Книга: Liebe deinen Nächsten / Возлюби ближнего своего. Книга для чтения на немецком языке
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20

Steiner kam morgens um elf Uhr an. Er ließ seinen Koffer in der Aufbewahrungsstelle für Gepäck und ging sofort zum Krankenhaus. Er sah die Stadt nicht; er sah nur etwas, das an ihm zu beiden Seiten vorbeitrieb, eine Flut von Häusern, Wagen und Menschen.

Vor dem großen, weißen Bau blieb er stehen. Er zögerte eine Weile. Er starrte auf das weite Portal und die endlosen Reihen der Fenster, Stock über Stock. Irgendwo dort – aber vielleicht auch nicht mehr. Er biss die Zähne zusammen und trat ein.

„Ich möchte mich erkundigen, wann Besuchsstunde ist“, sagte er im Anmeldebüro.

„Für welche Klasse?“ fragte die Schwester.

„Das weiß ich nicht. Ich komme zum erstenmal.“

„Zu wem wollen Sie?“

„Zu Frau Marie Steiner.“

Steiner wunderte sich einen Augenblick, als die Schwester gleichgültig ein dickes Buch nachschlug. Er hatte fast erwartet, die weiße Halle müsse zusammenstürzen, oder die Schwester müsse aufspringen und jemand rufen, eine Wache oder Polizei, als er den Namen aussprach.

Die Schwester blätterte. „Patienten erster Klasse können jederzeit Besuch empfangen“, sagte sie, während sie suchte.

„Es wird nicht erster Klasse sein“, erwiderte Steiner. „Vielleicht dritter.“

„Für dritte Klasse ist Besuchsstunde von drei bis fünf.“

Die Schwester suchte und suchte. „Wie war doch der Name?“ fragte sie.

„Steiner, Marie Steiner.“ Steiner hatte plötzlich einen trockenen Hals. Er starrte die hübsche, puppenhafte Schwester an, als käme sein Todesurteil. Er wartete darauf, dass sie sagen würde: Gestorben.

„Marie Steiner“, sagte die Schwester, „zweite Klasse. Zimmer fünfhundertfünf, fünfter Stock. Besuchsstunde von drei bis sechs Uhr.“

„Fünfhundertfünf. Danke vielmals, Schwester.“

„Bitte, mein Herr!“

Steiner blieb stehen. Die Schwester griff nach dem summenden Telefon. „Haben Sie noch eine Frage, mein Herr?“

„Lebt sie noch?“ fragte Steiner.

Die Schwester legte das Telefon nieder. In der Muschel quakte eine leise, blecherne Stimme weiter, als wäre das Telefon ein Tier.

„Natürlich, mein Herr“, sagte die Schwester und blickte in ihr Buch. „Sonst wäre doch ein Vermerk hinter ihrem Namen. Die Abgänge werden immer pünktlich gemeldet.“

„Danke.“

Steiner zwang sich, nicht zu fragen, ob er sofort hinaufgehen könne. Er fürchtete, dass man wissen wolle, weshalb, und er musste jedes Aufsehen vermeiden. Deshalb ging er. Er wanderte ziellos durch die Straßen, immer wieder in größeren Kreisen am Hospital vorbei. Sie lebt, dachte er. Mein Gott, sie lebt! Dann überfiel ihn plötzlich die Angst, jemand könnte ihn erkennen, und er suchte eine abgelegene Kneipe, um dort zu warten. Er bestellte etwas zu essen, aber er konnte nichts hinunterkriegen.

Der Kellner sah ihn befremdet an. „Schmeckt es Ihnen nicht?“

„Doch, es ist gut. Aber bringen Sie mir vorher einen Kirsch.“

Er zwang sich, die Mahlzeit zu essen. Dann bestellte er sich eine Zeitung und Zigaretten. Er tat, als wenn er läse, und er wollte es auch. Aber nichts drang durch die Mauer seiner Stirn. Er saß in einem halbdunklen Raum, der nach Speisen und schalem vergossenem Bier roch, und erlebte die schrecklichsten Stunden seines Daseins. Er malte sich aus, dass Marie jetzt, in diesen Stunden, stürbe, er hörte ihre verzweifelten Rufe nach ihm, er sah ihr vom Todesschweiß überträntes Gesicht, und er saß bleiern auf seinem Stuhl, die Zeitung raschelnd vor den Augen, und biss die Zähne zusammen, um nicht zu stöhnen und aufzuspringen und fortzulaufen. Der kriechende Zeiger auf seiner Uhr war der Arm des Schicksals, der sein Leben staute und ihn fast ersticken ließ ob seiner Langsamkeit.

Er ließ endlich die Zeitung sinken und stand auf. Der Kellner lehnte an der Theke und stocherte in den Zähnen. Er kam heran, als er sah, dass der Gast sich erhob. „Zahlen?“ fragte er.

„Nein“, sagte Steiner. „Noch einen Kirsch.“

„Gut.“ Der Kellner schenkte ein.

„Nehmen Sie auch einen.“

„Können wir machen.“

Der Kellner goss noch ein Glas voll und hob es mit zwei Fingern an.

„Zur Gesundheit!“

„Ja“, sagte Steiner, „zur Gesundheit.“

Sie tranken und setzten die Gläser nieder. „Spielen Sie Billard?“ fragte Steiner.

Der Kellner blickte auf den dunkelgrün ausgeschlagenen Tisch, der in der Mitte der Gaststube stand. „Etwas.“

„Wollen wir eine Partie machen?“

„Warum nicht? Spielen Sie gut?“

„Ich habe lange nicht gespielt. Wir können erst eine Probepartie machen, wenn Sie wollen.“

„Gemacht.“

Sie kreideten die Stöcke ein und spielten einige Bälle. Dann begannen sie eine Partie, die Steiner gewann.

„Sie spielen besser als ich“, sagte der Kellner. „Sie müssen mir zehn Punkte vorgeben.“

„Gut.“

Wenn ich diese Partie gewinne, wird alles gut, dachte Steiner. Sie lebt, ich sehe sie, sie wird vielleicht wieder gesund…

Er spielte konzentriert und gewann die Partie. „Jetzt gebe ich Ihnen zwanzig Punkte vor“, sagte er. Diese zwanzig Punkte waren Leben, Gesundheit und Flucht zusammen, und die weißen Bälle und ihr Klikken waren wie das Schnappen der Schlüssel des Schicksals. Das Spiel war hart. Der Kellner kam in einer guten Serie bis auf zwei Punkte an die volle Zahl heran; dann verfehlte er den letzten Ball um einen Zentimeter. Steiner nahm sein Queue und begann zu spielen. Die Augen flimmerten ihm, und er musste einige Male pausieren; aber er kam ohne Fehlstoß zu Ende.

„Gut gespielt“, sagte der Kellner anerkennend.

Steiner nickte ihm dankbar zu und sah auf die Uhr. Es war nach drei. Rasch zahlte er und ging.

Er stieg die mit Linoleum belegten Stufen hinauf und war nichts mehr als ein einziges, ungeheuer hohes, rasendes Vibrieren. Der lange Gang bog und wellte sich, und dann sprang kreidig eine weiße Tür heraus, schob sich vor und stand still: fünfhundertfünf.

Steiner klopfte. Niemand antwortete. Er klopfte noch einmal. Sein Magen krampfte sich hoch in einer entsetzlichen Angst, dass jetzt noch etwas passieren könne. Er öffnete die Tür.

Das kleine Zimmer lag im Licht der Nachmittagssonne da wie eine Insel des Friedens aus einer andern Welt. Es schien, als hätte die hallende, vorwärts stürmende Zeit keine Gewalt mehr über die unendlich stille Gestalt, die in dem schmalen Bett lag und Steiner ansah. Er taumelte etwas, und sein Hut entfiel ihm. Er wollte sich bücken, ihn aufzuheben, aber mitten im Bücken brach es wie ein Schlag in seinen Rücken, und ohne zu wissen, was er getan hatte, kniete er neben dem Bett und strömte lautlos von Schütterung und Heimkehr über.

Die Augen der Frau sahen ihn lange friedvoll an. Erst allmählich wurden sie unruhig. Die Stirn begann zu zucken, und die Lippen bewegten sich. Dann flakkerte es wie Schrecken in ihnen auf. Die Hand, die reglos auf der Decke lag, hob sich, als wollte sie sich vergewissern und berühren, was die Augen sahen.

„Ich bin es, Marie“, sagte Steiner.

Die Frau versuchte den Kopf zu heben. Ihre Augen irrten über sein Gesicht, das dicht vor ihr war.

„Sei ruhig, Marie, ich bin es“, sagte Steiner. „Ich bin gekommen.“

„Josef…“, flüsterte die Frau.

Steiner musste den Kopf senken. Das Wasser schoss ihm in die Augen. Er biss sich auf die Lippen und schluckte. „Ich bin es, Marie. Ich bin zurückgekommen, zu dir.“

„Wenn sie dich finden…“, flüsterte die Frau.

„Sie finden mich nicht. Sie können mich nicht finden. Ich kann hierbleiben. Ich bleibe bei dir.“

„Fass mich an, Josef – ich muss fühlen, dass du da bist. Gesehen habe ich dich oft…“

Er nahm ihre leichte Hand mit den blauen Adern in seine Hände und küsste sie. Dann beugte er sich über sie und legte seine Lippen auf ihren müden und schon fernen Mund. Als er sich aufrichtete, standen ihre Augen voll Tränen. Sie schüttelte sanft das Gesicht, und die Tropfen fielen wie Regen herunter.

„Ich wusste, dass du nicht kommen konntest. Aber ich habe immer auf dich gewartet…“

„Jetzt bleibe ich bei dir.“

Sie versuchte ihn zurückzuschieben. „Du kannst doch nicht hierbleiben! Du musst fort. Du weißt nicht, was hier war. Du musst gleich gehen. Geh, Josef…“

„Nein, es ist nicht gefährlich.“

„Es ist gefährlich, ich weiß es besser. Ich habe dich gesehen, nun geh! Es dauert nicht lange mehr mit mir. Das kann ich gut allein abmachen.“

„Ich habe es so eingerichtet, dass ich hierbleiben kann, Marie. Es kommt eine Amnestie; darunter falle ich auch.“

Sie blickte ihn ungläubig an.

„Es ist wahr“, sagte er, „ich schwöre es dir, Marie. Es braucht niemand zu wissen, dass ich hier bin. Aber es ist auch nicht schlimm, wenn man es weiß.“

„Ich sage nichts, Josef. Ich habe nie etwas gesagt.“

„Das weiß ich, Marie.“ Eine Wärme stieg ihm in die Stirn. „Du hast dich nicht von mir scheiden lassen?“

„Nein. Wie konnte ich das! Sei nicht böse deshalb.“

„Es war nur für dich, damit du es leichter haben solltest.“

„Ich habe es nicht schwer gehabt. Man hat mir geholfen. Auch dass ich dieses Zimmer habe. Es war besser, allein zu liegen. Du warst dann mehr da.“

Steiner sah sie an. Das Gesicht war zusammengeschmolzen, die Knochen traten heraus, und die Haut war wächsern blass, mit blauen Schatten. Der Hals war zerbrechlich und dünn, und die Schlüsselbeine standen stark aus den eingesunkenen Schultern hervor. Sogar die Augen waren verschleiert, und der Mund war ohne Farbe. Nur das Haar leuchtete und funkelte, es schien dichter und stärker geworden zu sein, als ob all die vergangene Kraft sich in ihm gesammelt habe, um über den erlöschenden Körper zu triumphieren. Es bauschte sich in der Nachmittagssonne wie eine Gloriole aus Rot und Gold, wie ein wilder Protest gegen die Müdigkeit des kindhaften Leibes unter dem Leinen, das er kaum mehr hob.

Die Tür ging auf, und eine Schwester kam herein. Steiner stand auf. Die Schwester trug ein Glas mit einer milchigen Flüssigkeit und stellte es auf den Tisch. „Sie haben Besuch?“ sagte sie, während ihre raschen, blauen Augen Steiner musterten.

Die Kranke bewegte den Kopf. „Aus Breslau“, flüsterte sie.

„So weit her? Das ist schön. Da haben Sie doch etwas Unterhaltung. “

Die blauen Augen gingen wieder hurtig über Steiner hinweg, während die Schwester ein Thermometer hervorzog.

„Hat sie Fieber?“ fragte Steiner.

„Ach wo“, erwiderte die Schwester fröhlich. „Seit Tagen schon nicht mehr.“

Sie legte das Thermometer an und ging. Steiner zog einen Stuhl an das Bett und setzte sich Marie gegenüber. Er nahm ihre Hände in seine Hände. „Freust du dich, dass ich da bin?“ und war sich bewusst, wie töricht seine Frage war.

„Es ist alles“, sagte Marie, ohne zu lächeln.

Sie sahen sich an und schwiegen. Es war so wenig zu sagen, denn es war so viel, dass sie beisammen waren. Sie sahen sich an, und es war nichts mehr da außer ihnen. Der eine versank im andern. Sie waren heimgekehrt zu sich. Das Leben hatte keine Zukunft und keine Vergangenheit mehr; es war nur noch Gegenwart. Es war Ruhe, Stille und Frieden.

Die Schwester kam noch einmal herein und zeichnete einen Strich auf die Fieberkurve; sie merkten es kaum. Sie sahen sich an.

Die Sonne glitt langsam weiter, sie verließ zögernd das flammende, schöne Haar und ließ sich wie eine weiche Katze aus Licht dicht daneben auf dem Kissen nieder; dann schob sie sich unwillig zur Wand hinüber und kletterte langsam daran empor; die beiden sahen sich an. Die Dämmerung kam auf blauen Füßen und füllte das Zimmer; sie sahen sich an und ließen sich nicht, bis die Schatten aus den Zimmerecken hervorgeweht kamen und mit ihren Flügeln das weiße Gesicht, das einzige Gesicht verdeckten.

Die Tür ging auf, und mit einem Strom von Licht kam der Arzt und hinter ihm die Schwester. „Sie müssen nun gehen“, sagte die Schwester.

„Ja.“ Steiner erhob sich und beugte sieh über das Bett. „Ich komme morgen wieder, Marie.“

Sie lag wie ein müde gespieltes, halb schlafendes, halb träumendes Kind. „Ja“, sagte sie, und er konnte nicht erkennen, ob sie zu ihm oder zu seinem Traumbild sprach. „Ja, komm wieder.“

Steiner wartete draußen auf den Arzt. Er fragte ihn, wie lange es noch dauern würde. Der Arzt musterte ihn. „Drei bis vier Tage höchstens“, sagte er dann. „Es ist ein Wunder, dass sie überhaupt noch so lange ausgehalten hat.“

„Danke.“ Steiner ging langsam die Treppen hinunter. Vor dem Portal blieb er stehen. Vor ihm lag plötzlich die Stadt. Er hatte sie nicht wahrgenommen, als er gekommen war… aber jetzt lag sie deutlich und unentrinnbar zugleich vor ihm. Er sah die Straßen, er sah die Gefahr, die unsichtbare, schweigende Gefahr, die an jeder Ecke, in jedem Haustor, in jedem Gesicht auf ihn lauerte. Er wusste, dass er nicht viel tun konnte. Der Platz, wo man ihn fassen konnte, wie ein Wild an der Tränke im Dschungel, war dieser weiße, steinerne Bau hinter ihm. Aber er wusste auch, dass er sich verbergen musste, um wiederkommen zu können. Drei bis vier Tage. Ein Nichts und eine Ewigkeit. Einen Augenblick überlegte er, ob er versuchen sollte, einen seiner Freunde zu treffen – doch dann entschied er sich für ein mittleres Hotel. Das war am unauffälligsten für den ersten Tag.

* * *

Kern saß mit dem Österreicher Leopold Brück und dem Westfalen Moenke in einer Zelle des Gefängnisses La Santé. Sie klebten Tüten.

„Kinder“, sagte Leopold nach einer Weile, „ich habe einen Hunger – unmenschlich! Am liebsten möchte ich den Kleister auffressen – wenn’s nicht bestraft würde!“

„Warte noch zehn Minuten“, erwiderte Kern. „Dann kommt der Abendfraß.“ – „Was nützt das schon! Hinterher werde ich erst recht Hunger haben.“ Leopold blies eine Tüte auf und zerschlug sie mit einem Knall. „Es ist ein Elend in so verfluchten Zeiten, dass der Mensch einen Magen hat. Wenn ich jetzt an ein Beinfleisch denke… oder gar an einen Tafelspitz… ich könnte diese ganze Bude niederreißen!“

Moenke hob den Kopf. „Ich denke mehr an ein großes, blutiges Beefsteak“, erklärte er. „Mit Zwiebeln und Bratkartoffeln. Dazu ein eiskaltes Bier.“

„Hör auf!“ Leopold stöhnte. „Denken wir an was anderes. An Blumen meinetwegen.“

„Warum denn gerade an Blumen?“

„An irgend etwas Schönes, verstehst du denn nicht? Zum Ablenken was!“

„Blumen lenken mich nicht ab.“

„Ich habe einmal ein Beet mit Rosen gesehen.“ Leopold versuchte sich krampfhaft zu konzentrieren. „Letzten Sommer. Vor dem Gefängnis in Pallanza. Abends in der Sonne, als wir entlassen wurden. Rote Rosen. So rot wie… wie…“

„Wie ein rohes Beefsteak“, half Moenke aus.

„Ach, verdammt!“

Ein Schlüssel rasselte. „Da kommt der Fraß“, sagte Moenke.

Die Tür öffnete sich. Es war nicht der Kalfaktor mit dem Essen – es war der Aufseher. „Kern…“, sagte er.

Kern stand auf.

„Kommen Sie mit! Besuch!“

„Wahrscheinlich der Präsident der Republik“, vermutete Leopold.

„Vielleicht Klassmann. Er hat ja Papiere. Möglich, dass er was zu essen mitbringt.“

„Butter!“ sagte Leopold inbrünstig. „Ein großes Stück. Gelb wie eine Sonnenblume!“

Moenke grinste. „Mensch, Leopold, du Lyriker! Jetzt denkst du sogar an Sonnenblumen!“

Kern blieb an der Tür stehen, als hätte er einen Schlag empfangen. „Ruth!“ sagte er atemlos. „Wie kommst denn du hierher? Haben sie dich gefasst?“

„Nein, nein, Ludwig!“

Kern warf einen raschen Blick auf den Aufseher, der teilnahmslos in einer Ecke lehnte. Dann ging er eilig zu Ruth hinüber.

„Um Gottes willen, geh sofort wieder, Ruth“, flüsterte er auf deutsch. „Du weißt nicht, was los ist! Sie können dich jeden Moment verhaften, und das heißt vier Wochen Gefängnis und beim zweitenmal sechs Monate! Also geh schnell – schnell!“

„Vier Wochen?“ Ruth sah ihn erschrocken an. „Vier Wochen musst du hier bleiben?“

„Das macht doch nichts! Das war eben Pech! Aber du… Lass uns nicht leichtsinnig sein! Jeder kann dich nach Papieren fragen! Jede Sekunde!“

„Aber ich habe doch Papiere!“

„Was?“

„Ich habe eine Aufenthaltserlaubnis, Ludwig!“

Sie holte den Zettel aus ihrer Tasche und gab ihn Kern. Er starrte auf das Papier. „Christus!“ sagte er dann nach einer Weile langsam. „Es ist Tatsache! Wahr und wahrhaftig! Das ist ja, als wenn ein Toter aufersteht! Es hat also doch einmal geklappt! Wer war es? Die Flüchtlingshilfe?“

„Ja. Die Flüchtlingshilfe und Klassmann.“

„Herr Aufseher“, sagte Kern, „ist es einem Sträfling erlaubt, eine Dame zu küssen?“

Der Aufseher blickte ihn träge an. „Von mir aus, so lange Sie wollen“, erwiderte er. „Hauptsache, dass sie Ihnen dabei kein Messer oder keine Feile zusteckt!“

„Das lohnt sich nicht für die paar Wochen.“

Der Aufseher rollte sich eine Zigarette und zündete sie an.

„Ruth!“ sagte Kern. „Habt ihr denn etwas von Steiner gehört?“

„Nein, nichts. Aber Marill sagt, das wäre auch unmöglich. Er wird sicher nicht schreiben. Er kommt einfach wieder. Plötzlich ist er wieder da.“

Kern sah sie an. „Glaubt Marill das wirklich?“

„Wir alle glauben es, Ludwig. Was sollen wir sonst tun?“

Kern nickte. „Ja, was sollen wir wirklich anderes tun! Er ist ja erst eine Woche fort. Vielleicht kommt er durch.“

„Er muss durchkommen. Ich kann mir nichts anderes denken.“

„Zeit“, sagte der Aufseher. „Schluss für heute.“

Kern nahm Ruth in die Arme.

„Komm wieder!“ flüsterte sie. „Komm rasch wieder! Bleibst du hier in der Santé?“

„Nein. Sie transportieren uns ab. Zur Grenze.“

„Ich werde versuchen, noch eine Erlaubnis zu bekommen, dich zu besuchen! Komm wieder! Ich liebe dich. Komm rasch! Ich habe Angst! Ich möchte mitfahren!“

„Das kannst du nicht. Dein Recepisse gilt nur für Paris. Ich komme wieder.“

„Ich habe Geld hier. Es steckt unter meinem Achselband. Nimm es heraus, wenn du mich küsst.“

„Ich brauche nichts. Ich habe genug bei mir. Behalte es! Marill wird auf dich aufpassen. Vielleicht ist Steiner auch bald zurück.“

„Zeit!“ mahnte der Aufseher. „Kinder, er geht ja nicht zur Guillotine!“

„Leb wohl!“ Ruth küsste Kern. „Ich liebe dich. Komm wieder, Ludwig!“

Sie sah sich um und holte ein Paket von der Bank. „Hier ist etwas zu essen. Sie haben es unten kontrolliert. Es ist in Ordnung“, sagte sie zu dem Aufseher. „Leb wohl, Ludwig!“

„Ich bin glücklich, Ruth! Gott im Himmel, ich bin so glücklich über deine Aufenthaltserlaubnis. Das ist ein Paradies hier jetzt!“

„Also los!“ sagte der Aufseher. „Zurück ins Paradies.“

Kern nahm sein Paket unter den Arm. Es war schwer. Er ging mit dem Aufseher zurück. „Wissen Sie“, sagte dieser nach einer Weile nachdenklich. „Meine Frau ist sechzig und hat einen leichten Bukkel. Manchmal fällt mir das auf.“

Der Kalfaktor mit den Eßnäpfen stand gerade vor der Zelle, als Kern zurückkam. „Kern“, sagte Leopold mit einem trostlosen Gesicht. „Wieder mal Kartoffelsuppe ganz ohne Kartoffeln.“

„Das ist eine Gemüsesuppe“, erklärte der Kalfaktor.

„Du kannst auch sagen, Kaffee“, erwiderte Leopold. „Ich glaube dir alles.“

„Was hast du in dem Paket?“ fragte der Westfale Moenke Kern.

„Was zu essen. Ich weiß nur noch nicht, was.“

Leopolds Gesicht wurde zu einer strahlenden Monstranz. „Mach’s auf! Rasch!“ Kern löste die Bindfäden.

„Butter!“ sagte Leopold andächtig.

„Wie eine Sonnenblume!“ ergänzte Moenke.

„Weißes Brot! Würste! Schokolade!“ fuhr Leopold ekstatisch fort. „Und da… ein ganzer Käse!“

„Wie eine Sonnenblume“, wiederholte Moenke.

Leopold achtete nicht darauf. Er richtete sich auf. „Kalfaktor!“ sagte er gebieterisch. „Nehmen Sie Ihren elenden Fraß und…“

„Halt!“ unterbrach Moenke. „Nicht zu eilig! Diese Österreicher! Dadurch haben wir 1918 den Krieg verloren! Geben Sie die Näpfe her“, sagte er zu dem Kalfaktor.

Er nahm sie und stellte sie auf eine Bank. Dann packte er die anderen Sachen daneben und betrachtete das Stilleben. Über dem Käse stand mit Bleistift von einem früheren Zelleninsassen an die Wand geschrieben: „Alles ist vergänglich… sogar lebenslänglich!“

Moenke grinste. „Wir betrachten die Gemüsesuppe einfach als Tee“, erklärte er. „Und nun essen wir einmal zu Abend wie gebildete Menschen! Was meinst du dazu, Kern?“

„Amen!“ erwiderte der.

* * *

„Ich komme morgen wieder, Marie.“

Steiner beugte sich über das stille Antlitz und richtete sich auf.

Die Schwester stand an der Tür. Ihre schnellen Augen huschten über ihn hinweg; sie blickte ihn nicht an. Das Glas in ihrer Hand zitterte und klirrte leise.

Steiner trat auf den Korridor hinaus. „Stehenbleiben!“ kommandierte eine Stimme.

Rechts und links von der Tür standen zwei Leute in Uniform, Revolver in den Händen. Steiner blieb stehen. Er erschrak nicht einmal.

„Wie heißen Sie?“

„Johann Huber.“

„Kommen Sie mit ans Fenster.“

Ein dritter trat an ihn heran und sah ihn an. „Es ist Steiner“, sagte er. „Kein Zweifel. Ich kenne ihn wieder. Du kennst mich ja wohl auch, Steiner, was?“

„Ich habe dich nicht vergessen, Steinbrenner“, erwiderte Steiner ruhig.

„Wird dir auch schwerfallen“, kicherte der Mann. „Herzlich willkommen zu Hause! Freue mich wirklich, dich wiederzusehen. Wirst ja jetzt wohl ein bisschen bei uns bleiben, was? Wir haben ein wunderschönes, neues Lager, mit allem Komfort.“

„Das glaube ich.“

„Handschellen!“ kommandierte Steinbrenner. „Zur Vorsicht, mein Süßer. Mir würde das Herz brechen, wenn du uns nochmals ausreißen könntest.“

Eine Tür klappte, Steiner sah schräg über seine Schulter. Es war die Tür des Zimmers, in dem seine Frau lag. Die Schwester schaute heraus und zog rasch den Kopf zurück.

„Aha“, sagte Steiner, „daher…“

„Ja, die Liebe!“ kicherte Steinbrenner. „Führt die ausgekochtesten Vögel ins Nest zurück – zum Wohle des Staates und zur Freude ihrer Freunde.“

Steiner sah das fleckige Gesicht mit dem zurückfliehenden Kinn und den bläulichen Schatten unter den Augen. Er sah ruhig hinein; er wusste, was ihm von diesem Gesicht bevorstand, aber es war weit weg, wie etwas, was ihn noch nichts anging. Steinbrenner zwinkerte, leckte sich die Lippen und trat dann einen Schritt zurück. „Immer noch kein Gewissen, Steinbrenner?“ fragte Steiner.

Der Mann grinste. „Nur ein gutes, Liebling. Wird immer besser, je mehr von euch ich unter der Fuchtel habe. Habe einen prima Schlaf. Bei dir werde ich eine Ausnahme machen. Dich werde ich nachts besuchen, um ein bisschen mit dir zu plaudern. Los, abführen!“ sagte er plötzlich barsch.

Steiner ging mit seiner Eskorte die Treppe hinunter. Die Leute, die ihnen begegneten, blieben stehen und ließen sie schweigend vorübergehen. Auch auf der Straße herrschte dieses Schweigen, wenn sie vorüberkamen.

Steiner wurde zur Vernehmung gebracht. Ein älterer Beamter fragte ihn aus. Er gab seine Daten zu Protokoll.

„Weshalb sind Sie nach Deutschland zurückgekommen?“ fragte der Beamte.

„Ich wollte meine Frau sehen, bevor sie stirbt.“ „Wen von Ihren politischen Freunden haben Sie hier getroffen?“ „Niemand.“

„Es ist besser, Sie sagen es mir hier, bevor Sie überführt werden.“

„Ich habe es schon gesagt: Niemand.“

„In wessen Auftrag sind Sie hier?“

„Ich habe keine Aufträge.“

„Welcher politischen Organisation waren Sie im Ausland angeschlossen?“

„Keiner.“

„Wovon haben Sie denn gelebt?“

„Von dem, was ich verdient habe. Sie sehen, dass ich einen österreichischen Pass habe.“

„Und mit welcher Gruppe sollten Sie hier Verbindung nehmen?“

„Wenn ich das gewollt hätte, hätte ich mich anders versteckt. Ich wusste, was ich tat, als ich zu meiner Frau ging.“

Der Beamte fragte ihn noch eine Zeitlang weiter. Dann studierte er Steiners Pass und den Brief seiner Frau, den man ihm abgenommen hatte. Er blickte Steiner an; dann las er den Brief noch einmal. „Sie werden heute nachmittag überführt“, sagte er schließlich achselzuckend.

„Ich möchte Sie um etwas bitten“, erwiderte Steiner. „Es ist wenig, aber für mich ist es alles. Meine Frau lebt noch. Der Arzt sagt, dass es höchstens noch ein bis zwei Tage dauern kann. Sie weiß, dass ich morgen wiederkommen sollte. Wenn ich nicht komme, wird sie wissen, dass ich hier bin. Ich erwarte für mich weder Mitleid noch irgendeine Vergünstigung; aber ich möchte, dass meine Frau ruhig stirbt. Ich bitte Sie, mich einen oder zwei Tage hierzubehalten und mir zu erlauben, meine Frau zu sehen.“

„Das geht nicht. Ich kann Ihnen nicht Gelegenheit zur Flucht geben.“

„Ich werde nicht flüchten. Das Zimmer liegt im fünften Stock und hat keine Nebenausgänge. Wenn mich jemand hinbringt und die Tür bewacht, kann ich nichts machen. Ich bitte Sie nicht für mich; ich bitte Sie für eine sterbende Frau.“

„Unmöglich“, sagte der Beamte. „Ich habe nicht die Kompetenz dafür.“

„Sie haben die Kompetenz. Sie können mich noch einmal verhören lassen. Und Sie können mir die Zusammenkunft ermöglichen. Der Grund könnte sein, dass ich vielleicht mit meiner Frau etwas spreche, was wichtig zu erfahren ist. Das wäre auch der Grund, weshalb meine Bewachung draußenbleiben würde. Sie könnten anordnen, dass die Schwester, die ja zuverlässig ist, im Zimmer bleibt, um zu hören, was gesprochen wird.“

„Das ist alles Unsinn. Ihre Frau wird Ihnen nichts sagen und Sie ihr nichts.“

„Natürlich nicht. Sie weiß ja nichts. Aber sie würde ruhig sterben.“

Der Beamte dachte nach und blätterte in den Akten. „Wir haben Sie damals verhört, über die Gruppe VII. Sie haben keine Namen genannt. Inzwischen haben wir Müller, Böse und Welldorf gefunden. Wollen Sie uns die übrigen Namen nennen?“

Steiner schwieg.

„Wollen Sie uns die Namen nennen, wenn ich Ihnen ermögliche, zwei Tage zu Ihrer Frau zu gehen?“

„Ja“, sagte Steiner nach einer Weile.

„Dann sagen Sie sie mir.“

Steiner schwieg.

„Wollen Sie mir morgen abend zwei Namen nennen und die andern übermorgen?“

„Ich werde Ihnen die Namen übermorgen nennen.“

„Versprechen Sie das?“

„Ja.“

Der Beamte sah ihn lange an. „Ich werde sehen, was ich tun kann. Sie werden jetzt in Ihre Zelle zurückgebracht.“

„Wollen Sie mir den Brief zurückgeben?“ fragte Steiner.

„Den Brief? Er muss bei den Akten bleiben.“ Der Beamte betrachtete ihn unschlüssig. „Es steht nichts Belastendes darin. Gut, nehmen Sie ihn mit.“

„Danke“, sagte Steiner.

Der Beamte klingelte und ließ Steiner abführen. Schade, dachte er, aber was soll man machen? Man kommt ja selbst in des Teufels Küche, wenn man etwas wie Menschlichkeit verrät. Er hieb plötzlich mit der Faust auf den Tisch.

* * *

Moritz Rosenthal lag in seinem Bett. Er war seit Tagen zum erstenmal ohne Schmerzen. Es war früher Abend, und in der silbrig blauen Dämmerung der Pariser Februartage leuchteten die ersten Lichter auf. Moritz Rosenthal beobachtete, ohne den Kopf zu bewegen, wie die Fenster des gegenüberliegenden Hauses hell wurden; es schwamm wie ein Riesenschiff in der Dämmerung, wie ein Ozeandampfer kurz vor der Abfahrt. Das Mauerstück zwischen den Fenstern warf einen langen dunklen Schatten herüber zum Hotel Verdun; er sah aus wie ein Landungssteg aus Schatten, der darauf wartete, dass man hinüberging.

Moritz Rosenthal regte sich nicht; er lag in seinem Bett, aber er sah, wie plötzlich die Fenster sich weit öffneten und wie jemand, der ihm glich, aufstand und hinausschritt. Über den Schatten hinweg, hinüber zu dem Schiff, das in der langen Dämmerung des Lebens sacht schwankte und nun die Anker lichtete und langsam davonglitt. Das Zimmer um ihn herum zerbarst wie eine mürbe Pappschachtel in der Strömung und wirbelte davon. Straßen rauschten vorüber, Wälder glitten unter dem Bug entlang, Nebel, das Schiff hob sich sanft in das leise Brausen der Unendlichkeit, Wolken schwammen heran, Sterne und tiefes Blau, und dann, in diesem Wiegen wie ein Wiegenlied, wölbte sich ihm eine Küste entgegen, aus Rosa und Gold, die dunkle Landungsbrücke senkte sich lautlos wieder herab, Moritz Rosenthal schritt sie entlang, hinunter, und als er sich umblickte, war das Schiff nicht mehr da, und er war allein an der fremden Küste.

Eine lange, ebene Straße breitete sich vor seinen Füßen aus. Der alte Wanderer besann sich nicht lange; eine Straße war dazu da, sie entlangzugehen – und seine Füße kannten viele Straßen.

Aber schon nach kurzer Zeit hob sich hinter silbernen Bäumen ein funkelndes, mächtiges Tor hervor, hinter dem es von Kuppeln und Türmen blitzte. Eine große Gestalt in Licht und Schimmer stand mit einem Krummstabe mitten vor dem Eingang.

Der Zoll! dachte Moritz Rosenthal erschrocken und sprang hinter ein Gebüsch. Er sah sich um. Zurück konnte er nicht mehr; es ging da ins Nichts hinab. Es hilft nichts, dachte der alte Emigrant ergeben, ich werde mich hier versteckt halten müssen, bis es Nacht wird. Vielleicht kann ich dann seitlich wegschleichen und irgendwo hintenherum vorbeikommen. Er schielte zwischen einer Astgabel von Karfunkel und Onyx hindurch und sah, dass der gewaltige Wächter mit seinem Stabe winkte. Er blickte sich noch einmal um. Außer ihm war niemand da. Der Wächter winkte wieder. „Vater Moritz!“ rief eine sanfte, hallende Stimme. Ruf nur, dachte Moritz Rosenthal, ich melde mich nicht.

„Vater Moritz“, rief die Stimme wieder, „komm hinter dem Busch der Mühsal hervor.“

Moritz stand auf. Erwischt, dachte er. Bestimmt kann der Riese schneller laufen als ich; es nützt nichts, ich muss hingehen.

„Vater Moritz!“ rief die Stimme wieder.

„Kennen tut er mich auch, so ein Pech!“ murmelte Moritz. „Ich muss also hier auch schon mal ausgewiesen worden sein. Das gibt dann nach den neuesten Gesetzen mindestens drei Monate Gefängnis. Hoffentlich ist wenigstens das Essen gut. Und sie geben mir nicht die Familienzeitschrift von 1902 zum Lesen, sondern was Moderneres. Irgendwas von Hemingway möchte ich gerne mal lesen.“

Das Tor wurde immer heller und strahlender, je näher er kam. Was sie jetzt für Lichteffekte an den Grenzen haben, grübelte Moritz, man kann gar nicht mehr erkennen, wo man ist. Vielleicht haben sie neuerdings alles erleuchtet, um uns besser zu erwischen. Eine Verschwendung!

„Vater Moritz“, sagte der Türhüter, „weshalb versteckst du dich denn?“

„Auch ’ne Frage, dachte Moritz, wo er mich doch kennt und weiß, was mit mir los ist.

„Geh hinein“, sagte der Türwächter.

„Hören Sie“, erwiderte Moritz, „bis jetzt bin ich meiner Ansicht nach noch nicht strafbar. Ich habe Ihre Grenzen noch nicht passiert. Oder gilt das hinter mir auch schon mit?“

„Es gilt schon mit“, sagte der Hüter.

Dann bin ich verloren, dachte Rosenthal. Es scheint ’ne Insel zu sein, vielleicht ist es Kuba, da wollen ja neuerdings so viele hin.

„Fürchte dich nicht“, sagte der Wächter, „es geschieht dir nichts. Geh ruhig hinein.“

„Hören Se“, erwiderte Moritz Rosenthal, „ich will Ihnen gleich die Wahrheit sagen: Ich habe keinen Pass.“

„Du hast keinen Pass?“

Sechs Monate, dachte Moritz, als er die Stimme grollen hörte, und schüttelte ergeben den Kopf.

Der Türhüter hob den Stab. „Dann brauchst du nicht erst zwanzig Millionen Lichtjahre im himmlischen Stehparterre zu bleiben. Du bekommst sofort einen gepolsterten Sessel mit Armlehnen und Flügelstützen.“

„Alles ganz schön“, erwiderte Vater Moritz, „aber es geht nicht. Ich habe nämlich auch keine Einreiseund keine Aufenthaltserlaubnis. Von Arbeitserlaubnis wollen wir gar nicht erst reden.“

„Keine Aufenthaltserlaubnis? Kein Visum? Keine Arbeitserlaubnis?“ Der Wächter hob die Hand. „Dann bekommst du sogar eine Loge im ersten Rang, Mitte, mit vollem Blick auf die himmlischen Heerscharen.“

„Das wäre nicht schlecht“, sagte Moritz, „besonders, wo ich so gern ins Theater gehe. Aber jetzt kommt das, was alles kaputt macht, und eigentlich wundere ich mich, dass Sie nicht weiter draußen schon ein Schild haben, dass wir nicht ’reindürfen. Also ich bin ein Jude. Ausgebürgert aus Deutschland. Illegal seit Jahren.“

Der Türhüter hob beide Arme. „Jude? Ausgebürgert? Illegal seit Jahren? Dann bekommst du zwei Engel zu deiner persönlichen Bedienung und einen Posaunenbläser dazu.“ Er rief in das Tor. „Der Engel der Heimatlosen!“ Und eine große Gestalt in blauen Gewändern mit einem Gesicht wie alle Mütter der Welt trat hervor neben Vater Moritz. „Der Engel derer, die viel gelitten haben!“ rief der Wächter aufs neue, und eine weißgekleidete Gestalt mit einem Krug Tränen auf der Schulter trat auf die andere Seite von Vater Moritz.

„Eine Sekunde“, bat der und fragte den Wächter: „Sie sind sicher, mein Herr, dass da drin nicht…?“

„Keine Sorge. Unsere Konzentrationslager sind weiter unten.“

Die beiden Engel nahmen seine Arme, und dann schritt Vater Moritz, der alte Wanderer, der Veteran der Emigranten, getrost durch das Tor, auf ein ungeheures Licht zu, über das plötzlich rauschend schneller und schneller farbige Schatten fielen…

„Moritz“, sagte Edith Rosenfeld in der Tür. „Hier ist das Baby. Der kleine Franzose. Willst du ihn sehen?“

Es blieb still. Sie trat vorsichtig näher. Moritz Rosenthal aus Godesberg am Rhein atmete nicht mehr.

* * *

Marie erwachte noch einmal. Sie hatte den ganzen Vormittag in einer dämmernden Agonie gelegen. Jetzt erkannte sie Steiner ganz klar.

„Du bist noch hier?“ flüsterte sie erschrocken.

„Ich kann hierbleiben, so lange ich will, Marie.“

„Was heißt das?“

„Die Amnestie ist herausgekommen. Ich falle darunter. Du brauchst keine Angst mehr zu haben. Ich bleibe jetzt immer hier.“

Sie sah ihn grübelnd an. „Du sagst mir das, um mich zu beruhigen, Josef…“

„Nein, Marie. Die Amnestie ist gestern herausgekommen.“ Er wandte sich nach der Schwester um, die im Hintergrund des Zimmers herumhantierte. „Nicht wahr, Schwester, seit gestern besteht keine Gefahr mehr für mich, erwischt zu werden?“

„Nein“ erwiderte die Schwester undeutlich.

„Bitte, kommen Sie doch näher, meine Frau möchte es von Ihnen genau hören.“

Die Schwester blieb gebückt stehen. „Ich hab’s ja schon gesagt.“

„Bitte, Schwester!“ flüsterte Marie.

Es blieb still. „Bitte, Schwester“, flüsterte die Kranke noch einmal.

Die Schwester schob sich unwillig heran. Die Kranke sah sie angestrengt an. „Nicht wahr, ich darf seit gestern immer hierbleiben?“ fragte Steiner.

„Ja“, stieß die Schwester hervor.

„Es besteht keine Gefahr für mich mehr, erwischt zu werden?“

„Nein.“

„Danke, Schwester.“

Steiner sah, wie sich die Augen der Sterbenden verschleierten. Sie hatte keine Kraft mehr, zu weinen. „Jetzt ist alles gut, Josef“, flüsterte sie. „Und jetzt, gerade wo du mich brauchen kannst, muss ich weg…“

„Du gehst nicht weg, Marie…“

„Ich möchte aufstehen und mit dir gehen können.“

„Wir werden zusammen fortgehen.“

Sie lag eine Zeitlang und sah ihn an. Ihr Gesicht war grau, das Skelett arbeitete sich durch, und das Haar war über Nacht fahl und glanzlos geworden, als sei es erblindet. Steiner sah das alles und sah es doch nicht; er sah nur, dass der Atem noch ging; und solange sie lebte, war sie für ihn Marie, seine Frau, umgeben vom Schimmer der Jugend und der Gemeinsamkeit.

Der Abend kroch ins Zimmer, und von draußen, von der Tür her, hörte man ab und zu das herausfordernde Räuspern Steinbrenners. Maries Atem wurde flach, dann kam er stoßweise, mit Pausen. Endlich wurde er leise und hörte auf, wie ein schwacher Wind, der einschläft. Steiner hielt ihre Hände, bis sie kalt wurden. Er starb mit. Als er aufstand, um hinauszugehen, war er ein gefühlloser Fremder, eine leere Hülle, die die Bewegung eines Menschen hatte. Er streifte die Schwester mit einem gleichgültigen Blick. Draußen wurde er von Steinbrenner und dem zweiten in Empfang genommen. „Über drei Stunden haben wir auf dich gewartet“, knurrte Steinbrenner. „Darüber werden wir uns öfter noch mal unterhalten, da kannst du sicher sein.“

„Ich bin sicher, Steinbrenner, dieser Dinge bin ich bei dir sicher.“

Steinbrenner leckte sich die Lippen. „Du weißt ja wohl, dass die Anrede für mich ›Herr Wachtmeister‹ ist, glaube ich, was? Sag ruhig weiter ›Steinbrenner‹ und ›Du‹ zu mir… aber für jedesmal wirst du wochenlang blutige Tränen weinen, mein Liebling. Ich hab’ ja jetzt Zeit mit dir.“

Sie gingen die breite Treppe hinunter, Steiner zwischen den beiden Wächtern. Es war ein milder Abend, und die bis zum Boden reichenden Fenster der oval geschwungenen Außenwand waren weit geöffnet. Es roch nach Benzin und einer Ahnung von Frühling.

„Ich habe ja so unendlich viel Zeit mit dir“, erklärte Steinbrenner langsam und vergnügt. „Dein ganzes Leben, mein Süßer. Und unsere Namen passen so schön… Steiner und Steinbrenner. Mal sehen, was wir daraus noch machen können.“

Steiner nickte nachdenklich. Das schräg geschnittene offene Fenster wurde größer, kam heran, ganz nahe, er gab Steinbrenner einen Stoß gegen das Fenster hin, sprang gegen ihn, über ihn und stürzte mit ihm zusammen ins Leere.

* * *

„Sie können das Geld ruhig nehmen“, sagte Marill zerstört und traurig. Er hat es mir ausdrücklich für Sie beide hiergelassen. Ich sollte es Ihnen geben, wenn er nicht zurückkommt.“

Kern schüttelte den Kopf. Er war gerade angekommen und saß schmutzig und abgerissen mit Marill in der Katakombe. Von Dijon aus war er als Beifahrer und Gehilfe eines Lastwagenzuges gefahren.

„Er kommt wieder“, sagte er. „Steiner kommt wieder.“

„Er kommt nicht wieder!“ erwiderte Marill heftig. „Herrgott, machen Sie es einem doch nicht noch schwerer mit Ihrem dauernden: er kommt wieder!

Er kommt nicht wieder! Hier, lesen Sie das!“

Er zog ein zerknittertes Telegramm aus der Tasche und warf es auf den Tisch. Kern nahm es und glättete es. Es war aus Berlin und an die Wirtin des Verdun gerichtet. „Herzliche Wünsche zum Geburtstag, Otto“, las er.

Er sah Marill an.

„Was heißt das?“ fragte er.

„Das heißt, dass er geschnappt worden ist. Wir hatten das so verabredet. Einer seiner Freunde sollte das Telegramm schicken. Es war vorauszusehen. Ich habe es ihm gleich gesagt. Und nun nehmen Sie endlich diese dreckigen Lappen!“

Er schob das Geld zu Kern hinüber. „Es sind zweitausendzweihundertvierzig Francs“, erklärte er. „Und hier ist noch etwas!“ Er holte seine Brieftasche hervor und nahm zwei kleine Hefte heraus. „Das sind Fahrkarten von Bordeaux nach Mexiko. Mit der ›Tacoma‹. Portugiesischer Frachtdampfer. Für Sie und Ruth. Fährt am Achtzehnten. Wir haben sie gekauft von dem übrigen Geld. Dies hier ist der Rest. Visa sind schon besorgt. Liegen beim Flüchtlingskomitee.“

Kern starrte die Hefte an. „Aber…“, sagte er völlig verständnislos.

„Nichts aber!“ unterbrach Marill ihn ärgerlich. „Machen Sie keine Schwierigkeiten, Kern! Hat Mühe genug gekostet, das alles! Verdammter Zufall! Kam vor drei Tagen heraus. Das Flüchtlingskomitee hat von der mexikanischen Regierung die Erlaubnis bekommen, hundertfünfzig Emigranten hinüber-zuschicken. Voraussetzung, dass sie die Überfahrt bezahlen können. Eines der Wunder, die ab und zu passieren. Klassmann kam damit an. Wir haben sofort gebucht für Sie beide, bevor alles überzeichnet ist. Geld für die Reise war ja da, jetzt gerade. Na, und…“

Er schwieg.

„Yvonne, bringen Sie mir einen Kirsch“, sagte er dann zu der dicken Kellnerin aus dem Elsaß.

Yvonne nickte und schaukelte mit wiegenden Hüften zur Küche hinüber.

„Bringen Sie zwei!“ rief Marill ihr nach.

Yvonne wandte sich um. „Hätte ich sowieso gemacht, Herr Marill“, erklärte sie.

„Gut. Wenigstens eine verständige Seele.“

Marill wandte sich wieder Kern zu. „Verstanden, inzwischen?“ fragte er. „Etwas überraschend, das alles, ich gebe es zu. Wenn Sie die Fahrkarte und das Visum auf der Präfektur vorzeigen, bekommen Sie eine Aufenthaltserlaubnis für Frankreich bis zu dem Datum, an dem das Schiff ausfährt. Auch wenn Sie illegal eingereist sind. Das Flüchtlingskomitee hat das erreicht. Sie können morgen gleich hingehen. Es ist die einzige Möglichkeit für Sie, ’rauszukommen aus dem Dreck.“

„Ja. Beim erstenmal einen Monat, beim zweitenmal sechs Monate Gefängnis.“

„Sechs Monate, ja. Und irgendwann wird man immer zum zweitenmal geschnappt, todsicher!“ Marill sah auf. Yvonne stand vor ihm und stellte ein Tablett mit zwei Gläsern auf den Tisch. Eines war ein normales Glas; das zweite ein Wasserglas, bis oben mit Kirschgeist gefüllt.

„Das ist für Sie!“ erklärte Yvonne grinsend und zeigte mit dem Daumen auf das Wasserglas. „Zum selben Preis!“

„Danke! Sie sind ein vernünftiges Kind. Viel zu schade, um in einer Ehe zur unvermeidlichen Xanthippe zu werden. Oder zu einer braven Märtyrerin. Prost!“

Marill trank auf einen Schluck das halbe Glas aus. „Prost, Kern!“ sagte er. „Weshalb trinken Sie denn nicht?“

Er stellte das Glas auf den Tisch und sah Kern zum erstenmal voll ins Gesicht. „Das fehlt noch“, sagte er dann, „dass Sie anfangen zu heulen! Mann, haben Sie denn gar keinen Anstand?“

„Ich heule nicht!“ erwiderte Kern. „Und wenn ich heule, so ist es scheißegal! Aber verdammt, all die Zeit habe ich gedacht, Steiner wäre wieder hier, wenn ich zurückkäme, und nun packen Sie mir da Geld hin und Fahrkarten, und ich bin gerettet, weil er verloren ist, das ist doch eine verfluchte Schweinerei, verstehen Sie das denn nicht?“

„Nein! Verstehe ich nicht! Sie reden sentimentalen Quatsch! Ist gar nichts daran zu verstehen. Geht doch immer so! Und nun trinken Sie das da aus! So wie… nun, wie er es ausgetrunken hätte. Zum Teufel, meinen Sie, es geht mir nicht an die Knochen?“

„Ja…“

Kern trank das Glas aus. „Ich bin wieder beieinander“, sagte er. „Haben Sie eine Zigarette, Marill?“

„Natürlich. Hier…“

Kern atmete den Rauch tief ein. Er sah plötzlich, im Halbdunkel der Katakombe, Steiners Gesicht. Etwas ironisch, vorgeneigt, beschienen vom flackernden Kerzenlicht, wie damals vor einer Ewigkeit im Gefängnis in Wien, und ihm war, als hörte er die ruhige, tiefe Stimme: „Na, Baby?“ Ja, dachte er, ja, Steiner!

„Weiß Ruth es?“ fragte er.

„Ja.“

„Wo ist sie?“

„Ich weiß nicht. Wahrscheinlich beim Flüchtlingskomitee. Sie wusste nicht, dass Sie kämen.“

„Nein. Ich wusste ja selbst nicht genau, wann ich ankommen würde. Kann man in Mexiko arbeiten?“

„Ja. Was, weiß ich nicht. Aber Sie bekommen eine Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis. Das ist garantiert.“

„Ich kann kein Wort Spanisch“, sagte Kern. „Oder spricht man da Portugiesisch?“

„Spanisch. Sie müssen es eben lernen.“

Kern nickte.

Marill beugte sich vor. „Kern“, sagte er mit plötzlich veränderter Stimme: „Ich weiß, es ist nicht einfach. Aber ich sage euch: fahrt ab! Denkt nicht nach! Fahrt ab! Macht, dass ihr aus Europa ’rauskommt! Weiß der Teufel, was hier noch werden wird! So eine Chance kommt nicht leicht wieder. Und so viel Geld werdet ihr auch nie wieder zusammenkriegen! Fahrt ab, Kinder! Hier…“

Er trank den Rest seines Glases aus.

„Fahren Sie mit?“ fragte Kern.

„Nein.“

„Reicht das Geld nicht für drei? Wir haben doch auch noch etwas.“

„Darauf kommt es nicht an. Ich bleibe hier. Ich kann Ihnen nicht erklären, warum. Ich bleibe. Ganz gleich, was wird. Man kann das nicht erklären. Man weiß es, fertig.“

„Ich verstehe“, sagte Kern.

„Da kommt Ruth“, erwiderte Marill. „Und ebenso wie ich hierbleibe, fahren Sie ab, verstehen Sie das auch?“

„Ja, Marill.“

„Gott sei Dank!“

Ruth blieb eine Sekunde an der Tür stehen. Dann stürzte sie auf Kern zu. „Wann bist du gekommen?“

„Vor einer halben Stunde.“

Ruth hob den Kopf aus einer Umarmung, die endlos und kürzer als ein Herzschlag war. „Weißt du…?“

„Ja. Marill hat mir alles gesagt.“

Kern sah sich um. Marill war nicht mehr da.

„Und weißt du auch…?“ fragte Ruth zögernd.

„Ja, ich weiß es. Wir wollen nicht davon sprechen jetzt. Komm, wir wollen hier heraus! Lass uns auf die Straße gehen. Nach draußen. Ich möchte hier weg. Lass uns auf die Straße gehen.“

„Ja.“

* * *

Sie gingen über die Champs-Elysées. Es war Abend, und der halbe Mond stand blass am apfelgrünen Himmel. Die Luft war silbern und klar und so milde, dass die Kaffeehausterrassen voller Gäste waren.

Sie gingen schweigend, eine lange Zeit. „Weißt du eigentlich, wo Mexiko liegt?“ fragte Kern schließlich.

Ruth schüttelte den Kopf. „Nicht genau. Aber ich weiß auch nicht mehr, wo Deutschland liegt.“

Kern sah sie an. Dann nahm er ihren Arm. „Wir müssen uns eine Grammatik kaufen und Spanisch lernen, Ruth.“

„Ich habe vorgestern schon eine gekauft. Antiquarisch.“

„So, antiquarisch…“ Kern lächelte. „Wir werden schon durchkommen, Ruth, was?“

Sie nickte.

„Auf jeden Fall sehen wir etwas von der Welt. Das hätten wir sonst nicht gehabt, zu Hause.“

Sie nickte wieder.

Sie gingen weiter, am Rond point vorüber. An den Bäumen drängte sich das erste junge Grün. Im Licht der frühen Lampen sah es aus wie ein flackerndes Elmsfeuer, das aus der Erde kam und die Äste und Zweige der Kastanien entlang loderte. Die Erde der Anlagen war umgegraben. Ihr starker Duft mischte sich sonderbar mit dem Geruch von Benzin und Öl, der immer über die breite Straße wehte. An einigen Stellen hatten die Gärtner bereits blühende Narzissenbeete eingesetzt. Sie schimmerten in der Dämmerung. Es war die Stunde, wo die Geschäfte geschlossen wurden, und der Verkehr war so dicht, dass es schwer war, vorwärts zu kommen.

Kern sah Ruth an. „Wie viele Menschen es gibt“, sagte er.

„Ja“, erwiderte sie. „Furchtbar viele Menschen.“

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