Книга: Die Nacht von Lissabon / Ночь в Лиссабоне. Книга для чтения на немецком языке
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Aufgaben zum Text

1) Warum wollte Helen über ihre Krankheit nicht sprechen?

2) Wie gelang es Schwarz und Helen, amerikanische Visa zu bekommen?

3) In der Kirche sagte Helen, sie habe um das Visum nach Amerika gebeten. Das war aber keine Wahrheit. Was glauben Sie, worum betete Helen in Wirklichkeit?

4) Warum wollte Helen die Tote sehen?

Texterläuterungen

Jeremiade die, wortreiche, bewegte Klage über etwas

Michelin-Konzern, französischer Autoreifenhersteller

Katzenjammer der, gespr., eine traurige Stimmung nach einem Misserfolg o.Ä.

Schikane die, eine Handlung (meist eines Vorgesetzten oder einer Behörde), durch die jemand unnötige Arbeit oder Schwierigkeiten bekommt

Siebengestirn das, Plejaden Pl., Sternhaufen im Sternbild

Stier nonchalant geschr., mit Nonchalance, lässig, ungezwungen

Nonchalance die, geschr., ein lockeres (ungezwungenes) Verhalten, das angenehm wirkt

Oran, Stadt in Algerien

Concierge der (die), französische Bezeichnung für: Hausmeister(in), Portier(sfrau)

zetern, laut schimpfen oder jammern

Vulkanfiber, harter, hornartiger Kunststoff aus Zellulose

Ausschuss der, minderwertige Waren oder Produkte mit Fehlern

zelebrieren, als katholischer Priester einen Gottesdienst halten

Ketzer der, hist., jemand, dessen Glauben nicht mit den Vorstellungen besonders der katholischen Kirche übereinstimmte (und der deswegen verfolgt wurde)

Votive, Gaben, die einer Gottheit, einem Gott oder einem Heiligen aus Dankbarkeit oder mit der Bitte um Hilfe in bestimmter Not dargebracht werden

Votivtafel die, katholische Votivgabe in Form einer kleinen Tafel mit Inschrift (meist: „… hat geholfen“)

Vivisektor der, jemand, der aus zoologischen und medizinischen Forschungszwecken einen Eingriff an dem lebenden, in der Regel narkotisierten Tier vornimmt

Obduktion, Autopsie, Leichenöffnung, Untersuchung zur Feststellung der Todesursache

17

„Ich handelte einige Tage mit Küchenutensilien, Reiben aus Blech, Messern, Gemüseschneidern und kleinen Sachen, für die man keinen verdächtigen Koffer brauchte. Zweimal kam ich früher als sonst in unser Zimmer zurück und fand Helen nicht vor. Ich wartete und wurde unruhig; aber die Concierge erklärte mir, dass niemand sie geholt habe. Sie sei vor einigen Stunden fortgegangen. Das passierte öfter.

Sie kam spätabends zurück. Ihr Gesicht war verschlossen. Sie sah mich nicht an. Ich wusste nicht, was zu tun. Aber sie nicht zu fragen wäre noch sonderbarer gewesen, als sie zu fragen, „Wo warst du, Helen?“ fragte ich deshalb doch.

„Spazieren“, erwiderte sie.

„Bei dem Wetter?“

„Ja, bei dem Wetter. Kontrolliere mich nicht!“

„Ich kontrolliere dich nicht“, sagte ich. „Ich hatte nur Sorge, dass die Polizei dich gefasst hätte.“

Sie lachte hart. „Die Polizei faßt mich nicht mehr.“

„Ich wollte, ich könnte das glauben.“

Sie starrte mich an. „Wenn du weiter fragst, gehe ich wieder. Ich kann nicht ertragen, immer beobachtet zu werden, verstehst du das nicht? Die Häuser draußen beobachten mich nicht! Ich bin ihnen gleichgültig. Ich bin den Menschen gleichgültig, die an mir vorbeigehen. Sie fragen mich nicht und beobachten mich nicht!“

Es wurde mir klar, was sie meinte. Draußen wusste niemand von ihrer Krankheit. Dort war sie kein Patient; sie war eine Frau. Und sie wollte eine Frau bleiben. Sie wollte leben; aber ein Patient zu sein hieß für sie, langsam zu sterben.

Nachts weinte sie im Schlaf. Am Morgen hatte sie alles vergessen. Es war das Zwielicht, das sie nicht ertragen konnte. Es legte sich wie ein vergiftetes Spinnennetz auf ihr geängstigtes Herz. Ich sah, dass sie mehr und mehr Betäubungsmittel brauchte. Ich fragte Lewisohn, der früher Arzt gewesen war und jetzt mit Horoskopen handelte. Er sagte mir, dass es längst zu spät sei für irgend etwas anderes. Es war dasselbe, was Dubois gesagt hatte.

Von nun an kam sie öfter spät nach Hause. Sie fürchtete sich davor, dass ich sie fragen wurde. Ich tat es nicht. Einmal kam ein Strauß Rosen an, als ich allein da war. Ich ging fort, und als ich zurückkam, war er verschwunden. Sie begann zu trinken. Ein paar Leute hielten es für nötig, mir mitzuteilen, dass sie sie in Bars gesehen hatten, nicht allein. Ich klammerte mich an das amerikanische Konsulat. Ich hatte nun die Erlaubnis erhalten, im Vorraum zu warten; aber die Tage vergingen, und nichts ereignete sich.

* * *

Dann fing man mich. Zwanzig Meter vom Konsulat entfernt riegelte Polizei plötzlich die Zugänge ab. Ich versuchte, das Konsulat zu erreichen, aber das machte mich verdächtig. Wer im Konsulat war, war gerettet. Ich sah Lachmann in der Tür verschwinden, riss mich los, brach durch und fiel über den vorgesetzten Fuß eines Gendarmen. „Den Burschen auf alle Fälle!“ sagte ein lächelnder Mann in Zivil. „Er hat’s merkwürdig eilig.“ Unsere Papiere wurden kontrolliert. Sechs von uns wurden festgehalten. Die Polizei zog sich zurück. Eine Anzahl Zivilisten umgab uns plötzlich. Wir wurden abgedrängt, in einen geschlossenen Lastwagen verladen und zu einem Hause in der Vorstadt gebracht, das ziemlich einsam in einem Garten lag. Das klingt wie ein schlechter Film“, sagte Schwarz. „Aber waren nicht die letzten neun Jahre alle ein kitschiger, blutiger Film?“ „War es die Gestapo?“ fragte ich.

Schwarz nickte. „Es scheint mir heute wie ein Wunder, dass sie mich nicht vorher gefasst hatten, ich wusste, dass Georg nicht aufhören würde, uns zu suchen. Der lächelnde junge Mann erklärte mir das, als man mir meine Papiere abnahm. Unglücklicherweise war Helens Pass auch dabei; ich hatte ihn zum Konsulat mitgenommen.

„Endlich haben wir eines unserer Fischlein“, sagte der junge Mann. „Da wird das andere auch bald kommen.“

Er lächelte und schlug mir mit einer Hand voll mit Ringen ins Gesicht. „Meinen Sie nicht auch, Schwarz?“

Ich wischte mir das Blut ab, das die Ringe aus meiner Lippe springen ließen. Es waren noch zwei andere Männer in Zivil im Zimmer. „Oder wollen Sie uns die Adresse nicht lieber selbst mitteilen?“ fragte der lächelnde junge Mann.

„Ich weiß sie nicht“, erwiderte ich. „Ich suche meine Frau selbst. Wir haben uns vor einer Woche gezankt, und sie ist weggelaufen.“

„Gezankt? Wie hässlich!“ Der junge Mann schlug mir wieder ins Gesicht. „Da, zur Strafe!“

„Sollen wir ihn wippen, Chef?“ fragte einer der Bullen, die hinter mir standen.

Der junge Mann mit dem mädchenhaften Gesicht lächelte. „Erklären Sie ihm, was Wippen ist, Möller.“

Möller erklärte mir, dass man einen Telefondraht um meine Geschlechtsteile binden und mich dann schwingen lassen würde. „Kannten Sie das schon? Sie waren doch schon mal im Lager“, fragte der junge Mann.

Ich kannte es noch nicht. „Meine Erfindung“, sagte er. „Wir können es aber zuerst einfacher machen. Wir können Ihnen Ihre Kostbarkeiten einfach so fest abbinden, dass kein Tropfen Blut mehr durchkommt. Was meinen Sie, wie Sie nach einer Stunde schreien werden! Und damit Sie dann hübsch ruhig sind, stekken wir Ihnen Ihr Mündchen voll Sägespäne.“

Er hatte merkwürdig gläserne, hellblaue Augen. „Wir haben viele hübsche Einfälle“, fuhr er fort. „Wissen Sie, was man alles mit etwas Feuer machen kann?“

Die beiden Bullen lachten.

„Mit einem dünnen glühenden Draht“, sagte der lächelnde junge Mann. „Langsam in die Ohren eingeführt oder durch die Nasenlöcher herauf, kann man allerhand machen, schwarzer Schwarz! Das Schöne ist, dass Sie uns nun so ganz unbeschränkt zur Verfügung slehen für unsere Experimente.“

Er trat mir hart auf die Füße. Ich roch sein Parfüm, als er so dicht vor mir stand. Ich rührte mich nicht. Ich wusste, dass es zwecklos war, Widerstand zu leisten, und noch zweckloser, den tapferen Mann zu markieren. Es würde meinen Peinigern die größte Freude gemacht haben, das zu brechen. So ließ ich mich beim nächsten Schlag, der mit einem Spazierstock erfolgte, stöhnend umsinken. Gelächter war die Folge. „Machen Sie ihn munter, Möller“, sagte der junge Mann mit zärtlicher Stimme.

Möller zog an seiner Zigarette, beugte sich zu mir herunter und hielt sie mir ans Augenlid. Der Schmerz war so, als hätte er Feuer ins Auge geschüttet. Die drei lachten. „Steh auf, mein Kerlchen“, sagte der Lächler.

Ich taumelte hoch. Ein Schlag von ihm traf mich, als ich kaum stand. „Dies sind nur Übungen zum Aufwärmen“, erklärte er. „Wir haben ja Zeit, ein ganzes Leben lang – Ihr ganzes Leben lang, Schwarz. Beim nächsten Simulieren haben wir eine zauberhafte Überraschung für Sie. Sie werden mit allen vieren in die Luft fliegen.“

„Ich simuliere nicht“, erwiderte ich. „Ich bin schwer herzkrank. Es mag sein, dass ich beim nächsten Mal nicht wieder aufstehen werde, was immer Sie auch tun.“

Der Lächler drehte sich zu den Bullen: „Herzkrank ist unser Bübchen, soll man das glauben?“

Er gab mir einen neuen Schlag, aber ich spürte, dass ich Eindruck gemacht hatte. Tot konnte er mich Georg nicht übergeben. „Ist Ihnen die Adresse noch nicht eingefallen?“ fragte er. „Es ist einfacher, sie jetzt zu sagen, als später, wenn Sie keine Zähne mehr haben.“

„Ich weiß sie nicht. Ich wollte, ich wüßte sie.“

„Unser Kerlchen ist heroisch. Wie hübsch! Schade, dass keiner außer uns es je sehen wird.“

Er trat mich, bis er müde wurde. Ich lag auf der Erde und versuchte, mein Gesicht und meine Geschlechtsteile zu schützen. „So“, sagte er schließlich „jetzt sperren wir unser Bübchen in den Keller. Dann werden wir zu Abend essen, und nachher geht es dann richtig los. Eine schöne Nachtsitzung!“

All dieses kannte ich. Es gehörte mit Schiller und Goethe zur Kultur des faustischen Menschen, und ich hatte es im Lager in Deutschland durchgemacht. Aber ich hatte mein Gift bei mir; man hatte mich nur oberflächlich untersucht und es nicht gefunden. Ich besaß auch noch, lose in den Überschlag meiner Hose eingenäht, eine Rasierklinge, die in ein Stückchen Kork eingesetzt war; auch sie war nicht entdeckt worden.

Ich lag im Dunkeln. Es ist sonderbar, dass die Verzweiflung in solchen Situationen im Anfang nicht so sehr ihre Ursache in dem hat, was einen erwartet, sondern darin, dass man so dumm war, sich fangen zu lassen.

Lachmann hatte gesehen, wie ich geschnappt wurde. Er wusste zwar nicht, dass es die Gestapo war, da französische Polizei beteiligt zu sein schien – aber wenn ich spätestens in einem Tag nicht zurück war, würde Helen versuchen, mich über die Polizei zu erreichen, und wahrscheinlich erfahren, wer mich in Gewahrsam hatte. Dann würde sie kommen. Die Frage war, ob der Lächler darauf warten wollte. Ich nahm an, dass er Georg eiligst informieren würde. Wenn Georg in Marseille war, würde er mich abends noch vernehmen.

Er war in Marseille, Helen hatte richtig gesehen. Er kam und nahm mich vor. Ich will darüber nicht reden. Ich wurde mit Wasser übergossen, wenn ich ohnmächtig wurde. Dann wurde ich in den Keller zurückgeschleppt. Nur das Gift, das ich besaß, ließ mich das, was passierte, überstehen. Georg hatte zum Glück keine Geduld für die subtilen Folterungen, die mir der Lächler versprochen hatte; aber er war in seiner Weise auch nicht schlecht.

* * *

„Er kam noch einmal nachts“, sagte Schwarz. „Er setzte sich breitbeinig auf einen Schemel vor mich – das Symbol der absoluten Macht, das wir glaubten im neunzehnten Jahrhundert längst überwunden zu haben und das trotzdem zum Wahrzeichen des zwanzigsten geworden ist – vielleicht gerade deshalb. Ich sah an diesem Tage zwei Manifestationen des Bösen – den Lächler und Georg, den absolut Bösen und den brutal Bösen. Von beiden war der Lächler der schlimmere, wenn man noch Unterschiede machen will – er quälte aus Lust, der andere, um seinen Willen durchzusetzen. Ich hatte inzwischen einen Plan erdacht. Ich musste auf irgendeine Weise aus dem Hause heraus; ich tat deshalb, als Georg vor mir saß, als wäre ich völlig gebrochen. Ich wäre bereit, alles zu sagen, erklärte ich, wenn er mich schone. Er hatte das satte, verächtliche Grinsen eines Mannes, der nie in einer ähnlichen Situa tion gewesen ist und deshalb glaubt, er würde sie wie ein Held aus dem Lesebuch bestehen. Dieser Typ besteht sie nie.“

„Ich weiß“, sagte ich. „Ich habe einen Gestapo-Offizier heulen hören, als er sich den Daumen quetschte, während er jemand mit einer Stahlkette erschlug. Der, der erschlagen wurde, war still.“

„Georg gab mir einen Tritt“, sagte Schwarz. „So, Bedingungen stellen willst du auch noch, was?“ fragte er.

„Ich stelle keine Bedingungen“, erwiderte ich. „Aber wenn Sie Helen nach Deutschland zurückbringen, wird sie wieder weglaufen oder sich das Leben nehmen.“

„Blödsinn!“ schnaubte Georg.

„Helen ist das Leben ziemlich gleichgültig“, sagte ich. „Sie weiß, dass sie Krebs hat und unheilbar ist.“

Er starrte mich an. „Das lügst du Aas*! Sie hat ein

Frauenleiden, keinen Krebs!“

„Sie hat Krebs. Als sie das erstemal in Zürich operiert wurde, hat man es erkannt. Es war schon damals zu spät. Man hat es ihr gesagt.“

„Wer?“

„Der Mann, der sie operiert hat. Sie wollte es wissen.“

„So ein Schwein!“ brüllte Georg. „Aber ich werde auch das Luder fassen! Wir werden in einem Jahr die Schweiz deutsch gemacht haben! So ein Unmensch!“

„Ich wollte, dass Helen zurückginge“, sagte ich. „Sie hat sich geweigert. Aber ich glaube, dass sie es täte, wenn ich ihr sagen würde, dass wir uns trennen müssten.“

„Lächerlich!“

„Ich könnte es so scheußlich machen, dass sie mich für ihr Leben hassen würde“, sagte ich.

Ich sah, wie Georgs Gedanken arbeiteten. Ich hatte mich auf meine Hände gestützt und beobachtete ihn. Eine Stelle zwischen meinen Brauen schmerzte, so sehr versuchte ich, ihm meinen Willen aufzudrängen. „Wie?“ erwiderte er schließlich.

„Sie fürchtet sich, dass man ihre Krankheit kennt und sich vor ihr ekelt. Wenn ich ihr das sagen würde, wäre sie für immer fertig mit mir.“

Georg überlegte. Ich konnte jedem seiner Gedanken folgen. Er sah, dass dieser Vorschlag der günstigste für ihn war. Selbst wenn er Helens Adresse aus mir herausfolterte, würde sie ihn nur noch mehr hassen; wenn ich mich dagegen wie ein Schuft gegen sie benähme, würde sie mich hassen, und er würde als der Retter auftreten können mit: „Habe ich es dir nicht immer gesagt?“

„Wo wohnt sie?“ fragte er.

Ich nannte eine falsche Adresse. „Das Haus hat ein halbes Dutzend Ausgänge“, sagte ich „durch Keller und verbundene Straßen. Sie kann leicht fliehen, wenn Polizei käme. Sie wird nicht fliehen, wenn ich allein komme.“

„Oder ich“, erklärte Georg.

„Sie würde glauben, Sie hätten mich getötet. Sie hat Gift.“

„Quatsch!“

Ich wartete. „Und was willst du dafür?“ fragte Georg.

„Dass Sie mich laufenlassen.“

Er lächelte eine Sekunde. Es war, als zeige ein Tier die Zähne. Ich wusste sofort, dass er mich nie loslassen würde. „Gut“, sagte er dann. „Du kommst mit mir. Damit du keine Tricks machst. Du wirst es ihr sagen, während ich dabeistehe.“

Ich nickte. „Los!“ Er stand auf. „Wasch dich an dem Hahn da.“

* * *

„Ich nehme ihn mit“, sagte er zu einem der Bullen, der in einem Zimmer mit Geweihen sich herumlümmelte. Der Bulle salutierte und öffnete die Tür zu Georgs Wagen. „Hier, neben mich“, sagte Georg. „Kennst du den Weg?“

„Nicht von hier. Von der Cannebiere aus.“

Wir fuhren in die windige und kalte Nacht. Ich hatte gehofft, mich irgendwo, wenn das Auto langsam fahren oder halten musste, aus dem Wagen fallen zu lassen; aber Georg hatte meine Tür abgeschlossen. Rufen hätte auch nichts genützt; niemand kam einem Menschen, der aus einem deutschen Wagen rief, zu Hilfe, und bevor ich aus einer Limousine mit geschlossenen Fenstern zweimal hätte rufen können, wäre ich von Georg bewusstlos geschlagen worden. „Mensch, hoffe, dass du die Wahrheit gesagt hast“, knurrte er. „Sonst lasse ich dich abhäuten und in Pfeffer legen.“

Ich hockte zusammengesunken auf meinem Sitz und ließ mich vornüberfallen, als der Wagen einmal überraschend vor einem unbeleuchteten Karren bremste. „Markiere keine Ohnmacht, Feigling!“ schnauzte Georg.

„Mir ist schwach“, sagte ich und richtete mich langsam hoch.

„Jammerlappen*! „

„Ich hatte die Fäden meines Hosenaufschlags aufgerissen. Beim zweiten Bremsen konnte ich die Rasierklinge greifen; beim dritten, bei dem ich den Kopf gegen die Windschutzscheibe stieß, konnte ich sie im Dunkeln des Wagens in die Hand bekommen.“

Schwarz blickte auf. Ein feiner Schweiß bedeckte seine Stirn. „Er hätte mich nie losgelassen“, sagte er. „Glauben Sie das nicht auch?“

„Natürlich nicht.“

„An einer Kurve rief ich, so scharf und laut ich konnte: „Achtung! Links!“

Der unerwartete Schrei wirkte, bevor Georg denken konnte. Sein Kopf flog automatisch nach links, er bremste und griff das Steuer fester. Ich warf mich gegen ihn. Die Klinge, die im Kork steckte, war nicht groß; aber ich traf ihn an der Halsseite und riss sie daran entlang über die Luftröhre. Er ließ das Steuerrad los und fuhr sich nach der Kehle. Dann sackte er nach der linken Seite gegen die Tür und stieß mit dem Arm auf die Klinke, die sich löste. Der Wagen schleuderte und fuhr in einen Klumpen Gebüsch. Die Tür flog auf, und Georg fiel hinaus. Er blutete stark und röchelte.

Ich kletterte ihm nach und horchte. Eine sausende Stille umgab mich, in der der Motor zu brüllen schien. Ich stellte ihn ab, und die Stille war jetzt wie Wind, der rauschte. Es war das Blut in meinen Ohren. Ich beobachtete Georg und suchte nach der Klinge mit dem Korkstreifen. Sie schimmerte auf dem Trittbrett des Wagens. Ich nahm sie und wartete. Ich wusste nicht, ob Georg nicht plötzlich aufspringen würde; dann sah ich, wie er ein paarmal mit den Füßen stieß und still wurde. Ich warf die Klinge weg, nahm sie dann aber wieder auf und steckte sie in den Boden. Ich stellte das Licht ab und horchte. Es war still. Ich hatte vorher nichts weiter überlegt; jetzt musste ich rasch handeln. Jede Stunde, die ich später entdeckt wurde, zählte.

Ich zog Georg aus und packte alle seine Sachen zusammen. Dann zerrte ich den Körper in das Gebüsch. Es würde eine Zeitlang dauern, bis man ihn entdeckte, und dann noch eine Zeitlang, bis man herausfinden konnte, wer er war. Vielleicht hatte ich Glück, und man verbuchte ihn einfach als ermordeten Unbekannten. Ich probierte den Wagen. Er war noch in Ordnung. Ich fuhr ihn zurück auf die Straße. Ich erbrach mich. Im Wagen fand ich eine Taschenlampe. Es war Blut auf dem Sitz und an der Tür. Beide waren aus Leder und leicht zu reinigen. An einem Graben benutzte ich Georgs Hemd dazu. Ich spülte auch das Trittbrett ab. Immer wieder leuchtete ich den Wagen ab und wischte, bis er sauber war. Dann wusch ich mich selbst und stieg wieder ein. Mir ekelte davor, auf Georgs Platz zu sitzen; ich hatte das Gefühl, er würde aus dem Dunkel mir in den Nacken springen. Ich fuhr los.

* * *

Ich ließ den Wagen ein Stück vom Haus entfernt in einer Seitengasse stehen. Es regnete jetzt. Ich ging über die Straße und atmete tief. Allmählich merkte ich, wie mich mein Körper schmerzte. Ich blieb vor einem Geschäft stehen, in dem Fische lagen, und sah einen Spiegel, der seitlich angebracht war. In dem dunklen Silber der unbeleuchteten Scheibe konnte ich nicht viel sehen; aber mein Gesicht war verschwollen und blutig, soviel ich sah. Ich atmete die feuchte Luft tief ein. Es schien mir unmöglich, dass ich nachmittags hier gewesen war, so lang war die Zeit dazwischen gewesen.

Es gelang mir, ungesehen an der Conciergc vorbeizukommen. Sie schlief bereits und murmelte nur etwas. Es war für sie nichts Außergewöhnliches, dass ich spät zurückkam. Rasch ging ich die Treppe hinauf.

Helen war nicht da. Ich starrte auf das Bett und den Schrank. Der Kanarienvogel, geweckt durch das Licht, fing an zu singen. Die Katze erschien vor dem Fenster mit glühenden Augen und starrte herein wie eine verdammte Seele. Ich wartete eine Zeitlang. Dann schlich ich zu Lachmann hinüber und klopfte leise.

Er war sofort wach. Flüchtlinge haben einen leichten Schlaf. „Sind Sie…“, sagte er, sah mich an und schwieg.

„Haben Sie meiner Frau etwas gesagt?“ fragte ich.

Er schüttelte den Kopf. „Sie war nicht da. Und bis vor einer Stunde war sie nicht zurück.“

„Gott sei Dank.“

Er blickte mich an, als hätte ich den Verstand verloren.

„Gott sei Dank“, wiederholte ich. „Dann hat man sie wahrscheinlich nicht gefasst. Sie ist nur einfach ausgegangen.“

„Nur einfach ausgegangen“, wiederholte Lachmann. „Was ist mit Ihnen passiert?“ fragte er dann.

„Man hat mich vernommen. Ich bin entkommen.“

„Die Polizei?“

„Die Gestapo. Es ist vorbei. Schlafen Sie weiter.“

„Weiß die Gestapo, wo Sie sind?“

„Dann wäre ich nicht hier. Vor morgen früh bin ich weg von hier.“

„Eine Sekunde!“ Lachmann kramte einige Heiligenbilder und Rosenkränze hervor. „Hier, nehmen Sie das mit. Es wirkt manchmal Wunder. Hirsch ist damit über die Grenze geschmuggelt worden. Das Volk in den Pyrenäen ist sehr fromm. Es sind Sachen, die vom Papst selbst gesegnet worden sind.“

„Wirklich?“

Er lächelte ein wunderschönes Lächeln. „ Wenn sie uns retten, sind sie sogar von Gott selbst gesegnet worden. Auf Wiedersehn, Schwarz.“

Ich ging zurück und begann, unsere Sachen zu packen. Ich fühlte mich sehr leer, aber angespannt wie eine Trommel mit nichts darin. In Helens Schublade entdeckte ich ein Päckchen Briefe. Ich sah, dass sie poste restante* Marseille geschickt worden waren. Ich dachte nichts und legte sie in ihren Koffer. Ich fand auch das Abendkleid aus Paris und legte es dazu. Dann setzte ich mich an das Waschbassin und steckte meine Hand hinein. Die verbrannten Nägel schmerzten. Ich atmete auch mit Schmerzen, wenn ich Luft holte. Ich sah auf die nassen Dächer und dachte nichts.

* * *

Endlich hörte ich Helens Schritte. Sie stand wie ein zerstörter, schöner Geist in der Tür. „Was machst du hier?“ Sie wusste von nichts. „Was ist mit dir?“

„Wir müssen fort, Helen“, sagte ich. „Sofort.“

„Georg?“

Ich nickte. Ich hatte beschlossen, ihr sowenig wie möglich zu sagen.

„Was ist mit dir passiert?“ fragte sie erschrocken und kam näher.

„Sie haben mich verhaftet. Ich bin entkommen. Sie werden mich suchen.“

„Wir müssen weg?“

„Sofort.“

„Wohin?“

„Nach Spanien.“

„Wie?“

„So weit wir können, mit einem Auto. Kannst du dich fertigmachen?“

„Ja.“ Sie wankte.

„Hast du Schmerzen?“

Sie nickte. Was steht dort in der Tür, dachte ich. Was ist das? Sie war mir fremd. „Hast du noch Ampullen?“ fragte ich.

„Wenige.“

„Wir werden wieder welche bekommen.“

„Geh einen Augenblick hinaus“, sagte sie.

Ich stand auf dem Korridor. Türen öffneten sich um einen Spalt. Gesichter mit Lemurenaugen* zeigten sich. Gesichter von Zwergpolyphemen* mit nur einem Auge und schiefen Mündern. Lachmann huschte in grauen langen Unterhosen wie eine Heuschrecke die Treppe herauf und drückte mir eine halbe Flasche Cognac in die Hand. „Sie werden ihn brauchen können“, flüsterte er. „V.S.O.P.! „

Ich trank sofort einen großen Schluck.

„Ich habe Geld“, sagte ich. „Hier! Geben Sie mir noch eine ganze Flasche.“

Ich hatte Georgs Brieftasche an mich genommen und darin viel Geld gefunden. Nur eine Sekunde hatte ich den Gedanken gehabt, es wegzuwerfen. Ich hatte auch seinen Pass bei ihm gefunden, zusammen mit Helens und meinem. Er hatte alle drei in seiner Tasche gehabt.

Georgs Kleider hatte ich in ein Bündel geknotet und, mit einem Stein darin, in den Hafen geworfen. Den Pass hatte ich beim Schein der Taschenlampe genau betrachtet, und dann war ich zu Gregorius gefahren und hatte ihn geweckt. Ich hatte ihn gebeten, Georgs Foto mit meinem zu ersetzen. Er hatte sich zuerst entsetzt geweigert. Einen Emigrantenpass zu fälschen war sein Handwerk, und er fand sich darin gerechter als Gott, den er verantwortlich für den Schlamassel* hielt – aber den Pass eines hohen Gestapobeamten hatte er noch nie gesehen. Ich erklärte ihm, dass es nicht nötig sei, sein Werk, wie ein Künstler, mit seiner Unterschrift zu versehen. Ich sei später dafür verantwortlich, und niemand werde von ihm etwas wissen. „Und wenn man Sie foltert?“ Ich zeigte ihm meine Hand und deutete auf mein Gesicht, „ich fahre in einer Stunde“, sagte ich. „Mit diesem Gesicht komme ich als Emigrant keine zehn Kilometer weit. Ich muss aber über die Grenze. Dies ist meine einzige Chance. Hier ist mein Pass. Fotografieren Sie das Passfoto und wechseln Sie die Kopie mit dem Foto in dem Gestapopass aus. Was kostet es? Ich habe Geld.“

Gregorius hatte zugestimmt.

Lachmann brachte die zweite Flasche Cognac. Ich bezahlte ihn und ging in das Zimmer zurück. Helen stand am Nachttisch. Die Schublade, in der die Briefe gelegen hatten, war offen. Sie schob sie zu und kam dicht an mich heran. „Hat Georg das getan?“ fragte sie.

„Es war ein Konsortium“, erwiderte ich.

„Er soll verflucht sein!“

Sie trat an das Fenster. Die Katze sprang weg. Sie öffnete die Läden. „Er soll verflucht sein!“ wiederholte sie mit so leidenschaftlicher Stimme und solcher Überzeugung, als bespräche sie ihn in einem mystischen Ritual. „Er soll verflucht sein für sein Leben, für immer…“

Ich nahm ihre geballten Fäuste und zog sie vom Fenster weg. „Wir müssen fort von hier,“

Wir gingen die Treppen hinunter. Blicke folgten uns von allen Türen. Ein grauer Arm winkte. „Schwarz! Nehmen Sie keinen Rucksack. Die Gendarmen sind scharf auf Rucksäcke. Ich habe einen billigen Kunstlederkoffer, sehr chic…“

„Danke“, erwiderte ich. „Ich brauche jetzt keinen Koffer mehr. Ich brauche Glück.“

„Wir halten die Daumen*.“

Helen war vorangegangen. Ich hörte, wie eine nasse Hure ihr vor der Tür gerade riet, zu Hause zu bleiben; der Regen habe das Geschäft verdorben. Gut, dachte ich; die Straßen konnten gar nicht leer genug für mich sein. Helen stutzte, als sie den Wagen sah.

„Gestohlen“, sagte ich. „Wir müssen so weit wie möglich damit kommen. Steig ein.“

Es war noch dunkel. Der Regen floss in Strömen an der Windschutzscheibe herunter. Wenn noch Blut auf dem Trittbrett war, wurde es jetzt heruntergewaschen. Ich hielt ein Stück vom Hause entfernt, wo Gregorius wohnte. „Stell dich hier unter“, sagte ich zu Helen und zeigte auf das gläserne Vordach eines Geschäftes, das Sachen für Angler zeigte.

„Kann ich nicht sitzen bleiben?“

„Nein. Wenn jemand kommt, tu so, als ob du auf Kunden wartest. Ich bin gleich zurück.“

Gregorius war fertig. Seine Angst hatte jetzt dem Stolz des Künstlers Platz gemacht. „Die Schwierigkeit war die Uniform“, sagte er. „Sie haben ja einen Zivilanzug an. Sehen Sie. Ich habe ihm einfach den Kopf abgeschnitten.“

Er hatte Georgs Foto gelöst, Kopf und Hals ausgeschnitten, die Uniform auf mein Foto gelegt und die Montage fotographiert. „Obersturmbannführer Schwarz“, sagte er stolz. Er hatte die Kopie bereits getrocknet und eingefügt. „Der Stempel ist leidlich geglückt. Wenn man ihn genau untersucht, sind Sie ohnehin verloren – sogar wenn er echt wäre. Hier ist Ihr alter Pass unbeschädigt zurück.“

Er gab mir beide Pässe und die Reste von Georgs Fotographie. Ich zerriß das Foto, während ich die Treppe hinunterging, in kleine Teile und zerstreute sie draußen in das Wasser, das durch die Gasse schoss.

Helen wartete. Ich hatte den Wagen vorher kontrolliert; der Tank war voll. Wenn es gut ging, konnte ich mit dem Benzin über die Grenze kommen. Mein Glück hielt an – in der Schublade am Schaltbrett lag ein Carnet* zum Grenzübertritt, das schon zweimal benutzt worden war. Ich beschloss, die Grenze nicht da zu überfahren, wo der Wagen schon einmal gewesen war. Ich fand auch eine Michelin-Karte, ein Paar Handschuhe und einen Europa-Atlas für Automobile.

Der Wagen fuhr durch den Regen. Wir hatten noch einige Stunden bis zum Hellwerden und fuhren in die Richtung Perpignan*. Bis es hell war, wollte ich auf der Hauptstraße bleiben.

„Soll ich fahren?“ fragte Helen nach einiger Zeit. „Deine Hände!“

„Kannst du es? Du hast nicht geschlafen.“

„Du auch nicht.“

Ich sah sie an. Sie sah frisch und ruhig aus. Ich begriff es nicht. „Willst du einen Schluck Cognac?“

„Nein. Ich werde fahren, bis wir Kaffee bekommen können.“

„Lachmann hat mir noch eine Flasche Cognac gegeben.“

Ich holte sie aus dem Mantel. Helen schüttelte den Kopf. Sie hatte die Spritze.

„Später“, sagte sie mit sehr sanfter Stimme. „Versu che zu schlafen. Wir wollen abwechselnd fahren.“

Helen fuhr besser als ich. Nach einer Weile begann sie zu singen, monotone kleine Lieder. Ich war sehr gespannt gewesen; jetzt begannen das Summen des Wagens und der halblaute Singsang mich einzuschläfern. Ich wusste, dass ich schlafen musste, aber ich fuhr immer wieder auf. Die Landschaft flog grau vorbei, und wir brauchten die Scheinwerfer, ohne uns um

Verdunk lungsvorschriften zu kümmern.

„Hast du ihn getötet?“ fragte Helen plötzlich.

„Ja.“

„Musstest du es?“

„Ja.“

Wir fuhren weiter. Ich starrte auf die Straße und dachte an vieles, und dann war ich weggesackt wie ein Stein. Als ich wieder aufwachte, hatte der Regen aufge hört. Es war Morgen, der Wagen summte. Helen saß am Steuer, und ich hatte das Gefühl, ich hätte alles geträumt, „Es ist nicht wahr, was ich gesagt habe“, sagte ich.

„Ich weiß“, erwiderte sie.

„Es war ein anderer“, sagte ich.

„Ich weiß.“

Sie sah mich nicht an.

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