Книга: Die Nacht von Lissabon / Ночь в Лиссабоне. Книга для чтения на немецком языке
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Aufgaben zum Text

1) Welche Episode zeugt davon, dass Schwarz abergläubisch war?

2) Warum beschloss Helen, Deutschland zu verlassen?

3) Auf welche Weise wollten Schwarz und Helen über die Grenze gehen?

4) Warum versuchte Schwarz nicht, den verhafteten Mann zu befreien? Nur aus Angst oder gab es auch andere Gründe dafür? Was wäre passiert, wenn er versucht hätte, ihm zu helfen?

Texterläuterungen

Horst-Wessel-Lied, nach seinem Urheber, Horst Wessel (Mitglied der NSDAP) benanntes politisches Lied, das seit 1933 neben dem Deutschlandlied Nationalhymne des Dritten Reiches war

8

Ich fuhr die Nacht durch und den folgenden Tag und kam ohne Schwierigkeiten nach Österreich. Die Zeitungen waren voll von Forderungen, Beteuerungen und den üblichen Meldungen von Grenzzwischenfällen, die stets Kriegen vorangehen und bei denen es sonderbar ist, dass immer die schwachen Nationen von den starken der Aggressivität beschuldigt werden. Ich sah Züge mit Truppen; aber die meisten Leute, mit denen ich sprach, glaubten nicht an den Krieg. Sie erwarteten, dass ein neues München jedesmal dem vorjährigen folgen würde und dass Europa viel zu schwach und dekadent sei, um einen Krieg mit Deutschland zu wagen. Es war ein scharfer Unterschied zu Frankreich, wo jeder wusste, dass der Krieg unausbleiblich war; aber der Bedrohte weiß ja immer mehr und weiß es früher als der Angreifer.

Ich kam nach Feldkirch und nahm ein Zimmer in einer kleinen Pension. Es war Sommer und die Zeit für Touristen; ich fiel nicht auf. Die beiden Koffer machten mich respektabel. Ich beschloss, sie im Stich zu lassen und nur so viel Gepäck mitzunehmen, wie mich nicht behinderte. Ich packte es in einen Rucksack, das war am unauffälligsten. Meine Zimmermiete zahlte ich auf eine Woche voraus.

Ich brach am nächsten Tag auf. Bis Mitternacht blieb ich in der Nähe der Grenze in einer Lichtung versteckt. Ich weiß noch, dass Mücken mich anfangs plagten und dass ich einen blauen Molch beobachtete, der im klaren Wasser eines Tümpels lebte. Er hatte einen Kamm und kam ab und zu hoch, um Luft zu schöpfen. Dann zeigte er einen gefleckten, gelbroten Bauch. Ich beobachtete ihn und dachte daran, dass für ihn die Welt in diesem Tümpel ihre Grenze hatte. Das kleine Wasserloch war die Schweiz, Deutschland, Frankreich, Afrika und Yokohama für ihn, alles in einem. Friedlich tauchte er auf und unter, völlig in Harmonie mit dem Abend.

Ich schlief ein paar Stunden und machte mich dann bereit. Ich war sehr zuversichtlich. Zehn Minuten später tauchte, wie aus der Erde gewachsen, ein Zollbeamter neben mir auf. „Halt! Stehenbleiben! Was machen Sie hier?“

Er musste im Dunkeln seit langem gelauert haben. Meine Erklärung, dass ich ein harmloser Spaziergänger sei, beachtete er nicht. „Sie können das alles auf der Zollstation vorbringen“, sagte er und ließ mit entsicherter Waffe mich vor sich hergehen, zurück zum nächsten Ort.

Ich ging, niedergeschmettert, dumpf und nur in einer kleinen Ecke meines Gehirns sehr wach – wie ich entkommen könnte. Aber es war nicht möglich; der Zollbeamte kannte seinen Dienst zu gut. Er war genau im richtigen Abstande hinter mir; ich konnte ihn nicht überraschend anfallen, und ich konnte keine fünf Schritte weit entkommen, ohne dass er nicht sofort gefeuert hätte.

In der Zollstation öffnete er ein kleines Zimmer. „Gehen Sie hinein. Warten Sie hier.“

„Wie lange?“

„Bis Sie vernommen werden.“

„Können Sie das nicht gleich tun? Ich habe nichts getan, um eingesperrt zu werden.“

„Dann brauchen Sie ja keine Sorge zu haben.“

„Ich habe keine Sorge“, sagte ich und legte meinen Rucksack ab. „Fangen wir also an.“

„Wir fangen an, wann wir hier dazu bereit sind“, sagte der Beamte und zeigte ein außerordentlich gutes, weißes Gebiß. Es sah aus wie ein Jäger und wirkte auch so.

„Morgen früh kommt der zuständige Beamte. Auf dem Sessel da können Sie schlafen. Es ist nur noch ein paar Stunden. Heil Hitler!“

Ich sah mich in der Kammer um. Das Fenster war vergittert; die Tür kräftig und von außen verschlossen. Ich konnte nicht entfliehen. Außerdem hörte ich Leute nebenan. Ich saß und wartete. Es war trostlos. Endlich wurde der Himmel grau und dann langsam blau und hell. Ich hörte wieder Stimmen und roch Kaffee. Die Tür wurde aufgeschlossen. Ich tat, als ob ich erwache, und gähnte. Ein Zollbeamter trat ein; er war rot und dick und sah gemütlicher aus als der Jäger. „Endlich!“ sagte ich. „Es ist verdammt unbequem, hier zu schlafen.“

„Was wollten Sie an der Grenze?“ fragte er und begann meinen Rucksack zu öffnen. „Ausreißen? Schmuggeln*?“

„Gebrauchte Hosen schmuggelt man nicht“, erwiderte ich. „Gebrauchte Hemden auch nicht.“

„Schön. Was wollten Sie dann nachts da?“ Er legte meinen Rucksack beiseite. Ich dachte plötzlich an das Geld, das ich bei mir hatte. Wenn er es fand, war ich verloren. Hoffentlich untersuchte er mich nicht weiter. „Mir den Rhein bei Nacht ansehen“, sagte ich lächelnd. „Ich bin Tourist. Und Romantiker.“

„Woher kommen Sie?“

Ich nannte den Namen meiner Pension und den Ort, aus dem ich kam. „Ich wollte heute morgen dorthin zurück“, sagte ich. „Meine Koffer sind noch da. Ich habe dort auch meine Miete für eine Woche vorausbezahlt. Das sieht nicht nach Schmuggel aus, wie?“

„Soso“, erwiderte er. „Das werden wir ja alles feststellen. Ich hole Sie in einer Stunde ab. Wir gehen zusammen hin. Mal sehen, was Sie in den Koffern haben.“

* * *

Es war ein langer Weg. Auch der Dicke war wachsam wie ein Schäferhund. Er schob sein Fahrrad neben sich her und rauchte. Endlich kamen wir an.

„Da ist er ja!“ rief jemand aus dem Fenster der Pen sion. Gleich darauf stand die Wirtin vor mir. Sie war puterrot vor Aufregung. „Mein Gott, wir dachten schon, es wäre Ihnen etwas zugestoßen! Wo waren Sie denn die Nacht über?“

Die Frau hatte am Morgen mein unaufgedecktes Bett entdeckt und geglaubt, ich sei ermordet worden. Angeblich triebe sich jemand in der Gegend herum, der schon ein paar Raubüberfälle auf dem Gewissen hatte. Sie habe deshalb die Polizei geholt. Der Polizist kam hinter ihr aus dem Hause. Er glich dem Jäger. „Ich habe mich verirrt“, sagte ich, so ruhig ich konnte. „Und dann war es eine so schöne Nacht! Ich habe zum erstenmal seit meiner Kindheit wieder im Freien geschlafen. Es war herrlich! Ich bedaure, Ihnen Sorge gemacht zu haben. Leider bin ich aus Versehen zu nahe an die Grenze gekommen. Bitte erklären Sie dem Zollbeamten doch, dass ich hier wohne.“

Die Wirtin tat es. Der Zollbeamte erklärte sich bereits für befriedigt; aber der Polizist hatte aufgemerkt. „Woher kommen Sie?“ fragte er. „Von der Grenze? Haben Sie Papiere? Wer sind Sie?“

Mir fehlte einen Augenblick der Atem. Das Geld von Helen steckte in meiner Brusttasche; wenn er es entdeckte, geriet ich in Verdacht, dass ich es in die Schweiz schmuggeln wollte, und wäre sofort festgenommen worden. Was dann noch kam, war nicht auszudenken.

Ich nannte meinen Namen, zeigte aber meinen Pass noch nicht vor; Deutsche und Österreicher brauchen in ihrem eigenen Lande keinen. „Wer beweist uns, dass Sie nicht gerade der Verbrecher sind, den wir suchen?“ erwiderte der Polizist, der dem Jäger glich.

Ich lachte. „Da ist nichts zu lachen“, erklärte er ärgerlich und begann, zusammen mit dem Zöllner, meine Koffer zu durchsuchen.

Ich tat, als wäre es ein Witz; aber ich wusste nicht genau, wie ich das Geld erklären sollte, wenn eine Körperuntersuchung folgen würde. Ich beschloss zu sagen, dass ich mit der Absicht spiele, mich in der Nähe anzukaufen.

Zu meiner Überraschung fand der Beamte in einem Seitenfach des zweiten Koffers einen Brief, den ich nicht kannte. Es war der Koffer, den ich von Osnabrück mitgenommen und den Helen mit meinen früheren Sachen gepackt und heruntergebracht hatte. Der Polizist öffnete den Brief und begann zu lesen. Ich betrachtete ihn gespannt; ich wusste nicht, was es war, und hoffte nur, dass es irgendein altes, unbedeutendes Schreiben sei.

Der Beamte grunzte und sah auf. „Ist Ihr Name Josef Schwarz?“

Ich nickte. „Warum haben Sie das nicht gleich gesagt?“ fragte er.

„Ich habe es Ihnen ja vorhin gesagt“, erwiderte ich und versuchte, von rückwärts den gedruckten Briefkopf zu lesen.

„Das ist wahr, das hat er gesagt“, bestätigte der Zollbeamte.

„Der Brief betrifft also Sie?“ fragte der Polizist.

Ich streckte die Hand aus. Er zögerte einen Moment, dann gab er ihn mir. Ich sah jetzt den gedruckten Kopf. Es war die Adresse der nationalsozialistischen Partei in Osnabrück. Langsam las ich, dass die Amtsstelle Osnabrück bat, dem Parteigenossen Josef Schwarz, der in Erfüllung einer wichtigen geheimen Aufgabe unterwegs sei, jede Unterstützung, die möglich sei, zu gewähren. Unterzeichnet war der Brief: Georg Jürgens, Obersturmbannführer, in Helens Handschrift.

Ich behielt den Brief in der Hand. „Stimmt das?“ fragte der Beamte mit bedeutend mehr Respekt als vorher.

Ich holte jetzt meinen Pass hervor, hielt ihn hin, zeigte auf den Namen und steckte ihn wieder ein. „Geheime Staatssache“, erwiderte ich.

„Deshalb?“

„Deshalb“, sagte ich ernst und steckte auch den Brief ein. „Ich hoffe, das genügt Ihnen?“

„Selbstverständlich.“ Der Beamte kniff ein blassblaues Auge zu. „Verstehe. Beobachtung der Grenze.“

Ich hob die Hand. „Kein Wort darüber, bitte. Es ist geheim. Deshalb konnte ich auch nichts sagen. Sie haben es trotzdem herausgekriegt. Sind Sie Parteigenosse?“

„Klar“, erklärte der Polizist. Ich sah jetzt erst, dass er rothaarig war, und klopfte ihm auf die schwitzende Schulter. „Tüchtig! Hier ist etwas für Sie beide auf ein Glas Wein nach all der Mühe.“

Schwarz lächelte mir melancholisch zu. „Es ist manchmal erstaunlich, wie leicht man Leute, deren Beruf Mißtrauen sein sollte, hereinlegen kann. Kennen Sie das auch?“

„Nicht ohne Papiere“, sagte ich. „Aber mein Kompliment Ihrer Frau! Sie hatte vorausgesehen, dass Sie den Brief brauchen könnten.“

„Sie muss geglaubt haben, dass ich ihn nicht genommen hätte, wenn sie ihn mir angeboten hätte. Aus Gründen der Moral vielleicht oder auch, weil ich ihn für gefährlich gehalten hätte. Hauptsächlich wohl deshalb. Dabei hätte ich ihn genommen. Er rettete mich.“

Ich hatte Schwarz mit steigendem Interesse zuge hört. Jetzt blickte ich mich um. Der englische und der deutsche Diplomat waren auf der Tanzfläche. Sie tanzten Foxtrott, und der Engländer war der bessere Tänzer. Der Deutsche brauchte mehr Raum; er tanzte mit einer verbissenen Aggressivität und schob seine Tänzerin vor sich her wie eine Kanone. Im Halbdunkel hatte ich einen Augenblick die Vorstellung, ein Schachbrett mit Figuren sei lebendig geworden. Die beiden Könige, der deutsche und der englische, kamen sich manchmal bedrohlich nahe; aber der Engländer wich jedesmal aus.

„Was taten Sie dann?“ fragte ich Schwarz.

„Ich ging auf mein Zimmer“, erwiderte er. „Ich war erschöpft und wollte ruhig werden und überlegen. Helen hatte mich auf eine so unvorhergesehene Weise gerettet, dass es mir wie der Akt eines Deus ex machina* erschien – ein Theatertrick, der eine heillose Konfusion überraschend zu einem guten Ende bringt. Aber ich musste fort, bevor der Polizist viel reden oder nachdenken konnte. Deshalb beschloss ich, meinem Glück zu trauen, solange es hielt. Ich erkundigte mich nach dem nächsten Schnellzug in die Schweiz. Er war in einer Stunde fällig. Der Wirtin erklärte ich, dass ich auf einen Tag nach Zürich müsse und nur einen Koffer mitnehmen wolle; ich werde in wenigen Tagen zurück sein, sie möge den andern aufheben. Dann ging ich zum Bahnhof. Kennen Sie das, dieses plötzliche Verzichten auf die jahrelange Vorsicht?“

„Ja“, sagte ich. „Aber man irrt sich oft dabei. Man glaubt, das Schicksal sei einem eine Revanche schuldig. Es ist einem keine schuldig.“

„Das ist selbstverständlich,“ erwiderte Schwarz. „Aber manchmal traut man trotzdem einer gewohnten Technik nicht mehr und denkt, man müsse eine neue versuchen. Helen hatte gewollt, ich solle zusammen mit ihr über die Grenze fahren. Ich hatte es nicht getan und wäre verloren gewesen, hätte ihre Klugheit mich nicht gerettet – so glaubte ich jetzt, dass ich ihr diesmal folgen und tun müsse, was sie gewollt hatte.“

„Haben Sie es getan?“

Schwarz nickte. „Ich löste ein Billett erster Klasse; Luxus flößt immer Vertrauen ein. Erst als der Zug fuhr, fiel mir das Geld ein, das ich bei mir trug. Ich konnte es nirgendwo im Abteil verstecken; ich war nicht allein. Außer mir saß noch ein Mann da, der sehr blass und unruhig war. Ich versuchte die Toiletten; beide waren besetzt. Inzwischen erreichte der Zug die Grenzstation. Mein Instinkt trieb mich zum Speisewagen. Ich setzte mich dort hin, bestellte eine Flasche teuren Wein und das Menü.

„Hat der Herr Gepäck?“ fragte der Kellner.

„Ja. Im nächsten Wagen erster Klasse.“

„Will der Herr dann nicht vorher den Zoll erledigen? Ich kann den Platz hier frei halten.“

„Das kann noch lange dauern. Bringen Sie mir schon das Essen. Ich bin hungrig. Und ich möchte vorausbezahlen, damit Sie nachher nicht glauben, ich liefe weg.“

Meine Hoffnung, von den Grenzbeamten im Speise wagen übersehen zu werden, erfüllte sich nicht. Der Kellner stellte gerade den Wein und die Suppe auf den Tisch, als zwei Uniformierte durchkamen. Ich hatte das Geld, das ich bei mir trug, inzwischen flach unter die Filzunterlage des Tischtuches geschoben und den Brief Helens in meinen Pass gelegt.

„Pass“, sagte der erste Beamte schroff. Ich gab ihm meinen Pass. „Kein Gepäck?“ fragte er, ehe er ihn öffnete.

„Nur einen Handkoffer“, sagte ich. „Im nächsten Wagen erster Klasse.“

„Sie müssen ihn öffnen“, sagte der zweite.

Ich stand auf. „Halten Sie mir den Platz“, sagte ich zu dem Kellner.

„Natürlich! Der Herr hat ja vorausbezahlt.“

Der erste Zollbeamte sah mich an. „Sie haben vorausbezahlt?“

„Ja. Sonst hätte ich mir das Essen und den Wein nicht leisten können. Hinter der Grenze hätte es Devisen gekostet. Die habe ich nicht.“

Der Beamte lachte plötzlich. „Keine schlechte Idee!“ sagte er. „Komisch, dass so wenige daraufkommen. Gehen Sie voraus. Ich muss noch den Wagen revidieren*.“

„Und mein Pass?“

„Wir finden Sie schon.“

Ich ging zu meinem Wagen. Mein Mitfahrer saß dort, noch unruhiger als vorher. Er schwitzte und rieb sich Hände und Gesicht mit einem nassen Taschentuch. Ich starrte auf den Bahnhof und öffnete das Fenster. Es hatte keinen Zweck hinauszuspringen, wenn ich gefasst wurde; man konnte nicht entkommen – aber das offene Fenster beruhigte etwas.

Der zweite Beamte stand in der Tür. „Ihr Gepäck!“ Ich holte meinen Koffer herunter und öffnete ihn. Er schaute hinein und durchsuchte dann die Koffer meines Mitreisenden. „Gut“, erklärte er und grüßte.

„Meinen Pass“, sagte ich.

„Den hat mein Kollege.“

Der Kollege kam in derselben Minute. Es war ein anderer als vorher – ein Parteigenosse in Uniform, dünn, mit einer Brille und hohen Stiefeln.“ Schwarz lächelte.

„Wie die Deutschen Stiefel lieben!“

„Sie brauchen sie“, sagte ich. „Sie waten in so viel Dreck.“

Schwarz leerte sein Glas. Er hatte wenig getrunken während der Nacht. Ich sah auf die Uhr: es war halb vier. Schwarz sah es. „Es dauert nicht mehr lange“, sagte er. „Sie werden Zeit genug für das Boot und alles andere haben. Worüber ich jetzt zu berichten habe, ist eine Zeit des Glücks. Und über Glück kann man nicht viel erzählen.“

„Wie kamen Sie durch?“ fragte ich.

„Der Parteigenosse hatte den Brief Helens gelesen. Er gab mir meinen Pass zurück und fragte, ob ich in der Schweiz Bekannte hätte. Ich nickte.

„Wen?“

„Die Herren Ammer und Rotenberg.“

Es waren die Namen von zwei Nazis, die in der Schweiz arbeiteten. Jeder Emigrant, der in der Schweiz gelebt hatte, kannte und hasste sie.

„Sonst noch jemand?“

„Unsere Herren in Bern. Nicht nötig, sie alle zu nennen, nicht wahr?“

Er salutierte. „Viel Glück! Heil Hitler!“

Mein Gefährte war nicht so glücklich. Er musste alle Papiere vorzeigen und wurde einem Kreuzverhör unterzogen. Er schwitzte und stotterte. Ich konnte es nicht mit ansehen. „Kann ich zum Speisewagen zurückgehen?“ fragte ich.

„Selbstverständlich!“ erwiderte der Parteigenosse. „Guten Appetit!“

Ich fand den Speisewagen besetzt. Eine Schar Amerikaner hatte meinen Tisch okkupiert. „Wo ist mein Platz?“ fragte ich den Kellner.

Er hob die Schultern. „Ich konnte ihn nicht halten. Was kann man gegen diese Amerikaner machen? Sie verstehen kein Deutsch und setzen sich hin, wo sie wollen! Nehmen Sie den Platz drüben. Tisch ist ja Tisch, nicht wahr? Ich habe Ihren Wein schon rübergestellt.“ Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Eine Familie hatte die vier Plätze meines Tisches fröhlich beschlagnahmt. Da, wo mein Geld lag, saß jetzt ein sehr schönes, sechzehnjähriges Mädchen mit einer Kamera. Wenn ich darauf bestanden hätte, den Platz wiederzubekommen, hätte ich Aufmerksamkeit erregt. Wir waren noch auf deutschem Boden.

Während ich entschlusslos dastand, sagte der Kellner: „Warum nimmt der Herr nicht einstweilen den Tisch drüben und nachher, wenn er frei wird, wieder den andern? Amerikaner essen schnell – belegte Brote und Orangensaft. Ich kann dem Herrn dann sein richtiges Essen hinterher servieren.“ „Gut.“

Ich setzte mich so, dass ich mein Geld beobachten konnte. Es ist merkwürdig mit einem – eine Minute vorher hätte ich gern auf alles Geld verzichtet, um nur durchzukommen – jetzt aber saß ich da und wusste nur, dass ich es wiederhaben wollte, in der Schweiz allerdings, selbst wenn ich die amerikanische Familie attackieren müsste. Dann sah ich, wie draußen der kleine, schwitzende Mann abgeführt wurde, und hatte ein Gefühl tiefer, unbewusster Befriedigung, dass nicht ich es war, gekoppelt mit dem scheinheiligen Bedauern, das nichts als eine Bestechung des Schicksals durch billiges Mitleid ist. Ich fand mich widerwärtig und konnte und wollte nichts dagegen tun. Ich wollte gerettet werden, und ich wollte mein Geld. Es war nicht das Geld als Geld – es war Sicherheit, es war Helen, es waren die Monate der Zukunft —, trotzdem war es das Geld, und es war meine eigene Haut und mein eigenes egoistisches Glück. Wir kommen nie davon los. Aber der in uns, den wir nicht kontrollieren können, sollte das Schauspielern lassen…“

„Herr Schwarz“, unterbrach ich ihn. „Wie kamen Sie zu Ihrem Geld?“

„Sie haben recht,“ erwiderte er. „Auch diese törichte Tirade gehört dazu. Die Schweizer Zollbeamten kamen in den Speisewagen, und die amerikanische Familie hatte nicht nur Handgepäck, sondern auch Koffer im Gepäckwagen. Sie musste hinaus. Die Kinder gingen mit. Sie waren mit dem Essen fertig. Der Tisch wurde abgeräumt. Ich ging hinüber, legte die Hand auf die Tischdecke und fühlte die schmale Erhöhung.

„Alles erledigt mit dem Zoll?“ fragte der Kellner, als er meine Flasche herüberbrachte.

„Natürlich“, erwiderte ich. „Bringen Sie mir jetzt den Rostbraten. Sind wir schon in der Schweiz?“ „Noch nicht“, erklärte er. „Erst wenn wir fahren.“ Er ging, und ich wartete darauf, dass der Zug anziehen möge. Es war die rasende letzte Ungeduld, die Sie wahrscheinlich auch kennen. Ich starrte durch das Fenster auf die Leute am Bahnsteig; ein Zwerg im Smoking mit zu kurzen Hosen versuchte dort, mit aller Gewalt Gumpoldskirchener Wein und Schokolade von einem fahrbaren Nickelwagen zu verkaufen. Dann sah ich den schwitzenden Mann aus meinem Abteil zurückkommen. Er war allein und rannte zu seinem Wagen. „Sie haben aber einen guten Zug,“ sagte der Kellner neben mir.

„Was?“

„Ich meine, der Herr trinken den Wein aber wie beim Feuerlöschen.“

Ich sah auf die Flasche. Sie war beinahe leer. Ich hatte sie getrunken, ohne es zu wissen. In diesem Augenblick rumpelte der Speisewagen. Die Flasche schwankte und fiel. Ich fing sie in der Hand. Der Zug begann zu fahren. „Bringen Sie mir noch eine“, sagte ich. Der Kellner verschwand.

Ich zog das Geld unter dem Tischtuch hervor und steckte es ein. Gleich darauf kamen die Amerikaner zurück. Sie setzten sich an den Tisch, an dem ich vorher gesessen hatte, und bestellten Kaffee. Das Mädchen begann die Landschaft zu photographieren. Ich fand, dass sie recht hatte; es war die schönste Landschaft der Welt.

Der Kellner kam mit der Flasche. „Jetzt sind wir in der Schweiz.“

Ich bezahlte die Flasche und gab ihm ein gutes Trinkgeld. „Behalten Sie den Wein“, sagte ich. „Ich brauche ihn nicht mehr. Ich wollte etwas feiern, aber jetzt merke ich, dass schon die erste Flasche zuviel für mich war.“

„Sie haben fast auf leeren Magen getrunken, mein Herr“, erklärte er mir.

„Das war es.“ Ich stand auf.

„Haben der Herr vielleicht Geburtstag?“ fragte der Kellner.

„Jubiläum“, sagte ich. „Goldenes Jubiläum!“

* * *

Der kleine Mann in meinem Abteil saß schweigend für einige Minuten da; er schwitzte jetzt nicht mehr, aber man konnte sehen, dass sein Anzug und seine Wäsche feucht waren. Dann fragte er: „Sind wir in der Schweiz?“

„Ja“, erwiderte ich.

Er schwieg wieder und sah aus dem Fenster. Eine Station mit Schweizer Namen kam vorbei. Ein Schweizer Bahnhofsvorsteher winkte, und zwei Schweizer Polizisten standen neben dem Gepäck, das verladen wurde, und plauderten. Man konnte Schweizer Schokolade und Schweizer Würste an einem Kiosk erstehen. Der Mann lehnte hinaus und kaufte eine Schweizer Zeitung. „Ist dies hier die Schweiz?“ fragte er den Jungen.

„Ja. Was sonst? Zehn Rappen*.“

„Was?“

„Zehn Rappen! Zehn Centimes! Für die Zeitung!“

Der Mann zahlte, als hätte er das Große Los* gewonnen. Das veränderte Geld musste ihn endlich überzeugt haben. Mir hatte er nicht geglaubt. Er entfaltete die Zeitung, blickte hinein und legte sie weg. Es dauerte eine Weile, ehe ich hörte, was er sagte. Ich war so benommen von meiner neuen Freiheit, dass die Räder des Zuges in meinem Kopf zu rattern schienen. Erst nachdem ich sah, dass er seine Lippen bewegte, hörte ich, dass er sprach.

„Endlich heraus“, sagte er und starrte mich an, „aus eurem verfluchten Land, Herr Parteigenosse! Aus dem Land, das ihr zu einer Kaserne und einem Konzentrationslager gemacht habt, ihr Schweine! In der Schweiz, in einem freien Land, in dem ihr nichts zu befehlen habt! Endlich kann man den Mund aufmachen, ohne von euch mit dem Stiefel in die Zähne getreten zu werden! Was habt ihr aus Deutschland gemacht, ihr Räuber und Mörder und Folterknechte!“

Kleine Blasen bildeten sich in seinen Mundwinkeln. Er starrte mich an, wie eine hysterische Frau eine Kröte anstarren würde. Er hielt mich für einen Parteigenossen, und nach dem, was er gehört hatte, hatte er recht.

Ich hörte ihm zu mit der tiefen Ruhe, geredet zu sein.

„Sie sind ein mutiger Mann“, sagte ich dann. „Ich bin mindestens zwanzig Pfund schwerer und fünfzehn Zentimeter größer als Sie. Aber sprechen Sie sich nur aus. Es erleichtert.“

„Höhnen!“ sagte er und wurde noch wütender. „Verhöhnen wollen Sie mich auch noch, was? Aber das ist vorbei! Für immer vorbei! Was habt ihr mit meinen Eltern gemacht? Was hat mein alter Vater euch getan? Und jetzt! Jetzt wollt ihr die Welt in Brand stecken!“

„Glauben Sie, dass es Krieg gibt?“ fragte ich.

„Höhnen Sie nur weiter! Als ob Sie das nicht wüssten! Was sonst bleibt euch übrig mit eurem Tausendjährigen Reich und euren infamen Rüstungen? Ihr Berufsmörder und Verbrecher! Wenn ihr keinen Krieg macht, bricht euer Schwindel-Wohlstand zusammen und ihr mit ihm!“

„Das glaube ich auch“, sagte ich und fühlte die warme Sonne des späten Nachmittages auf meinem Gesicht wie eine Liebkosung. „Aber wie wird es, wenn Deutschland gewinnt?“

Der Mann mit dem feuchten Anzug starrte mich an und schluckte. „Wenn ihr gewinnt, dann gibt es keinen Gott mehr“, sagte er dann mit Mühe.

„Das glaube ich auch.“ Ich stand auf.

„Rühren Sie mich nicht an!“ zischte er. „Sie werden verhaftet! Ich ziehe die Notbremse! Ich zeige Sie an! Sie sollten sowieso angezeigt werden, Sie Spion! Ich habe gehört, was Sie geredet haben!“

Das fehlte noch, dachte ich. „Die Schweiz ist ein freies Land“, sagte ich. „Man verhaftet da nicht gleich auf Grund einer Denunziation. Sie scheinen drüben gut gelernt zu haben.“

Ich nahm meinen Koffer und suchte mir ein anderes Abteil. Ich wollte den hysterischen Mann nicht aufklären; aber ich wollte ihm auch nicht gegenübersitzen. Hass ist eine Säure, die die Seele auffrisst, ganz gleich, ob man selbst hasst oder gehasst wird. Ich hatte das gelernt während meiner Wanderschaft.

So kam ich nach Zürich.

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