Книга: Die Nacht von Lissabon / Ночь в Лиссабоне. Книга для чтения на немецком языке
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Aufgaben zum Text

1) Erzählen Sie, wie Helens Vorsorge Schwarz rettete.

2) Warum beschloss Schwarz offen über die Grenze zu gehen?

3) Auf die Frage des Kellners, ob er Geburtstag habe, antwortete Schwarz: „Jubiläum. Goldenes Jubiläum“. Wie verstehen Sie diese Worte?

4) Warum erklärte Schwarz seinem Mitgefährten nicht, dass er kein Nazi sei?

Texterläuterungen

schmuggeln, Personen oder Waren (Drogen, Waffen, Geld, Tabak, Zigaretten usw.) illegal in ein Land bringen oder aus einem Land ausführen

Deus ex Machina („Gott aus der Maschine“), im antiken Schauspiel der durch eine Maschine herabgelassene Gott, der die Verwicklungen löste. Übertragene Bedeutung: unerhoffter Helfer

revidieren, etwas (noch einmal) prüfen, um es zu verbessern oder zu korrigieren

Rappen der, kleinste Währungseinheit in der Schweiz; 1 R. = 0,01 Schweizer Franken

das große Los, der größte Gewinn in einer Lotterie, Hauptgewinn

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Die Musik setzte einen Augenblick aus. Man hörte aufgeregte Worte von der Tanzfläche. Gleich darauf setzte das Orchester stärker wieder ein, und eine Frau in einem kanariengelben Kleide und mit einer Kette falscher Diamanten im Haar begann zu singen. Das Unvermeidliche war geschehen: ein Mitglied der deutschen Partei war beim Tanzen mit einem der englischen zusammengeprallt. Jeder beschuldigte den anderen der Absicht. Der Manager und zwei Kellner spielten Völkerbund und begütigten, ohne gehört zu werden. Das Orchester war klüger: es wechselte den Rhythmus. Statt eines Foxtrotts spielte es einen Tango, und die Diplomaten mussten entweder stehenbleiben und lächerlich werden oder weitertanzen. Der deutsche Kontrahent aber schien keinen Tango zu kennen, während der englische den Rhythmus, auf der Stelle tanzend, andeutete. Da beide gleich darauf von den anderen Paaren angestoßen wurden, verlor sich ihr Argument. Mit wütenden Blicken gingen sie zu ihren Tischen.

„Duellieren,“ sagte Schwarz verächtlich. „Warum duellieren sich die Helden nicht?“

„Sie kamen nach Zürich“, erwiderte ich.

Er lächelte schwach. „Wollen wir hier weggehen?“

„Wohin?“

„Es gibt sicher noch einfache Kneipen, die die ganze Nacht offen sind. Dies ist hier ein Grab, in dem getanzt und Krieg gespielt wird.“

Er zahlte und fragte den Kellner nach einem anderen Lokal. Der Mann schrieb eine Adresse auf ein Stück Papier, das er von seinem Block riss, und erklärte uns die Richtung, in der wir gehen müßten.

Wir traten vor der Tür in eine wunderbare Nacht. Die Sterne waren noch da, aber schon lagen Meer und Morgen am Horizont in einer ersten, blauen Umarmung; der Himmel war höher und der Geruch nach Salz und Blüten stärker geworden als früher. Es würde ein klarer Tag werden. Lissabon hat am Tage etwas naiv Theatralisches, das bezaubert und gefangennimmt, aber nachts ist es das Märchen einer Stadt, die in Terrassen mit allen Lichtern zum Meere herabsteigt wie eine festlich geschmückte Frau, die sich niederbeugt zu ihrem dunklen Geliebten.

Wir standen einige Zeit und schwiegen. „So haben wir uns einmal das Leben gedacht, wie?“ sagte Schwarz schließlich trübe. „Tausend Lichter und Straßen, die in die Unendlichkeit führen…“

Ich antwortete nicht. Für mich war das Leben das Schiff, das unten im Tejo lag, und es fuhr nicht in die Unendlichkeit – es fuhr nach Amerika. Ich hatte genug von Abenteuern; die Zeit hatte uns damit beworfen wie mit faulen Eiern. Das abenteuerlichste Abenteuer war ein gültiger Pass, ein Visum und eine Fahrkarte. Dem Wanderer wider Willen war das Alltägliche längst zur Phantasmagorie und das Abenteuer zur Plage geworden.

„Zürich erschien mir damals so wie Ihnen diese Stadt heute nacht“, sagte Schwarz. „Dort begann das, was ich glaubte verloren zu haben. Sie wissen, dass Zeit ein sehr dünner Aufguß des Todes ist, der uns langsam zugefügt wird wie ein harmloses Gift. Anfangs belebt es und lässt uns sogar glauben, wir seien fast unsterblich – aber wenn es Tropfen um Tropfen, Tag für Tag um einen Tropfen und einen Tag stärker wird, verändert es sich in eine Säure, die unser Blut trübe macht und zerstört. Selbst wenn wir versuchen wollten, mit den Jahren, die wir noch haben, die Jugend zurückzukaufen, so könnten wir es nicht, die Säure der Zeit hat uns verändert, und die chemische Verbindung ist nicht mehr dieselbe, es müßte denn ein Wunder geschehen. Dieses Wunder geschah.“

Er blieb stehen und starrte auf die schimmernde Stadt. „Ich möchte, dass diese Nacht in meiner Erinnerung die glücklichste meines Lebens wird“, flüsterte er. „Sie ist die schrecklichste. Glauben Sie nicht, dass die Erinnerung das vollbringen kann? Sie muss es doch können! Das Wunder, wenn man es erlebt, ist nie vollkommen, erst die Erinnerung macht es dazu – und wenn das Glück tot ist, kann es sich doch nicht mehr ändern und zur Enttäuschung werden. Es bleibt vollkommen. Wenn ich es jetzt noch einmal beschwören kann: muss es dann nicht so bleiben, wie ich es sehe? Muss es nicht dasein, solange auch ich da bin?“

Er wirkte fast wie ein Mondsüchtiger, während er auf der Treppe vor dem übermächtig andrängenden Morgen stand, eine armselige, vergessene Gestalt aus der Nacht; und er tat mir plötzlich entsetzlich leid. „Es ist wahr“, sagte ich behutsam. „Wie können wir wirklich wissen, ob wir glücklich sind und in welchem Grade, solange wir nicht wissen, was bleibt und wie es bleibt?“

„Indem wir jeden Augenblick wissen, dass wir es nicht halten können, und es auch nicht versuchen“, flüsterte Schwarz. „Wenn wir es nicht festhalten und pakken wollen mit unseren Händen und unseren groben Griffen, bleibt es dann nicht ohne Erschrecken hinter unsern Augen? Und lebt es dort nicht weiter, solange die Augen leben?“

Er blickte immer noch auf die Stadt hinab, in der ein Tannensarg stand und ein Schiff vor Anker lag. Sein Gesicht schien einen Augenblick in seine Teile zu zerfallen, so sehr war es entstellt von einem Ausdruck toten Schmerzes; dann begann es wieder sich zu bewegen, der Mund war nicht mehr eine schwarze Höhle, und die Augen waren keine Kieselsteine mehr.

Wir gingen weiter zum Hafen hinunter. „Herr“, sagte er nach einiger Zeit. „Wer sind wir? Wer sind Sie, wer bin ich, wer sind die anderen, und wer sind die, die nicht mehr da sind? Was ist wirklich, das Spiegelbild oder der, der davorsteht? Der Lebende oder die Erinnerung, das Bild ohne Schmerz? Sind wir verschmolzen jetzt, die Tote und ich, ist sie vielleicht jetzt erst ganz mein, in dieser trostlosen Alchemie, in der sie nun nur noch antwortet, wenn ich will und wie ich will, eingegangen und nur noch da in dem bisschen Phosphoreszieren hier unter meinem Schädel? Oder habe ich sie nicht nur verloren, sondern verliere sie jetzt noch einmal, durch die langsam erlöschende Erinnerung jede Sekunde ein wenig mehr? Ich muss sie halten, Herr, verstehen Sie das nicht?“ Er schlug sich vor die Stirn.

* * *

Wir kamen zu einer Straße, die in langen Treppenstufen den Hügel herunterführte. Irgendeine Festlichkeit musste hier am Tage vorher gefeiert worden sein. Girlanden, die schon welk wurden und nach Friedhof rochen, hingen über eisernen Stangen zwischen den Häusern, und Schnüre mit elektrischen Birnen waren gezogen, die von tulpenartigen, großen Lampen unterbrochen wurden. Hoch darüber, in Abständen von etwa zwanzig Metern, schwebten fünfeckige Sterne aus kleinen elektrischen Birnen. Wahrscheinlich war das alles für eine Prozession oder eines der vielen religiösen Feste errichtet worden. Jetzt stand es kahl und verbra ucht im beginnenden Morgen, und nur an einer Stelle, unten, schien etwas mit den Anschlüssen nicht geklappt zu haben – dort brannte noch ein Stern in dem son derbar scharfen, bleichen Licht, das Lampen am frühen Abend und am Morgen haben.

„Hier ist der Platz“, sagte Schwarz und öffnete die Tür zu einer Kneipe, in der noch Licht war. Ein kräftiger sonnen gebräunter Mann kam uns entgegen. Er zeigte auf einen Tisch. In dem niedrigen Raum standen ein paar Fässer, und an einem der paar Tische saßen ein Mann und eine Frau. Der Besitzer hatte nichts als Wein und kalten gebratenen Fisch.

„Kennen Sie Zürich?“ fragte Schwarz mich.

„Ja. Ich bin in der Schweiz viermal von der Polizei gefasst worden. Die Gefängnisse sind gut da. Viel besser als in Frankreich. Besonders im Winter. Leider wird man nur für höchstens vierzehn Tage eingesperrt, wenn man Ruhe haben will. Dann wird man abgeschoben, und das Grenzballett geht wieder los.“

„Mein Entschluss, offen über die Grenze zu gehen, hatte etwas in mir befreit“, sagte Schwarz. „Ich fürchtete mich plötzlich nicht mehr. Ein Polizist auf der Straße ließ mein Herz nicht mehr stocken; er gab mir noch einen Schock, aber einen milden, gerade stark genug, dass mir im nächsten Moment meine Freiheit um so mehr bewusst wurde.“

Ich nickte, „Das erhöhte Lebensgefühl durch die Gegenwart der Gefahr. Ausgezeichnet, solange die Gefahr nur den Horizont belebt.“

„Meinen Sie?“ Schwarz blickte mich sonderbar an. „Es geht viel weiter“, sagte er dann. „Es geht bis zu dem, was wir Tod nennen, und darüber hinaus. Wo ist denn der Verlust, wenn man das Gefühl halten kann? Ist eine Stadt nicht mehr da, wenn man sie verlässt? Wäre sie nicht mehr da in Ihnen, auch wenn sie zerstört würde? Wer weiß denn, was Sterben ist? Geht nicht nur ein Lichtstrahl langsam über unsere wechselnden Gesichter? Und müssen wir nicht ein Gesicht gehabt haben, bevor wir geboren wurden, das Gesicht vor allen anderen, das, das bleiben muss nach der Zerstörung der anderen, vorübergehenden?“

Eine Katze strich um die Stühle. Ich warf ihr ein Stück Fisch hin. Sie hob den Schwanz und wendete sich ab.

„Sie trafen Ihre Frau in Zürich?“ sagte ich vorsichtig.

„Ich traf sie im Hotel. Der Zwang, das Abwarten, das ich in Osnabrück gespürt hatte, die Strategie des Schmerzes und der Beleidigung waren verschwunden und blieben verschwunden. Ich traf eine Frau, die ich nicht kannte und die ich liebte, mit der ich verbunden schien durch neun Jahre lautloser Vergangenheit, über die diese Vergangenheit aber keinerlei einschränkende und besitzende Gewalt mehr hatte. Das Gift der Zeit schien auch bei ihr verdampft zu sein, als Helen die Grenze überschritt. Die Vergangenheit gehörte jetzt zu uns, aber wir nicht mehr zu ihr; statt des drückenden Bildes der Jahre, das sie sonst darstellt, hatte sie sich gedreht und war jetzt ein Spiegel, der nichts mehr spiegelte als uns, ohne Bindung an sie. Der Entschluss, uns herauszureißen, und die Tat selbst trennte uns so entscheidend von allem Früher, dass das Unmögliche Wirklichkeit wurde: ein neues Lebensgefühl, ohne die Runzeln des früheren.“

Schwarz sah mich an, und wieder huschte der merkwürdige Ausdruck über sein Gesicht. „Es blieb so. Es war Helen, die es hielt. Ich konnte es nicht, besonders nicht dem Ende zu. Aber dass sie es konnte, war doch genug, und darauf kam es an, glauben Sie nicht? Ich muss es nur jetzt auch können, deshalb spreche ich ja mit Ihnen! Ja, deshalb!“

„Blieben Sie in Zürich?“ fragte ich.

„Wir blieben eine Woche“, sagte Schwarz in seinem früheren Ton. „Wir wohnten in dieser Stadt und in dem Lande, in dem als einzigem in Europa die Welt noch nicht zu schwanken schien. Wir hatten Geld für einige Monate, und Helen hatte Schmuck mitgebracht, den wir verkaufen konnten. Dann waren in Frankreich auch noch die Zeichnungen des toten Schwarz.

Dieser Sommer 1939! Es war, als hätte Gott der Welt noch einmal zeigen wollen, was Friede ist und was sie verlieren würde. Die Tage waren randvoll mit der Gelassenheit dieses Sommers, und sie wurden unwirklich, als wir später Zürich verließen, um in den Süden der Schweiz an den Lago Maggiore* zu gehen.

Helen hatte Briefe und Anrufe ihrer Familie erhalten. Sie hatte nichts hinterlassen, als dass sie wieder nach Zürich zu ihrem Arzt fahren müsse. Es war leicht für die Familie, bei dem ausgezeichneten Meldesystem der Schweiz, ihre Adresse herauszufinden. Jetzt wurde sie mit Fragen und Vorwürfen überschüttet. Noch konnte sie zurückfahren. Wir mussten uns entscheiden.

Wir wohnten im selben Hotel; aber wir wohnten nicht zusammen. Wir waren verheiratet, aber unsere Pässe lauteten auf verschiedene Namen, und da das Papier siegt, konnten wir nicht wirklich zusammen leben. Es war eine sonderbare Situation, aber sie verstärkte das Gefühl, dass für uns die Zeit noch einmal zurückgedreht war. Wir waren nach dem einen Gesetz Mann und Frau – nach dem zweiten nicht. Die neue Umgebung, die lange Trennung und vor allem Helen, die sich so sehr verändert hatte, seit sie hier war – das alles brachte einen Zustand schwebender NichtWirklichkeit und gleichzeitig leuchtendbeziehungsloser Wirklichkeit hervor, über der gerade noch der letzte zerrinnende Nebel eines Traumes schwebte, an den man sich schon nicht mehr erinnern konnte. Ich wusste damals noch nicht, woher das kam – ich nahm es als ein unvermutetes Geschenk, als wäre mir erlaubt worden, ein Stück schlechtgelebten Daseins zu wiederholen und es in volles Leben zu verwandeln. Aus einem Maulwurf, der sich ohne Pass unter den Grenzen durchwühlte, wurde ich zu einem Vogel, der keine Grenzen kannte.

Eines Morgens, als ich Helen abholen wollte, traf ich einen Herrn Krause bei ihr, den sie als jemand vom deutschen Konsulat vorstellte. Sie sprach mich, als ich eintrat, französisch an und nannte mich Monsieur Lenoir. Krause missverstand sie und fragte mich in schlechtem Französisch, ob ich der Sohn des berühmten Malers sei.

Helen lachte. „Herr Lenoir ist Genfer“, erklärte sie. „Aber er spricht auch Deutsch. Mit Renoir ist er nur durch große Bewunderung verwandt.“

„Sie lieben impressionistische Bilder?“ fragte Krause mich.

„Er hat selbst eine Sammlung“, sagte Helen.

„Ich habe ein paar Zeichnungen“, erwiderte ich. Die Erbschaft des toten Schwarz als Sammlung zu erwähnen schien mir eine von Helens neuen Kapriolen*. Da aber eine ihrer Kapriolen mich vor dem Konzentrationslager bewahrt hatte, spielte ich mit.

„Kennen Sie die Sammlung Oskar Reinharts in Winterthur?“ fragte Krause mich liebenswürdig.

Ich nickte. „Reinhart hat einen van Gogh, für den ich einen Monat meines Lebens hingeben würde.“

„Welchen Monat?“ fragte Helen.

„Welchen van Gogh?“ fragte Krause.

„Den Garten im Irrenhaus.“

Krause lächelte. „Ein herrliches Bild!“

Er begann von anderen Gemälden zu sprechen, und da er auf den Louvre kam, konnte ich, dank der Schulung durch den toten Schwarz, mitreden. Ich begriff jetzt auch Helens Taktik; sie wollte vermeiden, dass ich als ihr Mann oder als Emigrant erkannt würde. Die deutschen Konsulate waren nicht über Anzeigen bei der Fremdenpolizei erhaben. Ich spürte, dass Krause herauszufinden versuchte, in welchem Verhältnis ich zu Helen stände. Sie hatte das bereits gewusst, ehe er auch nur fragen konnte, und dichtete mir jetzt eine Frau – Lucienne – und zwei Kinder an, von denen die ältere Tochter hervorragend Klavier spielte.

Krauses Augen gingen flink zwischen uns hin und her. Er benützte das Gespräch, um herzlich eine neue Zusammenkunft vorzuschlagen – vielleicht ein Lunch in einem der kleinen Fischrestaurants am See —, man treffe so selten Menschen, die wirklich etwas von Bildern verständen.

Ich stimmte ebenso herzlich zu – wenn ich wieder nach der Schweiz käme. Das wäre etwa in vier bis sechs Wochen. Er war überrascht; er hätte geglaubt, ich wohne in Genf. Ich erklärte ihm, dass ich Genfer sei, aber in Beifort lebe. Beifort liegt in Frankreich; er konnte da nicht so leicht nachforschen. Beim Abschied konnte er die letzte Frage dieses Verhörs nicht lassen: wo Helen und ich uns getroffen hätten; es wäre doch so selten, sympathische Menschen zu finden.

Helen sah mich an. „Beim Arzt, Herr Krause. Kranke Menschen sind oft sympathischer als“ – sie lächelte ihn boshaft an – „die Gesundheitsprotzen, denen selbst im Gehirn Muskeln wachsen statt Nerven.“

Krause nahm diesen Schuss mit einem Augurenblick*. „Ich verstehe, gnädige Frau.“

„Gehört Renoir bei Ihnen nicht schon zur entarteten Kunst?“ fragte ich, um nicht hinter Helen zurückzubleiben. „Van Gogh doch sicher.“

„Nicht für uns Kenner“, erwiderte Krause mit einem zweiten Augurenblick und glitt zur Tür hinaus. „Was wollte er?“ fragte ich Helen. „Spionieren. Ich wollte dich warnen, nicht zu kommen; aber du warst schon auf dem Weg. Mein Bruder hat ihn geschickt. Wie ich das alles hasse!“

Der schattenhafte Arm der Gestapo hatte über die Grenze gegriffen, um uns daran zu erinnern, dass wir noch nicht ganz entkommen waren. Krause hatte Helen gesagt, sie möge gelegentlich ins Konsulat kommen. Nichts Wichtiges, aber die Pässe müssten einen neuen Stempel haben. Eine Art Ausreiseerlaubnis. Das sei versäumt worden.

„Er sagt, es sei eine neue Verordnung“, erklärte Helen.

„Er lügt“, erwiderte ich. „Ich wüsste es sonst. Emigranten wissen so etwas immer sofort. Wenn du hingehst, kann es sein, dass sie dir den Pass wegnehmen.“

„Wäre ich dann ein Emigrant wie du?“

„Ja. Wenn du nicht zurückgingest.“

„Ich bleibe“, sagte sie. „Ich gehe nicht zum Konsulat, und ich gehe nicht zurück.“

Wir hatten vorher nie darüber gesprochen. Dies war die Entscheidung. Ich antwortete nicht. Ich sah Helen nur an; ich sah hinter ihr den Himmel und die Bäume des Gartens und einen schmalen, glitzernden Streifen See. Ihr Gesicht war dunkel vor dem vielen Licht. „Du hast keine Verantwortung dafür“, sagte sie ungeduldig. „Du hast mich nicht überredet, und es hat nichts mit dir zu tun. Auch wenn du nicht da wärest, würde ich nie mehr zurückgehen. Ist das genug?“

„Ja“, sagte ich überrascht und etwas beschämt. „Aber es ist nicht das, woran ich gedacht habe.“

„Das weiß ich, Josef. Dann lass uns nicht mehr davon sprechen. Nie mehr.“

„Krause wird wiederkommen“, sagte ich. „Oder jemand anderer.“

Sie nickte. „Sie könnten herausfinden, wer du bist, und dir Schwierigkeiten machen. Lass uns nach dem Süden gehen.“

„Wir können nicht nach Italien. Die Gestapo ist zu befreundet mit der Polizei Mussolinis*.“ „Gibt es keinen anderen Süden?“

„Doch. Das Tessin* der Schweiz. Locarno* und Lugano*.“

* * *

Wir fuhren am Nachmittag ab. Fünf Stunden später saßen wir auf der Piazza von Ascona* vor der Locanda Svizzera in einer Welt, die nicht fünf, sondern fünfzig Stunden von Zürich entfernt war. Die Landschaft war italienisch, der Ort war voll von Touristen, und niemand schien an etwas anderes zu denken, als zu schwimmen, in der Sonne zu liegen und rasch noch so viel vom Leben zu erraffen, als möglich war. Es war eine sonderbare Stimmung in Europa in diesen Monaten. Erinnern Sie sich?“ fragte Schwarz.

„Ja“, erwiderte ich. „Man hoffte auf Wunder. Ein zweites München. Und ein drittes. Und so fort.“

„Es war das Zwielicht von Hoffnung und Verzweiflung. Die Zeit hielt den Atem an. Nichts anderes schien einen Schatten zu werfen unter dem transparenten und unwirklichen Schatten der großen Drohung. Es war, als stände ein riesiger, mittelalterlicher Komet zusammen mit der Sonne am strahlenden Himmel. Alles war lose. Und alles war möglich.“

„Wann gingen Sie nach Frankreich?“ fragte ich. Schwarz nickte. „Sie haben recht. Alles andere war nur vorübergehend. Frankreich ist die ruhelose Heimat der Heimatlosen. Alle Wege führen immer wieder dahin. Helen erhielt nach einer Woche einen Brief von Herrn Krause. Sie möge sofort zum Konsulat Zürich oder Lugano kommen. Es sei wichtig.

Wir mussten fort. Die Schweiz war zu klein und zu wohlorganisiert. Man würde uns immer wieder finden. Und ich konnte mit einem falschen Pass jeden Tag kontrolliert und ausgewiesen werden.

Wir fuhren nach Lugano, aber nicht zum deutschen, sondern zum französischen Konsulat für ein Visum. Ich erwartete Schwierigkeiten, aber es ging glatt. Wir bekamen Touristenvisa für ein Jahr. Ich hatte höchstens auf drei Monate gerechnet.

„Wann wollen wir fahren?“ fragte ich Helen.

„Morgen.“

Wir aßen am letzten Abend im Garten des Albergos della Posta in Ronco, einem Dorf, das wie ein Schwalbennest hoch über dem See an den Bergen hängt. Zwischen den Bäumen schimmerten Windlichter, Katzen strichen über die Mauern, und von den Terrassen unterhalb des Gartens kam der Geruch von Rosen und wildem Jasmin. Der See mit den Inseln, auf denen in römischen Zeiten ein Venustempel gestanden haben soll, lag unbewegt, die Berge ringsum waren kobaltblau vor dem hellen Himmel, und wir aßen Spaghetti und Piccata und tranken dazu den Nostranowein der Gegend. Es war ein Abend von einer fast unerträglichen Süße und Schwermut.

„Schade, dass wir wegmüssen“, sagte Helen. „Ich würde gern einen Sommer hierbleiben.“

„Du wirst das noch oft sagen.“

„Was ist besser, als das zu sagen? Ich habe das Gegenteil oft genug gesagt.“

„Was?“

„Schade, dass ich hierbleiben muss.“

Ich nahm ihre Hand. Ihre Haut war sehr braun, die Sonne brauchte dafür nicht mehr als zwei Tage, und ihre Augen schienen dadurch heller. „Ich liebe dich sehr“, sagte ich. „Ich liebe dich und diesen Augenblick und den Sommer, der nicht bleiben wird, und diese Landschaft und den Abschied, und zum erstenmal in meinem Leben mich selbst, weil ich wie ein Spiegel bin und dich spiegele und dich so zweimal habe. Gesegnet sei dieser Abend und diese Stunde!“

„Gesegnet sei alles! Lass uns darauf trinken. Und gesegnet seist du, weil du endlich einmal wagst, etwas zu sagen, worüber du sonst errötet wärest.“

„Ich erröte noch“, erwiderte ich. „Aber innerlich und ohne Beschämung. Gib mir etwas Zeit. Ich muss mich noch gewöhnen. Selbst die Raupe muss das, wenn sie nach einem Dasein im Dunkel ans Licht kommt und entdeckt, dass sie Flügel hat. Wie glücklich die Menschen hier sind! Und wie der wilde Jasmin riecht! Die Kellnerin sagt, es gäbe hier ganze Wälder voll davon.“

Wir tranken unsern Wein aus und gingen zwischen den schmalen Gassen die alte Straße hoch am Berg entlang, die nach Ascona führt. Der Friedhof von Ronco hing voll mit Blumen und Kreuzen über den Weg. Der Süden ist ein Verführer, er wischt die Gedanken weg und macht die Phantasie zur Königin. Sie braucht nur wenig Hilfe zwischen Palmen und Oleander; weniger als zwischen Kommissstiefeln* und Kasernen. Wie eine große, rauschende Fahne schwankte der Himmel über uns mit immer mehr Sternen, als wäre er die Flagge eines sich jede Minute erweiternden Amerikas des Universums. Die Piazza von Ascona glitzerte mit ihren Cafes weit in den See hinaus, und der Wind wehte kühl aus den Tälern.

Wir kamen zu dem Hause, das wir gemietet hatten. Es lag am See und hatte zwei Schlafzimmer; das schien der Moral hier zu genügen. „Wie lange haben wir noch zu leben?“ fragte Helen.

„Wenn wir vorsichtig sind, für ein Jahr und vielleicht noch für ein halbes Jahr länger.“

„Und wenn wir unvorsichtig leben?“

„Für diesen Sommer.“

„Lass uns unvorsichtig leben“, sagte sie.

„Ein Sommer ist kurz.“

„Ja“, sagte sie plötzlich heftig. „Ein Sommer ist kurz, und ein Leben ist kurz, aber was macht es kurz? Dass wir wissen, dass es kurz ist. Wissen die Katzen draußen, dass das Leben kurz ist? Weiß es der Vogel? Der Schmetterling? Sie halten es für ewig. Niemand hat es ihnen gesagt! Warum hat man es uns gesagt?“

„Darauf gibt es viele Antworten.“

„Gib eine!“

Wir standen im dunklen Zimmer. Die Türen und Fenster waren offen. „Eine ist, dass das Leben unerträglich wäre, wenn es ewig wäre.“

„Du meinst, es wäre langweilig? Wie das Gottes?

Das ist nicht wahr. Gib eine andere!“

„Dass es mehr Unglück als Glück gibt. Und dass es barmherzig ist, es nicht ewig dauern zu lassen.“

Helen schwieg einen Augenblick. „Alles das ist nicht wahr“, sagte sie dann. „Und wir sagen es nur, weil wir wissen, dass wir nicht bleiben und nichts halten können, und es gibt keine Barmherzigkeit dabei. Wir erfinden sie nur. Wir erfinden sie, um zu hoffen.“

„Glauben wir nicht trotzdem daran?“ fragte ich.

„Ich glaube nicht daran!“

„An keine Hoffnung?“

„An nichts. Jeder kommt dran.“ Sie warf heftig ihre Kleider aufs Bett. „Jeder. Auch der Häftling mit der Hoffnung, selbst wenn er einmal entwischt. Er kommt eben das nächstemal dran!“

„Das ist es ja, worauf er hofft. Nur auf das.“

„Ja. Das ist alles, was wir können! So wie die Welt mit dem Krieg. Sie hofft auf das nächstemal. Aber niemand kann ihn verhindern.“

„Den Krieg schon“, erwiderte ich. „Den Tod“ nicht.“

„Lach nicht!“ rief sie.

Ich ging zu ihr. Sie wich zurück, durch die Tür ins Freie.

„Was ist mit dir, Helen?“ fragte ich überrascht. Es war heller draußen als im Zimmer, und ich sah, dass ihr Gesicht von Tränen überströmt war. Sie antwortete nicht, und ich fragte nicht weiter.

„Ich bin betrunken“, sagte sie schließlich. „Siehst du das nicht?“

„Nein.“

„Ich habe zuviel Wein getrunken.“

„Zuwenig. Hier ist noch eine Flasche.“

Ich stellte den Fiasko Nostrano auf einen Steintisch, der auf der Wiese hinter dem Haus stand, und ging in das Zimmer, um Gläser zu holen. Als ich zurückkam, sah ich Helen über die Wiese zum See hinuntergehen. Ich folgte ihr nicht sofort. Ich goss die Gläser voll; der Wein sah schwarz aus im bleichen Widerschein von Himmel und See. Dann ging ich langsam über die Wiese zu den Palmen und den Oleandern herunter, die am Ufer standen. Ich hatte auf einmal Sorge um Helen und atmete auf, als ich sie sah. Sie stand vor dem Wasser in einer merkwürdig passiven, gebeugten Haltung, als warte sie auf etwas, einen Ruf oder etwas, das vor ihr auftauchen würde. Ich blieb still; nicht um sie zu beobachten, sondern um sie nicht zu erschrecken. Nach einer Weile seufzte sie und richtete sich auf. Dann schritt sie ins Wasser.

Als ich sah, dass sie schwamm, ging ich zurück und holte ein Frottiertuch* und ihren Bademantel. Dann hockte ich mich auf einen Granitblock und wartete. Ich sah ihren Kopf mit dem hochgebundenen Haar sehr klein in der Weite des Wassers und dachte daran, dass sie alles war, was ich hatte, und hätte gern gerufen, sie möge zurückkehren. Gleichzeitig aber hatte ich das Gefühl, dass sie etwas mir Unbekanntes mit sich auszukämpfen hatte und dass sie es in diesem Moment tat; das Wasser war Schicksal und Frage und Antwort für sie, und sie musste es allein bestehen, wie jeder es muss – das wenige, was ein anderer dazu tun kann, ist, dazusein, um vielleicht etwas Wärme geben zu können.

Helen schwamm in einem Bogen hinaus und wendete dann und kam in direkter Linie zurück, gerade auf mich zu. Es war beglückend, sie näher kommen zu sehen, den dunklen Kopf vor dem violetten See, bis sie sich schmal und hell aus dem Wasser hob und rasch auf mich zukam.

„Es ist kalt. Und unheimlich. Das Stubenmädchen erzählt, auf dem Grunde unter den Inseln lebe ein riesiger Krake*.“

„Die größten Fische in diesem See sind alte Hechte“, sagte ich und hüllte sie in das Frottiertuch. „Kraken gibt es hier nicht. Sie gibt es nur in Deutschland, seit 1933. Aber jedes Wasser ist nachts unheimlich.“

„Wenn wir denken können, dass es Kraken gibt, muss es auch welche geben“, erklärte Helen. „Wir können nichts denken, was es nicht gibt.“

„Das wäre ein einfacher Gottesbeweis.“

„Glaubst du es nicht?“

„Ich glaube alles in dieser Nacht.“

Sie lehnte sich an mich. Ich ließ das nasse Tuch fallen und gab ihr ihren Bademantel. „Glaubst du, dass wir mehrere Male leben?“ fragte sie.

„Ja“, erwiderte ich ohne Zögern.

Sie seufzte. „Gott sei Dank! Ich könnte jetzt nicht auch noch darüber streiten. Ich bin müde und kalt. Man vergisst, dass dies ein Gebirgssee ist.“

Ich hatte außer dem Wein nach eine Flasche Grappa* vom Albergo della Posta mitgenommen, einen klaren Schnaps aus Traubentrestern*, ähnlich dem Marc* in Frankreich. Er ist würzig und stark und gut für solche Augenblicke. Ich holte ihn und gab ihr ein großes Glas voll. Sie trank es langsam aus. „Ich gehe nicht gern weg von hier“, sagte sie.

„Du wirst es morgen vergessen haben“, erwiderte ich. „Wir fahren nach Paris. Du bist noch nie da gewesen. Es ist die schönste Stadt der Welt.“

„Die schönste Stadt der Welt ist die, in der man glücklich ist. Ist das ein Gemeinplatz?“

Ich lachte. „Zum Teufel mit der Vorsicht im Stil!“ sagte ich. „Wir können gar nicht genug Gemeinplätze haben! Besonders nicht solche. Willst du noch einen Grappa?“

Sie nickte, und ich holte auch mir ein Glas. Wir saßen an dem Steintisch auf der Wiese, bis Helen schläfrig wurde. Ich brachte sie zu Bett. Sie schlief neben mir ein. Ich sah durch die offene Tür auf die Wiese, die langsam blau und dann silbrig wurde. Helen erwachte nach einer Stunde und ging in die Küche, um Wasser zu holen. Sie kam mit einem Brief zurück, der angekommen war, während wir in Ronco waren. Er musste in ihrem Zimmer gelegen haben. „Von Martens“, sagte sie.

Sie las ihn und legte ihn weg. „Weiß er, dass du hier bist?“ fragte ich.

Sie nickte. „Er hat meiner Familie erklärt, dass ich auf seinen Rat wieder in die Schweiz zur Untersuchung gefahren sei und dass ich ein paar Wochen bleiben müsse.“

„Warst du bei ihm in Behandlung?“

„Ab und zu.“

„Für was?“

„Nichts Besonderes“, sagte sie und legte den Brief in ihre Handtasche. Sie gab ihn mir nicht zu lesen.

„Woher hast du eigentlich die Narbe?“ fragte ich. Eine dünne weiße Linie lief über ihren Magen. Ich hatte sie schon vorher bemerkt, aber sie war jetzt deutlicher auf der braunen Haut.

„Eine kleine Operation. Nichts Wichtiges.“

„Was für eine Operation?“

„Eine, über die man nicht spricht. Frauen haben manchmal so etwas.“

Sie löschte das Licht. „Es ist gut, dass du gekommen bist, mich zu holen“, flüsterte sie. „Ich konnte es nicht mehr aushalten. Liebe mich! Liebe mich und frage nicht. Nichts. Nie.“

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