Книга: Liebe deinen Nächsten / Возлюби ближнего своего. Книга для чтения на немецком языке
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Kern stand in einer Drogerie in der Nähe des Wenzelplatzes. Er hatte im Schaufenster ein paar Flaschen Toilettewasser entdeckt, die das Etikett aus dem Laboratorium seines Vaters trugen.

„Farr-Toilettewasser!“ Kern drehte die Flasche, die der Drogist vom Regal geholt hatte, in der Hand.

„Wo haben Sie denn das her?“

Der Drogist zuckte die Achseln. „Das weiß ich nicht mehr. Es kommt aus Deutschland. Wir haben es schon lange. Wollen Sie die Flasche kaufen?“

„Nicht nur die eine. Sechs…“

„Sechs?“

„Ja, sechs zunächst. Später noch mehr. Ich handle damit. Natürlich muss ich Prozente haben.“

Der Drogist sah Kern an. „Emigrant?“ fragte er.

Kern stellte die Flasche auf den Ladentisch. „Wissen Sie“, sagte er ärgerlich, „diese Frage langweilt mich allmählich, wenn sie von Zivilisten gestellt wird.

Besonders, wenn ich eine Aufenthaltserlaubnis in der Tasche habe. Sagen Sie mir lieber, wieviel Prozent Sie mir geben wollen?“

„Zehn.“

„Das ist lächerlich. Wie soll ich da etwas verdienen?“

„Sie können die Flaschen mit fünfundzwanzig Prozent haben“, sagte der Besitzer des Ladens, der herangekommen war. „Wenn Sie zehn nehmen, sogar mit dreißig. Wir sind froh, wenn wir den alten Kram loswerden.“

„Alten Kram?“ Kern blickte den Mann beleidigt an. „Das ist ein ganz hervorragendes Toilettewasser, wissen Sie das?“

Der Besitzer des Ladens bohrte sich gleichgültig einen Finger ins Ohr. „Mag sein. Dann sind Sie sicher auch mit zwanzig Prozent zufrieden.“

„Dreißig ist das mindeste. Das hat doch nichts mit der Qualität zu tun. Sie können mir dreißig Prozent geben, und das Toilettewasser kann trotzdem gut sein, oder nicht?“

Der Drogist verzog die Lippen. „Alle Toilettewasser sind gleich. Gut sind nur die, für die Reklame gemacht wird. Das ist das ganze Geheimnis.“

Kern sah ihn an. „Reklame wird für dieses bestimmt nicht mehr gemacht. Danach ist es allerdings sehr schlecht. Dann wären fünfunddreißig Prozent die richtige Provision.“

„Dreißig“, erwiderte der Besitzer. „Ab und zu wird doch danach gefragt.“

„Herr Bureck“, sagte der Drogist, „ich glaube, wir können sie ihm mit fünfunddreißig geben, wenn er ein Dutzend nimmt. Der Mann, der ab und zu danach fragt, ist immer derselbe. Er kauft auch nicht; er will uns nur das Rezept verkaufen.“

„Das Rezept? Lieber Gott, das fehlt uns noch!“ Bureck hob abwehrend die Hände.

„Das Rezept?“ Kern horchte auf. „Wer ist denn das, der Ihnen das Rezept verkaufen will?“

Der Drogist lachte. „Irgend jemand, der behauptet, er hätte früher selbst das Laboratorium gehabt. Natürlich alles Schwindel! Was die Emigranten sich immer so ausdenken!“

Kern war einen Augenblick atemlos. „Wissen Sie, wo der Mann wohnt?“ fragte er.

Der Drogist zuckte die Achseln. „Ich glaube, wir haben die Adresse irgendwo ’rumliegen. Er hat sie uns ein paarmal gegeben. Warum?“

„Ich glaube, es ist mein Vater.

Die beiden starrten Kern an. „lst das wahr?“ fragte der Drogist.

„Ja, ich glaube, dass er es ist. Ich suche ihn schon lange.“

„Bertha!“ rief der Besitzer aufgeregt zu einer Frau hinüber, die an einem Bürotisch im Hintergrund der Drogerie arbeitete. „Haben wir noch die Adresse des Herrn, der uns das Rezept für Toilettewasser verkaufen wollte?“

„Meinen Sie Herrn Stran oder den alten Quatschkopf, der hier ein paarmal ’rumgestanden hat?“ rief die Frau zurück.

„Verdammt!“ Der Besitzer des Ladens sah Kern geniert an. „Entschuldigen Sie!“ Er ging rasch nach hinten.

„Das kommt davon, wenn man mit seinen Angestellten schläft“, erklärte der Drogist hämisch hinter ihm her.

Der Besitzer kam nach einer Weile schnaufend mit einem Zettel zurück. „Hier haben wir die Adresse. Es ist ein Herr Kern. Siegmund Kern.“

„Das ist mein Vater.“

„Tatsächlich?“ Der Mann gab Kern den Zettel.

„Hier ist die Adresse. Er war vor etwa drei Wochen das letztemal hier. Entschuldigen Sie die Bemerkung vorhin. Sie wissen ja…“

„Es macht gar nichts. Ich möchte nur gern gleich gehen. Ich komme dann nachher zurück wegen der Flaschen.“

„Natürlich! Das hat ja Zeit!“

Das Haus, in dem Kerns Vater wohnen sollte, lag in der Tuzarova ulice, in der Nähe der Markthallen. Es war dunkel und muffig und roch nach feuchten Wänden und Kohldunst.

Kern stieg langsam die Treppen hinauf. Es war sonderbar, aber er hatte etwas Furcht, seinen Vater nach so langer Zeit wiederzusehen – er war zu sehr gewohnt, dass nie etwas besser wurde.

In der dritten Etage klingelte er. Nach einer Weile schlurfte es hinter der Tür, und das Pappschild hinter dem runden Loch des Spions verschob sich. Kern sah ein schwarzes Auge auf sich gerichtet.

„Wer ist da?“ fragte eine mürrische Frauenstimme.

„Ich möchte jemand sprechen, der hier wohnt“, sagte Kern.

„Hier wohnt niemand.“

„Doch! Sie wohnen ja schon hier!“ Kern sah auf das Schild an der Tür. „Frau Melanie Ekowski, nicht wahr? Aber Sie möchte ich nicht sprechen.“

„Na, also.“

„Ich möchte einen Mann sprechen, der hier wohnt.“

„Hier wohnt kein Mann.“

Kern blickte das runde, schwarze Auge an. Vielleicht stimmte es, und sein Vater war längst ausgezogen. Er fühlte sich plötzlich leer und enttäuscht.

„Wie soll er denn heißen?“ fragte die Frau hinter der Tür.

Kern hob voll neuer Hoffnung den Kopf. „Das möchte ich nicht durchs ganze Haus schreien. Wenn Sie die Tür öffnen, werde ich es Ihnen sagen.“

Das Auge verschwand vom Guckloch. Eine Kette rasselte. Das ist ja eine Festung, dachte Kern. Er war ziemlich sicher, dass sein Vater doch noch hier wohnte; die Frau hätte sonst nicht weiter gefragt. Die Tür öffnete sich. Eine kräftige Tschechin mit roten Backen und breitem Gesicht betrachtete Kern von oben bis unten.

„Ich möchte Herrn Kern sprechen.“

„Kern? Kenne ich nicht. Wohnt nicht hier.“

„Herrn Siegmund Kern. Ich heiße Ludwig Kern.“ „So?“ Die Frau musterte ihn misstrauisch. „Das kann jeder sagen.“

Kern zog seine Aufenthaltserlaubnis aus der Tasche. „Hier – sehen Sie sich dieses Papier bitte an. Der Vorname ist aus Versehen falsch geschrieben; aber Sie sehen das andere.“

Die Frau las den gesamten Zettel durch. Es dauerte lange. Dann gab sie ihn zurück. „Verwandter?“

„Ja.“ Etwas hielt Kern ab, mehr zu sagen. Er war jetzt fest überzeugt, dass sein Vater hier war.

Die Frau hatte sich entschieden. „Wohnt nicht hier“, erklärte sie kurz.

„Gut“, erwiderte Kern. „Dann will ich Ihnen sagen, wo ich wohne. Im Hotel Bristol. Ich bleibe nur ein paar Tage hier. Ich hätte vor meiner Abreise gern mit Herrn Siegmund Kern gesprochen. Ich habe ihm etwas zu übergeben“, fügte er mit einem Blick auf die Frau hinzu.

„So?“

„Ja. Hotel Bristol. Ludwig Kern. Guten Abend.“

Er stieg die Treppen hinunter. Du lieber Himmel, dachte er, das ist ja ein Zerberus, der ihn da bewacht! Immerhin – bewachen ist besser als verraten.

Er ging zu der Drogerie zurück. Der Besitzer stürzte auf ihn zu. „Haben Sie Ihren Vater gefunden?“ Er hatte die ganze Neugier eines Menschen im Gesicht, dem jede Sensation in seinem Leben fehlt.

„Noch nicht“, sagte Kern, plötzlich widerwillig. „Aber er wohnt dort. Er war nicht zu Hause.“

„So was! Das ist doch wirklich ein Zufall, nicht wahr?“

Der Mann legte die Arme auf den Tisch und schickte sich an, breit über sonderbare Zufälle im Leben zu reden.

„Für uns nicht“, sagte Kern. „Für uns ist es eher ein Zufall, wenn etwas mal normal geht. Was ist mit dem Toilettewasser? Ich kann nur sechs Flaschen nehmen, zunächst. Ich habe nicht mehr Geld. Wieviel Prozent geben Sie mir?“

Der Besitzer überlegte einen Augenblick. „Fünfunddreißig“, erklärte er dann großzügig. „So was kommt ja nicht alle Tage vor.“

„Gut.“

Kern zahlte. Der Drogist packte die Flaschen ein. Die Frau, die Bertha hieß, war inzwischen aus dem Hintergrund herangekommen, um den jungen Mann anzusehen, der seinen Vater wiedergefunden hatte. Sie kaute aufgeregt an etwas Unsichtbarem.

„Wissen Sie“, sagte der Besitzer, „was ich noch sagen wollte – das Toilettewasser ist sehr gut. Sehr gut, wirklich.“

„Danke!“ Kern nahm das Paket. „Ich komme dann hoffentlich bald, den Rest abzuholen.“

* * *

Er ging zum Hotel. In seinem Zimmer machte er das Paket auf und packte zwei Flaschen mit einigen Stücken Seife und ein paar Flakons billigen Parfüms in eine Aktentasche. Er wollte gleich versuchen, noch etwas davon zu verkaufen.

Als er auf den Korridor trat, sah er, dass jemand das Zimmer nebenan verließ. Es war ein mittelgroßes Mädchen in einem hellen Kleide, das ein paar Bücher unter dem Arm trug. Kern achtete zunächst nicht darauf. Er war damit beschäftigt, die Preise für sein Toilettewasser auszurechnen. Aber plötzlich fiel ihm ein, dass das Mädchen aus dem Zimmer gekommen war, das er nachts verwechselt hatte, und er blieb stehen. Er hatte das Gefühl, als könne es ihn auch jetzt noch erkennen.

Das Mädchen ging, ohne sich umzusehen, die Treppe hinunter. Kern wartete noch eine Weile. Dann ging er rasch den Korridor entlang hinterher. Er war plötzlich sehr neugierig geworden, zu wissen, wie sie aussah.

Er ging die Treppe hinunter und sah sich unten um; aber das Mädchen war nirgendwo zu sehen. Er ging zum Ausgang und blickte die Straße entlang. Sie lag leer im staubigen Licht. Nur ein paar Schäferhunde balgten sich auf dem Fahrdamm. – Kern ging ins Hotel zurück. „Ist nicht eben jemand fortgegangen?“ fragte er den Portier, der gleichzeitig Kellner und Hausbursche war.

„Nur Sie!“ Der Portier starrte ihn an. Er wartete darauf, dass Kern über seinen Witz in ein fassungsloses Gelächter ausbrechen sollte.

Kern lachte nicht. „Ein Mädchen meine ich“, sagte er. „Eine junge Dame.“

„Hier wohnen keine Damen“, erwiderte der Portier mürrisch. Er war beleidigt, weil er seinen Geist verschwendet hatte. „Nur Frauen.“

„Also ist niemand hinausgegangen?“

„Sind Sie von der Polizei, dass Sie das so genau wissen müssen?“ Der Portier war jetzt offen feindlich.

Kern sah ihn erstaunt an. Er verstand nicht, was der Mann hatte. Den Witz hatte er gar nicht bemerkt. Er holte ein Päckchen Zigaretten aus der Tasche und bot sie dem Portier an.

„Danke“, erwiderte der frostig. „Ich rauche was Besseres.“

„Das glaube ich.“

Kern steckte die Zigaretten wieder ein. Er blieb noch einen Augenblick stehen und überlegte. Das Mädchen musste noch im Hotel sein. Wahrscheinlich war sie dann in der Halle. Er ging zurück.

Die Halle war ein schmaler, langer Raum, mit einer zementierten Terrasse davor. Sie führte in einen ummauerten Garten, in dem ein paar Fliederbüsche standen.

Kern blickte durch die Glastür. Er sah das Mädchen an einem Tisch sitzen. Es hatte die Ellenbogen aufgestützt und las. Außer ihm war niemand in der Halle. Kern konnte nicht anders; er öffnete die Tür und trat ein.

Das Mädchen blickte auf, als es die Tür hörte. Kern wurde befangen. „Guten Abend“, sagte er zögernd.

Das Mädchen sah ihn an. Dann nickte es und las weiter.

Kern setzte sich in eine Ecke des Zimmers. Nach einer Weile stand er auf und holte sich ein paar Zeitungen. Er kam sich plötzlich ziemlich lächerlich vor und wäre gern schon wieder draußen gewesen. Aber es erschien ihm fast unmöglich, jetzt sofort wieder aufzustehen und hinauszugehen.

Er faltete die Zeitungen auseinander und begann zu lesen. Nach einiger Zeit sah er, wie das Mädchen nach seiner Handtasche griff und sie öffnete. Es nahm ein silbernes Zigarettenetui heraus und klappte es auf. Dann klappte es das Etui wieder zu, ohne eine Zigarette zu nehmen, und schob es zurück in die Tasche.

Kern legte die Zeitung rasch beiseite und stand auf. „Ich sehe, dass Sie Ihre Zigaretten vergessen haben“, sagte er. „Kann ich Ihnen aushelfen?“

Er zog sein Paket hervor. Er hätte viel darum gegeben, wenn er jetzt ein Etui gehabt hätte. Das Paket war zerdrückt und an den Enden eingerissen. Er hielt es dem Mädchen hin. „Ich weiß allerdings nicht, ob Sie diese Sorte mögen. Der Portier hat sie vorhin abgelehnt. Sie waren ihm zu schlecht.“

Das Mädchen blickte auf die Marke. „Ich rauche die gleichen“, sagte sie.

Kern lachte. „Es sind die billigsten, die es gibt. Das ist schon fast dasselbe, als hätte man sich seine Lebensgeschichte erzählt.“

Das Mädchen sah ihn an. „Ich glaube, das Hotel erzählt sie ohnehin.“

„Das ist wahr.“

Kern zündete ein Streichholz an und gab dem Mädchen Feuer. Das schwache, rötliche Licht beleuchtete ein schmales, bräunliches Gesicht mit starken, dunklen Augenbrauen. Die Augen waren groß und klar und der Mund voll und weich. Kern hätte nicht sagen können, ob das Mädchen schön war und ob sie ihm gefiel; er hatte nur das sonderbare Gefühl einer leisen und fernen Verbundenheit mit ihr – seine Hand hatte auf ihrer Brust gelegen, bevor er sie kannte. Er sah sie atmen; und plötzlich, obschon er wusste, dass es töricht war, steckte er seine Hand in die Tasche.

„Sind Sie schon lange draußen?“ fragte er.

„Zwei Monate.“

„Das ist nicht lange.“

„Es ist endlos.“

Kern blickte überrascht auf. „Sie haben recht“, sagte er dann. „Zwei Jahre sind nicht lange. Aber zwei Monate sind endlos. Doch das hat immerhin einen Vorteil: sie werden kürzer, je länger es dauert.“

„Glauben Sie, dass es lange dauert?“ fragte das Mädchen.

„Ich weiß es nicht. Darüber denke ich nicht mehr nach.“

„Ich immer.“

„Das tat ich auch, als ich zwei Monate draußen war.“

Das Mädchen schwieg. Es hielt den Kopf nachdenklich gesenkt und rauchte langsam, in tiefen Zügen. Kern betrachtete das starke, etwas gewellte schwarze Haar, von dem das Gesicht umrahmt war. Er hätte gern etwas Besonderes, Geistvolles gesagt, aber ihm fiel nichts ein. Er versuchte sich zu erinnern, wie die weltmännischen Helden mancher Bücher, die er gelesen hatte, in einer ähnlichen Situation gehandelt hätten – doch sein Gedächtnis war wie ausgetrocknet, und die Helden waren auch wohl nie in einem Emigrantenhotel in Prag gewesen.

„Ist es nicht zu dunkel zum Lesen?“ fragte er schließlich.

Das Mädchen fuhr zusammen, als wären seine Gedanken woanders gewesen. Dann klappte es das Buch, das vor ihm lag, zu. „Nein. Ich will auch nicht mehr lesen. Es ist zwecklos.“

„Es lenkt einen manchmal ab“, sagte Kern. „Wenn ich irgendwo einen Kriminalroman finde, lese ich ihn in einem Zuge durch.“

Das Mädchen lächelte müde. „Dies ist kein Kriminalroman. Es ist ein Lehrbuch der anorganischen Chemie.“

„Ach so! Sie waren an der Universität?“

„Ja. In Würzburg.“

„Ich war in Leipzig. Ich hatte anfangs auch meine Lehrbücher bei mir. Ich wollte nichts vergessen. Später habe ich sie dann verkauft. Sie waren zu schwer zum Tragen, und ich habe mir Toilettewasser und Seife dafür gekauft, um damit zu handeln. Davon lebe ich jetzt.“

Das Mädchen sah ihn an. „Sie machen mir nicht gerade sehr viel Mut.“

„Ich wollte Sie nicht mutlos machen“, sagte Kern rasch. „Bei mir war das etwas ganz anderes. Ich hatte überhaupt keine Papiere. Sie haben doch wahrscheinlich einen Pass.“

Das Mädchen nickte. „Einen Pass habe ich. Aber er läuft in sechs Wochen ab.“

„Das macht nichts. Dann können Sie ihn sicher verlängern lassen.“

„Ich glaube nicht.“

Das Mädchen stand auf.

„Wollen Sie nicht noch eine Zigarette rauchen?“ fragte Kern.

„Nein, danke. Ich rauche viel zuviel.“

„Jemand hat mir einmal gesagt, eine Zigarette im richtigen Augenblick wäre besser als alle Ideale der Welt.“

„Das stimmt.“ Das Mädchen lächelte, und auf einmal erschien sie Kern sehr schön. Er hätte viel darum gegeben, weiter mit ihr zu sprechen, aber er wusste nicht, was er tun sollte, damit sie noch bliebe.

„Wenn ich Ihnen irgendwie behilflich sein kann“, sagte er schnell, „ich würde es gern tun. Ich kenne das hier in Prag. Ich war schon zweimal hier. Ich heiße Ludwig Kern und wohne in dem Zimmer rechts neben Ihnen.“

Das Mädchen sah ihn mit einem raschen Blick an. Kern glaubte schon, alles verraten zu haben. Aber sie gab ihm unbefangen die Hand. Er spürte einen festen Druck. „Ich will Sie gern fragen, wenn ich etwas nicht weiß“, sagte sie. „Danke vielmals.“

Sie nahm ihre Bücher vom Tisch und ging die Treppe hinauf.

Kern blieb noch eine Weile in der Halle sitzen. Er wusste plötzlich alles, was er hätte sagen sollen.

* * *

„Noch einmal Steiner“, sagte der Falschspieler. „Weiß der Himmel, ich bin nervöser für Ihr Debüt in der Quetsche drüben, als wenn ich selbst im Jockeiklub spiele.“

Sie saßen in der Bar, und Fred machte Generalprobe mit Steiner. Er wollte ihn in einer Kneipe in der Nähe zum erstenmal gegen ein paar kleinere Falschspieler loslassen. Steiner sah darin den einzigen Weg, um vielleicht zu Geld zu kommen – von Diebstahl und schwerem Raub abgesehen.

Sie übten etwa eine halbe Stunde den Trick mit den Assen. Dann war der Taschendieb zufrieden und stand auf. Er war im Smoking. „Ich muss jetzt los. Oper. Große Premiere. Die Lehmann singt. Bei wirklich großer Kunst ist immer was zu tun für uns. Macht die Leute geistesabwesend, verstehen Sie?“ Er gab Steiner die Hand. „Übrigens – da fällt mir noch ein – wieviel Geld haben Sie?“

„Zweiunddreißig Schilling.“

„Das ist zuwenig. Die Brüder müssen größeres Geld sehen, sonst beißen sie nicht an.“ Er griff in die Tasche und zog einen Hundertschillingschein heraus.

„Hier, damit zahlen Sie Ihren Kaffee; dann wird schon einer kommen. Geben Sie das Geld dem Wirt zurück für mich; er kennt mich. Und nun: kurz spielen und aufpassen, wenn die vier Damen kommen! Hals- und Beinbruch!“

Steiner nahm den Schein. „Wenn ich das Geld verliere, kann ich es Ihnen nie zurückgeben.“

Der Taschendieb zuckte die Achseln. „Dann ist es eben weg. Künstlerpech. Aber Sie werden es nicht verlieren. Ich kenne die Leute. Einfache Bauernfänger. Keine Klasse. Sind Sie nervös?“

„Ich glaube nicht.“

„Auch dann haben Sie noch eine Chance. Die drüben wissen nicht, dass Sie was wissen. Bis sie es merken, sind sie schon eingeseift und können nicht mehr viel machen. Also Servus.“

„Servus.“

Steiner ging zu der Kneipe hinüber. Er überlegte unterwegs, dass es sonderbar war: kein anderer Mensch hätte ihm auch nur ein Viertel des Geldes anvertraut, das ihm der Falschspieler bedenkenlos gegeben hatte. Immer dasselbe. Gott sei Dank!

Im vorderen Raum der Kneipe waren ein paar Tarockpartien im Gang. Steiner setzte sich ans Fenster und bestellte einen Schnaps. Umständlich zog er seine Brieftasche, in die er noch ein paar Bogen Papier gesteckt hatte, damit sie voller aussah, und zahlte mit dem Hunderter.

Eine Minute später sprach ihn ein schmächtiger Mann an und forderte ihn auf, bei einem kleinen Poker mitzuspielen. Steiner lehnte gelangweilt ab. Der Mann redete ihm zu.

„Ich habe zuwenig Zeit“, erklärte Steiner. „Höchstens eine halbe Stunde, das ist zum Spielen doch zuwenig.“

„Aber wo, aber wo!“ Der Schmächtige zeigte ein sehr schadhaftes Gebiss. „In einer halben Stunde hat schon mancher sein Glück gemacht, Herr Nachbar!“

Steiner sah die beiden andern am Nebentisch an. Einer hatte ein dickes Gesicht und eine Glatze, der andere war schwarz, stark behaart und hatte eine zu große Nase. Beide blickten ihn gleichgültig an. „Wenn es wirklich nur für eine halbe Stunde ist“, sagte Steiner scheinbar zögernd, „könnte man es ja mal versuchen.“

„Aber natürlich, natürlich“, erwiderte der Schmächtige herzlich.

„Und ich kann aufhören, wann ich will?“

„Aber klar, Herr Nachbar, wann Sie wollen.“

„Auch wenn ich gewonnen habe.“

Die Lippen des Dicken am Tisch verzogen sich etwas. Er sah zu dem Schwarzen hinüber: da schien man ein richtiges Spießbürgerhühnchen im Netz zu haben. „Aber gerade, dann gerade, Herr Nachbar!“ meckerte der Schmächtige fröhlich.

„Also gut.“

Steiner setzte sich an den Tisch. Der Dicke mischte und gab. Steiner gewann ein paar Schilling. Als er selbst mischte, fühlte er die Kartenränder ab. Dann mischte er noch einmal, hob für sich an der Stelle ab, wo er etwas spürte, bestellte einen Sliwowitz, blickte dabei unter den oberen Pack und sah, dass es die Könige waren, die etwas beschnitten waren. Dann mischte er wieder gut und gab.

Nach einer Viertelstunde hatte er ungefähr dreißig Schilling gewonnen. „Ganz gut!“ meckerte der Schmächtige. „Wollen wir nicht mal etwas höher ’rangehen?“

Steiner nickte. Er gewann auch den nächsten Satz, der höher gereizt war. Dann gab der Dicke. Er hatte rosa Patschhändchen, die eigentlich zu klein für die Volte waren. Steiner sah, dass er sie trotzdem sehr geschickt machte. Er hob seine Karten auf. Er hatte drei Damen.

„Wieviel?“ fragte der Dicke und kaute an seiner Zigarre.

„Vier“, sagte Steiner. Er merkte, dass der Dicke stutzte, denn er hätte nur zwei Karten kaufen dürfen. Der Dicke schob ihm vier hin. Steiner sah, dass die erste die vierte, fehlende Dame war. Er hatte natürlich jetzt kein Blatt und warf mit einem „Verdammt! Verkauft!“ die Karten hin. Die andern drei sahen sich an und passten auch.

Steiner wusste, dass er nur etwas machen konnte, wenn er selbst gab. Seine Chancen standen dadurch eins zu drei. Der Taschendieb hatte recht gehabt. Er musste rasch handeln, ehe die andern zuviel merkten.

Er machte den As-Trick, aber nur einfach. Der Säugling spielte gegen ihn und verlor. Steiner sah nach der Uhr. „Ich muss fort. Letzte Runde.“

„Na, na, Herr Nachbar!“ meckerte der Kleine. Die andern beiden sagten nichts.

Beim nächstenmal hatte Steiner vier Damen im ersten Blatt. Er kaufte eine Karte hinzu. Eine Neun. Der behaarte Schwarze kaufte zwei Karten. Steiner sah, dass der Schmächtige sie mit einer Schleuderbewegung der Hand von unten her gab. Er wusste Bescheid, reizte aber trotzdem bis zu zwanzig Schilling mit und gab dann auf. Der Schwarze schoss ihm einen Blick zu und kassierte den Pott. „Was haben Sie denn für eine Karte gehabt?“ bellte der Schmächtige und warf rasch Steiners Blatt um. „Vier Damen! Und da passen Sie, Mann Gottes? Da war doch alles Geld der Welt drin! Was haben Sie denn gehabt?“ fragte er den Schwarzen.

„Drei Könige“, sagte der mit schiefem Gesicht.

„Na, sehen Sie! Sehen Sie! Da hätten Sie doch gewonnen, Herr Nachbar! Wie hoch wären Sie gegangen mit den drei Königen?“

„Mit drei Königen reize ich bis zum Mond hoch“, erwiderte der Schwarze ziemlich finster.

„Ich habe mich versehen“, sagte Steiner. „Dachte, ich hätte nur drei Damen. Habe die eine für einen Buben gehalten.“

„So was!“

Der Schwarze gab. Steiner bekam drei Könige und kaufte den vierten hinzu. Er reizte fünfzehn Schilling, dann passte er. Der Säugling zog schlürfend die Luft ein. Steiner hatte ungefähr neunzig Schilling gewonnen, und es gab nur noch zwei Spiele.

„Was haben Sie denn gehabt, Herr Nachbar?“

Der Schmächtige versuchte rasch, die Karten umzuwerfen. Steiner schlug ihm die Hand weg. „Ist das hier Mode?“ fragte er.

„Na, entschuldigen Sie nur. Man ist doch neugierig.“

Beim nächsten Spiel verlor Steiner acht Schilling. Weiter ging er nicht. Dann nahm er die Karten und mischte. Er hatte genau achtgegeben und mischte die Könige unter das Spiel, so dass er von unten her sie dem Dicken austeilen konnte. Es klappte. Der Schwarze ging zum Schein beim Reizen mit, der Dikke verlangte eine Karte. Steiner gab ihm den letzten König. Der Dicke schlürfte und wechselte mit den anderen einen Blick. Diesen Moment benutzte Steiner für den Trick mit den Assen. Er warf drei seiner Karten weg und gab sich die beiden letzten Asse, die jetzt oben lagen.

Der Dicke fing an zu bieten. Steiner legte seine Karten hin und ging zögernd mit. Der Schwarze verdoppelte. Bei hundertzehn Schilling schied er aus. Der Dicke trieb das Spiel auf hundertfünfzig. Steiner hielt es. Er war nicht ganz sicher. Dass der Dicke vier Könige hatte, wusste er. Nur die letzte Karte kannte er nicht. Wenn es der Joker war, war Steiner verloren.

Der Schmächtige zappelte auf seinem Sitz. „Darf man mal sehen?“ Er wollte nach Steiners Karten greifen.

„Nein.“ Steiner legte die Hand auf seine Karten. Er war erstaunt über diese naive Frechheit. Der Schmächtige hätte sofort dem Dicken Steiners Blatt mit dem Fuß telegrafiert.

Der Dicke wurde unsicher. Steiner war so vorsichtig bisher gewesen, dass er ein schweres Blatt haben musste. Steiner merkte es und erhöhte schärfer. Bei hundertachtzig hörte der Dicke auf. Er legte vier Könige auf den Tisch. Steiner atmete auf und drehte seine vier Asse um.

Der Schmächtige stieß einen Pfiff aus. Dann wurde es sehr still, während Steiner das Geld einsteckte.

„Wir spielen noch eine Runde“, sagte plötzlich der Schwarze hart.

„Tut mir leid“, sagte Steiner.

„Wir spielen noch eine Runde“, wiederholte der Schwarze und schob das Kinn vor. Steiner stand auf. „Das nächstemal.“

Er ging zur Theke und zahlte. Dann schob er dem Wirt eine zusammengefaltete Hundertschillingnote hin. „Geben Sie das bitte Fred.“

Der Wirt hob überrascht die Brauen. „Fred?“

„Ja.“

„Gut.“ Der Wirt grinste, „’reingefallen, die Brüder! Wollten einen Schellfisch fangen und sind an einen Hai gekommen.“

Die drei standen an der Tür. „Wir spielen noch eine Runde“, sagte der Schwarze und versperrte den Ausgang. – Steiner sah ihn an.

„So geht das nicht, Herr Nachbar“, meckerte der Schmächtige. „Ausgeschlossen, Sir!“

„Wir brauchen uns wohl nichts vorzumachen“, sagte Steiner. „Krieg ist Krieg. Man muss auch mal verlieren können.“

„Wir nicht“, erwiderte der Schwarze. „Wir spielen noch eine Runde.“

„Oder Sie geben ’raus, was Sie gewonnen haben“, fügte der Dicke hinzu.

Steiner schüttelte den Kopf. „Es war ein ehrliches Spiel“, sagte er mit einem ironischen Lächeln. „Sie wussten, was Sie wollten, und ich wusste, was ich wollte. Guten Abend.“

Er versuchte, zwischen dem Schwarzen und dem Schmächtigen hindurchzukommen. Dabei fühlte er die Muskelstränge des Schwarzen.

In diesem Augenblick kam der Wirt. „Keinen Radau in meinem Lokal, meine Herren!“

„Ich will auch keinen“, sagte Steiner. „Ich will gehen.“

„Wir gehen mit“, sagte der Schwarze.

Der Schmächtige und der Schwarze gingen voran, dann kam Steiner und hinter ihm der Dicke. Steiner wusste, dass nur der Schwarze gefährlich war. Es war ein Fehler, dass er voranging. Im Moment, als er die Tür passierte, trat Steiner nach hinten aus, dem Dicken in den Bauch, und schlug dem Schwarzen die geballte Faust mit aller Kraft wie einen Hammer ins Genick, so dass er die Stufen hinunter gegen den Schmächtigen taumelte. Mit einem Satz sprang er dann hinaus und raste die Straße entlang, ehe die andern sich erholt hatten. Er wusste, dass es seine einzige Chance war, denn auf der Straße hätte er gegen drei Mann nichts mehr machen können. Er hörte Geschrei und sah sich im Laufen um – aber niemand folgte ihm. Sie waren zu überrascht gewesen.

Er ging langsamer und kam allmählich in belebtere Straßen. Vor dem Spiegel eines Modegeschäftes blieb er stehen und sah sich an. Falschspieler und Betrüger, dachte er. Aber ein halber Pass… Er nickte sich zu und ging weiter.

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