten. Die Zelle bekam durch die Dämmerung und die glühenden Zigaretten fast etwas Heimatliches. Der Taschendieb erzählte, dass man nur nachforsche, ob er im letzten halben Jahr einen Coup gemacht habe. Er glaube nicht, dass man etwas fände. Dann schlug er vor, ein Spiel zu machen und zauberte aus seinem Jackett ein Paket Karten.
Es war dunkel geworden, und das elektrische Licht wurde nicht angezündet. Der Falschspieler war darauf vorbereitet. Er zauberte noch einmal – eine Kerze und Streichhölzer. Die Kerze wurde auf einen Mauervorsprung geklebt. Sie gab ein mattes, flakkerndes Licht.
Der Pole, das Poulet und Steiner rückten heran. „Spielen ohne Geld, nicht wahr?“ sagte das Poulet.
„Selbstverständlich.“ Der Falschspieler lächelte.
„Spielst du nicht mit?“ fragte Steiner Kern.
„Ich kann nicht Karten spielen.“
„Musst du lernen, Baby. Was willst du sonst abends machen?“
„Morgen. Heute nicht.“
Steiner drehte sich um. Das schwache Licht grub tiefe Furchen in sein Gesicht. „Ist was los mit dir?“
Kern schüttelte den Kopf. „Nein. Nur etwas müde. Lege mich auf die Pritsche da.“
Der Falschspieler mischte bereits die Karten. Er hatte eine knatternde, elegante Manier, sie ineinanderschießen zu lassen.
„Wer gibt?“ fragte das Poulet.
Der Vollbürger reichte die Karten herum. Der Pole zog eine Neun, das Poulet eine Dame, Steiner und der Falschspieler jeder ein As.
Der Falschspieler sah kurz auf. „Stechen.“
Er zog. Wieder ein As. Er lächelte und gab das Paket an Steiner. Der warf nachlässig die unterste Karte des Spiels auf – das Kreuz-As.
„So ein Zufall!“ Das Poulet lachte.
Der Falschspieler lachte nicht. „Woher kennen Sie den Trick?“ fragte er Steiner betroffen. „Sind Sie aus der Branche?“
„Nein, Amateur. Da freut einen die Anerkennung des Fachmannes doppelt.“
„Es ist nicht das!“ Der Falschspieler sah ihn an. „Der Trick stammt nämlich von mir.“
„Ach so!“ Steiner zerdrückte seine Zigarette. „Ich habe ihn in Budapest gelernt. Im Gefängnis vor meiner Ausweisung. Von einem gewissen Katscher.“
„Katscher! Jetzt verstehe ich!“ Der Taschendieb atmete auf. „Daher also! Katscher ist ein Schüler von mir. Sie haben das gut gelernt.“
„Ja“, sagte Steiner, „man lernt allerhand, wenn man unterwegs ist.“
Der Falschspieler übergab ihm das Spiel Karten und blickte prüfend in die Kerzenflamme. „Das Licht ist schlecht – aber wir spielen natürlich nur zum Vergnügen, meine Herren, nicht wahr? Ehrlich…“
Kern legte sich auf die Pritsche und schloss die Augen. Er war voll von einer nebelhaften, grauen Traurigkeit. Seit dem Verhör morgens hatte er ununterbrochen an seine Eltern denken müssen; – seit langer Zeit zum erstenmal wieder. Er sah seinen Vater vor sich, als er von der Polizei zurückkam. Ein Konkurrent hatte ihn wegen staatsgefährlicher Reden bei der Gestapo denunziert, um sein kleines Laboratorium für medizinische Seifen, Parfüme und Toilettewasser zu ruinieren und es dann für nichts zu kaufen. Der Plan gelang wie tausend andere um diese Zeit. Kerns Vater kam völlig gebrochen nach sechs Wochen Haft zurück. Er sprach nie darüber; aber er verkaufte seine Fabrik für einen lächerlichen Preis an den Konkurrenten. Bald darauf kam die Ausweisung, und damit begann die Flucht ohne Ende. Von Dresden nach Prag; von Prag nach Brünn; von da nachts über die Grenze nach Österreich – am nächsten Tag durch die Polizei zurück in die Tschechei – heimlich ein paar Tage später wieder über die Grenze nach Wien – die Mutter mit einem nachts gebrochenen Arm, notdürftig im Walde mit zwei Aststücken geschient – von Wien nach Ungarn; ein paar Wochen bei Verwandten der Mutter – dann wieder Polizei; der Abschied von der Mutter, die bleiben konnte, weil sie ungarischer Herkunft war – wieder die Grenze; wieder Wien – das erbärmliche Hausieren mit Seife, Toilettewasser, Hosenträgern und Schnürsenkeln – die ewige Angst, angezeigt oder erwischt zu werden – der Abend, an dem der Vater nicht wiederkam – die Monate allein, von einem Versteck zum andern…
Kern drehte sich um. Dabei stieß er jemand an. Er öffnete die Augen. Auf der Pritsche neben ihm lag wie ein schwarzes Bündel in der Dunkelheit der letzte Bewohner der Zelle, ein Mann von etwa fünfzig Jahren, der sich den ganzen Tag noch kaum gerührt hatte.
„Entschuldigung“, sagte Kern. „Ich habe Sie nicht gesehen…“
Der Mann antwortete nicht. Kern bemerkte, dass er die Augen offen hatte. Er kannte die Art von Zuständen; er hatte sie oft unterwegs gesehen. Es war am besten, den Mann in Ruhe zu lassen.
„Verdammt!“ schrie plötzlich in der Ecke der Kartenspieler das Poulet auf. „Ich Ochse! Ich unerhörter Ochse!“
„Wieso?“ fragte Steiner ruhig. „Die Herzdame war genau richtig!“
„Das meine ich ja nicht! Aber dieser Russe hätte mir doch mein Poulet schicken können! Herrgott, ich dämlicher Ochse! Ich einfach wahnsinniger Ochse!“
Er sah sich um, als ob die Welt untergegangen wäre.
Kern merkte auf einmal, dass er lachte. Er wollte nicht lachen. Aber er konnte plötzlich nicht mehr aufhören. Er lachte, dass er sich schüttelte, und er wusste nicht weshalb. Irgend etwas in ihm lachte und warf alles durcheinander – Traurigkeit, Vergangenheit und alle Gedanken.
„Was ist los, Baby“ fragte Steiner und blickte von seinen Karten auf.
„Ich weiß nicht. Ich lache.“
„Lachen ist immer gut.“ Steiner zog den Pickönig und trumpfte dem sprachlosen Polen einen todsicheren Stich ab.
Kern griff nach einer Zigarette. Alles erschien ihm auf einmal ganz einfach. Er beschloss, morgen Karten spielen zu lernen, und er hatte das merkwürdige Gefühl, als ändere dieser Entschluss sein ganzes Leben.