Книга: Die Nacht von Lissabon / Ночь в Лиссабоне. Книга для чтения на немецком языке
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Aufgaben zum Text

1) Warum nennt der Ich-Erzähler Schwarz „einen Don Quichote, der gegen die Windmühlen der Zeit kämpfen wollte“?

2) Warum wollte Schwarz dem Ich-Erzähler seinen Pass schenken? Brauchte er selbst diesen Pass nicht mehr?

3) Beschreiben Sie das Gespräch mit Georg. Mit welchen Argumenten wollte Georg Helen dazu bringen, nach Deutschland zurückzukommen?

4) Was glauben Sie, hätte Schwarz Georg erschossen, wenn Georg nicht vorhin fortgegangen wäre?

Texterläuterungen

Seine die, Fluss im Norden Frankreichs, an dem Paris liegt.

Notre-Dame de Paris (franz. „Unsere Liebe Frau von Paris“), die Hauptkirche in Paris, der Jungfrau Maria geweiht; ein früher Höhepunkt der gotischen Baukunst.

Refugie-Comite, franz. Bezeichnung für: Flüchtlingskomitee.

apokryph, griech. „verborgen“.

Kaprize die, Laune, Einfall.

Efeu der, Pflanze, die besonders an Mauern und Bäumen hochwächst und deren Blätter im Winter grün bleiben.

Schmarotzer der, ein Tier (oder eine Pflanze), das als Parasit auf oder in einem anderen Tier, einer anderen Pflanze lebt und ihnen Nahrung wegnimmt.

Schrein der, ein verziertes Behältnis aus edlem Holz, Glas o.Ä., in dem meist religiöse Dinge aufbewahrt werden.

Phönix, sagenhafter Vogel der alten Ägypter, der sich selbst verbrennt und aus der Asche verjüngt hervorgeht; Sinnbild der Auferstehung.

amourös, in Form einer flüchtigen sexuellen Beziehung.

vorsintflutlich, gespr., hum., sehr altmodisch.

Kosmopolit, Weltbürger der, jemand, der nicht national denkt und der für alle Kulturen offen ist.

Krüppel der, meist pej., ein Mensch, dessen Körper nicht wie üblich gewachsen ist, der Missbildungen o.Ä. hat.

Inkarnation die, Fleisch-(Mensch)-Werdung, Verkörperung.

Truhe die, eine Art großer Kasten mit einem Deckel (den man aufklappen kann), in dem man früher besonders Kleidung oder Geld aufbewahrt hat.

Camembert, vollfetter Weichkäse.

11

„Was bleibt?“ sagte Schwarz. „Schon jetzt läuft es zusammen wie ein Hemd, aus dem die Stärke gewaschen worden ist. Die Perspektive der Zeit ist bereits nicht mehr da; was eine Landschaft war, ist nun ein flaches Bild geworden, auf das wechselnde Lichter fallen. Es ist nicht einmal mehr ein Bild – es ist fließende Erinnerung, aus der sich lose Bilder heben – das Fenster des Hotels, eine nackte Schulter, geflüsterte Worte, geisterhaft weiterlebend, das Licht über den grünen Dächern, der nächtliche Geruch des Wassers, der Mond auf dem grauen Stein der Kathedrale, das hingegebene Gesicht, und wieder ein anderes in der Provence* und in den Pyrenäen*, und dann das starre, letzte, das man nie gekannt hatte und das plötzlich die andern verdrängen will, als wäre alles vorher nur ein Irrtum gewesen.“

Er hob den Kopf. Sein Gesicht hatte wieder den Ausdruck der Qual, in die er vergeblich ein Lächeln hineinzuzwingen versuchte. „Es ist nur noch hier“, sagte er und zeigte auf seinen Kopf. „Und selbst hier ist es so gefährdet wie ein Kleid in einem Schrank voll Motten. Deshalb erzähle ich es Ihnen. Sie werden es weiter bewahren, und bei Ihnen ist keine Gefahr. Ihre Erinnerung versucht nicht, es zu vertilgen, um Sie zu retten, wie meine. Bei mir ist es schlecht aufgehoben, schon jetzt wuchert das letzte starre Gesicht wie ein Krebs über die anderen, früheren“, seine Stimme hob sich, „und die anderen waren es doch, sie waren wir, nicht das unbekannte, schreckliche, letzte.“

„Blieben Sie noch in Paris?“ fragte ich.

„Georg kam noch einmal“, sagte Schwarz. „Er versuchte es mit Sentimentalität und Drohung. Ich war nicht da, als er kam. Ich sah ihn nur, als er das Hotel verließ. Er blieb vor mir stehen. „Du Lump!“ sagte er sehr leise. „Du ruinierst meine Schwester! Aber warte nur! Wir werden dich bald erwischen! In ein paar Wochen haben wir euch beide! Und dann, mein Junge, werde ich mich selbst um dich kümmern! Du wirst noch auf den Knien vor mir liegen und mich anflehen, ein Ende mit dir zu machen – wenn du dann noch eine Stimme hast!“

„Ich kann mir das gut vorstellen“, erwiderte ich.

„Du kannst dir gar nichts vorstellen! Sonst hättest du dich so weit weggehallen, wie du kannst. Ich gebe dir noch eine Chance. Wenn meine Schwester in drei Tagen wieder zurück in Osnabrück ist, will ich einiges vergessen. In drei Tagen! Verstanden?“

„Sie sind nicht schwer zu verstehen.“

„Nein? Dann merk dir, dass meine Schwester zurück muss! Du weißt das doch auch, du verdammter Schuft*! Oder willst du behaupten, du weißt nicht, dass sie krank ist? Komme mir nicht damit!“

Ich starrte ihn an. Ich wusste nicht, ob er das jetzt erfand, ob es stimmte oder ob es das war, was Helen ihm erzählt hatte, um in die Schweiz zu kommen. „Nein“, sagte ich. „Das weiß ich nicht!“

„Nein? Sieh einmal an! Unbequem, was? Sie muss zum Arzt, du Lügner! Sofort! Schreib an Martens und frag ihn. Der weiß es!“

Ich sah zwei Leute dunkel durch den weißen Tag in die offene Haustür treten. „In drei Tagen“, flüsterte Georg. „Oder du wirst deine verdammte Seele zentimeterweise auskotzen! Ich werde bald wieder hier sein! In Uniform!“

Er schob sich zwischen den Männern, die jetzt im Vorraum standen, hindurch und marschierte hinaus. Die beiden Männer gingen um mich herum die Treppe hinauf. Ich folgte ihnen. Helen stand in ihrem Zimmer am Fenster. „Hast du ihn noch getroffen?“ fragte sie.

„Ja. Er sagte, du wärest krank und müsstest zurück!“

Sie schüttelte den Kopf. „Was dem auch alles einfällt!“

„Bist du krank?“ fragte ich.

„Unsinn!“ sagte sie. „Das war doch die Erfindung von mir, um wegzukommen.“

„Er sagte, Martens wisse es auch.“

Helen lachte. „Natürlich weiß er es. Erinnerst du dich nicht? Er hat mir doch nach Ascona geschrieben. Ich habe das alles mit ihm abgemacht.“

„Du bist also nicht krank, Helen?“

„Sehe ich krank aus?“

„Nein, aber das bedeutet nichts. Du bist nicht krank?“

„Nein“, erwiderte sie ungeduldig. „Hat Georg sonst noch etwas gesagt?“

„Das übliche. Drohungen. Was wollte er von dir?“

„Dasselbe. Ich glaube nicht, dass er noch einmal kommt.“

„Wozu ist er überhaupt gekommen?“

Helen lächelte. Es war ein merkwürdiges Lächeln. „Er glaubt, ich gehöre ihm. Ich müsse tun, was er wolle. Er war immer so. Schon in der Kindheit. Brüder sind oft so. Er denkt, er handle aus Familienrücksichten. Ich hasse ihn.“

„Deshalb?“

„Ich hasse ihn. Das ist genug. Und ich habe es ihm gesagt. Aber es gibt Krieg, Er weiß es.“

Wir schwiegen. Der Lärm der Autos am Quai des Grands Augustins schien lauter zu werden. Hinter der Conciergerie stach die Nadel der Sainte-Chapelle in den klaren Himmel. Man hörte die Schreie der Zeitungsrufer. Sie übertönten die Motoren wie Möwenschreie das Rauschen des Meeres.

„Ich werde dich nicht schützen können“, sagte ich.

„Das weiß ich.“

„Man wird dich internieren*.“

„Und dich?“

Ich zuckle die Achseln. „Mich wahrscheinlich auch. Es ist möglich, dass man uns trennt.“ Sie nickte.

„Die Gefängnisse in Frankreich sind keine Sanatorien.“

„Die in Deutschland auch nicht.“

„In Deutschland würde man dich nicht einsperren.“ Helen machte eine rasche Bewegung. „Ich bleibe hier! Du hast deine Pflicht getan und mich gewarnt. Denk nicht mehr darüber nach. Ich bleibe. Es hat nichts mit dir zu tun. Ich gehe nicht zurück.“

Ich sah sie an.

„Zum Teufel mit der Sicherheit!“ sagte sie. „Und zum Teufel mit der Vorsicht! Ich hatte sie lange genug.“

Ich legte den Arm um ihre Schultern. „Das sagt man leicht, Helen…“

Sie stieß mich von sich. „Dann geh du!“ schrie sie plötzlich. „Geh, und du hast keine Verantwortung! Lass mich allein! Geh! Ich komme auch allein durch.“

Sie blickte mich an, als wäre ich Georg. „Sei keine Henne! Was weißt du denn? Ersticke mich nicht mit deiner Sorge und deiner Angst vor Verantwortung! Ich bin nicht deinetwegen weggegangen. Begreife das doch! Nicht deinetwegen! Meinetwegen!“

„Ich begreife es.“

Sie kam zu mir zurück. „Du musst es glauben“, sagte sie sanft. „Auch wenn es nicht so aussieht! Ich wollte weg! Dass du kamst, war ein Zufall. Versteh das doch! Sicherheit ist nicht immer alles.“

„Das ist wahr“, erwiderte ich. „Aber man will sie, wenn man jemand liebt. Für den anderen.“

„Es gibt keine Sicherheit. Es gibt keine“, wiederholte sie. „Sage nichts. Ich weiß es! Besser als du! Ich habe alles dieses überdacht. Gott, wie lange ich es überdacht habe! Lass uns nicht mehr darüber sprechen, Liebster. Da draußen steht der Abend und wartet auf uns. Es werden nicht mehr viele sein in Paris.“

„Kannst du nicht in die Schweiz gehen, wenn du nicht zurück willst?“

„Georg behauptet, die Nazis würden die Schweiz überrennen wie Belgien im ersten Kriege.“ „Georg weiß nicht alles.“

„Lass uns noch hierbleiben. Vielleicht hat er überhaupt gelogen. Woher soll er so genau vorauswissen, was passieren wird? Es hat schon einmal so ausgesehen, als ob es zum Krieg kommen würde. Dann kam München. Warum soll nicht ein zweites München kommen?“

Ich wusste nicht, ob sie glaubte, was sie sagte, oder mich nur ablenken wollte. Man glaubt so leicht, wenn man hofft; ich tat es an diesem Abend. Wie konnte Frankreich in einen Krieg gehen? Es war nicht gerüstet. Es musste nachgeben. Warum sollte es für Polen kämpfen? Es hatte nicht für die Tschechoslowakei gekämpft.

Zehn Tage später waren die Grenzen gesperrt. Der

Krieg hatte begonnen.

„Wurden Sie sofort verhaftet, Herr Schwarz?“ fragte ich.

„Wir halten noch eine Woche. Wir durften die Stadt nicht verlassen. Es war eine sonderbare Ironie: fünf Jahre lang wurde ich ausgewiesen – jetzt auf einmal wollte man mich nicht loslassen. Wo waren Sie?“

„In Paris“, sagte ich.

„Wurden Sie auch im Velodrome eingesperrt?“

„Natürlich.“

„Ich erinnere mich nicht an Ihr Gesicht.“

„Im Velodrome waren Scharen von Emigranten, Herr Schwarz.“

„Erinnern Sie sich an die letzten Tage vor dem Kriege, als Paris verdunkelt wurde?“

„Daran natürlich! Es war, als würde die Welt verdunkelt.“

„Die kleinen blauen Lichter, die erlaubt waren“, sagte Schwarz. „Sie glommen an den Ecken in der Nacht, als wären sie beleuchtete Gläser von Tuberkulosekranken. Die Stadt wurde nicht nur dunkel; sie wurde krank in dieser kalten blauen Dunkelheit, in der man fröstelte, obschon es Sommer war. Ich verkaufte in diesen Tagen eine der Zeichnungen, die ich vom toten Schwarz geerbt hatte. Ich wollte, dass wir mehr bares Geld bei uns hätten. Es war eine schlechte Zeil zu verkaufen. Der Händler, zu dem ich ging, bot sehr wenig. Ich lehnte ab und verlangte die Zeichnung zurück. Schließlich verkaufte ich sie an einen reichen Filmemigranten, der Besitz für sicherer hielt als Geld. Die letzte Zeichnung hinterlegte ich beim Besitzer des Hotels. Dann kam die Polizei. Sie kam am Nachmittag, um mich zu holen. Es waren zwei Leute. Sie sagten mir, ich solle mich von Helen verabschieden. Sie stand vor mir, blass, mit sprühenden Augen. „Es ist nicht möglich“, sagte sie.

„Doch“, erwiderte,ich. „Es ist möglich. Sie werden dich später auch holen. Es ist besser, wenn wir unsere Pässe nicht wegwerfen, sondern sie behalten. Auch du deinen.“

„Es ist wirklich besser“, sagte einer der Polizisten in gutem Deutsch.

„Danke“, erwiderte ich. „Kann ich mich allein verabschieden?“

Der Polizist sah nach der Tür. „Wenn ich weglaufen wollte, hätte ich es seit Tagen tun können“, sagte ich. Er nickte. Ich ging mit Helen in ihr Zimmer. „Es ist anders, wenn es passiert, als wenn man vorher darüber redet, wie?“ sagte ich und nahm sie in die Arme. Sie machte sich los. „Wie kann ich dich erreichen?“ Wir sprachen das übliche. Wir hatten zwei Adressen: das Hotel und einen Franzosen. Der Polizist klopfte an die Tür. Ich öffnete sie. „Nehmen Sie eine Decke mit“, sagte er. „Es ist nur für ein bis zwei Tage. Nehmen Sie trotzdem eine Decke mit und etwas zu essen.“

„Ich habe keine Decke.“

„Ich bringe dir eine“, sagte Helen. Sie packte rasch zusammen, was zu essen da war. „Ist es nur für ein bis zwei Tage?“ fragte sie.

„Höchstens“, erklärte der Polizist. „Feststellung der Personalien und so etwas. C’est la guerre, Madame.

„Wir sollten das noch oft hören.“ Schwarz holte eine Zigarre aus der Tasche und zündete sie an. „Sie kennen das ja selbst – das Warten auf der Polizeistation, die Ankunft anderer Emigranten, die aufgestöbert wurden, als wären sie gefährliche Nazis, die Fahrt im vergitterten Wagen zur Präfektur und das endlose Warten in der Präfektur. Waren Sie auch in der Salle Lepine?“

Ich nickte. Die Salle Lepine war ein großer Raum in der Präfektur, der gewöhnlich für Lehrfilme für die Polizei benutzt wurde. Er enthielt ein paar hundert Sitze und eine Filmleinwand. „Ich war zwei Tage da“, erwiderte ich. „Nachts wurden wir in einen großen Kohlenkeller geführt, in dem Bänke standen zum Schlafen. Wir sahen morgens aus wie die Schornsteinfeger.“

„Wir saßen tagelang in den Stuhlreihen“, sagte Schwarz. „Wir waren schmutzig und sahen bald wirklich aus wie die Verbrecher, für die wir gehalten wurden. Georg nahm hier eine späte, unbeabsichtigte Rache; er hatte unsere Adresse damals in der Präfektur erfahren. Jemand hatte dort für ihn nachgeforscht. Georg hatte kein Hehl daraus gemacht, dass er zur Partei gehöre – jetzt wurde ich dafür viermal am Tage verhört als Nazispion über meine freundschaftlichen Beziehungen zu Georg und zur nationalsozialistischen Partei. Ich lachte zuerst; es war zu absurd. Doch dann merkte ich, dass auch das Absurde gefährlich werden kann. Dass es in Deutschland so war, hatte die Existenz der Partei dort bewiesen – aber jetzt schien auch Frankreich, das Land der Vernunft, unter dem gemeinsamen Impakt von Bürokratie und Krieg nicht mehr sicher zu sein. Georg hatte, ohne es zu wissen, eine Zeitbombe zurückgelassen; im Krieg als Spion angesehen zu werden ist kein Spaß.

Jeden Tag kamen neue Schübe von geängstigten Menschen herein. Noch war seit der Kriegserklärung kein Mensch an der Front getötet worden – es war la dröle de guerre, wie die Witzbolde* diese Zeit bezeichneten – aber schon hing über allem die gespenstische Atmosphäre des verminderten Respekts vor dem Leben und der Individualität, die der Krieg mit sich bringt wie die Pest. Menschen waren nicht mehr Menschen – sie wurden klassifiziert nach militärischen Grundsätzen in Soldaten, Taugliche, Untaugliche und Feinde.

Ich saß erschöpft am dritten Tag in der Salle Lepine. Ein Teil von uns war abgeholt worden. Die übrigen unterhielten sich flüsternd, schliefen oder aßen; wir waren bereits reduziert auf ein Minimum an Existenz. Das störte nicht; verglichen mit einem deutschen Konzentrationslager war es ein komfortables Dasein. Wir erhielten höchstens Tritte oder Püffe, wenn wir nicht schnell genug beim Austreten waren; Macht ist Macht, und ein Polizist ist ein Polizist in jedem Lande der Welt.

Ich war sehr müde von den Verhören. Auf dem Podium, unter der Leinwand, saßen in einer Reihe, in Uniform, mit gespreizten Beinen und Waffen, unsere Wächter. Der halbdunkle Saal, die schmutzige, leere Filmleinwand und wir unten – das schien ein trostloses Symbol des Lebens zu sein, in dem man nur Gefangene oder Wächter war und in dem es höchstens von einem selbst abhing, was für einen Film man auf der leeren Leinwand sehen wollte – einen Lehrfilm, eine Komödie oder eine Tragödie. Zum Schluss war doch immer nur wieder die leere Leinwand da, das hungrige Herz und die stupide Macht, die handelte, als wäre sie ewig und wäre das Recht, während längst alle Leinwände wieder leer waren. Es würde immer so sein, dachte ich, nichts würde sich ändern, und irgendwann würde man verschwinden, ohne dass jemand es merkte. Es war eine der Stunden, die Sie kennen – wenn die Hoffnung verlöscht.“

Ich nickte. „Die Stunde der stillen Selbstmorde. Man wehrt sich nicht mehr und tut fast zufällig und gedankenlos den letzten Schritt.“

„Die Tür öffnete sich“, fuhr Schwarz fort, „und mit dem gelben Licht vom Korridor kam Helen herein. Sie trug einen Korb und ein paar Decken und einen Leopardenmantel über dem Arm. Ich erkannte sie an der Art, wie sie den Kopf hielt und ging. Sie stand einen Augenblick; dann schritt sie suchend die Reihen ab. Sie kam dicht an mir vorbei und sah mich nicht. Es war fast wie damals im Dom von Osnabrück. „Helen!“ sagte ich.

Sie drehte sich um. Ich stand auf. Sie sah mich an. „Was haben sie mit euch gemacht?“ fragte sie zornig.

„Nichts Besonderes. Wir schlafen in einem Kohlenkeller, deshalb sehen wir so aus. Wie kommst du hierher?“

„Ich bin verhaftet worden“, erwiderte sie beinahe stolz. „Ebenso wie du. Und viel früher als alle anderen Frauen. Ich hoffte, dich hier zu finden.“

„Warum hat man dich verhaftet?“

„Warum dich?“

„Man hält mich für einen Spion.“

„Mich auch. Mein gültiger Pass war die Ursache.“ „Woher weißt du das?“ „Man hat mich soeben vernommen und es mir gesagt. Ich bin kein echter Emigrant. Die weiblichen Emigranten sind noch frei. Ein kleiner Mann mit pomadisiertem Haar, der nach Escargots riecht, hat mich aufgeklärt. Ist das der, der auch dich verhört?“

„Ich weiß es nicht. Hier riecht alles nach Escargots. Gott sei Dank, dass du Decken mitgebracht hast.“ „Ich habe mitgebracht, was ich konnte.“ Helen öffnete den Korb. Zwei Flaschen klirrten. „Cognac“, sagte sie. „Kein Wein. Ich habe von allem die Essenz mitgebracht. Bekommt ihr hier zu essen?“

„Das übliche. Wir können uns Butterbrote holen lassen.“

Helen beugte sich zu mir und sah mich an. „Ihr seht aus wie eine Versammlung von Negern. Könnt ihr euch nicht waschen?“

„Bis jetzt nicht. Nicht aus Bosheit. Nachlässigkeit.“

Sie holte den Cognac heraus. „Die Korken sind bereits gezogen“, sagte sie. „Eine letzte Freundlichkeit des Hotelbesitzers. Er meinte, hier gäbe es keine Korken zieher. Trink!“

Ich nahm einen mächtigen Schluck und gab ihr die Flasche zurück. „Ich habe sogar ein Glas“, sagte sie. „Wir wollen die Zivilisation aufrechterhalten, solange wir können.“

Sie füllte das Glas und trank. „Du riechst nach Sommer und Freiheit“, sagte ich. „Wie ist es draußen?“

„Wie im Frieden. Die Cafes sind voll. Der Himmel ist blau.“

Sie blickte auf die Reihe der Polizisten auf dem Podium und lachte. „Es sieht hier aus wie in einer Schießbude. Als könnte man auf die Figuren da oben feuern, und wenn sie umkippten, bekäme man eine Flasche Wein als Preis oder einen Aschenbecher.“

„Hier haben die Figuren die Gewehre.“

Helen holte eine Pastete aus dem Korb. „Vom Wirt“, sagte sie. „Mit vielen Grüßen und dem Spruch: La guerre, merde! Es ist eine Geflügelpastete. Ich habe auch Gabeln und ein Messer. Noch einmal: Es lebe die Zivilisation!“

Ich war plötzlich heiter. Helen war da, nichts war verloren. Der Krieg hatte noch nicht begonnen, und vielleicht stimmte es, dass man uns bald freilassen würde.

Am nächsten Abend wussten wir, dass man uns trennen würde. Ich würde ins Sammellager in Colombes gebracht werden, Helen ins Gefängnis, La petite Roquette“. Es hätte uns nichts genützt, wenn man uns geglaubt hätte, dass wir verheiratet waren. Auch Ehepaare wurden getrennt.

Wir saßen die Nacht durch im Keller. Ein barmherziger Wächter erlaubte es uns. Jemand hatte ein paar Kerzen mitgebracht. Ein Teil von uns war schon abtransportiert worden; wir waren noch ungefähr hundert Menschen. Auch spanische Emigranten waren dabei. Man hatte sie ebenfalls verhaftet. Der Eifer, mit dem die Antifaschisten in einem antifaschistischen Lande eingefangen wurden, war nicht ohne Ironie; man hätte glauben können, man wäre in Deutschland.

„Warum trennen sie uns?“ fragte Helen.

„Ich weiß es nicht. Aus Stupidität; nicht aus Grausamkeit.“

„Wenn Männer und Frauen im selben Lager wären, gäbe es nichts als Eifersucht und Krach“, belehrte mich ein kleiner, alter Spanier. „Deshalb werden Sie getrennt. C’est la guerre!“

Helen schlief in ihrem Leopardenmantel neben mir. Es waren ein paar bequeme, gepolsterte Bänke da, aber sie wurden für vier oder fünf alte Frauen frei gemacht, die für diese Nacht auch hier untergebracht worden waren. Eine von ihnen bot Helen die Stunden von drei bis fünf zum Schlafen an; sie lehnte ab. „Ich kann später noch genug allein schlafen“, sagte sie.

Es war eine seltsame Nacht. Die Stimmen verstummten allmählich. Das Weinen der alten Frauen hörte auf; nur manchmal, wenn sie erwachten, schluchzten sie und fielen dann wieder zurück in den Schlaf wie in schwarze Wolle, die sie erstickte. Die Kerzen verlöschten allmählich. Helen schlief an meiner Schulter. Sie legte im Schlaf die Arme um mich, und wenn sie erwachte, flüsterte sie mir Worte zu, die manchmal die eines Kindes und dann die einer Geliebten waren – Worte, die man am Tage nicht sagt und die man in einem geordneten Leben auch nachts selten sagt – es waren Worte der Not und des Abschieds, Worte des Körpers, der sich nicht trennen will, Worte der Haut, des Blutes und der Klage, der ältesten Klage der Welt: dass man nicht beieinander bleiben kann, dass einer immer der erste ist, der gehen muss, und dass der Tod jede Sekunde an unserer Hand zerrt, nicht stehenzubleiben, wenn wir doch müde sind und wenigstens eine Stunde die Illusion der Ewigkeit haben möchten. Später glitt sie langsam an meiner Brust entlang auf meine Knie. Ich hielt ihren Kopf in meinen Händen und sah sie atmen im Licht der letzten Kerze.

Ich hörte Männer aufstehen und zwischen den Kohlenhaufen tappen, um vorsichtig zu urinieren. Das schwache Licht flackerte, und Schatten huschten übergroß umher, als wären wir in einem Geisterdschungel und Helen wäre der flüchtige Leopard, den die Zauberer mit ihren Beschwörungen suchten. Dann erlosch das letzte Licht, und nur noch die stickige, schnarchende Dunkelheit war da. Ich fühlte Helen unter meinen Händen atmen. Einmal fuhr sie mit einem kleinen, hohen Schrei auf. „Ich bin da“, flüsterte ich. „Erschrekke nicht. Alles ist wie vorher.“

Sie legte sich zurück und küsste meine Hände. „Ja, du bist da“, murmelte sie. „Du musst immer dableiben.“

„Ich bleibe immer da“, flüsterte ich. „Und wenn wir auch für kurze Zeit getrennt werden, ich werde dich immer wiederfinden.“

„Du wirst kommen?“ murmelte sie, schon wieder im Schlaf.

„Ich werde immer kommen. Immer! Wo du auch sein magst, ich werde dich finden. So wie ich dich das letztemal gefunden habe.“

„Gut“, seufzte sie und drehte das Gesicht so, dass es in meinen Händen wie in einer Schale ruhte. Ich saß und schlief nicht. Ab und zu fühlte ich ihre Lippen an meinen Fingern, und einmal glaubte ich, Tränen zu spüren; aber ich sagte nichts. Ich liebte sie sehr und glaubte, ich hätte sie nie mehr geliebt, auch wenn ich sie besaß, als in dieser schmutzigen Nacht mit den Geräuschen des Schnarchens und dem sonderbar zischenden Laut, den Urin macht, wenn er auf Kohlen fällt, Ich war sehr still, und mein Selbst war ausgelöscht von Liebe. Dann kam der Morgen, das fahle frühe Grau, das jede Farbe stiehlt und das Skelett unter der Haut sichtbar macht, und mir war plötzlich, als läge Helen im Sterben und ich müsste sie wecken und halten. Sie erwachte und öffnete ein Auge. „Glaubst du, dass wir heißen Kaffee und Croissants* bekommen können?“ fragte sie.

„Ich werde versuchen, einen Wärter zu bestechen“, sagte ich sehr glücklich.

Helen öffnete das zweite Auge und betrachtete mich, „Was ist passiert?“ fragte sie. „Du siehst aus, als hätten wir das Große Los gewonnen. Werden wir freigelassen?“

„Nein“, erwiderte ich. „Ich habe mir mich selbst freigelassen.“

Sie bewegte schläfrig den Kopf in meinen Händen. „Kannst du dich selbst nicht einmal eine Zeitlang in Ruhe lassen?“

„Ja“, sagte ich. „Ich werde es sogar müssen. Für lange Zeil sogar, fürchte ich. Ich werde nicht mehr viel Gelegenheit haben, selbst Entscheidungen zu treffen. Wenn man es so ansieht, ist das auch ein Trost.“

„Alles ist ein Trost“, erwiderte Helen und gähnte. „Solange wir leben, ist alles ein Trost, weißt du das noch nicht? Glaubst du, dass sie uns als Spione erschießen werden?“

„Nein. Sie werden uns einsperren.“

„Sperren sie auch die Emigranten ein, die sie nicht für Spione halten?“

„Ja. Sie werden alle einsperren, die sie finden. Die Männer haben sie ja schon geholt.“

Helen richtete sich halb auf. „Wo ist dann der Unterschied?“

„Vielleicht kommen die andern leichter frei.“

„Das weiß man noch nicht. Vielleicht wird man uns besser behandeln, gerade weil man glaubt, wir wären Spione.“

„Das ist Unsinn, Helen.“

Sie schüttelte den Kopf. „Das ist kein Unsinn. Das ist Erfahrung. Weißt du noch nicht, dass Unschuld in unserem Jahrhundert ein Verbrechen ist, das immer am schwersten bestraft wird? Musst du in zwei Ländern eingesperrt werden, um das zu begreifen? Ach, du Gerechtigkeitsträumer! Ist noch Cognac da?“

„Cognac und Pastete.“

„Gib mir beides“, sagte Helen. „Es ist ein ungewöhnliches Frühstück; aber ich fürchte, wir haben noch ein abenteuerliches Leben vor uns!“

„Gut, dass du es so auffasst“, erwiderte ich und gab ihr den Cognac.

„Es ist die einzige Art, es aufzufassen. Oder willst du an Verbitterung und Leberversäuerung sterben? Wenn du den Begriff der Gerechtigkeit ausschaltest, ist es gar nicht so schwer, es als Abenteuer zu betrachten, findest du nicht?“

Der herrliche Geruch des alten Cognacs und der guten Pastete umwehte Helen wie ein Gruß goldenen Daseins. Sie aß mit großem Genuss.

„Ich wusste nicht, dass es so einfach für dich sein würde“, sagte ich.

„Mach dir um mich keine Sorgen“, erwiderte sie und suchte in ihrem Korb nach weißem Brot. „Ich komme schon durch. Frauen ist die Gerechtigkeit nicht ganz so wichtig wie euch.“

„Was ist euch wichtig?“

„Dies.“ Sie zeigte auf das Brot und die Flasche und die Pastete. „Iss, mein Geliebter! Wir werden uns schon durchschlagen. Und in zehn Jahren wird es ein großes Abenteuer sein, und wir werden abends unseren Gästen so oft davon erzählen, dass es jeden langweilen wird. Futtere, Mann mit dem falschen Namen! Was wir jetzt essen, brauchen wir nachher nicht zu schleppen.“

„Ich will Ihnen nicht alle Einzelheiten erzählen“, sagte Schwarz. „Sie kennen ja den Weg der Emigranten. Ich blieb nur ein paar Tage im Stadion Colombes. Helen kam in das „Petite Roquette“. Am letzten Tag erschien der Wirt unseres Hotels im Stadion. Ich sah ihn nur von weitem; es war uns nicht erlaubt, mit Besuchern zu sprechen. Der Wirt hinterließ einen kleinen Kuchen und eine große Flasche Cognac. Im Kuchen fand ich einen Zettel: „Madame ist gesund und guter Laune. Nicht in Gefahr. Erwartet irgendwann Transport in ein Frauenlager, das in den Pyrenäen eingerichtet wird. Briefe über Hotel. Madame est formidable!“ Eingefaltet war ein sehr kleiner Zettel mit Helens Handschrift: „Sorge dich nicht. Keine Gefahr mehr. Es bleibt ein Abenteuer. Auf bald. Liebe.“

Sie hatte es fertiggebracht, die nachlässige Blockade zu durchbrechen. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie. Später erzählte sie mir, dass sie erklärt habe, Dokumente holen zu müssen, die ihr fehlten. Man hatte sie mit einem Polizisten zum Hotel geschickt. Sie hatte dem Wirt den Zettel zugesteckt und ihm zugeflüstert, wie er ihn mir schicken solle. Der Polizist, der für Liebe Verständnis zeigte, hatte das übersehen. Sie hatte keine Dokumente zurückgebracht, dafür aber Parfüm, Cognac und einen Korb mit Essen. Sie liebte zu essen. Wie sie dabei schlank blieb, ist mir immer unerklärlich geblieben. Wenn ich in der Zeit, als wir noch frei waren, aufwachte und sie nicht neben mir fand, brauchte ich nur dahin zu gehen, wo wir unsere Speisen aufhoben – sie hockte dort im Mondschein und nagte mit selbstvergessenem Lächeln an einem Schinkenknochen oder stopfte sich voll mit dem Dessert vom Abend vorher, das sie aufgehoben hatte. Dazu trank sie Wein aus der Flasche. Sie war wie eine Katze, die nachts hungrig wird. Sie erzählte mir, dass sie, als sie verhaftet wurde, den Polizisten warten lassen konnte, bis die Pastete, die der Wirt des Hotels gerade im Ofen hatte, fertiggebacken war. Es war ihre Lieblingspastete, und sie wollte sie mitnehmen. Der Polizist kapitulierte knurrend, da sie sich glatt weigerte, vorher zu gehen. Die Flies scheuten davor zurück, jemand mit Gewalt in den Polizeiwagen zu schleppen. Helen vergaß nicht einmal, ein Paket Papierservietten mitzunehmen.

Am folgenden Tag wurden wir verladen nach den Pyrenäen. Die trostlose und erregende Odyssee von Angst, Komik, Flucht, Bürokratie, Verzweiflung und Liebe begann.“

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