Marill kam in die Kantine. „Draußen ist jemand, der dich sucht, Steiner.“
„Als was? Als Steiner oder als Huber?“
„Als Steiner.“
„Hast du ihn gefragt, was er will?“
„Natürlich. Schon aus Vorsicht.“ Marill sah ihn an. „Er hat einen Brief für dich aus Berlin.“
Steiner schob mit einem Ruck seinen Stuhl zurück. „Wo ist er?“
„Drüben am rumänischen Pavillon.“
„Kein Spitzel oder so was?“
„Sieht nicht so aus.“
Sie gingen zusammen hinüber. Unter den kahlen Bäumen wartete ein Mann von etwa fünfzig Jahren. „Sind Sie Steiner?“ fragte er.
„Nein“, sagte Steiner. „Warum?“
Der Mann fixierte ihn flüchtig. „Ich habe einen Brief für Sie. Von Ihrer Frau.“
Er nahm einen Brief aus seiner Brieftasche und zeigte ihn Steiner. „Sie kennen ja wohl die Handschrift.“
Steiner fühlte, dass er ruhig stand, mit aller Kraft, aber innen war plötzlich alles lose und bebte und flog. Er konnte die Hand nicht heben; er glaubte, sie würde wegfliegen.
„Woher wissen Sie, dass Steiner in Paris ist?“ fragte Marill.
„Der Brief kommt aus Wien. Jemand hat ihn aus Berlin mitgebracht. Dann hat er Sie zu erreichen versucht und gehört, dass Sie in Paris sind.“ Der Mann zeigte auf ein zweites Kuvert. Josef Steiner, Paris, stand darauf, in Lilos großer Handschrift. „Er hat mit noch anderer Post den Brief an mich geschickt. Ich suche Sie seit einigen Tagen. Im Café Maurice habe ich endlich gehört, dass ich Sie hier finden kann. Sie brauchen mir nicht zu sagen, ob Sie Steiner sind. Ich weiß, dass man vorsichtig sein muss. Sie brauchen nur den Brief zu nehmen. Ich will ihn los werden.“
„Er ist für mich“, sagte Steiner.
„Gut.“
Der Mann gab ihm den Brief. Steiner musste sich Mühe geben, ihn zu nehmen; er war anders und schwerer als alle Briefe der Welt. Aber als er den Umschlag zwischen den Fingern fühlte, hätte man ihm die Hand abschlagen müssen, um ihn wiederzubekommen. „Danke“, sagte er zu dem Mann. „Sie haben viel Mühe gehabt.“
„Macht nichts. Wenn wir schon Post bekommen, ist sie wichtig genug, um jemand zu suchen. Gut, dass ich Sie gefunden habe.“
Er grüßte und ging.
„Marill“, sagte Steiner, vollkommen außer sich. „Von meiner Frau! Der erste Brief! Was kann das sein? Sie sollte doch nicht schreiben!“
„Mach ihn auf…“
„Ja. Bleib hier sitzen. Verdammt, was mag sie haben?“
Er riss den Umschlag auf und begann zu lesen. Er saß wie ein Stein und las den Brief zu Ende; aber sein Gesicht begann sich zu verändern. Er wurde bleich und schien einzufallen. Die Muskeln an den Backen spannten sich, und die Adern traten hervor.
Er ließ den Brief sinken und saß eine Zeitlang schweigend und starrte zu Boden. Dann blickte er nach dem Datum. „Zehn Tage…“, sagte er. „Sie liegt im Krankenhaus. Vor zehn Tagen hat sie noch gelebt…“ – Marill sah ihn an und wartete.
„Sie sagt, sie sei nicht zu retten. Deshalb schreibt sie. Es sei ja nun egal. Sie sagt nicht, was sie hat. Sie schreibt… du verstehst… es ist ihr letzter Brief…“
„In welchem Krankenhaus liegt sie?“ fragte Marill. „Hat sie es geschrieben?“
„Ja.“
„Wir werden sofort anrufen. Wir rufen das Krankenhaus an. Unter irgendeinem Namen.“
Steiner stand etwas taumelnd auf. „Ich muss hin.“
„Ruf erst an. Komm, wir fahren zum Verdun.“
Steiner meldete die Nummer an. Nach einer halben Stunde klirrte das Telefon, und er ging in die Kabine, wie in einen dunklen Schacht. Als er herauskam, war er nass von Schweiß.
„Sie lebt noch“, sagte er.
„Hast du mit ihr gesprochen?“ fragte Marill.
„Nein, mit dem Arzt.“
„Hast du deinen Namen gesagt?“
„Nein, ich habe gesagt, ich sei ein Verwandter von ihr. Sie ist operiert worden. Sie ist nicht mehr zu retten. Drei, vier Tage noch höchstens, sagt der Arzt. Deshalb hat sie auch geschrieben. Sie dachte nicht, dass ich den Brief so rasch bekäme. Verdammt!“ Er hatte den Brief immer noch in der Hand und sah sich um, als hätte er noch nie in dem schmutzigen Vorraum des Verdun gestanden. „Marill, ich fahre heute abend.“
Marill sah ihn an. „Bist du verrückt geworden, Kind?“ fragte er dann leise.
„Nein. Ich komme über die Grenze. Ich habe ja den Pass.“
„Der Pass nützt dir nichts, wenn du drüben bist. Das weißt du doch selbst ganz genau!“
„Ja.“
„Dann weißt du auch, was es bedeutet, wenn du ’rüberfährst!“
„Ja.“
„Dass du wahrscheinlich verloren bist.“ „Ich bin auch verloren, wenn sie stirbt.“
„Das ist nicht wahr!“ Marill war plötzlich maßlos wütend. „Es klingt roh, was ich dir rate, Steiner, schreibe ihr, telegrafiere ihr, aber bleibe hier.“
Steiner schüttelte abwesend den Kopf. Er hatte kaum zugehört.
Marill packte ihn an der Schulter. „Du kannst ihr nicht helfen. Auch nicht, wenn du hinfährst.“
„Ich kann sie sehen.“
„Aber Mensch, sie wird entsetzt sein, wenn du kommst! Wenn du sie fragen würdest, jetzt, sie würde alles tun, damit du hierbleibst.“
Steiner hatte auf die Straße gestarrt, ohne etwas zu sehen. Jetzt wandte er sich rasch um. „Marill“, sagte er, und seine Augen flatterten, „noch ist sie alles, was es gibt für mich, sie lebt, sie atmet noch, ihre Augen sind noch da und ihre Gedanken, ich bin noch da hinter ihren Augen – und sie wird tot sein in ein paar Tagen, nichts mehr wird von ihr dasein, sie wird daliegen und es nicht mehr sein, ein zerfallender, fremder Kadaver – aber jetzt, jetzt ist sie doch noch da, sie ist noch da, ein paar Tage noch, die letzten Tage, und ich soll nicht bei ihr sein, begreife doch, dass ich fahren muss, es geht gar nicht anders, verdammt, die Welt geht zugrunde, wenn ich nicht komme, ich zerbreche einfach, ich sterbe mit!“
„Du stirbst nicht mit. Komm, telegrafiere ihr, nimm mein Geld zu deinem, nimm das von Kern dazu und telegrafiere ihr jede Stunde, ganze Seiten, Briefe, alles – aber bleib hier!“
„Es ist nicht gefährlich, wenn ich fahre. Ich habe den Pass, ich komme wieder zurück damit.“
„Quatsch mir nichts vor! Du weißt, dass es gefährlich ist! Sie haben drüben eine verdammt gute Organisation.“
„Ich fahre“, sagte Steiner.
Marill versuchte ihn am Arm zu fassen und mitzuziehen.
„Komm, wir saufen ein paar Flaschen Schnaps! Besauf dich! Ich verspreche dir, dass ich alle paar Stunden telefonieren werde.“
Steiner schüttelte ihn ab wie ein Kind. „Lass das, Marill. Es sitzt anderswo. Ich weiß, was du meinst. Ich verstehe es auch, ich bin nicht verrückt. Ich weiß, was auf dem Spiele steht, aber auch wenn es tausendmal mehr wäre, würde ich fahren, und nichts könnte mich daran hindern. Verstehst du das denn nicht?“
„Ja“, brüllte Marill. „Natürlich verstehe ich es! Ich würde ja selbst auch fahren!“
Steiner pachte seine Sachen. Er war wie ein vereister Strom, der aufgebrochen ist. Er konnte kaum begreifen, dass er mit jemand telefoniert hatte, der im gleichen Hause wie Marie gewesen war; es erschien ihm fast unfasslich, dass seine eigene Stimme so dicht in ihrer Nähe im schwarzen Kautschuk einer Hörmuschel gesummt hatte; alles erschien ihm unvorstellbar – dass er packte, dass er einen Zug besteigen würde und dass er morgen da sein konnte, wo sie war.
Er warf den Rest der wenigen Dinge, die er brauchte, in den Koffer und schloss ihn zu. Dann ging er zu Ruth und Kern hinüber. Sie hatten alles schon von Marill gehört und erwarteten ihn verstört.
„Kinder“, sagte er, „ich gehe jetzt weg. Es hat lange gedauert, aber ich wusste eigentlich immer, dass es so kommen würde. Nicht ganz so“, fügte er hinzu. „Aber das glaube ich auch noch nicht. Ich weiß es nur.“
Er lächelte verstört und traurig. „Leben Sie wohl, Ruth.“
Ruth gab ihm die Hand. Sie weinte. „Ich wollte Ihnen so vieles sagen, Steiner. Aber jetzt weiß ich nichts mehr. Ich bin nur noch traurig. Wollen Sie das mitnehmen?“ Sie hielt ihm den schwarzen Pullover hin. „Er ist gerade heute fertig geworden.“
Steiner lächelte und war einen Augenblick wieder wie früher.
„Das hat gerade geklappt“, sagte er. Dann wandte er sich an Kern. „Leb wohl, Baby. Manchmal geht alles furchtbar langsam, was? Und manchmal verdammt schnell.“
„Ich weiß nicht, ob ich ohne dich noch da wäre, Steiner“, sagte Kern.
„Bestimmt. Aber es ist schön, dass du mir das sagst. Dann war die Zeit doch nicht ganz umsonst.“
„Kommen Sie wieder!“ sagte Ruth. „Mehr kann ich nicht sagen. Kommen Sie wieder. Wir können wenig für Sie tun; aber alles, alles was wir sind, ist für Sie da. Immer.“
„Gut. Ich will sehen. Lebt wohl, Kinder. Haltet die Ohren steif.“
„Lass uns mit zum Bahnhof gehen“, sagte Kern.
Steiner zögerte. „Marill geht mit. Oder ja, kommt nur mit!“ Sie gingen die Treppen hinunter. Draußen drehte Steiner sich um und sah zu der grauen, abgeblätterten Front des Hotels hinüber. „Verdun…“, murmelte er.
„Lass mich deinen Koffer tragen“, sagte Kern.
„Wozu, Baby? Ich kann es selbst ganz gut.“
„Gib ihn mir“, sagte Kern mit einem verzerrten Lächeln. „Ich habe dir heute nachmittag gezeigt, wie kräftig ich geworden bin.“
„Ja, das hast du. Heute nachmittag. Wie lange das her ist!“
Steiner gab ihm den Koffer. Er wusste, dass Kern etwas für ihn tun wollte und dass es nichts anderes gab als dieses wenige: den Koffer für ihn zu tragen.
Sie kamen gerade zur Abfahrt des Zuges zurecht. Steiner stieg ein und ließ das Fenster herunter. Der Zug stand noch; aber Steiner schien den dreien auf dem Bahnsteig durch das Fenster schon auf eine unwiderrufliche Weise von ihnen getrennt. Kern sah mit brennenden Augen auf das harte, hagere Gesicht; er wollte es sich einprägen für sein ganzes Leben. Es hatte ihn viele Monate begleitet und war sein Lehrer gewesen; was an ihm selbst abgehärtet worden war, das verdankte er Steiner. Und jetzt sah er dieses Gesicht, beherrscht und ruhig, freiwillig in seinen Untergang gehen; denn niemand von allen rechnete mit dem Wunder, dass Steiner zurückkäme.
Der Zug fuhr an. Niemand sprach ein Wort. Steiner hob langsam die Hand. Die drei auf dem Bahnhof sahen ihm nach, bis die Wagen hinter einer Kurve verschwanden.
„Verdammt!“ sagte Marill schließlich heiser. „Kommt, ich muss einen Schnaps haben. Ich habe viele Menschen sterben sehen, aber ich war noch nie dabei, wenn jemand Selbstmord verübte.“
Sie kehrten zum Hotel zurück. Kern und Ruth gingen in Ruths Zimmer. „Ruth“, sagte Kern nach einer Weile, „es ist plötzlich leer und man friert – als wäre die ganze Stadt ausgestorben.“
Abends besuchten sie Vater Moritz. Er lag jetzt im Bett und konnte nicht mehr aufstehen. „Setzt euch, Kinder“, sagte er. „Ich weiß schon alles. Es ist nichts daran zu tun. Jeder Mensch hat das Recht, sein Schicksal zu bestimmen.“
Moritz Rosenthal wusste, dass er nie mehr aufstehen würde. Er hatte deshalb sein Bett so stellen lassen, dass er aus dem Fenster sehen konnte. Es war nicht viel, was er erblickte: nur ein Stück der Häuserreihe gegenüber. Aber da er sonst nichts hatte, wurde es viel. Er sah die Fenster auf der anderen Seite, und sie wurden für ihn der Inbegriff des Lebens. Er sah sie morgens, wenn sie geöffnet wurden, er sah die Gesichter in ihnen erscheinen, er kannte das verdrossene Mädchen, das die Scheiben putzte, die müde junge Frau, die nachmittags fast regungslos hinter der weggeschobenen Gardine saß und auf die Straße starrte, und den Kahlkopf im oberen Stock, der abends bei offenem Fenster turnte. Er sah nachmittags das Licht hinter den herabgelassenen Vorhängen erscheinen, er sah Schatten hin und her wandern, er sah Abende, wo alles dunkel lag, wie eine verlassene Höhle, und andere, wo die Lichter lange brannten. Das und der gedämpfte Lärm der Straße war für ihn die Welt draußen, zu der nur noch seine Gedanken, nicht mehr sein Körper gehörten – die andere, die Welt der Erinnerungen, hatte er in seinem Zimmer an den Wänden. Mit seiner letzten Kraft und mit Hilfe des Zimmermädchens hatte er alle Fotografien und Bilder, die er besaß, mit Reißnägeln dort befestigt.
An der Wand über dem Bett hingen verblichene Fotografien seiner Familie; seiner Eltern, seiner Frau, die vor vierzig Jahren gestorben war, das Bild eines Enkels, der mit siebzehn Jahren gestorben war; das Bild der Schwiegertochter, die nur fünfunddreißig Jahre alt geworden war – Tote, zwischen denen Moritz Rosenthal uralt und gelassen selbst den Tod erwartete.
Die Wand gegenüber war mit Landschaftsbildern bedeckt, Fotos vom Rhein, von Burgen, Schlössern und Weinbergen, bunte Ausschnitte aus Zeitungen dazwischen, Sonnenaufgänge und Gewitter über dem Rhein, und zum Schluss eine Serie von Bildern aus dem Städtchen Godesberg am Rhein.
„Ich kann mir nicht helfen“, sagte Moritz Rosenthal verlegen, „ich sollte eigentlich Bilder aus Palästina hier hängen haben; wenigstens ein paar dazwischen, aber ich mache mir nichts draus.“
„Wie lange haben Sie in Godesberg gelebt?“ fragte Ruth.
„Bis zu meinem achtzehnten Jahre. Dann zogen wir weg.“
„Und später?“
„Später war ich nie wieder da.“
„Das ist lange her, Vater Moritz“, sagte Ruth.
„Ja, da warst du noch nicht auf der Welt. Vielleicht wurde deine Mutter damals erst geboren.“
Sonderbar, dachte Ruth, meine Mutter wurde geboren, als diese Bilder schon Erinnerungen waren im Gehirn hinter dieser Stirn vor mir, und sie hat ihr schweres Leben gelebt und ist ausgelöscht worden. Immer noch geistern dieselben Erinnerungen hinter dieser alten Stirn, als wären sie stärker als manches Leben.
Es klopfte.
Edith Rosenfeld trat ein. „Edith“, sagte Moritz Rosenthal, „meine ewige Liebe! Woher kommst du?“
„Von der Bahn, Moritz. Ich habe Max fortgebracht. Er fährt nach London und von da nach Mexiko.“
„Dann bist du jetzt allein, Edith…“
„Ja, Moritz, jetzt habe ich sie alle untergebracht, und sie können arbeiten.“
„Was soll Max in Mexiko machen?“
„Er geht als Arbeiter. Aber er will versuchen, in den Autohandel zu kommen.“
„Du bist eine gute Mutter, Edith“, sagte Moritz Rosenthal nach einer Weile.
„Ich bin wie jede, Moritz.“
„Was wirst du jetzt tun?“
„Ich werde mich etwas ausruhen. Dann habe ich wieder Arbeit. Es gibt ein Baby hier im Hotel. Vor vierzehn Tagen geboren. Die Mutter muss bald wieder arbeiten. Da werde ich zur Adoptiv-Großmutter.“
Moritz Rosenthal richtete sich ein wenig auf. „Ein Baby? Vierzehn Tage alt? Das ist dann ja schon ein Franzose! Habe ich mit achtzig Jahren nicht geschafft.“ Er lächelte. „Kannst du es denn in den Schlaf singen, Edith?“ – „Ja.“
„Mit den Liedern, mit denen du meinen Sohn damals in den Schlaf gesungen hast. Es ist lange her, Edith. Alles ist plötzlich so lange her. Willst du mir nicht wieder einmal eines davon vorsingen? Manchmal bin ich auch schon wie ein Kind, das schlafen möchte.“
„Welches denn, Moritz?“
„Das Lied vom armen Judenkind. Es ist vierzig Jahre her, dass du es gesungen hast. Du warst sehr schön und jung damals. Du bist immer noch schön, Edith.“
Edith Rosenfeld lächelte. Dann richtete sie sich ein wenig auf und begann mit ihrer brüchigen Stimme ein altes jiddisches Lied zu singen. Ihre Stimme klirrte etwas, wie die dünne Melodie einer alten Spieldose. Moritz Rosenthal legte sich zurück und lauschte. Er schloss die Augen und atmete ruhig. Leise sang die alte Frau in dem kahlen Raum die schwermütige Melodie der Heimatlosigkeit und die traurigen Worte dazu:
„Rosinkes und Mandele,
Das wird sein dein Beruf —
Domit wirst müsse, Jiddele, handele —
Schluf, Jiddele, schluf —“
Ruth und Kern saßen schweigend und hörten zu. Über ihren Köpfen rauschte der Wind der Zeit – vierzig Jahre, fünfzig Jahre wehten im Gespräch der alten Frau mit dem alten Mann vorüber, und es erschien den beiden Alten als selbstverständlich, dass sie vergangen waren. Aber mitten darin hockten die beiden zwanzigjährigen Leben, für die ein Jahr schon etwas Unendliches und fast Unausdenkbares war, und sie spürten etwas wie eine schattenhafte Angst: dass alles verging und vergehen musste und dass es auch nach ihnen einmal greifen würde…
Edith Rosenfeld stand auf und beugte sich über Moritz Rosenthal. Er schlief. Sie betrachtete das große Greisengesicht eine Zeitlang. „Kommt“, sagte sie dann, „wir wollen ihn schlafen lassen.“
Sie löschte das Licht aus, und sie gingen ohne Geräusch hinaus auf den finsteren Korridor und tappten zu ihrem Zimmer hinüber.
Kern fuhr gerade eine schwere Karre voll Erde vom Pavillon fort zu Marill hinüber, als er von zwei Herren angehalten wurde.
„Einen Moment, bitte! Sie auch“, sagte der eine zu Marill.
Kern stellte umständlich die Karre zu Boden. Er wusste, was los war. Diesen Ton kannte er; in der ganzen Welt wäre er sofort aus tiefstem Schlaf aufgesprungen, wenn er diesen leisen, höflichen und unerbittlichen Ton neben seinem Bett gehört hätte.
„Wollen Sie uns, bitte, Ihre Ausweispapiere zeigen?“
„Ich habe sie nicht bei mir“, erwiderte Kern.
„Wollen Sie uns vorher, bitte, Ihre Ausweispapiere zeigen?“ sagte Marill.
„Aber gewiss, gern! Hier, das genügt wohl, nicht wahr? Polizei. Der Herr ist Kontrolleur des Arbeitsministeriums. Sie verstehen: die große Anzahl französischer Arbeitsloser zwingt uns zu einer Kontrolle…“
„Ich verstehe, mein Herr. Ich kann Ihnen leider nur eine Aufenthaltserlaubnis zeigen; eine Arbeitserlaubnis habe ich nicht; Sie haben sie auch sicher nicht erwartet…“
„Sie haben ganz recht, mein Herr“, sagte der Kontrolleur höflich, „wir haben das nicht erwartet. Aber es genügt uns. Sie können weiterarbeiten. Die Regierung will in diesem besonderen Falle beim Bau der Ausstellung die Bestimmungen nicht allzu streng nehmen. Entschuldigen Sie bitte die Störung.“
„Bitte, es ist doch Ihre Pflicht.“
„Darf ich Ihren Ausweis sehen?“ fragte der Kontrolleur Kern.
„Ich habe keinen.“
„Kein Recepisse?“
„Nein.“
„Sie sind illegal eingewandert?“
„Ich hatte keine andere Möglichkeit.“
„Ich bedaure sehr“, sagte der Mann von der Polizei, „aber Sie müssen mit uns zur Präfektur kommen.“
„Ich habe damit gerechnet“, erwiderte Kern und sah Marill an. „Sagen Sie Ruth, dass ich geschnappt worden bin; ich komme so schnell zurück, wie ich kann. Sie soll keine Angst haben.“
Er hatte deutsch gesprochen. „Ich habe nichts dagegen, wenn Sie sich noch einen Augenblick unterhalten wollen“, erklärte der Kontrolleur zuvorkommend.
„Ich werde für Ruth sorgen, bis Sie wiederkommen“, sagte Marill auf deutsch. „Hals- und Beinbruch, alter Junge. Lassen Sie sich über Basel abschieben. Über Burgfelden wieder herein. Telefonieren Sie vom Gasthof Steiff zum Hotel Steiff in St. Louis um ein Taxi bis Mülhausen und von dort bis Belfort. Das ist der beste Weg. Wenn man Sie in die Santé bringt, schreiben Sie mir, sobald Sie können. Klassmann wird außerdem aufpassen. Ich rufe ihn sofort an.“
Kern nickte Marill zu. „Ich bin fertig“, sagte er dann.
Der Vertreter der Polizei übergab ihn einem Manne, der in der Nähe gewartet hatte. Der Kontrolleur sah Marill lächelnd an. „Hübsche Abschiedsworte“, sagte er in perfektem Deutsch. „Sie scheinen unsere Grenzen gut zu kennen.“
„Leider“, erwiderte Marill.
Marill saß mit Waser in einem Bistro. „Kommen Sie“, sagte er, „lassen Sie uns noch einen Schnaps nehmen! Verdammt, ich traue mich nicht ins Hotel! Das erstemal, dass mir so was passiert! Was nehmen Sie? Einen Fine oder einen Pernod?“
„Fine“, erklärte Waser mit Würde. „Das Anisettezeug ist für Weiber.“
„Nicht in Frankreich.“ Marill winkte dem Kellner und bestellte einen Kognak und einen Pernod pur.
„Ich kann es ihr sagen“, schlug Waser vor. „In unseren Kreisen ist so was gang und gäbe. Da wird alle Augenblicke mal jemand hopp genommen, und man muss es der Frau oder seinem Mädchen beibringen. Am besten ist es, Sie starten mit der großen, allgemeinen Sache, die immer Opfer erfordert.“
„Was für eine allgemeine Sache?“
„Die Bewegung! Die revolutionäre Aufklärung der Massen, selbstverständlich!“
Marill betrachtete den Kommunisten aufmerksam eine Weile. „Waser“, sagte er dann ruhig, „damit würden wir wohl nicht weit kommen. So was ist gut für ein sozialistisches Manifest, aber für weiter nichts. Ich vergaß, dass Sie in politischen Dingen stecken. Trinken wir unsern Schnaps, und dann an die Gewehre! Irgendwie wird es schon gemacht werden.“
Sie zahlten und gingen durch den matschigen Schneebrei zum Hotel Verdun. Waser verschwand in der Katakombe, und Marill stieg langsam die Treppen hinauf.
Er klopfte an Ruths Tür. Sie öffnete so schnell, als hätte sie hinter der Tür gewartet. Das Lächeln auf ihrem Gesicht verwischte sich etwas, als sie Marill sah. „Marill…“, sagte sie.
„Ja, den haben Sie wohl nicht erwartet, was?“
„Ich dachte, es wäre Ludwig. Er muss ja auch jeden Augenblick kommen.“
„Ja.“
Marill trat ein. Er sah Teller auf dem Tisch stehen, einen Spirituskocher mit brodelndem Wasser, Brot und Aufschnitt und in einer Vase ein paar Blumen. Er sah das alles, er sah Ruth, die erwartungsvoll vor ihm stand, und er nahm unschlüssig, um etwas zutun, die Vase hoch. „Blumen“, murmelte er. „Auch noch Blumen.“
„Blumen sind billig in Paris“, sagte Ruth.
„Ja. Ich meinte das nicht so. Nur…“ Marill stellte die Vase so vorsichtig zurück, als wäre sie nicht aus billigem, dickem Pressglas, sondern aus hauchdünnem Porzellan. „Es macht es nur noch so verflucht viel schwerer, das alles…“
„Was?“
Marill antwortete nicht.
„Ich weiß es“, sagte Ruth plötzlich. „Die Polizei hat Ludwig gefasst.“
Marill drehte sich um, ihr zu. „Ja, Ruth.“
„Wo ist er?“
„In der Präfektur.“
Ruth nahm schweigend ihren Mantel. Sie zog ihn an, stopfte ein paar Sachen in die Taschen und wollte an Marill vorbei, aus der Tür. Er hielt sie auf. „Das ist sinnlos“, erklärte er. „Es hilft ihm und Ihnen nichts. Wir haben jemand in der Präfektur, der aufpasst. Bleiben Sie hier!“
„Wie kann ich das? Ich kann ihn doch noch sehen! Sie sollen mich mit einsperren! Dann gehen wir zusammen über die Grenze!“ Marill hielt sie fest. Sie war wie eine zusammengezogene Stahlfeder. Ihr Gesicht war blass, und es schien kleiner geworden vor Anspannung. Dann gab sie plötzlich nach. „Marill…“, sagte sie hilflos, „was soll ich tun?“
„Hierbleiben. Klassmann ist auf der Präfektur. Er wird uns sagen, was passiert. Man kann ihn nur ausweisen. Dann ist er in ein paar Tagen wieder da. Ich habe ihm versprochen, dass Sie hier warten. Er weiß, dass Sie vernünftig sein werden.“
„Ja, das will ich.“ Ihre Augen waren voll Tränen. Sie zog ihren Mantel aus und ließ ihn zu Boden fallen. „Marill“, sagte sie, „weshalb macht man das alles mit uns? Wir haben doch niemandem etwas getan!“
Marill sah sie nachdenklich an. „Ich glaube, das ist der ganze Grund“, sagte er. „Tatsächlich, ich glaube, das ist es.“
„Wird man ihn ins Gefängnis bringen?“
„Ich glaube nicht. Wir werden das durch Klassmann erfahren. Wir müssen bis morgen warten.“
Ruth nickte und nahm ihren Mantel langsam vom Boden wieder auf. „Hat Ihnen Klassmann sonst nichts gesagt?“
„Nein. Ich habe ihn nur einen Moment gesprochen. Er ist dann gleich zur Präfektur gegangen.“
„Ich war heute vormittag mit ihm da. Man hatte mich hinbestellt.“ Sie nahm ein Papier aus ihrer Manteltasche, strich es glatt und gab es Marill. „Deshalb.“
Es war eine Aufenthaltserlaubnis für Ruth, gültig für vier Wochen. „Das Flüchtlingskomitee hat es durchgesetzt. Ich hatte ja noch einen abgelaufenen Pass. Klassmann kam heute mit der Nachricht. Er hat all die Monate daran gearbeitet. Ich wollte es Ludwig zeigen. Deshalb habe ich auch die Blumen hier auf dem Tisch.“
„So, deshalb!“ Marill hielt den Schein in der Hand. „Es ist ein verfluchtes Glück und ein verdammtes Elend gleichzeitig“, sagte er. „Aber mehr ein Glück. Dies hier ist eine Art Wunder. Das kommt nicht leicht wieder. Aber Kern kommt wieder. Glauben Sie das?“
„Ja“, sagte Ruth. „Das eine geht nicht ohne das andere. Er muss wiederkommen!“
„Gut. Und jetzt gehen Sie mit mir hinaus. Wir essen irgendwo. Und wir werden etwas trinken – auf die Aufenthaltserlaubnis und auf Kern. Er ist ein erfahrener Soldat. Wir alle sind Soldaten. Sie auch. Habe ich recht?“
„Ja.“
„Kern würde sich fünfzigmal mit Jubel ausweisen lassen für das, was Sie da in der Hand halten, das wissen Sie doch?“
„Ja, aber ich würde hundertmal lieber nicht…“
„Ich weiß“, unterbrach Marill. „Darüber reden wir, wenn er wieder da ist. Das ist eine der ersten Soldatenregeln.“
„Hat er Geld, um zurückzufahren?“
„Das nehme ich an. Als alte Kämpfer haben wir immer so viel bei uns für den Notfall. Wenn er nicht genug hat, schmuggelt Klassmann den Rest hinein. Er ist unser Vorposten und unsere Patrouille. Und nun kommen Sie! Manchmal ist es verdammt gut, dass es Schnaps gibt auf der Welt. In der letzten Zeit besonders!“
Steiner war sehr wach und gespannt, als der Zug an der Grenze hielt. Die französischen Zollbeamten gingen gleichgültig und rasch durch. Sie fragten nach dem Pass, stempelten ihn und verließen das Abteil. Der Zug fuhr wieder an und rollte langsam weiter. Steiner wusste, dass in diesem Augenblick sein Schicksal entschieden war; er konnte nicht mehr zurück.
Nach einer Weile kamen zwei deutsche Beamte und grüßten. „Bitte Ihren Pass.“
Steiner nahm das Heft und gab es dem jüngeren, der gefragt hatte. „Wozu reisen Sie nach Deutschland?“ fragte der andere.
„Ich will Verwandte besuchen.“
„Leben Sie in Paris?“
„Nein, in Graz. Ich habe in Paris einen Verwandten besucht.“
„Wie lange wollen Sie in Deutschland bleiben?“
„Ungefähr vierzehn Tage. Dann fahre ich wieder nach Graz zurück.“
„Haben Sie Devisen bei sich?“
„Ja. Fünfhundert Francs.“
„Wir müssen das in den Pass eintragen. Haben Sie das Geld aus Österreich mitgebracht?“
„Nein, ein Vetter in Paris hat es mir gegeben.“
Der Beamte betrachtete den Pass, dann schrieb er etwas hinein und stempelte ihn.
„Haben Sie etwas zu verzollen?“ fragte der andere.
„Nein, nichts.“ Steiner nahm seinen Koffer herunter.
„Haben Sie noch großes Gepäck?“
„Nein, dieses hier ist alles.“
Der Beamte sah flüchtig in den Koffer. „Haben Sie Zeitungen, Drucksachen oder Bücher bei sich?“
„Nichts.“
„Danke.“ Der jüngere Beamte gab Steiner den Pass zurück. Beide grüßten und gingen. Steiner atmete auf. Er merkte plötzlich, dass er nass von Schweiß war.
Der Zug begann schneller zu fahren. Steiner lehnte sich zurück und blickte durch die Scheiben. Draußen war es Nacht, Wolken zogen rasch und niedrig über den Himmel, und dazwischen blinkten die Sterne. Kleine, halb erleuchtete Bahnhöfe flogen vorüber. Die roten und grünen Lichter der Signale huschten vorüber, und die Schienen glänzten. Steiner ließ das Fenster herunter und sah hinaus. Der feuchte Fahrtwind riss an seinem Gesicht und an seinen Haaren. Er atmete tief; es schien eine andere Luft zu sein. Es war ein anderer Wind, es war ein anderer Horizont, es war ein anderes Licht, die Pappeln an den Straßen bogen sich anders und vertrauter, die Straßen selbst führten irgendwo in sein Herz – er atmete tief, es war ihm heiß, sein Blut klopfte, die Landschaft hob sich und sah ihn an, rätselhaft und doch nicht mehr fremd – verdammt, dachte er, was ist das, ich werde sentimental! Er setzte sich wieder hin und versuchte zu schlafen – aber er konnte es nicht. Die dunkle Landschaft draußen lockte und rief, sie wurde zu Gesichtern und Erinnerungen, die schweren Jahre des Krieges standen wieder auf, als der Zug über die Rheinbrücke donnerte; das Wasser, schillernd und mit dumpfem Rauschen dahintreibend, warf hundert Namen hoch, verschollene, tote, fast schon vergessene Namen, Namen von Regimentern und Kameraden, von Städten und Lagern, Namen aus der Nacht der Jahre, es war ein Anprall, und Steiner stand plötzlich im Sturm seiner Vergangenheit und wollte sich wehren und konnte es nicht.
Er war allein im Abteil. Er zündete eine Zigarette nach der anderen an und wanderte hin und her in dem kleinen Raum. Er hatte nicht geglaubt, dass alles noch eine solche Gewalt über ihn haben könnte. Krampfhaft begann er sich zu zwingen, an morgen zu denken, daran, wie er versuchen musste, durchzukommen, ohne Aufsehen zu erregen, an das Krankenhaus, an seine Lage, und wen von seinen Freunden er aufsuchen und fragen könnte.
Aber all das erschien ihm im Augenblick sonderbar neblig und unwirklich – es entwich ihm, wenn er es fassen wollte, sogar die Gefahr, in der er schwebte und der er entgegenfuhr, verblich zu einer abstrakten Vorstellung, sie hatte keine Kraft, sein zitterndes Blut kühl und zum Nachdenken zu zwingen, im Gegenteil, sie peitschte es mit auf zu einem Wirbel, in dem sich sein Leben wie in einem dunklen Tanz und einer mystischen Wiederkehr zu drehen schien. Da gab er es auf. Er wusste, es war die letzte Nacht; morgen würde alles überschattet sein von dem andern – es war die letzte reine Nacht im Ungewissen, im Sturm des Gefühls, es war die letzte Nacht ohne das grausame Wissen und die Klarheit des Verderbens. Er gab es auf, zu denken. Er gab sich hin.
Die Nacht entfaltete sich groß vor dem Fenster des dahinjagenden Zuges. Sie war ohne Ende, sie entfaltete sich über vierzig Jahre eines Mannes und über sein Leben, für das vierzig Jahre die Ewigkeit bedeuteten. Die Dörfer, die vorüberglitten, mit wenigen Lichtern und vereinzeltem Hundelaut, waren alle die Dörfer seiner Kindheit – er hatte in allen gespielt, über alle waren seine Sommer und Winter dahingegangen, und die Glocken ihrer Kapellen hatten überall für ihn geläutet. Die Wälder, die schwarz und verschlafen vorüberflogen, waren alle die Wälder seiner Jugend – ihr grüngoldenes Dämmer hatte seine ersten Streifzüge überschattet, in ihren glatten Teichen hatte sich sein atemloses Gesicht gespiegelt, wenn er das Leben der gefleckten Molche mit den roten Bäuchen belauerte – und der Wind, der in den Buchen harfte und in den Tannen sang, war der uralte Wind der Abenteuer gewesen. Die matt leuchtenden Straßen, die wie ein Netz die mächtigen Felder überspannten, waren alle die Straßen seiner Unruhe gewesen, er war auf ihnen allen gewandert, er hatte an ihren Kreuzungen gezögert, er kannte ihren Abschied und ihre Hoffnung und ihre Wiederkehr von Horizont zu Horizont, er kannte ihre Meilensteine und die Gehöfte, die an ihnen lagen. Und die Häuser, unter deren Dächern geduckt das Licht gefangen war und wie die Verheißung von Wärme und Heimat rötlich aus den Fenstern leuchtete; er hatte in jedem ihrer Fenster gewohnt, er kannte den sanften Druck der Türklinken, er wusste, wer unter dem Lampengrund wartete, die Stirn ein wenig gesenkt, das goldene, feuerfarbene Haar übersprüht von Funken – sie, deren Gesicht überall gestanden und gewartet hatte, an allen Straßen und in allen Winkeln der Welt, verdunkelt manchmal und oft fast unsichtbar, überflutet von Sehnsucht und Vergessenwollen, das Antlitz seines Lebens, dem er nun entgegenfuhr, das Gesicht, das sich jetzt über den Nachthimmel ausbreitete, die Augen, die hinter den Wolken schimmerten, der Mund, der vom Horizont her lautlose Worte sprach, die Arme, die er schon fühlte im Wind, im Wehen der Bäume, und das Lächeln, in dem die Landschaft und sein Herz versanken im Ansturm des unendlichen Gefühls.
Er spürte, wie seine Adern schmolzen und sich öffneten, wie sein Blut hinauszuströmen schien in den verklärten Strom, der draußen flutete und es aufnahm und stärker mit ihm zurückkehrte, der seine Hände trug und sie mit sich nahm zu fernen Händen, die sich ihm entgegenstreckten, diesen kreisenden Strom, der Stück um Stück von ihm wegbröckelte und wegschwemmte, der seine Vereinzelung löste wie ein Wildwasser im Frühjahr eine Eisscholle und der ihm in dieser einzigen, endlosen Nacht das einsame Glück der Allverbundenheit gab und ihm alles an die Brust schwemmte: Sein Leben, die verlorenen Jahre, den Glanz der Liebe und das tiefe Wissen um die Wiederkehr, jenseits der Zerstörung.