Книга: Liebe deinen Nächsten / Возлюби ближнего своего. Книга для чтения на немецком языке
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Es klopfte. Ruth horchte zur Tür hinüber. Sie war allein. Kern war seit vormittags unterwegs, um Arbeit zu suchen. Sie zögerte einen Moment. Dann stand sie leise auf, ging in Kerns Zimmer und schloss die Verbindungstür hinter sich ab. Die Zimmer lagen über Eck. Das hatte für Razzien einen Vorteil. Man konnte von jedem Zimmer auf den Korridor gelangen, ohne von jemand gesehen zu werden, der vor der anderen Tür stand.

Ruth zog die Außentür von Kerns Zimmer lautlos zu. Dann ging sie den Korridor entlang um die Ecke.

Ein Mann von etwa vierzig Jahren stand vor ihrer Tür. Ruth kannte ihn vom Sehen. Er wohnte im Hotel und hieß Brose. Seine Frau lag seit sieben Monaten krank zu Bett. Beide lebten von einer kleinen Unterstützung der Flüchtlingshilfe und von etwas Geld, das sie mitgebracht hatten. Das war kein Geheimnis. Im Hotel Verdun wusste jeder über jeden nahezu alles.

„Wollen Sie zu mir?“ fragte Ruth.

„Ja. Ich wollte Sie um etwas bitten. Sie sind Fräulein Holland, nicht wahr?“

„Ja.“

„Ich heiße Brose und wohne im Stock unter Ihnen“, sagte der Mann verlegen. „Ich habe eine kranke Frau unten und muss fort, Arbeit suchen. Da wollte ich Sie fragen, ob Sie vielleicht etwas Zeit hätten…“

Brose hatte ein schmales, gequältes Gesicht. Ruth wusste, dass fast jeder im Hotel vor ihm davonlief, wenn er nur in Sicht kam. Er suchte dauernd nach Gesellschaft für seine Frau.

„Sie ist sehr viel allein – und Sie wissen ja, wie das ist —, da verliert sie leicht die Hoffnung. Es gibt Tage, da ist sie besonders traurig. Aber wenn sie etwas Gesellschaft hat, ist es gleich besser. Ich dachte, dass Sie sich vielleicht auch gern einmal unterhalten. Meine Frau ist klug…“

Ruth war gerade dabei, Pullover aus leichter Kaschmirwolle stricken zu lernen; man hatte ihr gesagt, ein russisches Geschäft in den Champs-Elysées kaufe so etwas, um es für den dreifachen Preis weiterzuverkaufen. Sie wollte weiterarbeiten und wäre wohl nicht gegangen – aber dieses hilflose Anpreisen: „Meine Frau ist klug“ entschied. Es beschämte sie auf eine sonderbare Weise. „Warten Sie einen Augenblick“, sagte sie. „Ich hole ein paar Sachen; dann gehe ich mit Ihnen.“

Sie holte ihre Wolle und ihr Muster und ging mit Brose hinunter. Die Frau lag im ersten Stock in einem kleinen Zimmer nach der Straße hin. Broses Gesicht veränderte sich, als er mit Ruth eintrat. Er strahlte angestrengt. „Lucie, hier ist Fräulein Holland“, sagte er eifrig. „Sie möchte dir gern etwas Gesellschaft leisten.“

Zwei dunkle Augen in einem wachsbleichen Gesicht richteten sich misstrauisch auf Ruth. „Ich gehe dann jetzt“, sagte Brose rasch. „Ich komme abends wieder. Heute wird es bestimmt etwas. Auf Wiedersehen.“

Er lächelte, winkte und zog die Tür hinter sich zu.

„Er hat Sie geholt, nicht wahr?“ fragte die blasse Frau nach einer Weile.

Ruth wollte zuerst etwas anderes antworten, aber dann nickte sie.

„Ich habe es mir gedacht. Danke, dass Sie gekommen sind. Aber ich kann gut allein bleiben. Lassen Sie sich nicht in Ihrer Arbeit stören. Ich kann etwas schlafen.“

„Ich habe nichts vor“, sagte Ruth. „Ich lerne nur gerade stricken. Das kann ich hier auch. Ich habe mein Strickzeug mitgebracht.“

„Es gibt angenehmere Dinge, als bei einer Kranken zu sitzen“, sagte die Frau müde.

„Sicher. Aber es ist doch besser, als allein zu sitzen.“

„Das sagen alle immer, um einen zu trösten“, murmelte die Frau. „Ich weiß, Kranke will man immer trösten. Sagen Sie doch ruhig frei heraus, dass es Ihnen unangenehm ist, bei einer unbekannten, schlechtgelaunten Kranken zu sitzen, und dass Sie es nur tun, weil mein Mann Sie überredet hat.“

„Das ist richtig“, erwiderte Ruth. „Ich habe auch gar nicht die Absicht, Sie zu trösten. Aber ich bin froh, einmal mit jemand reden zu können.“

„Sie können doch ausgehen!“ sagte die Kranke.

„Das tue ich nicht gern.“

Ruth sah auf, weil keine Antwort kam. Sie blickte in ein fassungsloses Gesicht. Die Kranke hatte sich aufgestützt und starrte sie an, und plötzlich stürzten ihr die Tränen wie Sturzbäche aus den Augen. Das Gesicht war in einer Sekunde wie überschwemmt. „Mein Gott“, schluchzte sie, „das sagen Sie so einfach – und ich —, wenn ich nur einmal auf die Straße gehen könnte…“

Sie fiel in die Kissen zurück. Ruth war aufgestanden. Sie sah die grauweißen Schultern zucken, sie sah das armselige Bett im staubigen Nachmittagslicht, und sie sah dahinter die sonnige, klare Straße, die Häuser mit den kleinen Eisenbalkonen, und groß über den Dächern eine riesige leuchtende Flasche – die Reklame für den Aperitif Dubonnet, die sinnlos bereits im Nachmittag glühte – und es erschien ihr einen Augenblick lang, als wäre das alles weit weg, auf einem anderen Planeten.

Die Frau hörte auf zu weinen. Sie richtete sich langsam auf. „Sie sind noch da?“ fragte sie.

„Ja.“

„Ich bin hysterisch und nervös. Ich habe manchmal so Tage. Bitte seien Sie mir nicht böse.“

„Nein. Ich war gedankenlos, das war alles.“

Ruth setzte sich wieder neben das Bett. Sie legte das Muster des Pullovers, das sie mitgebracht hatte, vor sich hin und begann, es weiter zu kopieren. Sie sah die Kranke nicht an. Sie wollte das fassungslose Gesicht nicht noch einmal sehen. Ihre eigene Gesundheit erschien ihr prahlerisch dagegen.

„Sie halten die Nadeln nicht richtig“, sagte die Kranke nach einer Weile. „Sie kommen so viel langsamer vorwärts. Sie müssen das anders machen.“

Sie nahm die Nadeln und zeigte es Ruth. Dann nahm sie ihr das gestrickte Stück aus der Hand und betrachtete es. „Hier fehlt eine Masche“, erklärte sie. „Wir müssen das wieder aufmachen. Sehen Sie, so.“

Ruth blickte auf. Die Kranke lächelte sie an. Ihr Gesicht war jetzt aufmerksam und gesammelt und ganz mit der Arbeit beschäftigt. Es zeigte nichts mehr von dem Ausbruch kurz vorher. Die blassen Hände arbeiteten leicht und schnell.

„So“, sagte sie eifrig, „nun versuchen Sie es einmal.“

Brose kam abends zurück. Das Zimmer war dunkel. Im Fenster stand nur der apfelgrüne Abendhimmel und die rotleuchtende, riesige Flasche Dubonnet. „Lucie?“ fragte er in das Dunkel hinein.

Die Frau im Bett rührte sich, und Brose sah jetzt ihr Gesicht. Es war sanft gerötet durch den Widerschein der Lichtreklame – als wäre ein Wunder geschehen und sie plötzlich gesund geworden.

„Hast du geschlafen?“ fragte er.

„Nein. Ich liege nur so.“

„Ist Fräulein Holland schon lange fort?“

„Nein. Erst ein paar Minuten.“

„Lucie.“ Er setzte sich vorsichtig auf den Rand des Bettes.

„Mein Lieber.“ Sie strich über seine Hand. „Hast du etwas erreicht?“

„Noch nicht, aber es wird schon kommen.“

Die Frau lag eine Zeitlang und schwieg. „Ich bin eine solche Last für dich, Otto“, sagte sie dann.

„Wie kannst du das sagen, Lucie! Was sollte ich machen, wenn ich dich nicht hätte?“

„Du wärest frei. Da könntest du tun, was du wolltest. Du könntest auch nach Deutschland zurückgehen und arbeiten.“

„So?“

„Ja“, sagte sie, „lass dich von mir scheiden! Man wird es dir drüben sogar hoch anrechnen, dass du es getan hast.“

„Der Arier, der sich auf sein Blut besonnen hat und sich von der Jüdin hat scheiden lassen, wie?“ fragte Brose.

„So ähnlich nennen sie es wohl. Sie haben doch sonst nichts gegen dich, Otto.“

„Nein, aber ich habe was gegen sie.“

Brose lehnte den Kopf gegen den Bettpfosten. Er dachte daran, wie sein Chef zu ihm in das Zeichenbüro gekommen war und lange herumgeredet hatte von den Zeiten, von seiner Tüchtigkeit, und wie schade es sei, dass man ihm kündigen müsse, nur weil er eine jüdische Frau habe. Er hatte seinen Hut genommen und war gegangen. Acht Tage später hatte er seinem Hausportier, der gleichzeitig Blockwart und Parteispitzel war, die Nase blutiggeschlagen, weil er seine Frau als Judensau bezeichnet hatte. Das wäre beinahe schlecht ausgegangen. Zum Glück hatte sein Anwalt dem Portier staatsfeindliche Reden beim Bier nachweisen können; darauf verschwand der Portier aus dem Hause. Aber die Frau traute sich nicht mehr auf die Straße; sie wollte nicht mehr von uniformierten Gymnasiasten angerempelt werden. Brose fand keine Stellung wieder. Da waren sie abgereist nach Paris. Die Frau war unterwegs krank geworden.

Der apfelgrüne Himmel vor dem Fenster verlor seine Farbe.

Er wurde staubig und dunkler. „Hast du Schmerzen gehabt, Lucie?“ fragte Brose.

„Nicht sehr. Ich bin nur furchtbar müde. So von innen.“

Brose strich ihr über das Haar. Es leuchtete in kupfernen Reflexen unter dem Licht der Dubonnet-Reklame. „Du wirst bald wieder aufstehen können.“

Die Frau bewegte langsam den Kopf unter seiner Hand. „Was mag es nur sein, Otto? Ich habe nie etwas Derartiges gehabt. Und es dauert schon Monate.“

„Irgend etwas. Nichts Schlimmes. Frauen haben oft irgend etwas.“

„Ich glaube, ich werde nie mehr gesund“, sagte die Frau plötzlich trostlos.

„Du wirst bestimmt gesund. Sogar sehr bald. Du musst nur Mut haben.“

Draußen kroch die Nacht über die Dächer. Brose saß still, den Kopf immer noch an den Bettpfosten gelehnt. Sein tagsüber versorgtes und ängstliches Gesicht wurde klar und friedlich im undeutlichen letzten Licht.

„Wenn ich nur nicht eine solche Last für dich wäre, Otto.“

„Ich liebe dich, Lucie“, sagte Brose leise, ohne seine Haltung zu ändern.

„Eine kranke Frau kann man nicht lieben.“

„Eine kranke Frau liebt man doppelt. Sie ist eine Frau und ein Kind dazu.“

„Das ist es ja!“ Die Stimme der Frau wurde eng und klein. „Ich bin nicht einmal das! Nicht einmal deine Frau. Selbst das hast du nicht bei mir. Ich bin nur eine Last, weiter nichts!“

„Ich habe dein Haar“, sagte Brose, „dein geliebtes Haar!“ Er beugte sich vor und küsste ihr Haar. „Ich habe deine Augen.“ Er küsste ihre Augen. „Deine Hände.“ Er küsste ihre Hände. „Und ich habe dich. Deine Liebe. Oder liebst du mich nicht mehr?“

Sein Gesicht war dicht über dem ihren. „Liebst du mich nicht mehr?“ fragte er.

„Otto…“, murmelte sie schwach und schob ihre Hand zwischen ihre Brust und ihn.

„Liebst du mich nicht mehr?“ fragte er leise. „Sag es! Ich kann verstehen, dass man einen untüchtigen Mann nicht mehr liebt, der nichts zu verdienen versteht. Sag es nur gleich, du Geliebte, Einzige“, sagte er drohend in das verfallene Gesicht hinein.

Ihre Tränen flossen plötzlich leicht, und ihre Stimme war weich und jung. „Liebst du mich denn wirklich noch, Otto?“ fragte sie mit einem Lächeln, das ihm das Herz zerriss.

„Muss ich dir das jeden Abend wiederholen? Ich liebe dich so, dass ich eifersüchtig bin auf das Bett, in dem du liegst. Du solltest in mir liegen, in meinem Herzen und in meinem Blut!“

Er lächelte, damit sie es sehen sollte, und beugte sich wieder über sie. Er liebte sie, und sie war alles, was er hatte – aber trotzdem hatte er oft einen unerklärlichen Widerwillen dagegen, sie zu küssen. Er hasste sich deswegen – er wusste, woran sie litt, und sein gesunder Körper war einfach stärker als er. Aber jetzt, in dem barmherzigen, warmen Widerschein der Aperitifreklame, schien dieser Abend ein Abend vor Jahren zu sein – jenseits der finsteren Gewalt der Krankheit —, ein warmer und trostvoller Widerschein, wie eben dieses rote Licht von den Dächern gegenüber.

„Lucie“, murmelte er.

Sie legte ihre nassen Lippen auf seinen Mund. So lag sie still und vergaß eine Weile ihren gequälten Körper, in dem gespenstisch und lautlos die Krebszellen wucherten und unter dem nebligen Griff des Todes langsam die Gebärmutter und die Eierstöcke wie müde Kohlen zu grauer, gestaltloser Asche zerfielen.

Kern und Ruth schlenderten langsam über die Champs-Elysées. Es war Abend. Die Schaufenster leuchteten, die Cafés waren voller Gäste, die Lichtreklamen flammten, und dunkel wie ein Tor zum Himmel stand der Arc de Triomphe vor der klaren, auch nachts noch silbernen Luft von Paris.

„Sieh mal dort, rechts!“ sagte Kern. „Waser und Rosenfeld.“ Vor den riesigen Fenstern der General Motors Co. standen zwei jüngere Männer. Sie waren dürftig angezogen. Ihre Anzüge waren abgewetzt, und beide trugen keine Mäntel. Sie diskutierten so aufgeregt miteinander, dass sie Kern und Ruth neben sich eine ganze Weile nicht bemerkten. Beide waren Bewohner des Hotels Verdun. Waser war Techniker und Kommunist; Rosenfeld der Sohn einer Bankiers-Familie aus Frankfurt, die im zweiten Stock wohnte. Beide waren Autofanatiker. Beide lebten von fast nichts.

„Rosenfeld!“ sagte Waser beschwörend, „nun seien Sie doch nur einen Moment vernünftig! Ein Cadillac – gut für alte Leute meinetwegen! Aber was wollen Sie mit einem Sechzehnzylinder? Der säuft Benzin wie eine Kuh Wasser und ist trotzdem nicht schneller.“

Rosenfeld schüttelte den Kopf. Er starrte fasziniert in das taghell erleuchtete Schaufenster, in dem ein riesiger, schwarzer Cadillac sich langsam auf einer Scheibe im Boden um sich selbst drehte. „Soll er Benzin fressen!“ erklärte er hitzig. „Fässer meinetwegen. Darauf kommt es doch nicht an! Sehen Sie nur, wie wunderbar bequem der Wagen ist! Sicher und zuverlässig wie ein Panzerturm!“

„Rosenfeld, das sind Argumente für eine Lebensversicherung, aber nicht für ein Auto!“ Waser zeigte auf das Schaufenster nebenan, das der Lanciavertretung gehörte. „Sehen Sie sich das da an! Da haben Sie Rasse und Klasse! Vier Zylinder nur, ein nervöses, niedriges Biest, aber ein Panther, wenn’s losgeht! Damit können Sie eine Hauswand ’rauffahren, wenn Sie wollen!“

„Ich will keine Hauswand ’rauffahren! Ich will zum Cocktail im Ritz vorfahren!“ erwiderte Rosenfeld ungerührt.

Waser beachtete den Einwurf nicht. „Sehen Sie sich die Linie an!“ schwärmte er. „Wie flach das am Boden entlangschleicht! Ein Pfeil, ein Blitz… der Achtzylinder ist mir schon zu massig. Ein Traum von Geschwindigkeit.“

Rosenfeld brach in ein Hohngelächter aus. „Wie wollen Sie denn in den Kindersarg ’reinkommen? Waser, das ist ein Auto für Liliputaner. Stellen Sie sich vor: Sie haben eine schöne Frau bei sich im langen Abendkleid, womöglich sogar aus Goldbrokat oder Pailletten, mit einem kostbaren Pelz, Sie kommen aus dem Maxim, es ist Dezember, Schnee, Matsch auf der Straße, und dann haben Sie diesen fahrbaren Radioapparat da stehen – wollen Sie sich noch lächerlicher machen?“

Waser bekam einen roten Kopf. „Das sind Ideen eines Kapitalisten! Rosenfeld, ich flehe Sie an! Sie träumen von einer Lokomotive, aber nicht von einem Auto. Wie können Sie nur an so einem Mammut Gefallen finden? Das ist was für Kommerzienräte! Sie sind doch ein junger Mensch! Wenn Sie etwas Schweres haben wollen, dann nehmen Sie in Gottes Namen den Delahaye, der hat Rasse und macht immer noch leicht seine 160 Kilometer!“

„Delahaye?“ Rosenfeld schnaubte verächtlich durch die Nase. „Verölte Kerzen alle Augenblicke, meinen Sie, was?“

„Ausgeschlossen, wenn Sie ihn richtig fahren! Ein Jaguar, ein Projektil, vom Ton des Motors wird man allein schon besoffen! Oder wenn Sie etwas ganz Fabelhaftes haben wollen, dann nehmen Sie den neuen Supertalbot! Hundertachtzig Kilometer spielend! Da haben Sie wirklich etwas!“

Rosenfeld quietschte vor Empörung. „Ein Talbot! Ja, da habe ich was! Nicht geschenkt nehme ich die Karre, die so überkomprimiert ist, dass sie im Stadtverkehr kocht! Nein, Waser, ich bleibe beim Cadillac.“ Er wendete sich wieder dem General-Motors-Fenster zu. „Sehen Sie nur die Qualität! Fünf Jahre lang brauchen Sie da die Haube nicht aufzumachen! Komfort, lieber Waser, den haben nur die Amerikaner ’raus! Der Motor geschmeidig und lautlos, Sie hören ihn überhaupt nicht!“

„Aber Mensch!“ brach Waser los, „ich will doch gerade den Motor hören! Das ist doch Musik, wenn so ein nerviges Aas losgeht!“

„Dann schaffen Sie einen Traktor an! Der ist noch lauter!“

Waser starrte Rosenfeld an. „Hören Sie“, sagte er dann leise, sich mühsam beherrschend, „ich schlage Ihnen ein Kompromiß vor: Nehmen Sie den Mercedes Kompressor! Schwer und rassig dabei! Einverstanden?“

Rosenfeld winkte überlegen ab. „Nicht mit mir zu machen! Geben Sie sich keine Mühe! Cadillac, sonst nichts!“ Er vertiefte sich wieder in die schwarze Eleganz des riesigen Wagens auf der Drehscheibe.

Waser sah verzweifelt um sich. Dabei erblickte er Kern und Ruth. „Hören Sie, Kern“, sagte er, „wenn Sie die Wahl hätten zwischen einem Cadillac oder einem neuen Talbot, was würden Sie nehmen? Doch den Talbot, was?“

Rosenfeld drehte sich um. „Den Cadillac, natürlich, daran ist doch gar kein Zweifel!“

Kern grinste. „Ich wäre schon mit einem kleinen Citroen zufrieden.“

„Mit einem Citroen?“ Die beiden Auto-Enthusiasten sahen ihn wie ein räudiges Schaf an.

„Oder mit einem Fahrrad“, fügte Kern hinzu.

Die beiden Fachleute wechselten einen raschen Blick. „Ach so!“ meinte Rosenfeld dann, sehr abgekühlt. „Sie haben nicht viel Verständnis für Autos, wie?“

„Auch wohl nicht für Autosport, was?“ fügte Waser etwas angeekelt hinzu. „Nun ja, es gibt Leute, die interessieren sich für Briefmarken.“

„Das tue ich!“ erklärte Kern erheitert. „Besonders für ungestempelte.“

„Na, dann entschuldigen Sie!“ Rosenfeld schlug seinen Rockkragen hoch. „Kommen Sie, Waser, wir wollen noch die neuen Modelle von Alfa Romeo und Hispano drüben besichtigen.“

Die beiden gingen, versöhnt durch den Ignoranten Kern, einträchtig in ihren abgeschabten Anzügen davon, um noch über einige Rennwagen zu streiten. Sie hatten Zeit dazu – denn sie hatten kein Geld für ein Abendessen.

Kern sah ihnen erfreut nach. „Der Mensch ist ein Wunder, Ruth, was?“

Sie lachte.

* * *

Kern fand keine Arbeit. Er bot sich überall an; aber selbst für zwanzig Francs am Tag konnte er nirgendwo unterkommen.

Nach zwei Wochen war das Geld verbraucht, das sie besaßen. Ruth bekam von dem jüdischen und Kern vom gemischt jüdischchristlichen Komitee eine kleine Unterstützung; zusammen hatten sie etwa fünfzig Francs in der Woche. Kern sprach mit der Wirtin und erreichte, dass sie für diesen Betrag die beiden Zimmer behalten konnten und morgens etwas Kaffee mit Brot bekamen.

Er verkaufte seinen Mantel, seinen Koffer und den Rest seiner Sachen von Potzloch. Dann begannen sie Ruths Sachen zu verkaufen. Einen Ring ihrer Mutter, Kleider und ein schmales goldenes Armband. Sie waren nicht sehr unglücklich darüber. Sie lebten in Paris, das war ihnen genug. Sie hofften auf den nächsten Tag und fühlten sich geborgen. In dieser Stadt, die alle Emigranten des Jahrhunderts aufgenommen hatte, wehte der Geist der Duldung; man konnte in ihr verhungern, aber man wurde nur so viel verfolgt, wie unbedingt notwendig war – und das erschien ihnen schon viel.

Marill nahm sie an einem Sonntagnachmittag, als es keinen Eintritt kostete, mit in den Louvre. „Ihr braucht im Winter etwas, um eure Zeit hinzubringen“, sagte er. „Das Problem des Emigranten ist der Hunger, die Bleibe und die Zeit, mit der er nichts anfangen kann, weil er nicht arbeiten darf. Der Hunger und die Sorge, wo er bleiben kann, das sind zwei Todfeinde, gegen die er kämpfen muss – aber die Zeit, die viele leere, ungenutzte Zeit ist der schleichende Feind, der seine Energie zerfrisst, das Warten, das ihn müde macht, die schattenhafte Angst, die ihn lähmt. Die beiden andern fallen ihn von vorne an, und er muss sich wehren oder untergehen – aber die Zeit kommt von hinten und zersetzt ihm das Blut. Ihr seid jung. Hockt nicht in den Cafés, jammert nicht, werdet nicht müde. Wenn’s mal schlimm wird, geht in den großen Wartesaal von Paris: den Louvre. Er ist gut geheizt im Winter. Besser vor einem Delacroix, einem Rembrandt oder einem van Gogh zu trauern als vor einem Schnaps oder im Kreise ohnmächtiger Klage und Wut. Das sage ich euch, Marill, der auch lieber vor einem Schnaps sitzt. Sonst würde ich euch diese lehrhafte Rede nicht halten.“

Sie wanderten durch das große Kunstdämmer des Louvre – vorbei an den Jahrhunderten, vorbei an den steinernen Königen Ägyptens, den Göttern Griechenlands, den Cäsaren Roms – vorbei an babylonischen Altären, an persischen Teppichen und flämischen Gobelins – vorbei an den Bildern der größten Herzen, an Rembrandt, Goya, Greco, Leonardo, Dürer – durch endlose Säle und Korridore, bis sie zu den Räumen kamen, wo die Bilder der Impressionisten hingen.

Sie setzten sich auf eines der Sofas, die in der Mitte standen. Von den Wänden leuchteten die Landschaften Cézannes, van Goghs und Monets, die Tänzerinnen Degas’, die pastellhaften Frauenköpfe Renoirs und die farbigen Szenen Manets. Es war still, und niemand außer ihnen war da, und allmählich erschien es Kern und Ruth, als säßen sie in einem verzauberten Turm, und die Bilder seien Fenster zu fernen Welten – zu Gärten ernster Lebensfreude, zu weiten Gefühlen, zu großen Träumen und zu einer unzerstörbaren Landschaft der Seele, jenseits von Willkür, Angst und Rechtlosigkeit.

„Emigranten!“ sagte Marill. „Die alle dort waren auch Emigranten! Gejagt, verlacht, ’rausgeschmissen, ohne Bleibe oft, verhungert, manche angepöbelt und ignoriert von ihren Zeitgenossen, elend gelebt, elend gestorben – aber seht euch an, was sie geschaffen haben! Die Kultur der Welt! Das wollte ich euch zeigen.“

Er nahm seine Brille herab und putzte sie umständlich. „Was ist Ihr stärkster Eindruck bei diesen Bildern?“ fragte er Ruth.

„Der Friede“, sagte sie sofort.

„Der Friede. Ich dachte, sie würden sagen: die Schönheit. Aber es ist wahr – Friede ist heute Schönheit. Besonders für uns. Und Ihrer, Kern?“

„Ich weiß nicht“, sagte Kern, „ich möchte eins davon haben und es verkaufen, damit wir was zu leben haben.“

„Sie sind ein Idealist“, erwiderte Marill.

Kern sah ihn misstrauisch an. „Ich meine das ernst“, sagte Marill.

„Ich weiß, dass es dumm ist. Aber es ist Winter, und ich würde Ruth einen Mantel kaufen.“

Kern kam sich ziemlich töricht vor; aber ihm fiel wirklich nichts anderes ein, und er hatte die ganze Zeit dran gedacht. Zu seiner Überraschung fühlte er plötzlich Ruths Hand in seiner. Sie strahlte ihn an und lehnte sich fest gegen ihn.

Marill setzte seine Brille wieder auf. Dann blickte er sich um. „Der Mensch ist groß in seinen Extremen“, sagte er. „In der Kunst, in der Liebe, in der Dummheit, im Hass, im Egoismus und sogar im Opfer – aber das, was der Welt am meisten fehlt, ist eine gewisse mittlere Güte.“

Kern und Ruth hatten ihr Abendessen beendet. Es bestand aus Kakao und Brot und war seit einer Woche ihre einzige Mahlzeit, abgesehen von der Tasse Kaffee und den zwei Brioches morgens, die Kern in den Zimmerpreis mit eingehandelt hatte. „Das Brot schmeckt heute nach Beefsteak“, sagte Kern. „Nach gutem, saftigem Beefsteak mit gebratenen Zwiebeln dran.“

„Ich fand, es schmeckte nach Huhn“, erwiderte Ruth. „Nach jungem Brathuhn mit frischem, grünem Salat dazu.“

„Möglich. Vielleicht auf deiner Seite. Gib mir eine Scheibe von da. Ich kann gut noch etwas Brathuhn vertragen.“

Ruth schnitt eine dicke Scheibe des langen französischen Weißbrots ab. „Hier“, sagte sie. „Es ist ein Schenkelstück. Oder willst du lieber Brust?“

Kern lachte. „Ruth, wenn ich dich nicht hätte, würde ich jetzt mit Gott hadern!“

„Und ich würde ohne dich im Bett liegen und heulen.“

Es klopfte. „Brose“, sagte Kern ziemlich gemütlos. „Natürlich, gerade im Moment zartester Liebesbekenntnisse!“

„Herein!“ rief Ruth.

Die Tür öffnete sich. „Nein!“ sagte Kern. „Das ist doch unmöglich! Ich träume!“ Er stand so vorsichtig auf, als wolle er ein Phantom nicht verscheuchen. „Steiner“, stammelte er. Das Phantom grinste. „Steiner!“ rief Kern. „Herr des Himmels, es ist Steiner!“

„Ein gutes Gedächtnis ist die Grundlage der Freundschaft – und der Verderb der Liebe“, erwiderte Steiner. „Entschuldigen Sie, Ruth, dass ich mit einer Sentenz eintrete – aber ich habe unten eben meinen alten Bekannten Marill getroffen. Da ist so was unvermeidlich.“

„Wo kommst du her?“ fragte Kern. „Direkt aus Wien?“

„Aus Wien. Auf dem Umweg über Murten.“

„Was?“ Kern trat einen Schritt zurück. „Über Murten?“

Ruth lachte. „Murten ist der Ort unserer Schmach, Steiner. Ich bin dort krank geworden – und diesen alten Grenzwanderer hat die Polizei erwischt. Ein ruhmloser Name für uns – Murten.“

Steiner schmunzelte. „Deshalb war ich da! Ich habe euch gerächt, Kinder.“ Er holte seine Brieftasche hervor und zog sechzig Schweizer Franken heraus. „Hier. Das sind vierzehn Dollar oder etwa dreihundertfünfzig französische Francs. Ein Geschenk Ammers’.“

Kern sah ihn verständnislos an. „Ammers?“ sagte er. „Dreihundertfünfzig Francs?“

„Ich erkläre dir das später, Knabe. Steck es ein. Und nun lasst euch mal ansehen!“ Er musterte beide. „Hohlwangig, unterernährt, Kakao mit Wasser als Abendbrot – und keinem hier was gesagt, wie?“

„Noch nicht“, erwiderte Kern. „Immer, wenn es nahe daran war, lud Marill uns zum Essen ein. Als hätte er einen sechsten Sinn.“

„Er hat noch einen mehr. Für Bilder. Hat er euch nach dem Essen nicht ins Museum geschleppt? Das ist gewöhnlich die Buße dafür.“

„Ja. Zu Cézanne, van Gogh, Manet, Renoir und Degas“, sagte Ruth.

„Aha! Zu den Impressionisten. Dann habt ihr Mittagessen mit ihm gehabt. Für ein Abendessen schleppt er einen zu Rembrandt, Goya und Greco. Aber nun los, Kinder, anziehen. Die Restaurants der Stadt Paris sind hell erleuchtet und warten auf uns!“

„Wir haben gerade…“

„Das sehe ich!“ unterbrach Steiner grimmig. „Zieht euch sofort an! Ich schwimme in Geld.“

„Wir sind fertig angezogen.“

„Ach so! Mantel verkauft an einen Glaubensgenossen, der euch bestimmt beschummelt hat…“

„Nein…“, sagte Ruth.

„Kind, es gibt auch unehrliche Juden! So heilig mir euer Stamm als Märtyrervolk augenblicklich auch ist. Also kommt! Wir wollen das Rassenproblem der Brathühner aufrollen.“

* * *

„Also jetzt erzählt, was los ist“, sagte Steiner nach dem Essen. „Es ist wie verhext“, sagte Kern. „Paris ist nicht nur die Stadt der Toilettewasser, der Seifen und Parfüms, es ist auch die Stadt der Sicherheitsnadeln, Schnürsenkel, Knöpfe und anscheinend sogar der Heiligenbilder. Der Handel fällt hier fast ganz aus. Ich habe eine Menge Dinge probiert – Geschirr gewaschen, Obstkörbe geschleppt, Adressen geschrieben, mit Spielzeug gehandelt —, aber es hat noch nichts Rechtes eingebracht. Es blieb immer zufällig. Ruth hat vierzehn Tage lang ein Büro saubergemacht; dann ging die Firma pleite, und sie bekam überhaupt nichts dafür. Für Pullover aus Kaschmirwolle bot man ihr so viel, dass sie gerade die Wolle dafür wieder kaufen konnte. Infolgedessen…“

Er öffnete sein Jackett. „Ich laufe infolgedessen wie ein reicher Amerikaner herum. Wunderbar, wenn man keinen Mantel hat. Vielleicht strickt sie dir auch so einen Pullover, Steiner…“

„Ich habe noch Wolle für einen“, sagte Ruth.

„Schwarze allerdings. Mögen Sie schwarz?“

„Und wie! Wir leben ja schwarz.“ Steiner zündete sich eine Zigarette an. „Ich sehe schon! Habt ihr eure Mäntel verkauft oder versetzt?“

„Erst versetzt, dann verkauft.“

„Gut. Der natürliche Weg. Wart ihr schon mal im Café Maurice?“

„Nein. Nur im Alsace.“

„Schön. Dann gehen wir mal zum Maurice. Da gibt es Dickmann. Er weiß alles. Auch über Mäntel. Ich will ihn aber noch etwas Wichtigeres fragen. Über die Weltausstellung, die dieses Jahr kommt.“

„Die Weltausstellung?“

„Ja, Baby“, sagte Steiner. „Da soll es nämlich Arbeit geben. Und nach Papieren soll nicht so genau gefragt werden.“

„Wie lange bist du eigentlich schon in Paris, Steiner? Dass du alles weißt?“

„Vier Tage. Ich war vorher in Straßburg. Hatte da etwas zu besorgen. Euch habe ich durch Klassmann gefunden. Traf ihn auf der Präfektur. Ich habe ja einen Pass, Kinder. In ein paar Tagen ziehe ich ins International. Mir gefällt der Name.“

* * *

Das Cafe Maurice glich dem Café Sperler in Wien und dem Café Greif in Zürich. Es war die typische Emigrantenbörse. Steiner bestellte für Ruth und Kern Kaffee und ging dann zu einem älteren Mann hinüber. Beide unterhielten sich eine Zeitlang. Dann blickte der Mann prüfend zu Kern und Ruth hinüber und ging fort.

„Das war Dickmann“, sagte Steiner. „Er weiß alles. Es stimmt mit der Weltausstellung, Kern. Die ausländischen Pavillons werden jetzt gebaut. Das bezahlen die ausländischen Regierungen. Zum Teil bringen sie eigene Arbeiter mit – für die einfachen Sachen aber, Erdarbeiten und so was, engagieren sie die Leute hier. Und da liegt unsere große Chance! Da die Löhne von ausländischen Komitees bezahlt werden, kümmern die Franzosen sich wenig darum, wer da arbeitet. Morgen früh gehen wir hin. Es ist schon eine Anzahl Emigranten beschäftigt. Wir sind billiger als die Franzosen – das ist unser Vorteil.“

Dickmann kam wieder. Er trug zwei Mäntel über dem Arm. „Ich glaube, sie werden passen.“

„Probier den Mantel mal“, sagte Steiner zu Kern. „Du zuerst. Dann Ruth den andern. Widerstand ist zwecklos.“

Die Mäntel passten genau. Der von Ruth hatte sogar einen verschabten, kleinen Pelzkragen. Dickmann lächelte schwach. „Mein Auge…“, sagte er.

„Sind das deine besten Klamotten, Heinrich?“ fragte Steiner.

Dickmann sah ihn etwas beleidigt an. „Die Mäntel sind gut. Nicht neu, das ist klar. Der mit dem Pelzkragen stammt sogar von einer Gräfin.“ – „Im Exil natürlich“, fügte er auf einen Blick Steiners hinzu. „Es ist echter Waschbär. Josef. Kein Kaninchen!“

„Gut. Wir nehmen sie. Ich komme morgen, und dann sprechen wir weiter darüber.

„Das brauchst du nicht. Du kannst sie so haben. Wir haben ja noch was zu verrechnen.“

„Unsinn.“

„Doch. Nimm sie und vergiss es. Damals war ich schön in der Patsche. Herrgott!“

„Wie geht’s sonst?“ fragte Steiner.

Dickmann zuckte die Achseln. „Es reicht für die Kinder und mich. Aber es ist ekelhaft, so auf Krampf zu leben.“

Steiner lachte. „Werde nicht sentimental, Heinrich! Ich bin Urkundenfälscher, Falschspieler, Vagabund, ich habe Körperverletzungen hinter mir, Widerstand gegen die Staatsgewalt und noch allerhand mehr – ich habe trotzdem kein schlechtes Gewissen.“

Dickmann nickte. „Meine Kleinste ist krank. Grippe. Fieber. Aber Fieber ist bei Kindern nicht schlimm, was?“

Er sah Steiner dringend an. Der schüttelte den Kopf. „Rapider Heilprozess, sonst nichts.“

„Ich will heute mal früher nach Hause gehen.“

Steiner bestellte sich einen Kognak. „Baby“, sagte er zu Kern, „auch einen?“

„Hör zu, Steiner…“, begann Kern.

Steiner winkte ab. „Rede nicht! Weihnachtsgeschenke, die mich nichts kosten. Ihr habt es ja gesehen. Einen Kognak, Ruth? Ja, was?“

„Ja.“

„Neue Mäntel! Arbeit in Sicht!“ Kern trank seinen Kognak. „Das Dasein fängt an, interessant zu werden.“

„Täusche dich nicht!“ grinste Steiner. „Später, wenn du mal Arbeit genug hast, wird dir die Zeit, wo du nicht arbeiten durftest, als der interessantere Teil deines Lebens vorkommen. Wunderbare Geschichte für Enkel, die um die Knie spielen. Damals in Paris…“

Dickmann kam vorüber. Er grüßte müde und ging dem Ausgang zu.

„War mal sozialdemokratischer Bürgermeister.“ Steiner sah ihm nach. „Fünf Kinder. Frau tot. Guter Bettler. Mit Würde. Weiß alles. Etwas zu zarte Seele, wie oft bei Sozialdemokraten. Sind deshalb so schlechte Politiker.“

Das Café begann sich zu füllen. Die Schläfer kamen, um Eckplätze für die Nacht zu ergattern. Steiner trank seinen Kognak aus. „Der Wirt hier ist großartig. Er läßt alles schlafen, was Platz findet. Umsonst. Oder für eine Tasse Kaffee. Wenn diese Buden nicht existierten, sähe es für manche Leute böse aus.“

Er stand auf. „Wollen gehen, Kinder.“

Sie gingen hinaus. Es war windig und kalt. Ruth schlug den Waschbärkragen ihres neuen Mantels hoch und zog ihn eng um sich zusammen. Sie lächelte Steiner zu. Er nickte. „Wärme, kleine Ruth! Alles auf der Welt hängt nur von einem bisschen Wärme ab.“

Er winkte einer alten Blumenfrau, die vorüberschlurfte, zu. Sie trottete heran. „Veilchen“, krächzte sie. „Frische Rivieraveilchen.“

„Welch eine Stadt! Veilchen mitten auf der Straße im Dezember!“ Steiner nahm einen Strauß und gab ihn Ruth. „Violettes Glück! Unnützes Blühen! Unnütze Dinge! Geben übrigens die meiste Wärme!“ Er zwinkerte Kern zu. „Eine Lehre fürs Leben, würde Marill sagen.“

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