1) Wie veränderten sich Schwarz, Helen und ihre Beziehungen, nachdem sie Deutschland verlassen hatten?
2) Wie verspotteten Helen und Schwarz Herrn Krause?
3) Beschreiben Sie den letzten Abend von Helen und Schwarz in der Schweiz. Worüber sprachen sie?
4) Was meinte Schwarz, als er sagte: „Kraken gibt es hier nicht. Sie gibt es nur in Deutschland, seit 1933“.
Lago Maggiore, oberitalienischer See, am Südfuß der Alpen
Kapriole die, meist Pl., eine meist lustige, ungewöhnliche Tat
Auguren, Sg. Augur der, altrömischer Priester, die bei wichtigen Staatshandlungen aus Vogelflug u.a. Zeichen den Willen der Götter erkundeten
Übertragene Bedeutung: Augurenblick, Blick der Eingeweihten auf Leichtgläubige
Mussolini Benito, italienischer Politiker. Als Regierungschef und Führer der faschistischer Partei erlangte er 1922 diktatorische Gewalt, die er zur persönlicher Diktatur ausbaute.
Tessin, ital. Ticino das, der südlichste Kanton der Schweiz, umfasst die Tessiner Alpen und Alpenvorland um Lago Maggiore und Luganer See; italienisches Sprachgebiet
Lugano, Stadt und Luftkurort im schweizerischen Kanton Tessin, am Luganer See
Locarno, Stadt im schweizerischen Kanton Tessin, am Lago Maggiore
Ascona, Kurort im Kanton Tessin, Schweiz, am Lago Maggiore
Kommiss der, veraltend gespr. pej., Militär (dienst)
Frottiertuch das, Handtuch, mit dem man sich trocken reibt
Krake der, Tier mit acht langen (Fang)Armen, das im Meer lebt und bei Gefahr eine dunkle Flüssigkeit ausstößt
Grappa die, italienischer Tresterbranntwein mit 38 bis 60 Vol.– % Alkohol
Trester, ausgepresste Rückstände bei Wein und Obstweinkelterei (ein Betrieb, in dem aus Trauben und Obst Saft gewonnen wird), dient zur Herstellung von Tresterwein (Nachwein)
Marc [ma:r] der, starker Branntwein aus den Rückständen der Weintrauben beim Keltern
„Glück“, sagte Schwarz. „Wie das zusammenläuft in der Erinnerung! Wie ein billiger Stoff in der Wäsche. Nur das Unglück kann zählen. Wir kamen nach Paris und fanden Zimmer in einem kleinen Hotel am linken Ufer der Seine* am Quai des Grands Augustins. Das Hotel hatte keinen Aufzug, die Treppen waren vom Alter verzogen und gebogen, und die Zimmer waren klein; aber sie hatten Aussicht auf die Seine, die Bücherläden am Quai, die Conciergerie und auf Notre-Dame*. Wir hatten Pässe. Wir waren Menschen bis September 1939. Wir waren Menschen bis September, und es war gleichgültig, ob unsere Pässe echt waren oder nicht.
Es war nicht mehr gleichgültig, als der kalte Krieg begann.
„Wovon hast du gelebt, während du hier warst?“ fragte Helen mich ein paar Tage nach unserer Ankunft im Juli. „Durftest du arbeiten?“
„Natürlich nicht. Ich durfte ja nicht existieren. Wie sollte ich da eine Arbeitserlaubnis bekommen?“
„Wovon hast du dann gelebt?“
„Ich weiß es nicht mehr“, erwiderte ich wahrheitsgetreu. „Ich habe in vielen Berufen gearbeitet. Immer für kurze Zeit. In Frankreich wird nicht alles genau genommen; es gibt oft Gelegenheit, illegal etwas zu tun, besonders, wenn man billig arbeitet. Ich habe Kisten aufgeladen und abgeladen in Les Halles; ich bin Kellner gewesen; ich habe mit Strümpfen, Krawatten und Hemden gehandelt; ich habe Unterricht in Deutsch gegeben; ich habe von dem Refugie-Comite* manchmal etwas bekommen; ich habe verkauft, was ich noch besaß; ich bin Chauffeur gewesen; ich habe für Zeitungen in der Schweiz kleine Artikel geschrieben.“
„Konntest du nicht wieder Redakteur werden?“
„Nein. Dazu braucht man eine Aufenthalts- und Arbeitsbewilligung. Meine letzte Beschäftigung war Adressenschreiben. Dann kam Schwarz und mit ihm mein apokryphes* Leben.“
„Warum apokryph?“
„Ein untergeschobenes, verborgenes, unter dem
Schutz eines Toten und eines fremden Namens.“
„Ich wollte, du würdest es anders nennen“, sagte Helen.
„Wir können es nennen, wie wir wollen. Ein doppeltes Leben, ein geborgtes; oder ein zweites. Eher ein zweites. Ich fühle es so. Wir sind wie Schiff brüchige, die ihre Erinnerung verloren haben. Sie haben nichts zu bedauern – denn Erinnerung ist immer auch Bedauern, dass man das Gute, was man gehabt hat, an die Zeit verlieren musste und das Schlechte nicht besser gemacht hat.“
Helen lachte. „Was sind wir jetzt? Schwindler, Tote oder Geister?“
„Legal sind wir Touristen. Wir dürfen hier sein; aber nicht arbeiten.“
„Gut“, sagte sie. „Dann lass uns nicht arbeilen. Lass uns auf die Ile-St.-Louis gehen und auf einer Bank in der Sonne sitzen und nachher zum Cafe de la France wandern und auf der Straße essen. Ist das ein gutes Programm?“
„Es ist ein sehr gutes Programm“, sagte ich, und dabei blieb es. Ich suchte keine Gelegenheitsarbeit mehr. Wir blieben zusammen vom frühen Morgen bis zum frühen Morgen und waren Wochen hindurch nicht getrennt. Die Zeit rauschte draußen vorbei mit Extrablättern, Alarmnachrichten und Extrasitzungen, aber sie war nicht in uns. Wir lebten nicht in ihr. Sie war nicht da. Was war dann da? Ewigkeit! Wenn das Gefühl alles ausfüllt, ist kein Platz mehr da für Zeit. Man hat andere Ufer erreicht, jenseits von ihr. Oder glauben Sie nicht?“ Das Gesicht von Schwarz hatte wieder den intensiven, verzweifelten Ausdruck, den ich vorher schon gesehen hatte. „Oder glauben Sie nicht?“ fragte er.
Ich war müde und gegen meinen Willen ungeduldig geworden. Von Glück zu hören ist uninteressant, und die Kaprice* von Schwarz mit der Ewigkeit wurde es ebenso.
„Ich weiß es nicht“, erwiderte ich gedankenlos.
„Vielleicht ist es Glück oder Ewigkeit, wenn man darin stirbt; dann kann die Zeit keinen Kalendermaßstab mehr anlegen und muss es gelten lassen. Wenn man aber weiterlebt, kann man nichts dagegen tun, dass es trotz allem wieder ein Stück Zeit und Vergänglichkeit wird.“
„Es soll nicht sterben!“ sagte Schwarz plötzlich heftig. „Es soll stehenbleiben wie eine Skulptur aus Marmor! Nicht wie eine Sandburg, von der jeden Tag etwas wegweht! Was geschieht denn mit den Toten, die wir lieben? Was geschieht damit, Herr? Werden sie nicht immer noch einmal getötet? Wo anders sind sie denn als noch in unserer Erinnerung? Und werden wir da nicht alle zu Mördern, ohne es zu wollen? Soll ich das Gesicht dem Hobel der Zeit überlassen, das Gesicht, das ich allein kenne? Ich weiß, dass es in mir verwittern muss und gefälscht wird, wenn ich es nicht herausbringe aus mir, es aufstelle, außer mir, so dass die Lügen meines weiterlebenden Gehirns es nicht umranken können wie Efeu* und es zerstören, bis schließlich nur noch Efeu da ist und es zum Humus für den Schmarotzer* Zeit wird! Ich weiß das! Deshalb muss ich es ja sogar vor mir selbst retten, vor dem fressenden Egoismus des Weiterlebenwollens, der es vergessen und zerstören will! Verstehen Sie das denn nicht?“
„Ich verstehe es, Herr Schwarz“, erwiderte ich behutsam. „Das ist es ja, weshalb Sie mit mir sprechen – um es vor sich selber zu retten…“
Ich ärgerte mich, dass ich ihm vorher so achtlos geantwortet hatte. Der Mann vor mir war in einer logischen und poetischen Weise verrückt, ein Don Quichote, der gegen die Windmühlen der Zeit kämpfen wollte – und ich hatte zuviel Achtung vor Schmerz, um feststellen zu wollen, warum und wie weit er damit kommen könnte.
„Wenn es mir gelingt…“, sagte Schwarz und stockte, „Wenn es mir gelingt, dann ist es vor mir sicher. Sie glauben das doch?“
„Ja, Herr Schwarz. Unsere Erinnerung ist kein elfenbeinerner Schrein* in einem staubdichten Museum. Sie ist ein Tier, das lebt und frißt und verdaut. Sie frißt sich selbst wie der Phönix* der Sage, damit wir weiterle ben können und nicht durch sie zerstört werden. Sie wollen das verhindern.“
„So ist es!“ Schwarz sah mich dankbar an. „Sie sagten, nur wenn man stürbe, versteinere die Erinne rung. Ich werde sterben.“
„Es war Unsinn, was ich gesagt habe“, erklärte ich müde. Ich hasste solche Gespräche. Ich hatte zu viele Neurotiker kennengelernt; das Exit brachte sie hervor wie eine Wiese Pilze nach dem Regen.
„Ich werde mir auch nicht das Leben nehmen“, sagte Schwarz und lächelte plötzlich, als wüsste er, was ich dachte. „Dazu sind Leben im Augenblick zu brauchbar für andere Zwecke. Ich werde nur als Josef Schwarz sterben. Morgen früh, wenn wir Abschied nehmen, wird es ihn nicht mehr geben.“
Ein Gedanke durchzuckte mich und gleichzeitig eine wilde Hoffnung. „Was wollen Sie tun?“ fragte ich.
„Verschwinden.“
„Als Josef Schwarz?“
„Ja.“
„Als Name?“
„Als alles, was Josef Schwarz in mir war. Und auch als das, was ich vorher war.“
„Und was wollen Sie mit Ihrem Pass machen?“
„Ich brauche ihn nicht mehr.“
„Haben Sie einen anderen?“
Schwarz schüttelte den Kopf. „Ich brauche keinen mehr.“
„Haben Sie ein amerikanisches Visum darin?“
„Ja.“
„Wollen Sie ihn mir verkaufen?“ fragte ich, obschon ich kein Geld hatte.
Schwarz schüttelte den Kopf.
„Warum nicht?“
„Ich kann ihn nicht verkaufen“, sagte Schwarz. „Ich habe ihn selbst geschenkt bekommen. Aber ich kann ihn Ihnen schenken. Morgen früh. Können Sie ihn brauchen?“
„Mein Gott!“ sagte ich atemlos. „Brauchen! Er würde mich retten! Ich habe in meinem kein amerikanisches Visum und wüsste nicht, wie ich eins bis morgen nachmittag bekommen könnte.“
Schwarz lächelte schwermütig. „Wie sich alles wiederholt! Sie erinnern mich an die Zeit, als ich im Zimmer des sterbenden Schwarz saß und nur an den Pass dachte, der mich wieder zu einem Menschen machen sollte. Gut, ich werde Ihnen meinen geben. Sie brauchen nur die Photographie auszuwechseln. Das Alter wird ungefähr stimmen.“
„Fünfunddreißig“, sagte ich.
„Sie werden ein Jahr älter werden. Haben Sie jemand, der geschickt mit Pässen ist?“
„Ich weiß jemand hier“, erwiderte ich. „Eine Photographie ist leicht auszuwechseln.“
Schwarz nickte. „Leichter als eine Persönlichkeit.“ Er starrte eine Weile vor sich hin. „Wäre es nicht sonderbar, wenn Sie jetzt auch beginnen würden, Bilder zu lieben? So wie der tote Schwarz – und dann ich?“
Ich konnte mir nicht helfen, aber ich fühlte einen leichten Schauder. „Ein Pass ist ein Stück Papier“, sagte ich. „Keine Magie.“
„Nein?“ fragte Schwarz.
„Doch“, erwiderte ich. „Aber nicht so. Wie lange blieben Sie in Paris?“
Ich war so voll Aufruhr über das Versprechen von Schwarz, mir seinen Pass zu geben, dass ich nicht hörte, was er sagte. Ich dachte nur darüber nach, was ich tun könnte, um auch für Ruth ein Visum zu bekommen. Vielleicht konnte ich sie beim Konsulat als meine Schwester ausgeben. Es war unwahrscheinlich, dass es nützte, denn die amerikanischen Konsulate waren sehr strikt; aber ich musste es versuchen, wenn nicht ein zweites Wunder passierte. Dann hörte ich plötzlich Schwarz sprechen.
„Er stand plötzlich in der Tür unseres Zimmers in Paris“, sagte Schwarz. „Es hatte ihm sechs Wochen genommen, aber er hatte uns gefunden. Dieses Mal hatte er keinen Beamten vom deutschen Konsulat mobilisiert; er war selbst gekommen und stand vor uns in dem kleinen Hotelzimmer mit den amourösen* Drucken nach Zeichnungen des achtzehnten Jahrhunderts an der Wand, Georg Jürgens, Obersturmbannführer, der Bruder Helens, groß, breit, zweihundert Pfund schwer und dreimal so deutsch als in Osnabrück, obschon er in Zivil war. Er starrte uns an.
„Also alles Lügen“, sagte er. „Ich dachte mir doch, dass es irgendwo gewaltig stänke!“
„Was wundert Sie daran?“ erwiderte ich. „Es stinkt überall, wohin Sie kommen. Gewaltig! Weil Sie kommen.“
Helen lachte. „Lass das Lachen!“ brüllte Georg.
„Lassen Sie das Brüllen!“ erwiderte ich. „Oder ich lasse Sie hinauswerfen!“
„Warum versuchen Sie das nicht selbst?“
Ich schüttelte den Kopf. „Spielen Sie noch immer den Helden, wenn es ungefährlich ist? Sie sind vierzig Pfund schwerer als ich. Kein Unparteiischer würde uns als Boxer paaren. Was wollen Sie hier?“
„Das geht Sie Vaterlandsverräter einen Dreck an. Gehen Sie raus! Ich will mit meiner Schwester reden!“
„Bleib hier!“ sagte Helen zu mir. Sie funkelte vor Zorn. Langsam stand sie auf und nahm einen Aschenbecher aus Marmor in die Hand. „Noch einen Satz dieser Art, und das Ding hier fliegt dir ins Gesicht“, sagte sie sehr ruhig zu Georg. „Du bist nicht in Deutschland.“
„Leider noch nicht! Aber wartet nur – dies wird bald Deutschland werden!“
„Es wird nie Deutschland werden“, sagte Helen. „Es mag sein, dass ihr Kommisskaffern es vorübergehend erobert, aber es wird Frankreich bleiben. Bist du gekommen, um darüber zu diskutieren?“
„Ich bin gekommen, um dich nach Hause zu holen. Weißt du nicht, was dir passieren wird, wenn du hier vom Krieg überrascht wirst?“
„Nicht sehr viel.“
„Man wird dich in ein Gefängnis stecken.“ Ich sah, dass Helen einen Augenblick überrascht war. „Man wird uns vielleicht in ein Lager stecken“, sagte ich. „Aber es wird ein Internierungslager sein – kein Konzentrationslager wie in Deutschland.“
„Was wissen Sie schon davon!“ schnauzte Georg.
„Genug“, erwiderte ich. „Ich war in einem der Ihren – durch Ihre Vermittlung.“
„Sie Wurm waren in einem Erziehungslager“, erklärte Georg verächtlich. „Aber es hat nichts genützt. Sie sind desertiert, nachdem Sie freigelassen wurden.“
„Ich beneide Sie um Ihre Ausdrücke“, sagte ich. „Wenn jemand Ihnen entwischt, so ist das Desertion.“
„Was sonst? Sie hatten Befehl, Deutschland nicht zu verlassen!“
Ich winkte ab. Ich hatte genug Gespräche ähnlicher Art mit Georg gehabt, bevor er die Macht hatte, mich dafür einsperren zu lassen.
„Georg war immer ein Idiot“, sagte Helen. „Ein muskulöser Schwächling. Er braucht eine gepanzerte Weltanschauung wie eine dicke Frau ein Korsett, weil er sonst zerfließen würde. Streite nicht mit ihm. Er tobt, weil er schwach ist.“
„Lass das!“ erwiderte Georg friedlicher, als ich erwartet hatte. „Pack deine Sachen, Helen. Die Lage ist ernst. Wir fahren heute abend zurück.“
„Wie ernst ist die Lage?“
„Es gibt Krieg. Ich wäre sonst nicht hier.“
„Du wärst sonst auch hier“, sagte Helen. „Genauso wie du vor zwei Jahren in der Schweiz warst, als ich nicht zurückkommen wollte. Es passt dir nicht, dass die Schwester eines so treuen Parteimitgliedes nicht in Deutschland leben will. Damals hast du erreicht, dass ich zurückkehrte. Jetzt bleibe ich hier, und ich will nicht mehr darüber reden.“
Georg starrte sie an. „Wegen dieses erbärmlichen Schurken da? Hat er dich wieder bequatscht?“
Helen lachte. „Schurke – wie lange habe ich das nicht gehört. Ihr habt wirklich ein vorsintflutliches* Vokabular! Nein, dieser Schurke da, mein Mann, hat mich nicht bequatscht. Er hat sogar alles getan, um mich zurückzuschicken. Mit besseren Gründen als du.“
„Ich will mit dir allein reden“, sagte Georg.
„Es wird dir nichts nützen.“
„Wir sind Geschwister.“
„Ich bin verheiratet.“
„Das sind keine Blutsbande“, erklärte Georg. „Du hast mir nicht einmal einen Stuhl angeboten“, fügte er, plötzlich kindisch beleidigt, hinzu. „Man kommt von Osnabrück all den Weg und wird stehend abgefertigt.“
Helen lachte. „Dies ist nicht mein Zimmer. Mein Mann bezahlt die Miete.“
„Setzen Sie sich, Obersturmbannführer und Hitlerknecht“, sagte ich. „Und gehen Sie bald wieder.“
Georg sah mich ärgerlich an und setzte sich krachend auf das altersschwache Sofa. „Ich möchte mit meiner Schwester allein reden, können Sie das nicht verstehen?“ fragte er.
„Haben Sie mich mit ihr allein reden lassen, als Sie mich verhaften ließen?“ fragte ich zurück.
„Das war etwas ganz anderes“, schnaubte Georg.
„Bei Georg und seinen Parteigenossen ist es immer etwas anderes, wenn sie dasselbe tun wie andere Menschen“, sagte Helen sarkastisch. „Wenn sie Leute, die anderer Meinung sind als sie, einsperren oder totschlagen, verteidigen sie damit die Freiheit des Denkens; wenn sie dich ins Konzentrationslager schickten, verteidigten sie die besudelte Ehre ihres Vaterlandes – ist das nicht so, Georg?“
„Genau so!“
„Außerdem hat er immer recht“, sagte Helen. „Er hat nie Zweifel und nie ein schlechtes Gewissen. Er steht auch immer auf der richtigen Seite, auf der Seite der Macht. Er ist wie sein Führer – der friedlichste Mensch der Welt, wenn die anderen nur tun, was er für richtig hält. Die Störenfriede sind immer die andern. Ist das nicht so, Georg?“
„Was hat das mit uns hier zu tun?“
„Nichts“, sagte Helen. „Und alles. Siehst du nicht, wie lächerlich du hier wirkst, du Säule der Rechthaberei in dieser toleranten Stadt? Selbst in Zivil hast du immer noch Stiefel an, um auf andern herumtrampeln zu können. Aber hier hast du keine Macht, noch nicht! Hier kannst du mich nicht in deine nach Schweiß stinkende, plattfüßige Partei-Frauenschaft einschreiben lassen! Hier kannst du mich auch nicht überwachen wie eine Gefangene! Hier kann ich atmen, und hier will ich atmen.“
„Du hast einen deutschen Pass! Es gibt Krieg. Du wirst hier ins Gefängnis gesteckt werden.“
„Noch nicht! Und dann immer noch lieber hier als bei euch! Denn ihr würdet mich auch einsperren müssen! Ich würde nicht mehr wie eine Stumme herumgeistern, nachdem ich einmal wieder die süße Luft der Freiheit geatmet habe und euch entronnen bin, euren Kasernen und Brutanstalten und eurer trostlosen Schreierei!“
Ich stand auf. Ich wollte nicht, dass sie sich preisgab vor dem nationalistischen Klotz, der sie nie verstehen konnte.
„Der da ist schuld!“ schnarrte Georg. „Der verfluchte Kosmopolit*! Er hat dich verdorben! Warte, Bursche, wir werden noch abrechnen!“
Er stand auch auf. Es wäre ihm nicht schwergefallen, mich niederzuschlagen. Er war bedeutend stärker als ich, und mein rechter Arm war im Ellbogengelenk etwas steif geblieben nach einem Tag nationaler Erziehung im Konzentrationslager.
„Rühr ihn nicht an!“ sagte Helen sehr leise.
„Musst du den Feigling verteidigen?“ fragte Georg. „Kann er das nicht selbst?“
Schwarz wendete sich mir zu. „Es ist eine merkwürdige Sache mit der körperlichen Überlegenheit. Sie ist die primitivste, die es gibt, und hat nichts mit Mut und Männlichkeit zu tun. Ein Revolver in der Hand eines Krüppels* kann sie zunichte machen. Sie ist eine Sache von Pfunden und Muskeln, weiter nichts – aber trotzdem fühlt man sich gedemütigt, wenn man ihrer Brutalität begegnet. Jeder weiß, dass wirklicher Mut anderswo beginnt und dass das Muskelpaket, das herausfordert, da wahrscheinlich elend versagen würde – trotzdem suchen wir nach lahmen Erklärungen und überflüssigen Entschuldigungen und fühlen uns jämmerlich, wenn wir ablehnen, zum Krüppel geschlagen zu werden. Ist das nicht so?“
Ich nickte. „Sinnlos, aber deshalb besonders kränkend.“
„Ich hätte mich verteidigt“, sagte Schwarz. „Selbstverständlich hätte ich das!“
Ich hob die Hand. „Herr Schwarz, wozu? Mir brauchen Sie das nicht zu erklären.“
Er lächelte schwach. „Das ist wahr. Aber sehen Sie, wie tief es sitzt, dass ich es sogar jetzt noch erklären will? Wie ein Widerhaken im Fleisch. „Wann hört das bisschen männliche Eitelkeit auf?“
„Was geschah?“ fragte ich. „Kam es dazu?“
„Nein. Helen begann plötzlich zu lachen. „Sieh dir diesen Dummkopf an!“ sagte sie zu mir. „Er glaubt, wenn er dich niederschlägt, würde ich so an deiner Männlichkeit verzweifeln, dass ich reuig in das Land des einseitigen Faustrechts zurückkehren würde.“ Sie wendete sich zu Georg. „Du mit deinem Geschwätz von Mut und Feigheit! Der da“ – sie zeigte auf mich —,hat mehr Mut gehabt, als du dir jemals vorstellen kannst! Er hat mich geholt. Er ist meinetwegen zurückgekommen und hat mich geholt.“
„Was?“ Georg glotzte mich an. „Nach Deutschland?“
Helen besann sich. „Das ist gleich. Ich bin hier, und ich komme nicht zurück.“
„Geholt, dich?“ fragte Georg. „Wer hat ihm geholfen?
„Niemand“, sagte Helen. „Du möchtest wohl rasch wieder ein paar Leute verhaften, wie?“
Ich hatte sie nie so gesehen. Sie war so geladen mit Abwehr, Abscheu, Hass und funkelndem Triumph, entkommen zu sein, dass sie bebte. Mir ging es ähnlich; aber bei mir kam auf einmal, wie ein Blitz, der blendete, etwas anderes hinzu – der jähe Gedanke an Rache. Georg hatte hier keine Macht! Er konnte nicht seiner Gestapo pfeifen. Er war allein.
Der Gedanke verwirrte mich so, dass ich nicht wusste, was ich im Augenblick tun sollte. Ich konnte mich nicht prügeln und wollte es auch nicht; ich wollte das Wesen vor mir auslöschen. Es sollte nicht mehr existieren. So wie die Inkarnation* des Bösen keines Urteils bedarf, um es zu vernichten, so schien es mir mit Georg. Ihn zu vernichten bedeutete nicht nur Rache – es bedeutete auch, Dutzende unbekannter künftiger Opfer zu retten.
Ich ging, ohne daran zu denken, was ich tat, zur Tür. Ich wunderte mich, dass ich nicht taumelte. Ich musste allein sein. Ich musste überlegen. Helen sah mich aufmerksam an. Sie sagte nichts, Georg beobachtete mich verächtlich und setzte sich dann wieder. „Endlich!“ knurrte er, als ich die Tür hinter mir schloss.
Ich ging die Treppe hinunter. Man roch das Mittagessen; es gab Fisch. Auf dem Treppenabsalz stand eine italienische Truhe*. Ich war oft daran vorbeigegangen, aber ich hatte sie nie bemerkt. Jetzt sah ich die Schnitzerei so genau, als wollte ich sie kaufen. Ich ging wie ein Nachtwandler weiter. Im zweiten Stock stand eine Tür offen. Das Zimmer war hellgrün gestrichen, die Fenster standen offen, und das Zimmermädchen drehte die Matratze des Bettes um. Sonderbar, was man alles sieht, wenn man glaubt, vor Erregung nichts zu sehen!
Ich klopfte an die Tür eines Bekannten, der im ersten Stock wohnte, Er hieß Fischer und hatte mir einmal einen Revolver gezeigt, den er besaß, um das Leben erträglicher zu finden. Die Waffe gab ihm die Illusion, freiwillig das karge und trostlose Dasein eines Emigranten zu führen, weil er die Wahl hatte, es abzubrechen, wann er wollte.
Fischer war nicht da, aber sein Zimmer war nicht verschlossen. Er hatte nichts zu verbergen. Ich ging hinein, um auf ihn zu warten. Ich wusste nicht genau, was ich wirklich wollte, obschon ich wusste, dass ich die Waffe von ihm leihen musste. Es war sinnlos, Georg im Hotel zu töten, das war mir klar; es hätte Helen und mich und die anderen Emigranten, die hier lebten, gefährdet. Ich setzte mich auf einen Stuhl und versuchte ruhig zu werden. Es gelang mir nicht. Ich saß da und starrte vor mich hin.
Ein Kanarienvogel fing plötzlich an zu singen. Er hing in einem Drahtbauer zwischen den Fenstern. Ich hatte ihn vorher nicht gesehen und schreckte auf, als hätte mich jemand gestoßen. Gleich darauf kam Helen herein.
„Was machst du hier?“ fragte sie.
„Nichts. Wo ist Georg?“
„Er ist fort.“
Ich wusste nicht, wie lange ich in Fischers Zimmer gewesen war. Es schien mir sehr kurz. „Kommt er wieder?“ fragte ich.
„Ich weiß es nicht. Er ist hartnäckig. Weshalb bist du aus dem Zimmer gegangen? Um uns allein zu lassen?“
„Nein“, sagte ich. „Nicht deshalb, Helen. Ich konnte ihn plötzlich nicht mehr ertragen.“
Sie stand in der Tür und sah mich an. „Hasst du mich?“
„Ich dich hassen?“ fragte ich tief erstaunt. „Warum?“
„Es fiel mir ein, als Georg weg war. Hättest du mich nicht geheiratet, wäre dir das alles nicht passiert.“
„Es wäre mir dasselbe passiert. Oder noch Schlimmeres. Es kann sein, dass Georg in seiner Weise sogar noch Rücksicht deinetwegen genommen hat. Ich bin nicht in den elektrischen Stacheldraht getrieben und nicht an einem Fleischerhaken erhängt worden. – Ich dich hassen! Wie kannst du nur an so etwas denken!“
Ich sah auf einmal hinter den Fenstern Fischers wieder den grünen Sommer. Das Zimmer lag nach hinten, und im Hof stand eine große Kastanie, durch deren Blätter die Sonne schien. Der Krampf in meinem Nacken löste sich, wie ein Katzenjammer am späten Nachmittag. Ich fühlte mich selbst wieder. Ich wusste, welcher Tag es war und dass der Sommer draußen stand, dass ich in Paris war und dass man nicht Menschen erschießt wie Hasen. „Ich könnte mir eher denken, du würdest mich hassen“, sagte ich. „Oder verachten.“
„Ich?“
„Ja. Weil ich deinen Bruder nicht fernhalten kann. Weil ich…“
Ich schwieg. Die gerade vergangenen Minuten waren plötzlich sehr weit weg. „Was tun wir hier?“ sagte ich. „In diesem Zimmer?“
Wir gingen die Treppe hinauf. „Alles, was Georg gesagt hat, ist wahr“, sagte ich. „Du musst das wissen! Wenn ein Krieg kommt, sind wir Angehörige eines feindlichen Landes, du noch mehr als ich.“
Helen öffnete die Fenster und die Tür. „Es riecht nach Soldatenstiefeln und Terror“, sagte sie. „Lass den August herein! Wir wollen die Fenster offenlassen und weggehen. Ist es Zeit zum Mittagessen?“
,Ja. Und es ist Zeit, Paris zu verlassen.“
„Warum?“
„Georg wird versuchen, mich anzuzeigen.“
„So weit denkt er nicht. Er weiß nicht, dass du hier unter einem anderen Namen lebst.“
„Es wird ihm einfallen. Und er wird wiederkommen.“
„Das mag sein. Ich werde ihn rauswerfen. Lass uns auf die Straße gehen.“
Wir gingen zu einem kleinen Restaurant hinter dem Palais de Justice und aßen an einem Tisch auf dem Trottoir. Es gab pate maison, boeuf a la mode, Salat und Camembert*. Dazu tranken wir einen offenen Vouvray und hinterher Kaffee. Ich erinnere mich an alles das genau, sogar an das goldkrustige Brot und die angestoßenen Kaffeetassen; ich war an diesem Mittag erschöpft von einer tiefen, anonymen Dankbarkeit. Mir schien, ich wäre aus einem dunklen, schmutzigen Kanal entkommen, in den ich nicht zurückzuschauen wagte, weil auch ich ein Teil dieses Schmutzes gewesen war, ohne es vorher gewusst zu haben. Ich war entkommen und saß nun an einem Tisch mit einem rot und weiß gewürfelten Tischtuch und fühlte mich gereinigt und gerettet, die Sonne warf gelbe Reflexe durch den Wein, Spatzen lärmten über einem Haufen Pferdemist, die Katze des Wirtes schaute ihnen satt und uninteressiert zu, ein leichter Wind wehte über den stillen Platz, und das Dasein war wieder so gut, wie es nur in unseren Wünschen ist.
Später gingen wir durch den honigfarbenen Sommernachmittag von Paris und blieben vor dem Fenster einer kleinen Couturiere stehen. Wir hatten schon öfter davorgestanden. „Du solltest ein neues Kleid haben“, sagte ich.
„Jetzt noch?“ fragte Helen. „So kurz vor dem Kriege? Ist das nicht extravagant?“
„Gerade jetzt noch. Und gerade weil es extravagant ist.
Sie küsste mich. „Gut!“
Ich saß ruhig in einem Sessel neben der Tür zum Hinterzimmer, in dem probiert wurde. Die Couturiere brachte die Kleider heran, und Helen war bald so interessiert, dass sie mich fast vergaß. Ich hörte die Stimmen der Frauen hin und her gehen und sah die Kleider im Türausschnitt vorüberwehen und ab und zu Helens nackten braunen Rücken, und eine sanfte Müdigkeit, die etwas von schmerzlosem Sterben ohne den Begriff des Sterbens hatte, hüllte mich ein.
Ich wusste, etwas beschämt, warum ich das Kleid hatte kaufen wollen. Es war eine Auflehnung gegen den Tag, gegen Georg, gegen meine Hilflosigkeit – ein kindischer ferner Versuch einer noch kindischeren Rechtfertigung.
Ich erwachte, als Helen plötzlich vor mir stand, in einem sehr weiten, bunten Rock mit einem schwarzen, kurzen und enganliegenden Sweater. „Genau richtig!“ erklärte ich. „Das nehmen wir.“ „Es ist sehr teuer“, sagte Helen. Die Couturiere versicherte, es sei das Modell eines großen Hauses – eine charmante Lüge – aber wir wurden einig und nahmen das Kleid gleich mit. Es war gut, etwas zu kaufen, was man sich nicht leisten konnte, dachte ich. Der damit verbundene Leichtsinn ver scheuchte den letzten Schatten Georgs. Helen trug das Kleid am Abend, und auch in der Nacht, als wir noch einmal aufstanden und im Fenster lehnten, um auf die Stadt im Mondlicht zu schauen – unersättlich, immer wieder, geizend mit dem Schlaf, wissend, dass es nur noch für kurze Zeit war.“